Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

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Filetstück 0009: Und unter den heiligen Tönen löseten sanft und kaum bemerkt die Jahrhunderte einander ab

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Update zu Jean Paul, sein erster Kuss, meine Bedienung und ich,
Vater, verlass mich nicht, wenn das Glöckchen läutet,
Frankonachten 2/5: Nämlich gar nicht einschlafen zu wollen
und Frankonachten 5/5: Du bist schon lange gestorben:

Offenbar wurde Jean Paul dereinst zum Wechsel vom 18. ins 19. Jahrhundert wie Charles Dickens zu einer späteren Weihnacht von drei Geistern besucht. Von allen dreien auf einmal; wir reden über Deutschland. Sein Bericht darüber wurde dann doch nicht wie vorgesehen im Jacobi’schen Taschenbuch auf 1801 abgedruckt, sondern mit seinem heimlichen Klaglied der jetzigen Männer zu einer schmalen Nebenveröffentlichung im Umfeld seines derzeit anwachsenden „Kardinalromans“ Titan zusammengefasst, von der zeitgenössischen Literaturkritik ebenso vernachlässigt wie dem Lesepublikum und nicht wieder aufgelegt.

Ein Jammer.

Claudia Voglhuber wideeyedtree, Winter

——— Jean Paul:

Das heimliche Klaglied
der jetzigen Männer;
eine Stadtgeschichte
und
Die wunderbare Gesellschaft
in der Neujahrsnacht

Vorrede zu Vorreden

[…] Was den zweiten Teil dieses Büchleins anbelangt, die wunderbare Nachtgesellschaft: so wünscht‘ ich von Herzen, hier in der Vorrede manches gute Wort zu seiner Zeit ihr vorzureden, wenn ich eines samt der seinigen hätte. –

Berlin, den 10. Jenner 1801.

Jean Paul Fr. Richter

I. Das heimliche Klaglied der jetzigen Männer

[…]

II. Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht

19. bis 31. Juli 1800, für: Taschenbuch auf 1801, Johann Georg Jacobi 1800:

Wir haben alle schon verdrüßliche Geschichten gelesen, die uns mit der lieblichsten Irrhöhle voll Verwicklungen bezauberten und ängstigten und uns unruhig nach einem hellen Ausgang bogenlang herumgreifen ließen, bis endlich die unerwartete Zeile »als ich erwachte« uns die ganze Höhle unter den Füßen wegzog. Bei dem zweiten Lesen fanden wir dann alles durchsichtig und hell und waren nicht mehr zu peinigen. Eine solche trockne Historie ist gottlob meine von der wunderbaren Nacht-Gesellschaft nicht; ich war leider bei der Erscheinung derselben so wach als jetzt und saß am Fenster.

Claudia Voglhuber wideeyedtree, WinterVorher muß sich der Leser einige Personalien von mir gefallen lassen, damit mein erbärmliches Benehmen gegen die Nacht-Sozietät, das meinen Mut mehr verbirgt als zeigt, zu erklären ist. – Nachmittags am Valettage des ein Jahr lang sterbenden Säkulums ging ich von 3 bis 8 Uhr nachdenkend in meinem Schreibzimmer auf und ab, weil ich vor Migräne nichts schreiben konnte; und hatte besonders über den unabsehlich-langen, um die Erde kriechenden Strom der künftigen Zeit meine schwermütigen Gedanken, wovon ich am Neujahrstage die besten ausklauben und niederschreiben wollte für dieses Werkchen. In die hinter fünf, sechs Jahrtausenden liegende Vergangenheit zurückzuschauen, gibt uns mutige Jugend-Gefühle; sie kommt uns als unsere antizipierte Kindheit vor; hingegen vorauszublicken weit über unsern letzten Tag hinweg und unzählige Jahrtausende herziehen zu sehen, die unsern bemooseten Spiel- und Begräbnisplatz immer höher überschneien und auf uns neue Städte und Gärten und auf diese wieder neuere und so ungemessen fort aufschlichten, dieses ewige, immer tiefere Eingraben und Überbauen verfinstert und belastet uns das freie Herz. Dadurch verdorret uns die Gegenwart zur Vergangenheit, und sie wird von totem Schimmel traurig überzogen. Der Geist des Menschen hasset nach seiner Natur die Veränderung, erstlich weil er sie außer sich nur bei großen Schritten und nie in ihrem ewigen Schleichen wahrnimmt, und zweitens weil er sie in sich weniger merkt, wo er der unveränderliche Schöpfer seiner eignen ist; dem Regenbogen und Lauffeuer in und außer sich sieht er nicht an, daß immer nur neue Tropfen und neue Funken sie bilden.

Und gerade am Nachmittage, wo ich mein Inneres mit Trauertuch ausschlug und den Flor anlegte für das einschlummernde Jahrhundert, war ich ganz allein in meinem Schlößlein zu Mittelspitz – Hermine war in der Stadt bei einer kranken Freundin und wollte erst nachts heimkommen, »obwohl noch in diesem Jahrhundert«, nach dem gewöhnlichen säkularischen Scherz, den der Mensch nicht lassen kann – ich saß oben einsam in meinem Museum, unsere Magd war unten im Bedientenzimmer – wegen der grimmigen Kälte lagen alle Lehnsmänner meiner mittelspitzischen Krone in ihre Schneckenhäuschen eingespündet, und das dunkle Dörfchen war still. –

Mir war nicht wohl, sondern etwa so in meiner Haut, als hätte sie mir Nero harzig anpichen und annähen lassen, um mich in seinem Garten zu lanternisieren. Ein ätzenderes Sublimat für flüssige Gelehrten-Nerven konnte wohl schwerlich erdacht werden, als rechte Dezemberkälte ist; jeder Schnee ist ein Märzschnee, der sie abfrisset, der Frost ist ein Baumheber für unsere Wurzeln, kurz, wenn Todes- und Fieberkälte ein Autodafé ist, so ist Winterkälte ein Autillodafé. Leben kann man ohnehin nicht, nur leiden. So schwächten nun Frost und Migräne gemeinschaftlich alle Entschlossenheit in mir, die ohnehin zur Winterszeit in keinem Wesen zunimmt, das nicht gerade ein Wolf ist.

Claudia Voglhuber wideeyedtree, WinterBeklommenheit umspannte mein Herz, ich sah den Menschen trotzig mit dem Schwerte in der Hand unter einem über dem Haupte fechten und sah das Haar nicht einmal, das es trug. Noch engbrüstiger setzte ich mich nach dem einsiedlerischen Essen in die Fenster-Ecke, bedeckte die Augen mit der Hand und ließ alles vor mir vorüberziehen, weswegen der Mensch das Leben eitel und nichtig nennt – schnell eilten die künftigen Jahrhunderte, wie Fixsterne vor dem Sternrohr, vorbei, endlich kamen lange Jahrtausende und trieben ein Volk nach dem andern aus den Städten in die Gräber; die Generationen verfolgten einander wie fliegende Strichregen und schossen in die Grüfte herunter und rissen den Himmel auf, worin der Todesengel sein Schwert durch die Welten hob und keine Sterbenden, sondern bloß das Sterben sah. –

Während dieser Phantasien war mir einige Male gewesen, als hört‘ ich leise Worte; endlich vernahm ich nahe an mir diese: »Die drei Propheten der Zeit«; ich tat die Hand vom Auge – – die wunderbare Nacht-Gesellschaft war im Zimmer. Ein langer, totenblasser, in einen schwarzen Mantel gewickelter Jüngling mit einem kleinen Bart (wie der an Christusköpfen), über dessen Schwarz die Röte des lebendigen Mundes höher glühte, stand vor mir, mit einem Arme leicht auf einen Stuhl gelehnt, worauf ein erhaben-schöner, etwa zweijähriger Knabe saß und mich sehr ernst und klug anblickte. Neben dem Stuhle kniete eine weißverschleierte, mit zwei Lorbeerkränzen geschmückte Jungfrau, von mir weggekehrt gegen den hereinstrahlenden Mond, eine halb rot, halb weiße Lankaster-Rose in der Hand, eine goldne Kette um den Arm – die Lage vor dem Knaben schien ihr vom schwesterlichen Zurechtrücken seines Anzugs geblieben zu sein. Sie glich mit der niedergebognen Lilie ihrer Gestalt ganz Lianen, wie ich mir sie denke, nur war sie länger. Auf dem Kanapee saß eine rotgeschminkte Maske mit einer seitwärts gezognen Nase und mit einer Schlafmütze; neben ihr ein unangenehmes mageres Wesen mit einem Schwedenkopf und feuerroten Kollet, höhnisch anblinzelnd, das nackte Gebiß entblößend, weil die Lippen zu kurz waren zur Decke, und ein Sprachrohr in der Hand.

Himmel! wer sind sie, wie kamen sie, was wollen sie? – An Räuber dacht‘ ich nicht im geringsten – so nahe auch der Gedanke lag, es könnten ja während unsers Dialogs Helfershelfer mich ausstehlen, mir die Juwelen einpacken und das Federvieh aus den Ställen treiben –; die edle feierliche Gestalt des bleichen Jünglings vertrat mir sogleich diesen kleinlichen Argwohn. Ob es nicht Wesen entweder der zweiten Welt oder meines Gehirnglobus sind? Wahrlich diese Frage hatt‘ ich später zu tun. Sonderbar wars, daß sie mir alle ganz bekannt vorkamen, sogar die Stimme der Maske, indes ich mich doch keines Namens entsann.

Claudia Voglhuber wideeyedtree, WinterAus einem gelinden Nervenschlag – nicht aus elender Mutlosigkeit muß es abgeleitet werden, daß ich unvermögend war, mich zu regen, geschweige zu erheben, als der hohe Jüngling winkte und langsam sagte: »Tritt in das Reich der Unbekannten und frage nicht, wir verschwinden mit dem Jahrhundert – das eine Jahrhundert erntet der Mensch, das nächste erntet ihn – der Engel der Zeit1 fliegt mit sechs Flügeln, zwei decken ihren Ursprung, zwei decken ihren Ausgang, und auf zweien rauscht sie dahin – Heute heben wir die Flügel auf, die auf ihrem Antlitz liegen!« – »Schaudert nicht, mein Herr,« (sagte die Maske und ihrzete mich, wie Leute tun, die lange in Frankreich und Italien gewesen) – »wenn alles Erscheinung hienieden ist, so ist der Schauder darüber auch eine und nicht sehr erheblich – der Ernst ist ein wahrer Spaßvogel und der Spaß ein Sauertopf, ich stehe mit beiden auf freundschaftlichem Fuß – Bossu versichert, in die Nacht sei keine Tragödie zu verlegen; das wollen wir heute sehen, wenn der Polterabend des Jahrhunderts verstummt in einer Minute um 12 Uhr, nämlich in der sechzigsten.« –

»Mein Name ist Pfeifenberger« (redete der widrige Schwedenkopf mich durch das angesetzte Sprachrohr, aber leise, an) – »Wir sind die drei Propheten der Zeit und weissagen Ihm, mein Freund, so lange, bis das Jahrhundert dezembrisiert ist. Ich spreche zuerst.« –

Die Jungfrau schwieg, der Knabe sah unwillig gegen den Schwedenkopf, der schöne Jüngling hatte die Hand der Jungfrau genommen und beschauete auf dem Ringe ein herrliches großes Auge, dem gleich, unter welchem sonst die Maler den Allsehenden vorstellten.

Pfeifenberger fing an: »In der künftigen Zeit wird freie Reflexion und spielende Phantasie regieren, keine kindischen Gefühle; man wird keinen Namens- und Geburts- und Neujahrstag mehr feiern und kein Ende des Jahrhunderts, weil man nicht weiß, wenn es schließet, ob bei dem ersten Viertel- oder letzten Glockenschlage, oder ob bei dem Ausgehen oder bei dem Anlangen des Schalles; und weil in jeder Minute 100 Jahre zu Ende sind. Auch wird die Erde, eh sie verwittert, noch oft von anno 1 an datieren, wie die Franzosen – Die Juden und Priester werden aufhören, und die Völker, die Weiber, die Neger und die Liebe frei werden – Sprachgelehrte werden in alten Bibliotheken nach einer Edda und nach einer Bibel forschen, und ein künftiger Schiller wird das Neue Testament lesen, um sich in die Charaktere eines Christen und Theisten täuschend zu setzen und dann beide aufs Theater – Griechenland wird wie Pompeji den Schutt der Zeit abwerfen, und von keiner Lava übergossen, werden seine Städte in der Sonne glänzen – Große Geschichtsforscher werden, um nur etwas von den Begebenheiten und Menschen des barbarischen, kleinstädtischen, finstern Mittelalters (so nennen sie das aufgeklärte Jahrhundert) zu erraten, sogar einen daraus übrig gebliebnen homerischen Hans Sachs studieren, von dessen Werken ein künftiger Wolf erweisen wird, daß sie von mehreren Sängern zugleich gemacht worden, z.B. von einem gewissen Pfeifenberger – Was freilich Seine opuscula omnia anlangt, mein guter Freund,« (hier lächelte das Eisfeld; denn zu einem Eisberg war das Ding nicht kräftig genug) »so wird es dem besten Literator, der sich zum Studium der seltensten Inkunabeln sogar bis ins 20. Jahrhundert zurückgewühlet, nicht glücken wollen, mit irgendeiner Notiz von Ihm und Seinen Schreibereien auszuhelfen.« –

– Es wäre mir in dieser Gespensternacht nicht zu verdenken gewesen, wenn ich von diesem Überläufer aus dem jenensischen Amizistenorden in den Inimizistenorden einige Male geglaubt hätte, den lebendigen Teufel vor mir zu haben. Aber seine Hoffnung, daß die kultivierte Zukunft keinen Gott und Altar mehr haben werde, wie bei den Juden nur unpolierte Steine zum Altare taugten – sein vernünftiger Frost, worin keine Blumen mehr wachsen als die aus Eis – seine perennierende Aufgeschwollenheit, die ihn gegen jede Rüge verpanzert, wie nach dem Plinius sich der Dachs durch Aufblasung gegen Schläge verwahrt – und seine Bitterkeit, die jetzt die sanftesten Neuern (mich selber ausgenommen) mehr an als in sich haben, so daß sie wirklich so gut zu genießen sind als die Staren, denen man, bevor sie gebraten werden, bloß den bittern Balg abzieht – – alles dieses zeigte leicht, daß er mehr zu den sanften Neuern zu schlagen sei als zu den Teufeln selber.

Claudia Voglhuber wideeyedtree, WinterObgleich die Pfeifenbergerische Bosheit wieder Lebensfeuer unter meinen vom Gespensterhauche kalt geblasenen Nerven anschürte: so machte doch die Kälte, womit der Schwedenkopf menschliche Gesichter in Brot bossierte und die Physiognomien einem schwarzen Spitz unter dem Kanapee zu fressen gab, mir es schwer, ihm wie einem rechten Menschen zu begegnen. Ich fing denn so gefasset, als ich konnte, an: »Ich antwort‘ Ihm, mein Pfeifenberger, auf Seine Weissagung nur mit Still- und anderem Schweigen, besonders puncto meiner. In kalte Zeiten, wo die Menschen nichts mehr im Herzen haben als ihr Blut, verlang‘ ich nicht einmal hinein; leider sind jene von der ewig wachsenden Volksmenge des Erdballes zu fürchten, die wie eine große Stadt und Reise und aus gleichem Grund Kälte gegen Menschenwert mitteilt; der Mensch ist jetzt dem andern nur im Kriege so heilig wie sonst im Frieden, und im Frieden so gleichgültig wie sonst im Kriege. Übrigens bescheid‘ ich mich gar gerne, daß Jahrhunderte, ja Jahrtausende kommen, die mich nicht lesen. Wie bisher, so muß künftig mit der Ausdehnung und Durchkreuzung der Wissenschaften, mit dem Veralten der Schönheiten und mit der Übung des geistigen Auges die Kürze des Stils, die Verwandlung alter Bilder in neue Farben und kurz der ästhetische Luxus höher steigen; mithin wird ein zeitiger Schreiber wie ich zwar anfangs noch eine Zeitlang als korrekt mitlaufen, aber endlich werd‘ ich als gar zu nüchtern, als ein zu französischer ha- und magerer zweiter Gellert, der bloß glatt- und matten Leipzigern gefallen will, beiseite geschoben. Niemand ist wohl von diesem Unglück mehr fester überzeugt als ich selber. – Irgend einmal wird Sein und mein Deutsch, Freund, sich zu dem künftigen verhalten wie das in Enikels Chronik zum jetzigen; wir werden also geradesooft auf den Toiletten aufgeschlagen liegen als jetzt Otfrieds Evangelium, nämlich bloß um die einfältige Schreibart und die Reinheit der Sitten zu studieren an Ihm und mir.

Wahrlich bei einer gar zu langen Unsterblichkeit verflüchtigt sich der Autor, und nur der Bodensatz, das Werk, sitzt fest; ich wünschte nicht, ein Konfuze, Homer oder Trismegistus zu sein (ihre breiten Namen sind in ein unartikuliertes Luft-Pfeifen zerfahren), sondern lieber etwas Näheres und Kompakteres, etwa ein Friedrich II., oder ein J. J., oder ein Pfeifenberger nach Seinem Tod.« –

Hier wurd‘ ich, zumal in einer so kranken Haut, ungemein erweicht von einem benachbarten Gedanken: »Ich werde also so gut verschwinden«, fuhr ich fort, »wie mein Jahrhundert – die Sanduhr der Zeit wird ihren Hügel so gut über mich gießen wie über den Hesperus am Himmel, wahrlich ich werde und muß einen letzten Leser haben ……. Letzter Leser – – eine wehmütige und sanfte Idee! Beim Himmel! ich häng‘ ihr irgend einmal nach und rede den Menschen an und sage etwan:

O du, in dem ich mit meinen spielenden Kindern und mit meinem ganzen Herzen zuletzt wohne, sei der Seele günstig, an die auf der weiten Erde und in der weiten Zukunft kein Freund mehr denkt als du, und deren Träume und Welten und Bilder alle sterben, wenn du entschläfst.« –

Der Knabe nickte, als meint‘ ich ihn. Der ernste Jüngling schien niemand zu hören.

Claudia Voglhuber wideeyedtree, WinterJetzt fing die geschminkte Maske einen entsetzlich-langen Perioden an und sagte mit eintöniger ergreifender Stimme: »Wenn die große Uhr in der Marienkirche zu Lübeck nicht mehr zu brauchen sein wird, weil sie gar zu oft umgestellet worden, und weil auch der Mond schon anders umläuft als sie2 – Wenn mancher Hottentott noch einen alten, nach »verbesserter und alter Zeit wohl eingerichteten lustigen Historienkalender auf das gemeine Jahr 100000« vorweisen kann, den seine Ururgroßeltern durchschießen lassen, um Termine, Gäste und Haushaltungssachen auf treuherzige alte Weise (der Enkel kanns nicht ohne Lächeln lesen) einzutragen – Wenn die bittere Zeit dagewesen ist, wo Menschenliebe in keinen Herzen mehr war, außer in denen der Hunde – Wenn, obwohl lange nach der Eroberung Europas durch die Amerikaner, der häßliche Weißen-Handel aufgehört, den die Schwarzen zum Teil nach ihren nordindischen Besitzungen hin getrieben – Wenn wegen der entsetzlichen Bevölkerung alle Dörfer sich zu Städten ausgebauet und die großen Städte mit den Toren aneinanderstoßen und Paris bloß ein Stadtviertel ist und der Landmann oft auf seinem Dache ackert, das er ganz artig urbar gemacht – Wenn in ganz Europa so schwer ein hölzernes Haus zu finden ist wie jetzt ein goldnes, bloß weil man bei dem mir begreiflichen Holzmangel statt der Silberstangen Holzstangen sowohl aus Indien holen muß als aus unsern Schachten, wo die Vorwelt sie so vorsichtig aufgespeichert; daher es leicht zu erklären, warum man dann Glas nur mit sich, nämlich mit Brenngläsern macht, und warum man im Winter so künstlich von außen heizt mit der Sonne durch besonders geschliffne Scheiben – Wenn endlich, weil durch ewiges Graben und Münzen das Geld schon lange zu spartischem Eisengeld devalviert geworden, nur Perlen die kleine Münze sind und Juwelen die große – Wenn die Prachtgesetze die einfache alte wohlfeilere Tracht zurückgeführt, indem sie überall auf Seide bestanden, und wenn die Mode die höchsten Verlängerungen und Verkürzungen (bis zur Nationalkleidung der Menschheit, der Nacktheit) und jede Versetzung durchgespielt, so daß bei Weibern die maillots3, die Schürzen am Hals, die am Rücken, die hinten offnen Totentalare, die bed-mats, und bei Männern die mat-beds, die peaux de lion, die Berghabite, die hinten zugeschnallt und zugespitzten Schuhe, die hinten zugeknöpften Röcke, der doppelte Schuh4 und die Schleier und Schürzen wieder schon ein paarmal ab- und aufgekommen sind – Wenn die Handwerker und Gelehrten in immer kleinere Subsubdivisionen auseinandergewachsen5 – Wenn das letzte wilde Volk aus seiner Puter-Eierschale ausgekrochen, und zwar schneller als das erste6, weil alle zahme an der Schale hackten, wenn zwischen allen Völkern, wie jetzt zwischen Herrnhutern und Juden, die Schiffe wie Weberschiffe verwebend hin- und herschießen und der Thüringer seinen nordamerikanischen Reichsanzeiger mithält und den afrikanischen Moniteur – Himmel! wenn dann der ganze Globus schreibt, der Nord- und der Südpol Autor ist und jede Insel Autorin, wenn Rußland die Werke selber verfertigt, die es eben daher früher nicht eingelassen, und die Molucken mit den Gewürzen aus Habsucht die Makulatur dazu liefern und die Kamtschadalen alle die Blasphemien, Zweideutigkeiten und Höhnereien, die sie vorher mündlich verrauchen ließen, besser in Romane auffangen; wenn natürlicherweise eigne Städte gebauet werden müssen, wo bloß Bücher wohnen, so wie ganze Judengassen bloß für schreckliche Registraturen; wenn die Menge so herrlicher Genies und die Menge der Nationalgeschmäcke so vieler Inseln, Küsten und Jahrhunderte die höchste Toleranz, Übersicht, Vermischung und Laune geboren – Wenn man die Wolken so richtig wie kürzere Sonnenfinsternisse prophezeien kann, Schwanzsterne ohnehin; und wenn die Flora und Fauna im Monde so gut bearbeitet ist als die Länderkunde des Abendsterns – Wenn alle Raffaele verwittert, alle jetzigen Sprachen gestorben, neue Laster und alle mögliche Physiognomien und Charaktere dagewesen, die Zartheit und Besonnenheit und Kränklichkeit größer, die Hohlwege zehnmal tiefer und die tiefsten Wahrheiten platte geworden – Wenn Flotten von Luftschiffen über der Erde ziehen und die Zeit alle ihre griechischen Futura durchkonjugiert – Wenn alles unzählige Male dagewesen, ein Gottesacker auf dem andern liegt, die alte runzlichte graue Menschheit ein Jahrtausend nach dem andern vergessen und nur noch, wie andere Greise, sich ihrer schönen Jugendzeiten in Griechenland und Rom erinnert und der ewige Jude, der Planet, doch noch immer läuft – – sag an, o bleicher Jüngling, wenn schlägt es in der Ewigkeit 12 Uhr, und die Geisterstunde der Erd-Erscheinungen ist vorbei?« –

»Ach Gott,« (sagte der Knabe sonderbar-klug) »das Leben ist lang, aber die Zeit ist kurz, sie hat nichts als Augenblicke – Alle Uhren gehen sehr« (wobei er eine herauszog und ansah, auf der sieben übereinander stehende Weiser7 unten rückten, liefen und oben pfeilschnell flogen) – »O die große Uhr rasselt schon und schlägt das Jahrhundert aus – dann fliegt die weiße Taube sehr anmutig durch die Sterne, und die Toten des Jahrhunderts ziehen getrost.« Hier schlang er sich an die Brust der Jungfrau und gab seine Uhr mit den sieben Zeigern der Maske. »Die große Uhr draußen hat freilich«, sagte diese, »ein Richtschwert zum Perpendikel, und das ist Geistern ganz fatal.«8

Er trug die schwindelnd ineinander laufende Uhr unter den Spiegel. Fürchterlich war es mir, als ihn der Spiegel nicht abbildete und die andern auch nicht. – Im Hintergrunde des Zimmers stunden wieder neue unkenntliche Gestalten, die alle strenge auf ihre Uhren sahen – Der Schwedenkopf drehte bald umarmende Menschen, bald Herzen aus Brot und fütterte den schwarzen Hund. – Die Jungfrau faltete sanft die Hände empor, aber unter dem Erheben überzog sich das göttliche Auge des Ringes mit einem weißen Augenlid. – Mein Herz zuckte bange zurück vor dem nächtlichen kalten Anwehen eines hin- und hergeschwungnen Dolchs und vor dem ersten Glockenton, der das Jahrhundert ausmachte.

Der Mond strahlte plötzlich den Jüngling an; groß, unbeweglich, bleich, aber voll Glanz fing er an, ohne der Maske zu antworten, und unter der Rede bebten tiefe Töne im Klaviere, aber keine Taste regte sich:

»Es gibt einmal einen letzten Menschen – er wird auf einem Berg unter dem Äquator stehen und herabschauen auf die Wasser, welche die weite Erde überziehen – festes Eis glänzet an den Polen herauf der Mond und die Sonne hängen ausgebreitet und tief und nur blutig über der kleinen Erde, wie zwei trübe feindliche Augen oder Kometen – das aufgetürmte Gewölke strömet eilig durch den Himmel und stürzet sich ins Meer und fährt wieder empor, und nur der Blitz schwebt mit glühenden Flügeln zwischen Himmel und Meer und scheidet sie9 – Schau auf zum Himmel, letzter Mensch! Auf deiner Erde ist schon alles vergangen – deine großen Ströme ruhen aufgelöset im Meere. –

Claudia Voglhuber wideeyedtree, WinterDie alten Menschen, in welchen die frühern Alten lebten, wie Versteinerungen in Ruinen, zergehen unter dem Meere – nur die Welle klinget noch, und alles schweigt, und das Geläute der Uhren, womit deine Brüder die Jahrhunderte wie einen Bienenschwarm verfolgten, regt sich nicht im Meeressand – Bald flattert das noch von dir bewohnte Sonnenstäubchen hinauf, und die größern blinkenden Staubkörner auch; aber die Sonne trägt den Kindersarg der Menschheit leicht im Arm und hüpfet, von deiner Flugerde schwach bestäubt, jugendlich, obwohl kinderlos, mit andern Schwestern um die Muttersonne weiter… Schwacher Sterblicher! der du vor allem zitterst, was älter wird als du, höre weiter! Auch die Sonnen der Milchstraße ergreifen endlich einander feindlich und umschlingen sich kämpfend zu einer Riesenschlange, und eine chaotische Welt aus Welten arbeitet brennend und flutend – Aber im unendlichen Himmel hängt ihre schwarze und feurige Gewitterwolke nur unbemerkt und klein, weit über und unter ihr schimmern die Sterne friedlich in ihren tausend Milchstraßen. – Vernimm weiter, Erschrockner! In der Ewigkeit kommt ein Tag, wo auch alle diese Straßen und weißen Wölkchen sich verfinstern und wo in der weiten Unermeßlichkeit nur Gewitterwolken ziehen, aus Sonnen gemacht, und wo es dämmert in der ganzen Schöpfung… Dann ist Gott noch; er steht licht in der Nacht, seine Sonne zog die Sonnen-Wolken auf, seine Sonne zerteilt sie wieder – und dann ist wieder Tag. – – Und nun sprich nicht mehr von der kleinen Vergangenheit der kleinen Erde. – Gott hat den Donner und den Sturm in der Hand und den Schmerz und ordnet die Ewigkeit – und das weiche Würmchen pflanzet sich doch fort durch die stürmischen Jahrtausende; – aber der Mensch, die Parze der Erde, die auf Würmchen auftrat, und die überall Opfer foderte und machte, klagte über die höhern für das Höchste. – – Der Unendliche und die Sonne waren ihm, so wie seine Erdscholle sich auf- oder unterwärts kehrte, bald im Auf-, bald im Untergang – Tor! sie haben beide keinen Morgen und Abend, sondern sie glänzen ewig fort, aber sie ziehen mit dir und deinem Ball in die unbekannte Gegend10 – – Letzter Mensch, denke nicht nach über die lange Welt vor und nach dir; im Universum gibts kein Alter – die Ewigkeit ist jung – sinke in die Welle, wenn sie kommt, sie versiegt, und nicht du!« –

Der edle Jüngling hatte vor Entzückung die Augen geschlossen, und der Schnee seines Angesichtes war zu Glanz geworden. Plötzlich änderte sich alles in der überirdischen Minute; der Knabe rief schreckhaft: »Es wird 12 Uhr; meine Weiser stehen.« Auf der Uhr mit sieben ruhten schon fünfe übereinander, und nur die schnellsten flogen noch um. »Draußen fliegt schon die Taube aus Osten«, rief jemand, und die Turmuhr schlug aus.

Ich blickte durch das Fenster, und in den langen Bogen des Fluges zog eine blendende Taube unter den Sternen durch den tief-blauen Himmel hin; und Luftschiffe voll unbekannter Gestalten jagten nach, und eines ging wie unter Schleiern vorüber, worauf alle Menschen waren, die ich innig geliebt und nur am Grabe verloren habe – und dann schoß eines vorüber, worin der Knabe und die verhüllte Jungfrau ruhten; und Sterne fielen in ihr Schiff, sie aber warfen Rosen aus.

Ich blickte nach dem Zimmer zurück. Welches ringende Geister-Chaos! Die alten Gestalten gingen durcheinander – neue liefen zwischen sie – die Saiten klangen ungespielt – der Knabe, die Jungfrau und der Jüngling waren entflohen – In dem von innen hell erleuchteten Spiegel war nichts als mein sitzendes Bild; dieses richtet sich auf, bewegt sich, tritt nahe vor das Glas und will drohend heraus und sagt, mich anblickend: »O seh‘ ich mich dort selber? – Warte, Lufterscheinung, ich fürchte dich nicht, ich setze mir, wie Nicolai, einen Blutigel an den After, und dann zerfließest du.« – O wie ist der Spieler, der Mensch, ein Spiel! – Glühende Toten-Asche legte sich finster auf mein Auge – das gepreßte Leben schlug gewaltsam gegen die kleinste Ader an – endlich bückte sich der überströmte Kopf und ließ sein heißes Blut aus sich fließen.

Zugleich lauter und dunkler wurd‘ es um mich; ein schärferes Getöne umfloß den Betäubten und warf höhere Wellen, um das Leben wegzuspülen; aber die Gestalten fingen zu erblassen und zu weichen an, selber die Maske wurde weiß – peinlich dröhnten in meine offnen Adern die langsamen Glockenschläge von 12 Uhr wie Kanonenschüsse neben der Gruft des Jahrhunderts, und ich erwartete bebend den zwölften – aber er verzog, der Tod hielt die Streitaxt des Glockenhammers immer aufgehoben, und die zusammenrinnende Menge, weiß wie Ertrunkne, murmelte immer banger: zwölf, zwölf – – als auf einmal eine blühende, beseelte die Türe öffnete und durch die luftigen Figuren durchging und mit einer teuern lebendigen Stimme meinen Namen nannte: ach es war meine Hermina. O wie der Mensch nur durch den Menschen in das Tageslicht des Lebens tritt, indes er in der auflösenden Einsamkeit auf seinen Geist und Leib nur wie auf einen toten fremden, unter ihm zuckenden Torso niedersieht! –

Durch die gute Erschrockne und durch die Krisis der blutenden Natur kam ich aus meinen Bildern zurück, die sich immer mehr verglaseten und sich endlich nur zu zerstreueten Gliedern eines Antikenkabinetts zersetzten. Pfeifenberger hielt sich am längsten und wollte schwer zerfahren, und sogar als er schon verflüchtigt war, streckt‘ er noch sein Sprachrohr aus. Ich beruhigte die gute Hermina durch Nicolai, dem ähnliche Erscheinungen viel länger zugesetzt11, der sie aber mit besserer Entschlossenheit empfangen als ich.

Claudia Voglhuber wideeyedtree, WinterWie erstaunt‘ ich, als mir Hermina sagte, sie habe ihr Wort gehalten, noch früher zu kommen als das 19te Säkulum. Es war erst 11 Uhr; so richtig hatte das innere Ohr, das immer den zwölften Schlag begehrte, mitten unter den Stürmen nachgezählt; dieser stille Sonnenzeiger in uns bewies sich schon bei Wahnsinnigen und am Ende bei Schlafenden, die in der vorgesetzten Stunde erwachen. Aber nun war ich für die letzte Szene des fünften Akts ganz kalt. Ein Jahrhundert schwand ein vor den gigantischen Jahrmillionen, die der Jüngling vorübergeführt; und selber die Lebendigen schienen mir, wie die wunderbare Gesellschaft, sich jetzt leichter zu entfärben und aufzulösen. Die frische Sonne, dacht‘ ich, wird morgen (wie in ein altes Menschenherz) in das Gebeinhaus des alten Jahrhunderts scheinen auf zerschlagne Statuen, Torsos, Aschenkrüge und Ruinen; und sie wird ein neues herüberbringen, das die Erde mit dem Interdikt belegt, das die Altäre entkleidet, die Reliquien vergräbt und die Heiligenbilder mit Disteln bedeckt und die Tempel verschließet. Aber sie tu‘ es denn! Ein trübes Jahrhundert ist in der langen Jahrszeit der Erde nur ein fliegender Maifrost, eine Sonnenfinsternis; o wie viele und Stürme dazu sind schon bei Frühlingsanfang dagewesen! – Aber das bessere Herz bleibe sich nur treu und verstumme nicht vor der tauben Zeit. Am Nordpol versteinert (nach dem Märchen) der Winter den Strom der Musik, aber in den Frühlingslüften fließen die aufgelösten Töne wieder laut dahin: so wird manches warme Wort erstarren, und die heiligen Laute wird niemand hören; aber sprecht sie aus, es kommt die mildere Zeit, und dann klinget die Äolsharfe aus der rauhen neu.

Weich, aber gestillt stand ich mit Hermina am Fenster vor dem zauberisch wie ein Frühlingshimmel auf die winterliche scharfe Erdennacht erhaben herunterleuchtenden Sternengewölbe, und wir feierten sanft die ernste Stunde. Der Mond schwamm einsam in einem weiten reinen Blau, gleichsam das große Auge auf dem Ringe der Jungfrau, und weit von seiner Lilienglocke waren die Maienblümchen kleiner Sterne gesäet. »O wie gut ist es, Hermina,« (sagt‘ ich, als ich ihre von der Reise sanft nachglühenden Wangen ansah) »daß du vorhin nicht unter den Gestalten erschienest, die neben mir blaß wurden – es hätte mich zu sehr ergriffen.« – »Du hast ihr Gesicht nicht gesehen,« sagte sie, »vielleicht war ich die kniende Gestalt mit dem Schleier.« – »Das verhüte Gott,« (sagt‘ ich) »denn die Verschleierte saß mit auf dem Toten-Schiff, das durch den Himmel flog – Rühre mich heute nicht sehr – ich bin ganz aufgelöset, und noch immer schießen mir weiße Gesichter auf, und es tönet mir noch von weitem her.« Da ging die Gute, gleichsam um das Tönen zu überstimmen, an das Klavier und sang ihr liebstes Abendlied, mit den betenden Augen an den Sternen liegend; und unter den heiligen Tönen, die unser Herz verjüngten und es wieder in seinen ewigen Frühling trugen, löseten sanft und kaum bemerkt die Jahrhunderte einander ab.

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[Fußnoten:]
1 Zwei Flügel verhüllen die Füße der Seraphim, zwei das Haupt, zwei tragen sie.

2 Sie zeigt den täglichen Stand und Gang der Himmelskörper etc. bis zum Jahr 1875; dann muß sie verändert werden.

3 Ich brauche den Leserinnen wohl nicht zu sagen, daß dieses erst zukünftige Moden sind.

4 An den jetzigen eigentlich halben Schuh wird nämlich künftig hinten ein neuer angebauet, der leer bleibt wie unser hoher Hut.

5 Der Wilde und der westfälingische Bauer machen sich, wie der Redner Gorgias, alles selber, mit der Kultur teilen sich die Handwerker auseinander diese Abteilungen werden sich wieder spalten und z.B. die Mundköche sich in Vögel-, Fischköche etc., diese wieder in Lachs-, Forellen-, Karpfen- etc. Köche sondern. Bei den Gelehrten werden die Abästungen noch üppiger ausfallen. Z.B. in der ungeheuer aufwachsenden Geschichte wird jedes Volk, jedes Jahrtausend seinen eignen Historiker fodern, der von seinem historischen Wandnachbar gar nicht zu wissen braucht, daß er in der Welt ist.

6 Völker (wie Kinder moralisch und physisch) wachsen anfangs am schnellesten und stärksten; in einer gewissen Höhe der Kultur kann die Menschheit sich nur langsam ändern und höher heben, wie alle Sterne vom Horizont schneller aufsteigen als von der halben Bahn.

7 Nämlich die Terzie wieder in 60 Teilchen, jedes wieder in 60, und dieses wieder geteilt.

8 Geister fliehen nach dem Aberglauben Richtschwerter.

9 Die Astronomie beweiset, daß sich die Erde der Sonne (wie nach Euler der Mond der Erde) in einer Spirale immer näher drehe; und schon die Mechanik beweiset es, da es ebensowenig außer als auf der Erde ein perpetuum mobile geben kann, weil ja Kraft und Zeit im umgekehrten Verhältnis stehen und mithin jene null würde, wenn diese unendlich würde. Aber ehe der Planet zur Sonne wird (wie der Mensch zur Erde), wovon er genommen ist: so ist weniger die Erhitzung des Erdkörpers – die z.B. nicht bisher mit der Sonnennähe am Äquator unter den geraden Strahlen wuchs und die ja nicht vom Sonnen-Abstande abhängt, da wir keine diversen Merkmale desselben in den fernsten und nächsten Planeten entdecken – als seine Überschwemmung zu befürchten, weil – außer dem, daß alle Meere immer gegen den Äquator hinaufströmen – die nähere Anziehung der Sonne, des Mondes und mithin der andern Planeten, wie in den Äquinoktien, fürchterlich die Flut der Meere und ebenso des Dunstkreises und zuletzt der Elektrizität auftreiben und über unsere Ameisenhaufen, die wir vom Maulwurf des Erdbebens geerbet, herüberstürzen muß.

10 Bekanntlich bewegt sich die Sonne mit ihrem Gefolge nach einem noch unbekannten Ziel im Norden des Himmels.

11 Dem Publikum sind die Gestalten, die Nicolais Augen und Ohren erschienen, schon bekannt. Ich kenne drei zartorganisierte und phantasiereiche Mädchen, welche dieselbe optische Plastik quälte. Es kann keinem Psychologen schwer fallen, meine optische Nachdruckerei der Wirklichkeit, diese größern mouches volantes, sich zu erklären, wenn er den Frost, die Nervenschwäche, die Einsamkeit und das Abendessen und Trinken zusammennimmt. Ja jedes Wort der wunderbaren Gesellschaft getrau‘ ich mir aus den Betrachtungen herzuleiten, die ich nachmittags über die Zukunft angestellt; und selber die drei Akteurs (wie anfangs in der griechischen Tragödie) scheinen nur Söhne und Konterfeie der Charaktere zu sein, denen ich im Aufsatz für dieses Werkchen meine säkularischen Betrachtungen soufflieren wollen. Der Schwedenkopf ist eine offenbare Reminiszenz des wilden Jägers, der jetzt aus dem jungen burschikosen Jena ausreitet und dessen Jagdpersonale, Wildzeug, Hifthörner, Hundekoppel und Weidwerk, am Tageslicht besehen, auf ein Mandel mausender Eulen hinauslaufen. – Manches ist aus den Gemälden meines Zimmers zu erklären, z.B. aus Da Vincis Christus im Tempel.

Claudia Voglhuber wideeyedtree, Winter

Bilder: Claudia „wideeyedtree“ Voglhuber: Winter, 6. Januar 2016 bis 19. Januar 2022.

Soundtrack: Ocie Elliott: Free, aus: Know the Night, 2023,
in: wideeyedtree: Free in Your Mind, 21. November 2023:

Bonus Track:

——— The McCalmans:

New Year’s Eve Song

aus: Honest Poverty, 1993:

1. I have seen you tossing restless
     between midnight and day,
Paying back the debts of many years,
Staring out the window
     till the mist has burned away,
Waiting for the sun to dry your tears.
I’ve seen you young, I’ve seen you old,
I’ve seen you lost and found,
I’ve seen you sit and cry without a sound.

2. I have seen you in the lamplight
     with the hard lines in your face,
And the shadows of your fears upon the wall.
But crying is no weakness
     and to lose is no disgrace,
You see we’re not so different after all.
But can’t you tell, by the ringing bell,
Then old year’s moving on,
I’d like to say one thing before it’s done.

3. May whatever house you live in
     have flowers round the door,
And children in the bed to keep you warm,
May the people there accept you
     for what you really are,
And help you find some shelter in the storm.
And morning rain, to ease the pain,
That comes with being free,
May the new year bring you freedom peacefully.

Written by Wolf

29. Dezember 2023 at 00:01

Dornenstücke 0016 und 0017: Dann lächelt der Vampyr, dann fahr‘ zurück und senke tief, o tief in dich den Blick (O Israel, wo ist dein Stolz geblieben?)

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Update zu 2. Stattvent: Rorate coeli desuper! (Die Welt, ein weites Grab)
und Sonntag 7 von 7: Wo bleibt der Tröster?:

Drei Haselnüsse für Aschenbrödel, 1973

Den vierten Advent und den Heiligen Abend am selben Tag gibt es ungefähr alle sieben Jahre. Das ist mit der gleichen Wahrscheinlichkeit, dass jemandes Geburtstag — oder sonst jeder andere Kalendertag auch — auf einen Sonntag fällt, ins schwer Berechenbare verschoben durch die Schaltjahre. Der Zusammenfall geschah zuletzt 1978, 1989, 1995, 2000, 2006, 2017 und 2023, nächstmals geschieht es 2028. Der Vorteil davon ist: Wenn der Advent nur drei Wochen dauert, darf man moralisch den Stollen dichter gedrängt wegfuttern.

Und wir dürfen gleich zwei Gedichte aus dem notorisch unterschätzten Geistlichen Jahr der Freiin Droste sinnhaft verschüren.

Drei Haselnüsse für Aschenbrödel, 1973

——— Annette von Droste-Hülshoff:
aus: Das geistliche Jahr : nebst einem Anhang religiöser Gedichte, 1820/1851:

Am vierten Sonntage im Advent

Ev.: Vom Zeugnisse Johannes.
Sie fragten: „Wer bist du?“ – und er bekannte und
leugnete nicht: „Ich bin eine Stimme des Rufenden
in der Wüste. – Ich taufe euch mit Wasser, aber er
steht mitten unter euch, den ihr nicht kennt.“

Fragst du mich, wer ich bin? Ich berg‘ es nicht:
Ein Wesen bin ich sonder Farb‘ und Licht.
Schau mich nicht an; dann wendet sich dein Sinn;
Doch höre, höre, höre! denn ich bin
Des Rufers in der Wüste Stimme.

In Nächten voller Pein kam mir das Wort
Von ihm, der Balsam sät an Sumpfes Bord,
Im Skorpion der Heilung Öl gelegt,
Dem auch der wilde Dorn die Rose trägt,
Der tote Stamm entzündet sein Geglimme.

So senke deine Augen und vernimm
Von seinem Herold deines Herren Grimm,
Und seine Gnade sei dir auch bekannt,
Der Wunde Heil, so wie der schwarze Brand,
Wenn seiner Adern Bluten hemmt der Schlimme.

Merk auf! Ich weiß es, daß in härtster Brust
Doch schlummert das Gewissen unbewußt;
Merk auf, wenn es erwacht; und seinen Schrei
Ersticke nicht, wie Mutter sonder Treu‘
Des Bastards Wimmern und sein matt Gekrümme!

Ich weiß es auch, daß in der ganzen Welt
Dem Teufel die Altäre sind gestellt,
Daß Mancher kniet demütig nicht gebeugt;
Und überm Sumpfe engelgleich und leicht
Der weiße Lotos wie ein Kindlein schwimme.

Es tobt des tollen Strudels Ungestüm,
Und zitternd fliehen wir das Ungetüm;
Still liegt der Sumpf und lauert wie ein Dieb:
Wir pflücken Blumen, und es ist uns lieb
Zu schaun des Irrlichts tanzendes Geflimme.

Drum nicht vor dem Verruchten sei gewarnt;
Doch wenn dich süßer Unschuld Schein umgarnt,
Dann lächelt der Vampyr, dann fahr‘ zurück
Und senke tief, o tief in dich den Blick,
Ob leise quellend die Verwesung klimme!

Ja, wo dein Aug‘ sich schaudernd wenden mag,
Da bist du sicher mindestens diesen Tag;
Doch gift’ger öfters ist ein Druck der Hand,
Die weiche Träne und der stille Brand,
Den Lorbeer treibend aus Vulkanes Grimme.

Ich bin ein Hauch nur; achtet nicht wie Tand
Mein schwaches Wehn, um dess, der mich gesandt.
Erwacht, erwacht! Ihr steht in seinem Reich;
Denn sehet, er ist mitten unter euch,
Den ihr verkennt, und ich bin seine Stimme!

Drei Haselnüsse für Aschenbrödel, 1973

Am Weihnachtstage

Durch alle Straßen wälzt sich das Getümmel,
Maultier, Kamele, Treiber: welch Gebimmel!
Als wolle wieder in die Steppe ziehn
Der Same Jakobs, und Judäas Himmel
Ein Saphirscheinen über dem Gewimmel
Läßt blendend seine Funkenströme sprühn.

Verschleiert‘ Frauen durch die Gassen schreiten,
Mühselig vom beladnen Tiere gleiten
Bejahrte Mütterchen; allüberall
Geschrei und Treiben, wie vor Jehus Wagen.
Läßt wieder Jezabel ihr Antlitz ragen
Aus jener Säulen luftigem Portal?

’s ist Rom, die üppge Priesterin der Götzen,
Die glänzendste und grausamste der Metzen,
Die ihre Sklaven zählt zu dieser Zeit.
Mit einem Griffel, noch von Blute träufend,
Gräbt sie in Tafeln, Zahl auf Zahlen häufend,
Der Buhlen Namen, so ihr Schwert gefreit.

O Israel, wo ist dein Stolz geblieben?
Hast du die Hände blutig nicht gerieben,
Und deine Träne, war sie siedend Blut?
Nein, als zum Marktplatz deine Scharen wallen,
Verkaufend, feilschend unter Tempels Hallen;
Mit ihrem Gott zerronnen ist ihr Mut!

Zum trüben Irrwisch ward die Feuersäule,
Der grüne Aaronsstab zum Henkerbeile,
Und grausig übersteint das tote Wort
Liegt, eine Mumie, im heil’gen Buche,
Drin sucht der Pharisäer nach dem Fluche,
Ihn donnernd über Freund und Fremdling fort.

So, Israel, bist du gereift zum Schnitte,
Wie reift die Distel in der Saaten Mitte;
Und wie du stehst in deinem grimmen Haß
Genüber der geschminkt und hohlen Buhle,
Seid gleich ihr vor gerechtem Richterstuhle,
Von Blute sie und du von Geifer naß.

O tauet, Himmel, tauet den Gerechten!
Ihr Wolken, regnet ihn, den wahr und echten
Messias, den Judäa nicht erharrt!
Den Heiligen und Milden und Gerechten,
Den Friedenskönig unter Hassesknechten,
Gekommen zu erwärmen, was erstarrt!

Still ist die Nacht; in seinem Zelt geborgen
Der Schriftgelehrte späht mit finstren Sorgen,
Wann Judas mächtiger Tyrann erscheint.
Den Vorhang lüftet er, nachstarrend lange
Dem Stern, der gleitet über Äthers Wange,
Wie Freudenzähre, die der Himmel weint.

Und fern vom Zelte über einem Stalle,
Da ist’s, als ob aufs niedre Dach er falle;
In tausend Radien sein Licht er gießt.
Ein Meteor, so dachte der Gelehrte,
Als langsam er zu seinen Büchern kehrte.
O weißt du, wen das niedre Dach umschließt?

In einer Krippe ruht ein neugeboren
Und schlummernd Kindlein; wie im Traum verloren
Die Mutter kniet, Weib und Jungfrau doch.
Ein ernster, schlichter Mann rückt tief erschüttert
Das Lager ihnen; seine Rechte zittert
Dem Schleier nahe um den Mantel noch.

Und an der Türe stehn geringe Leute,
Mühselge Hirten, doch die Ersten heute,
Und in den Lüften klingt es süß und lind,
Verlorne Töne von der Engel Liede:
Dem höchsten Ehr‘ und allen Menschen Friede,
Die eines guten Willens sind!

Drei Haselnüsse für Aschenbrödel, 1973

Bilder: Tři oříšky pro Popelku, 1973,
via Matías Ss, 30. Dezember 2022.

Drei Haselnüsse für Aschenbrödel, 1973

Soundtrack: Die schönste von allen bekannten Tausenden Versionen Stille Nacht ist zweifellos eine englische – Silent Night –, nämlich die von die von Tom Waits. Sie ist nie auf einer Original-CD von ihm erschienen, insofern eine Rarität, nur auf SOS United, 1989 – eine Stiftung von Tom Waits für die SOS-Kinderdörfer. Der teilhabende Kinderchor bleibt unbekannt, weil ungenannt.
Im Video: Correggio: Anbetung der Hirten, 1530 (Detail); Tintoretto, 1545 oder 1578; Gerrit van Honthorst, 1622 oder 1646.

Written by Wolf

22. Dezember 2023 at 00:01

Post ans zehenzwickzwackende Fräwle

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Update zu Wer weis, wie lang ich hier noch bin,
Fünfhundert Jahre Mädchengestaltung
und Dornenstück 0004: O Anfang sonder Ende (Nichts ist zu finden weit und breit so schrecklich als die Ewigkeit):

Gabriël Metsu, Briefschreibender junger Mann beim Fenster, 1662–1665Wer lange und hektisch genug nach Weihnachtsgeschenken gerannt, gedrängelt und gegoogelt hat, um doch noch erhöhte Lieferkosten für beschleunigte Zustellungen und mehr oder weniger geordnete Menschenmengen in DHL-Filialen in Kauf zu nehmen, vernachlässigt allzu leicht das Anschreiben. Zumal die Anrede wird unterschätzt.

Das Paradebeispiel einer solchen wird hinterbracht über die Encyclopädie der deutschen Nationalliteratur oder biographisch=kritisches Lexicon der deutschen Dichter und Prosaisten nebst Proben aus ihren Werken, Leipzig 1840, Fünfter Band: Johann Michael Moscherosch, „eigentlich mit seinem deutschen Namen Kalbskopf genannt“, 1600–1669.

——— Philander, i. e. Johann Michael „Kalbskopf“ Moscherosch:

Aus dem Pflaster wieder das Podagram.

um 1650, in: Dr. O. L. B. Wolff, Hrsg.: Hausschatz deutscher Prosa:
Theorie des deutschen prosaischen Styls
, 1846, Seite 808:

Gabriël Metsu, Briefschreibender junger Mann beim Fenster, 1662–1665O Nympha, Ingenia adamantium habens,
Multipotens, animo dea valido,
Audi vota duorum supplicum.
Magna potentia, vis tua magna
O Regina opulenta podagra,
Quam Iovis horret pernix telum,
Quamque profundi fluctus pelagi
Trepidant, quam quoque trepidat, sceptra
Qui gerit infera stvgius Pluton,
O gaudens nodis, lectigrada,
Cusivetans, talorum tortrix,
Calcicrematrix, malchumitanga,
Ossitremanda, genufraga, pernox
Articulos cruciandi cupida,
Curvigenuflexa, potens podagra.
Haec vota haec sacra dicta sint:
Gabriël Metsu, Briefschreibender junger Mann beim Fenster, 1662–1665Totius Mundi gentis totius et omnis,
Humani membri Reginae praedominanti,
Cui nulla est similis, nec visa Potentior ulla.
Queque omnem sexum, aetatem sortemque statumque
Iure suo subjugit, nec Marte evicta nec arte.
Augustae, Invictae Dominae Terraeque Marisque,
Verborum, herbarum, lapidum valide victrici.
Plumicomae, mirandiloque, mirandificaeque,
Bacchicolae, altipitae, auripatae, ossicremaeque :
Membrifragae atque sedilitenaci, cesticrepaeque,
Horrilegae artitremae, thorivortae, torvacolaeque,
Viuirapae, tum pulvinaricubae, tophiatae.
Millibus è multis cui sunt spolia ampla per orbem,
Gens subjecta triumphanti monumenta perennat.

Auff Teutsch:

Gabriël Metsu, Briefschreibender junger Mann beim Fenster, 1662–1665O du Diamant=ringwürdiges, güldin=ketten löbliches, viel tausent Ducaten lötiges, _Doctor_ Ehren= unnd Seckel=Rehrendes liebes Podagram! du Poter=Noten=Knoten=mächtiges helium ! Ich bitte dich bleiben, hilff jetzo diesen Dieben.

O du Königin aller Reichsthumbligend besitzender Menschen : O Du Knöcheliebende, Geleichvbende, Betthütende, Stubenwütende Fürstin : O du hart=strack=krümendes ; fersenpeinendes, fußsohlen=brinnendes, zehenzwickzwackendes, leisetretendes, spitzsteinhassendes, beinmürbmachendes, kniebrechendes, lottelstrimpffhaftes, schuschnitgewellertes, durch Marckleuchtendes, Geblütgebornes Fräwle, Ich bitte dich bleiben, hülff diesen zween Dieben.

Gabriël Metsu, Briefschreibender junger Mann beim Fenster, 1662–1665

Bilder: Gabriël Metsu: Briefschreibender junger Mann beim Fenster,
1662–1665, National Gallery of Ireland, Dublin;
Details via Rosa Reversa, 27. Februar 2023.

Soundtrack: Emilie Autumn: Face the Wall aus: Laced/Unlaced, 2007,
live im Corona Theatre, Montreal, 15. Februar 2011:

Written by Wolf

15. Dezember 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Ehestand & Buhlschaft

Nachtstück 0034: That’s how I knew I loved you

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Update for You never no
and One hundred and sixty-seven words, per day:

Louise Glück, April 22, 1943 – October 13, 2023, Nobel Prize in Literature 2020.

——— Louise Glück:

The Encounter

from: The Triumph of Achilles, 1985:

You came to the side of the bed
and sat staring at me.
Then you kissed me–I felt
hot wax on my forehead.
I wanted it to leave a mark:
that’s how I knew I loved you.
Because I wanted to be burned, stamped,
to have something in the end—
I drew the gown over my head;
a red flush covered my face and shoulders.
It will run its course, the course of fire,
setting a cold coin on the forehead, between the eyes.
You lay beside me; your hand moved over my face
as though you had felt it also—
you must have known, then, how I wanted you.
We will always know that, you and I.
The proof will be my body.

Desdemona D., Vado sempre via con la nuvola di fumo. Anarcanima, 2016, 2020

Image: Desdemona D.: Vado sempre via con la nuvola di fumo. Anarcanima, February 21st, 2020.

Soundtrack: Krista Shows: Full of Sin, from: Prone to Wander, 2020:

Written by Wolf

8. Dezember 2023 at 00:01

Fruchtstück 0009: Die Sünde der Erfolggenügsamkeit oder der Fahrlässigkeit, die stets sagt: „Es ist so auch recht“

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Update zu Die alte und neue Inertia (Warum hast du nichts gelernt?),
Nachtstück 0012: Wie es enden wird, vermag ein irdischer Verstand nicht zu ergründen,
Hochwaldklangwolke: Die einzelnen Minuten, wie sie in den Ozean der Ewigkeit hinuntertropfen
und Wenn–dann (weiß ich auch nicht):

Der Fachkräftemangel macht sich besonders in Nischengewerken bemerkbar. 1857, mein ich jetzt. Zu beheben scheint er mit Arbeitsmoral, aber das sagt sich wieder so leicht. Das gar zu leichtfertig hingeworfene „Bassd scho“ will nämlich wohlverstanden sein.

John William Godward, When the Heart Is Young, 1902

——— Adalbert Stifter:

Der Nachsommer

1. Band, 4. Die Beherbergung, 1857:

„Und habt Ihr dieses Haus eigens zu dem Zwecke der Schreinerei erbaut?“ fragte ich weiter.

„Ja,“ antwortete er, „wir haben es eigens zu diesem Zwecke erbaut. Es ist aber viel später entstanden als das Wohnhaus. Da wir einmal so weit waren, die Sachen zu Hause machen zu lassen, so war der Schritt ein ganz leichter, uns eine eigene Werkstätte hiefür einzurichten. Der Bau dieses Hauses war aber bei weitem nicht das Schwerste, viel schwerer war es, die Menschen zu finden. Ich hatte mehrere Schreiner, und mußte sie entlassen. Ich lernte nach und nach selber, und da trat mir der Starrsinn, der Eigenwille und das Herkommen entgegen. Ich nahm endlich solche Leute, die nicht Schreiner waren und sich erst hier unterrichten sollten. Aber auch diese hatten wie die frühern eine Sünde, welche in arbeitenden Ständen und auch wohl in andern sehr häufig ist, die Sünde der Erfolggenügsamkeit oder der Fahrlässigkeit, die stets sagt: ‚Es ist so auch recht‘, und die jede weitere Vorsicht für unnötig erachtet. Es ist diese Sünde in den unbedeutendsten und wichtigsten Dingen des Lebens vorhanden, und sie ist mir in meinen früheren Jahren oft vorgekommen. Ich glaube, daß sie die größten Übel gestiftet hat. Manche Leben sind durch sie verloren gegangen, sehr viele andere, wenn sie auch nicht verloren waren, sind durch sie unglücklich oder unfruchtbar geworden, Werke, die sonst entstanden wären, hat sie vereitelt, und die Kunst, und was mit derselben zusammenhängt, wäre mit ihr gar nicht möglich. Nur ganz gute Menschen in einem Fache haben sie gar nicht, und aus denen werden die Künstler, Dichter, Gelehrten, Staatsmänner und die großen Feldherren. Aber ich komme von meiner Sache ab. In unserer Schreinerei machte sie bloß, daß wir zu nichts Wesentlichem gelangten. Endlich fand ich einen Mann, der nicht gleich aus der Arbeit ging, wenn ich ihn bekämpfte; aber innerlich mochte er recht oft erzürnt gewesen sein und über Eigensinn geklagt haben. Nach Bemühungen von beiden Seiten gelang es. Die Werke gewannen Einfluß, in denen das Genaue und Zweckmäßige angestrebt war, und sie wurden zur Richtschnur genommen. Die Einsicht in die Schönheit der Gestalten wuchs, und das Leichte und Feine wurde dem Schweren und Groben vorgezogen. Er las Gehilfen aus und erzog sie in seinem Sinne. Die Begabten fügten sich bald. Es wurde die Chemie und andere Naturwissenschaften hergenommen, und im Lesen schöner Bücher wurde das Innere des Gemütes zu bilden versucht.“

John William Godward, Dolce Far Niente II, 1904

Bilder: John William Godward: When the Heart Is Young, 1902;
Dolce Far Niente II, 1904, via Psychoactivelectricity Redux, 10. Oktober 2023.

Soundtrack: Natalie Merchant: House Carpenter, aus: The House Carpenter’s Daughter, 2003:

Written by Wolf

1. Dezember 2023 at 00:01

Literaturzyklus: Kann man das nicht deutsch sagen?

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Update zu Zahlenzyklus,
Deutschlandzyklus 1: So geht’s doch auch
und Deutschlandzyklus 2: Nordland Südstadt:

Nodvikoff Improbable Deep, Flickr

2.15 Uhr

Zwei Uhr früh
ist alles billiger
hat mir mein
Vater noch beigebracht

aufgewachsen auf dem
Land zu einem
Meter sechsundneunzig Höhe

musste er nach
fünfunddreißig Jahren als
Fahrdienstleiter auf dem
Kleinstadtbahnhof eine lange

schwere Krankheit begleiten
Seine Schwiegermutter im
Krankenhaus Martha Maria

die jahrelang gesünder
aussah als er
und musste zuletzt
seinen Jungen mitnehmen

„Wir holen Sie“
Fix und Foxi
haben sie dagelassen

Um die Zeit
kannst du ruhig
reinkommen wo selbst
die Nachtschwestern verzeihen

schaut ein Fünfjähriger
der nicht weiß
was „Viertelstunden“ sind

auf die Bahnhofsuhr
im Angehörigenbereich die
nicht anzeigt wann
die Oma stirbt

Nodvikoff Improbable Deep, Flickr

Shakespeare Schlegel Tieck

Was die Menschheit
bisher versucht hat,

erklärt einiges, aber
entschuldigt einen Papp.

(Wieland verbessern zu
wollen, rechtfertigt sich

allein mit vollständiger
Herausgabe, Töchterlein Dorothea.)

Nodvikoff Improbable Deep, Flickr

Die alte Platte

Soundtrack: Mississippi John Hurt: The Complete Studio Recordings, Bear Family 2000.

Alter
kann ich
vielleicht mal
       eine Tonwalze

       ein Tonband
       eine LP
       eine MC
       eine CD

       ein .mp3-Verzeichnis
       eine YouTube-Liste
       eine Spotify-Playlist
       eine externe Festplatte

voll Musik haben die
nicht
mit Good Night Irene aufhört

(Ist doch wahr
nicht mal Mississippi
John Hurt ist
was Dümmeres eingefallen)

Paul-Scheerbart-Vignette

Nodvikoff Improbable Deep, Flickr

madeleine

noch eins fürs südstadt

dass man die
bedienung mit den
rastalocken bis in
die kniekehlen immer

nur in der
kneipe sieht schnäpse
zapfend erklärt warum
sie sich von

wiener schnitzel an
rucola ernährt dafür
nie einkaufen geht
und mit dem

süffisanten lächeln von
albertine wenn man
ihr die seite
aufblättert proust pariert

Nodvikoff Improbable Deep, Flickr

The Sick Bed of Cúchulainn

An dem Tag
an dem mir
eine Pflegekraft sagt

ich soll eine
Zahnbürste einpacken feste
zuschnüren und nicht

rumtrödeln fangt ihr
an zu ahnen
was es wert

war eine zweite
Gesamtausgabe Wieland und
alle Apokryphen der

Pogues zu horten

Paul-Scheerbart-Vignette

Nodvikoff Improbable Deep, Flickr

Vom Gelde

(Geschieht ihm recht.)

Runde Metallscheibchen, die
Wurzel alles Bösen
hat der präpotente

Dummsack beschrieben als
„die schnellste Sache
der Welt“, mir

einen deutschen Schlager
von Juliane Werding

verwiesen und nicht

geglaubt, dass meine
Mutter am selben
Tag Geburtstag hat

mit mir, der
blödgesoffene Rotzbandit, der
hat ja auch

sein Auto am
Baum hängen lassen,
der unbelehrte Pfeifenheiner.

Nodvikoff Improbable Deep, Flickr

Scotch

Als ich in
der Kneipe, in
der mir der

DJ alles über
Celtic Rock beigebracht
hat, Absinth bestellt

hab, wollte die
lange Blonde nichts
von Britrock wissen,

die ihn mit
dem Gasanzünder über
einem quergelegen Zuckerhut

angefackelt hat, aber
einen Talisker konnte
sie von einem

Islay unterscheiden. Wie
empört die Politesse
quiekte, als ich

später auf dem
Revier bei ihr
einen Talisker bestellte.

Nodvikoff Improbable Deep, Flickr

Purzel

Mα mou aamol im Leem
middα Bedienung
um αn Islay Single Malt
af αn Reim af
Wurzel
gwedd hom.

(Anm. d. Übs.: Die Wette hab ich verloren.)

Nodvikoff Improbable Deep, Flickr

Schopenhauer

Soundtrack: Acht Eimer Hühnerherzen:
(Durch meine viel zu grosse) Brille (kann ich dich jetzt auch nicht mehr sehn),
aus: »musik«, 2022.

Man
     kann
          nicht
               wollen
                    wollen

Ich kann nicht nicht wollen wollen
     Du kannst mich nicht träumen sehen
          Er kann sie nicht vergessen
               Sie kann ihn nicht ausstehen
                    Es kann nicht so weitergehen
                         Wir können nicht so weitermachen
                              Ihr könnt uns mal
                                   Sie können’s nicht mehr hören

Ich kann so nicht arbeiten
     Du kannst keine Gefühle spielen
          Er kann ihre Gespielinnen nicht leiden
               Sie kennt ihn vom Hörensagen
                    Es kann keinen Gott geben
                         Wir können nicht bleiben
                              Ihr könnt mit den Gottesgaben nicht so umgehen
                                   Sie können nichts dafür.

Aber Kant kann
     eine Kanne Kaffee dekantieren
          dass Hegeln ekelt.

Nodvikoff Improbable Deep, Flickr

Maracujasuppe

(Noch vor Ort verschenkt.)

Aus Sicht der Bedienung
hätte ich heute
entschieden zu viele Hände
zu voll zu tun, um
mich um jeden Lümmel auf
dem Thekenhocker nun auch noch

zu scheren, solang ich
zwei Hände zu wenig zum
Bierzapfen hätte, damit
der verlängerte Islay
nicht so nach Maracujasuppe
schmeckt. Vielmehr versaue

ich mir den Weekly Mix auf
Spotify, damit mir die
Schießbudenfigur über
dem Holzverhau sagen kann,
ich spielte auffallend gute Musik
und dann risse mir der,

Led Zeppelin hinterher
träumender Weyse,
auch noch seinen Zettel aus
dem Moleskin, und als
Trinkgeld ließe er einen
Bruchteil seiner selber da.

Aus Sicht der Bedienung
wäre ich heute freiwillig daheim
geblieben. Aus meiner Sicht
ist die Musik auffallend gut und
mein Weekly Mix
versauter als ich.

Nodvikoff Improbable Deep, Flickr

Bron-Yr-Aur

In meinen durstigsten
Zeiten musste ich
immer am schnellsten

von allen saufen,
um besoffen zu
sein, bevor das

Bier alle war.
So hab ich
mein Geld für

Bücher verballert, bevor
es für irgendwelchen
nützlichen Murks weg

musste: Allein für
dreizehn Mundharmonikas kann
man fast einen

Monat lang heizen:
Gerade nochmal Schwein
gehabt. Inzwischen sind

alle dreizehn Mundharmonikas
verstimmt und die
Bücher haben Lagerspuren.

Paul-Scheerbart-Vignette

Nodvikoff Improbable Deep, Flickr

Bilder: Nodvikoff: Improbable Deep, via Flickr, 8. Oktober 2013 bis 6. Oktober 2023.

Soundtrack: Acht Eimer Hühnerherzen: Requiem, aus: »musik«, 2022:

Written by Wolf

24. November 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Weisheit & Sophisterei, ~ Weheklag ~

Ein liebliches Mädchen, ein tapferer Mann, die tändelten, sitzend im Grün

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Update vor allem zu The admirable symmetry of her person
und dann noch Wie der Schnee so weiß, aber kalt wie Eis ist das Liebchen, das du dir erwählt,
Nachtstück 0024: I wish you were dead, my dear
und Halloween-Special: Zum Tanz, den sie schauderlich führen:

Internet-Premiere: In der Mutter aller Gothic Novels (jedenfalls einer davon), Matthew Gregory Lewis: The Monk, das ist: Der Mönch 1796, springt uns eine einwandfrey schwarzromantische (was sonst) Ballade in fünfzeiligen (yay!) Strophen an, mit schön marschierendem Wechsel aus Vier- und Dreihebern, die stark an Brechtische Chevy-Chase-Strophen gemahnen, aber aufgrund ihrer Fünfzeiligkeit gar keine sein können; vielmehr ist das Metrum Lewis‘ eigene Erfindung, die nachmals gern weiterverwendet wurde; siehe auch Robert Southey: Mary – A Ballad, gleich von 1797 („I have adopted the metre of Mr. Lewis’s Alonzo and Imogene—a poem deservedly popular.„). Das ist natürlich schon klasse.

Gaetano Motelli, La sposa dei Sacri Cantici, 1854Am besten ist The Monk heute in der deutschen Übersetzung von Friedrich Polakovics erreichbar, in der verdienstreichen Bibliotheca Dracula bei Hanser 1971. Dort erfahren wir im Nachwort von Mario Praz, Seite 576:

Außer dem Mönch und einer Ballade aus dem neunten Kapitel dieses Romans Alonzo der Kühne und Schön‘ Imogin bleibt nichts Lebensfähiges von [Lewis‘] Werk.

Samuel Taylor Coleridge meinte dagegen nur, „the effect [of the ballad was] not unlike that of galloping over a paved road in a German stage-waggon without springs“ (Chapter 16 of Biographia Literaria 2. 33–34). Jedenfalls hat Lewis seinen Mönch mit 20 Jahren in einem Husarenritt heruntergeschrieben (zur Einordnung: Die deutsche Ausgabe in der Bibliotheca Dracula umfasst 578 Seiten) und dabei noch etliche eigene Gedichte eingefügt; die daraus hervorragende Ballade erschien gleich im Folgejahr 1797 auch als Einzelausgabe. Ein zartes Alter, um sein relevantes Vermächtnis zu hinterlassen, auch wenn man schon mit 42 im Dienste der Verbesserung von Lebensbedingungen jamaikanischer Sklaven auf See an Gelbfieber erkrankt und noch vom Schiff aus in Anwesenheit seiner prominenten Mitstreiter Byron und Shelley bestattet wird.

Die Parodie von Charles Few: Alonzo the Brave and Fair Imogine. Being a Juvenile Attempt at Poetry 1799 soll uns einst, so Gott will, einen eigenen Eintrag wert sein. Fürs erste soll der milde Verdruss darüber reichen, dass man hier aus Platzgründen die deutsche Übersetzung nicht dem Original parallel gegenüberstellen kann. Hintereinander geht’s:

Gaetano Motelli, La sposa dei Sacri Cantici, 1854

——— Matthew Gregory Lewis:

Alonzo the Brave and Fair Imogine

from: The Monk: A Romance, Waterford; printed for J. Saunders, 1796:

A warrior so bold and a virgin so bright
     Conversed, as they sat on the green;
They gazed on each other with tender delight—
Alonzo the Brave was the name of the knight,
     The maid’s was the Fair Imogine.

‘And, oh!’ said the youth, ‘since to-morrow I go
     To fight in a far-distant land,
Your tears for my absence soon leaving to flow,
Some other will court you, and you will bestow
     On a wealthier suitor your hand!’

‘Oh hush these suspicions’, Fair Imogine said,
     ‘Offensive to love and to me!
For, if you be living, or if you be dead,
I swear by the Virgin, that none in your stead
     Shall husband of Imogine be.

And if e’er for another my heart should decide,
     Forgetting Alonzo the Brave,
God grant that, to punish my falsehood and pride,
Your ghost at the marriage may sit by my side—
May tax me with perjury, claim me as bride,
     And bear me away to the grave!’

To Palestine hastened the hero so bold,
     His love she lamented him sore—
But scarce had a twelvemonth elapsed when, behold,
A Baron all covered with jewels and gold
     Arrived at Fair Imogine’s door.

His treasure, his presents, his spacious domain,
     Soon made her untrue to her vows:
He dazzled her eyes, he bewildered her brain,
He caught her affections so light and so vain—
     And carried her home as his spouse,

And now had the marriage been blest by the priest;
     The revelry now was begun;
The tables they groaned with the weight of the feast—
Nor yet had the laughter and merriment ceased,
     When the bell of the Castle tolled one!

Then first with amazement Fair Imogine found
     That a stranger was placed by her side:
His air was terrific; he uttered no sound;
He spoke not, he moved not, he looked not around,
     But earnestly gazed on the bride.

His vizor was closed, and gigantic his height;
     His armour was sable to view;
All pleasure and laughter were hushed at his sight;
The dogs, as they eyed him, drew back in affright;
     The lights in the chamber burnt blue!

His presence all bosoms appeared to dismay;
     The guests sat in silence and fear;
At length spoke the bride, while she trembled: ‘I pray
Sir Knight, that your helmet aside you would lay,
     And deign to partake of our cheer.’

The lady is silent, the stranger complies—
     His vizor he slowly unclosed—
Oh, then what a sight met Fair Imogine’s eyes!
What words can express her dismay and surprise
     When a skeleton’s head was exposed!

All present then uttered a terrified shout—
     All turned with disgust from the scene—
The worms they crept in, and the worms they crept out,
And sported his eyes and his temples about,
     While the spectre addressed Imogine:

‘Behold me, thou false one! Behold me!’ he cried,
     ‘Remember Alonzo the Brave!
God grants that, to punish thy falsehood and pride,
My ghost at thy marriage should sit by thy side—
Should tax thee with perjury, claim thee as bride,
     And bear thee away to the grave!’

Thus saying, his arms round the lady he wound,
     While loudly she shrieked in dismay,
Then sank with his prey through the wide-yawning ground—
Nor ever again was Fair Imogine found,
     Or the spectre who bore her away.

Not long lived the Baron, and none since that time
     To inhabit the Castle presume;
For chronicles tell that, by order sublime,
There Imogine suffers the pain of her crime,
     And mourns her deplorable doom.

At midnight four times in each year does her sprite,
     When mortals in slumber are bound,
Arrayed in her bridal apparel of white,
Appear in the hall with that skeleton-knight,
     And shriek as he whirls her around.

While they drink out of skulls newly torn from the grave,
     Dancing round them pale spectres are seen!
Their liquor is blood, and this horrible stave
They howl: ‘To the health of Alonzo the Brave,
     And his consort, the False Imogine!’

Gaetano Motelli, La sposa dei Sacri Cantici, 1854

——— Matthew Gregory Lewis:
aus: Der Mönch, Neuntes Kapitel, 1796,
cit. nach Bibliotheca Dracula, Carl Hanser Verlag, München 1971, Seite 388 bis 392,
übs. Friedrich Polakovics:

Beschämt ob solcher Schwäche erhob sie sich und machte sich daran, nach dem zu suchen, um dessentwillen sie den traurigen Raum betreten. Die kleine Büchersammlung stand säuberlich auf mehren Regalen gereiht. Antonia musterte die Bände, ohne indes etwas Lesenswertes zu bemerken, bis sie an einen Band altspanischer Balladen geriet. Damit war ihre Neugierde geweckt, sie nahm das Buch aus dem Regal und setzte sich hin, um in Ruhe darin zu lesen. Nachdem sie den Docht der herunterbrennenden Kerze geschneuzt hatte, machte sie sich and ie Lektüre der folgenden Ballade:

Alonzo der Kühne
und Schön‘ Imogin

Ein liebliches Mädchen, ein tapferer Mann,
Die tändelten, sitzend im Grün.
Voll Zärtlichkeit blickten einander sie an:
Alonzo der Kühne, so hieß der Galan,
Die Maid aber Schön‘ Imogin.

„Weh mir!“ sprach Alonzo. „Schon morgen ich geh‘,
Zu streiten im Heiligen Land!
Doch ob deine Zähren ich rinnen auch seh‘ –
Ein Reich’rer wird kommen, zu heilen dein Weh,
Du reichst als Gemahl ihm die Hand.“

„Wie magst du so sprechen!“ Schön‘ Imogin schmollt,
„Du schmähst meine Lieb‘, die so rein!
Ob Leben, ob Tod dir beschieden sein sollt‘ –
Ich schwör’s bei der Jungfrau: nicht Silber noch Gold
Kann je einem andern mich weih’n!

Wenn jemals der Himmel mich treulos erschaut,
Vergessend des Worts, das ich gab,
Wenn falsch meine Schwüre, auf die du gebaut –
Geb’s Gott, daß du kämest, dieweil man mich traut,
Als Hochzeitsgast kämst, dir zu holen die Braut,
Und fort mich zu schleppen ins Grab!“

Alonzo, er zog nach dem Heilien Land,
Sein Liebchen, es jammerte laut.
Doch war kaum ein Jahr noch gegangen zu Rand,
Als ein reicher Baron an der Tüschwelle stand,
Imogin sich zu holen zur Braut.

Sein Gold, seine Gaben, sein herrschaftlich Gut
Ließ bald sie vergessen den Eid:
Betört ward ihr Aug‘ und verlockt ward ihr Blut –
Aufs neu‘ überkam sie der Leidenschaft Glut,
Und es gab sich dem Freier die Maid.

Schon sieht unser Paar vorm Altar sich vermählt,
Erlabt sich des funkelnden Weins –
Schon werden die köstlichsten Speisen gewählt,
Und keiner die festlichen Stunden mehr zählt –
Da donnert die Schloßuhr ihr „Eins!“

Mit Bangnis im Busen gewahrte die Braut
Neben sich einen fremden Galan:
Sein Wesen war finster, er sprach keinen Laut,
Hat wortlos und reglos vor sich nur geschaut,
Und blickt sie bedrohlich dann an.

Geschlossnen Visiers und von hoher Gestalt,
So ragt er, ein schwarzes Fanal:
Längst waren Gelächter und Jubel verhallt,
Die Hunde noch wichen der fremden Gewalt,
Und die Kerzen brannten so fahl!

Und alle Gespräche verstummten zur Stund‘:
Die Gäste, sie saßen erblaßt.
Zuletzt sprach die Braut, und es bebte ihr Mund:
„Herr Ritter, so tut euer Antlitz uns kund,
Und seid auf dem Fest unser Gast!“

Die Braut, sie verstummt, und der Fremdling, er nickt.
Doch als das Visier er gelöst –
Oh Gott! Was hat Schön‘ Imogin da erblickt!
Sie gewahrt, in Entsetzen und Grauen verstrickt,
Ein Haupt, allen Fleisches entblößt!

Den Gästen entrang sich ein Schrei voller Grau’n,
Wie nur Ekel dem Mund ihn entreißt:
An Schläfen, in Augenhöhlen und Brau’n
War nichts denn Gewimmel von Würmern zu schau’n,
Und zur Dame gewandt, rief der Geist:

„Hier bin ich, du Falsche, auf die ich gebaut,
Die einst ihr Versprechen mir gab:
Der Himmel, nun hat er dich treulos erschaut!
So bin ich gekommen, dieweil man dich traut,
Als Hochzeitsgast kommen, zu holen die Braut,
Und fort dich zu schleppen ins Grab!“

Er faßte sie an mit verwesender Hand,
Wiewohl sie verzweifelt geschrie’n –
In gähnendem Abgrund mit ihr er verschwand,
Und keinen der beiden man je wieder fand:
Den Geist nicht, noch Schön‘ Imogin!

Bald starb der Baron. So verödet und wüst
Lag nun das verlassene Schloß!
Doch in gilbender Chronik die Sage man liest,
Daß im Schloß Imogin ihre Strafe verbüßt,
Beklagend ihr gräßliches Los.

Zur Mitternacht darf sie der Erde sich nah’n,
Wenn Schlummer die Menschen umschlingt.
Mit bräutlichem Kleid und Geschmeid angetan,
Betritt sie den Saal mit dem Knochen-Galan,
Und schreit, wenn im Tanz er sie schwingt.

Und Schalen, aus Schädeln der Toten gemacht,
Halten Geister zum Trunk ihnen hin.
Der Wein, er ist Blut – und die Höllenschar lacht:
„Ei Hoch sei Alonzo dm Kühnen gebracht,
Und der treulosen Schön‘ Imogin!“

Solche Lektüre war übel dazu angetan, Antoniens Melancholie zu zerstreuen. Von natur aus schon stark zu allem Wunderbaren hingezogen, und von der Amme, welche fest an Geistererscheinungen geglaubt, durch allerlei gräß,iche Erzählungen beeinflußt, hatte Antonia allen Anstrengungen Elvirens getrotzt, solche Eindrücke aus dem Gemüt der Tochter zu löschen. Noch immer nährte das Mädchen abergläubische Vorstellungen in ihrem Buen und litt häufig unter Schreckensanwandlungen, ob deren natürlicher und unbedeutender Ursachen sie hinterher schamvoll errötete. Bei solch schwankender Gemütsverfassung genügte das eben gelesene Abenteuer vollauf, Antonia in Angst zu versetzen. Ort und Stunde trugen das ihre dazu bei, diesen Zustand zu fördern.

Gaetano Motelli, La sposa dei Sacri Cantici, 1854

Bilder: Gaetano Motelli: La sposa dei Sacri Cantici, 1854,
Marmorstaue, 140 × 55 × 75 cm, Collezione Litta,
via Federico Giannini: Come nacque e si sviluppò il Romanticismo in Italia.
La grande mostra di Milano
, 20. Januar 2019;
Michelangelo Buonarroti è tornato: La Scultura del giorno: la Sposa dei Sacri Cantici
di Gaetano Motelli
, 19. Februar 2023.

Soundtrack: Gogol Bordello: Start Wearing Purple, aus: Gypsy Punks: Underdog World Strike, 2005:

Written by Wolf

17. November 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Romantik, Vier letzte Dinge: Tod

Nachtstück 0033: Und das mänadische Gesöff in mir

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Update zu Hastig die ärmlichen Verse,
Historische Post vom Verleger
und Wuchtig, in gedrängter Vierzeil‘ singe ich vom Cinnamone:

Arno Schmidt hat phasenweise seinen Romanen Widmungsgedichte vorangestellt — trotz seiner Reserviertheit gegenüber Lyrik alles andere denn unbegabte. Nach welchem Prinzip, dazu muss ich mich selbst erst einlesen. Die meiste Information erwarte ich aus dem Bargfelder Boten.

——— Arno Schmidt:

Der goldgetränkte Himmel über mir

Widmungsgedicht zu Brand’s Haide, 1951,
Bargfelder Ausgabe I/4, Seite 160:

Damian Lechoszest via LyndseyuklDer goldgetränkte Himmel über mir
und das mänadische Gesöff in mir. –
Denn man zünde seine Kerze an beiden Enden an,
und werfe eine Handvoll Salz in den Wasserkrug,
oder steige früh um 4 in unbekannten Mietshäusern :
so ist das Leben!
Nachts schlitzen goldene Messer im Himmel;
Regen trabt, trollt, trabt. Dann wieder :
Maschensilber der Gestirne;
hakiger Mond verfangen im nachlässig hängenden.
Gegen 5 johlt der Zug durch Cordingen.
(Amtlich Bemützte und schwenken die Schranken.)
(Wenn Sprenkmann Bücher nimmt, reichts wieder Wochen.)
Verbreitet am Morgen Brandmale der Wolken :
wieder versah sich der Äther am Irdenen. Oder auch :
riemenschmal in olivne Himmelshaut gepeitscht.
Rauch beginnt krautig und wachsgelb : aus jenem Dach !
Der Mond erscheint ernst und blechern
in Gestalt eines Menschenauges
im Kalkblauen über Stellichte. Schwarzweiße Kühe.
Wir
hantieren nach Beeren und Pilzen im dampfenden Wald,
Champignonweg, Täublingslichtung, Kleinhaide, Ostermoor :
»Wollen wir noch bis zur Schneise gehen,
Alice?«

Fachliteratur: Sören Brandes: Schneise in die Anderswelt. Arno Schmidts Gedicht »Der goldgetränkte Himmel über mir«, Bargfelder Bote, Lieferung 351–353, Freitag 4. Mai 2012, Seite 3 bis 17.

Cordinger Mühle

Bilder: Damian Lechoszest via Lyndseyukl, 21. September 2021;
Olaf Oliviero Riemer: Cordinger Mühle, 6. Mai 2011.

Soundtrack: Karen Dalton: Are you leaving for the country?, aus: In My Own Time, 1971:

Written by Wolf

10. November 2023 at 00:01

Dornenstück 0015: Krankheit als Erlösung

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Update zu Der Dr.-Faustus-Weg: Polling–Pfeiffering und wieder weg
und Heuer ist’s Vöglein nicht wiederkommen:

Neurodivergenz in der deutschen Romantik:

——— Joseph von Eichendorff:

Neunzehntes Kapitel.

aus: Dichter und ihre Gesellen, Duncker & Humblot, Berlin 1833, Seite 247 f.:

Frank T. Zumbachs Mysterious World, Some Creepy Victorian Portraits, 14. Mai 2023Der Fürst gedachte nicht mehr des Schlosses, er war selber lange verwildert. Zwischen Genuß und Reue, Lust und Grauen war er allmählig immer tiefer hinabgestiegen in die schimmernden Abgründe, wo mit verlockendem Gesang die Nixen im Mondschein auf den Klippen ihr feuchtes Haar kämmen, das ferne Wetterleuchten der Religion verwirrte ihn nur noch mehr; so hatte er sich im schönen Leben verirrt und konnte nicht wieder nach Hause finden. Da schlug die himmlische Liebe ihren Sternenmantel um den Todmüden. Er verfiel in eine schwere Krankheit, und als er wieder genas, war auf einmal alles vorbei. Die Leute nannten ihn wahnsinnig, er aber war vergnügt und blätterte Tag für Tag mit stiller, herzlicher Lust in den alten Bilderbüchern, die er als Kind gelesen; alles andere hatte er vergessen. Sie hatten ihn endlich in einem entlegenen Flügel des Schlosses absondern müssen von der Welt, die er nur noch wie im Traum von ferne sah, nur die unschuldigen Vögel sangen alle Morgen vor seinen Fenstern von der alten Zeit, daß er oft erschrocken von seinen Bildern aufhorchte. – Aus seiner Hand aber hatte die Fürstin rasch die Zügel des Regiments ergriffen, und lenkte keck, die Rosse peitschend, in die neue Freiheit hinaus.

Frank T. Zumbachs Mysterious World, Some Creepy Victorian Portraits, 14. Mai 2023

Alles andere hatte er vergessen: via Some Creepy Victorian Portraits, 14. Mai 2023.

Soundtrack: Screamin‘ Jay Hawkins: I Put a Spell on You, 1956,
in: I Put a Spell on You, 1965, weil man dem Manne ab und zu doch mal wieder beim Spinnen zuschauen muss, und um schätzen zu lernen, dass das Ding ein Walzer ist:

Written by Wolf

3. November 2023 at 00:01

Nachtstück 0032: Daß es uns zusammendränge zu der süßen Wollust Qual

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Update zu Flämmchen,
Um meiner Mannheit Tiefgang auszuloten
und Filetstück 0003, 3 von 3: Sei nur vor allen Dingen jung!
Denn ohne Blüte keine Frucht (Halle und Heidelberg)
:

August Wilhelm Schlegel (erst ab 1812 von Schlegel), falls er das überhaupt beabsichtigte, verwendete 1801 den Fortunatus-Stoff, der aus dem gleichnamigen Volksbuch seit 1509 überliefert ist, sehr frei. Sein Mitherausgeber für die Erstveröffentlichung 1802, Ludwig Tieck, verwendete das Thema als „ein Mährchen in fünf Aufzügen“ ausführlicher und vor allem avantgardistischer, aber erst 1815.

Schlegels 36 schlicht gebaute vierzeilige Strophen enden in den Assonanzen spanischer Romanzen, hier ausschließlich auf den Laut -a-; nur die 9 Strophen zwischen „Und es hebt sich wie vom Schlummer“ und „Leise zieht sie ihn hernieder“ verwenden saubere Kreuzreime. Das lässt darauf schließen, dass Schlegel die darin enthaltene Handlung später eingeflickt hat. Jedenfalls erscheint hier auch die Stelle, in der die untote Lila sich plötzlich Clara nennt. Eine Unsauberkeit, für welche sich praktisch erweist, wenn man das Organ der Erstveröffentlichung selbst herausgibt.

——— August Wilhelm Schlegel:

Fortunat

Romanze

1801, Erstdruck in: August Wilhelm von Schlegel, Ludwig Tieck, Hrsgg.: Musen-Almanach für das Jahr 1802,
in der Cotta’schen Buchhandlung, Tübingen 1802, Seite 243 bis 250:

Thauig in des Mondscheins Mantel
     Liegt die stille Sommernacht,
Und ein Ritter reitet singend
     Wiesenplan und Wald entlang.

Munter zu, mein gutes Pferdchen!
     Sagt er, klatscht ihm sanft den Hals;
Weißt du nicht, daß wartend Lila
     An dem offnen Fenster wacht?

Bist ja kein Turnier- und Streit-Roß,
     Wie sein Reiter steif und starr,
Das, den Stachel an der Stirne,
     Nur so blindlings rennen mag.

Nein, du trägst auf seinen Zügen
     Den behenden Fortunat,
Schmiegst mit ihm dich still im Dunkel
     Ueber Stege, glatt und schmal.

Bald zu dieser, bald zu jener
     Gieng die heimlich nächt’ge Bahn;
Abends hin mit raschem Sehnen,
     Früh zurück mit trägem Gram.

Wann ich oft von deinem Rücken
     Mich zur hohen Kammer schwang,
Standst du still, bis mich empfangen
     Der Geliebten zarter Arm.

Ja ich weiß, wenn eine Spröde
     Herz und Thür verschlöße gar,
Würdest du mit leisem Hufe
     Klopfen, bis sie aufgethan.

Wie er noch die Worte redet,
     Oeffnet sich ein heimlich Thal.
Bin ich, sprach er, irr‘ geritten?
     Ist mir’s doch so unbekannt.

Wunderlich durch Sträuch‘ und Bäume
     Schleicht des Mondes blaßer Strahl,
Und ein Busch mit blüh’nden Rosen
     Winkt von drüben voll und schlank.

Busch, ich grüß‘ in dir mein Bildniß,
     Rosen trägst du ohne Zahl;
Und mir blüht im regen Herzen
     So der Liebe süße Wahl.

Manche reif, und Knospen andre,
     Alle doch verblüh’n sie bald,
Und der Saft, der jene füllte,
     Wird den jüngern zugewandt.

Denn den Kelch, der sich entblättert,
     Schließet keines Willens Kraft.
Lila, Lila! diese Knospen
     Droh’n dir meinen Unbestand.

Aber daß du nicht ihn ahndest,
     Komm‘ ich mit dem Kranz im Haar,
Biet‘ ein schön erröthend Sträußchen
     Deinem weißen Busen dar.

Rosen, Rosen! laßt euch pflücken,
     So zu sterben ist kein Harm:
O wie will ich euch zerdrücken
     Zwischen Brust und Brust so warm!

Und er lenkt das Roß entgegen,
     Doch es scheut sich, wie es naht,
Und er kann von keiner Seite
     Dicht zur Rosenlaub‘ hinan.

So gewohnt bei Nacht zu wandern,
     Thöricht Roß, wie kommt dir das?
Fürchtest du die Licht‘ und Schatten,
     Wankend auf dem feuchten Gras?

Doch es tritt zurück und bäumt sich,
     Wie er spornt und wie er mahnt;
Drauf mit seinen Vorderfüßen
     Stampfet es den Grund und scharrt.

Wühlet weg den lockern Boden.
     Tief und tiefer sich hinab.
Schätze, glaub‘ ich, willst du graben;
     Eben ist’s ja Mitternacht.

Unter seinem Huf nun dröhnt es,
     Das sind Bretter, ist ein Sarg,
Und es traf ein Schlag gewaltig,
     Daß der schwarze Deckel sprang.

Schwingen will er sich vom Sattel,
     Doch er fühlt sich dran gebannt,
Und der Gaul steht jetzo ruhig
     Vor dem Sarg, im Boden halb.

Und es hebt sich wie vom Schlummer
     Eine weibliche Gestalt,
Deren Züge blaßer Kummer,
     Aber sanfte Lieb‘ umwallt.

Kommst du, hier mich zu besuchen,
     Deine Clara, Fortunat?
Diese Linden, diese Buchen
     Waren Zeugen unsrer That.

Wie du Treue mir geschworen,
     Wie dein Mund so flehend bat,
Meine Ros‘ ich dann verloren,
     Und die Scham danieder trat.

Doch die Sünde ward mir theuer,
     Mahnte nun mich früh und spat;
Für des Angedenkens Feuer
     Wußt‘ ich keinen andern Rath,

Als mich hier so kühl zu betten,
     Wie du siehst, daß ich gethan.
Ach! ich hofft‘ in Liebesketten
     Dich noch einmal hier zu fahn.

Von des stillen Thales Schooße
     Wird geschirmt die bange Scham;
Lieb‘ erzog hier manche Rose
     Für die eine, die sie nahm.

Sieh dieß Lager, traut und enge,
     Wie ich sorgsam anbefahl,
Daß es uns zusammendränge
     Zu der süßen Wollust Qual.

Durch des Vorhangs grünen Schleyer
     Bricht kein unwillkommner Strahl,
Und uns weckt aus ew’ger Feyer
     Keiner Mond‘ und Sonnen Zahl.

In den kühlen Arm zu sinken
     Beut die heiße Brust mir dar.
Deine Seel‘ im Kuße trinken
     Will ich nun und immerdar.

Leise zieht sie ihn hernieder:
     Schöner Jüngling, so erstarrt?
Kaum gebrochne Augen hebend,
     Sinkt er zu ihr in den Sarg.

Lila, Lila! wollt‘ er lispeln,
     Doch es ward ein sterbend Ach,
Weil alsbald des Grabes Schauer
     Seinen Lebenshauch verschlang.

Mit Getöse taumeln wieder
     Fest die Bretter auf den Sarg,
Und ein Sturm verwühlt die Erde,
     Die der Gaul hat aufgescharrt.

Heftig bricht er alle Rosen,
     Säuselnd blättern sie sich ab,
Streu’n sich zu des Brautbetts Weihe
     Purpurn auf das grüne Gras.

Weit ist schon das Roß entsprungen,
     Flüchtig durch Gebirg‘ und Wald,
Kommt erst mit des Tages Anbruch
     Vor der Hütte Lila’s an.

Bleibt da stehn, gezäumt, gesattelt,
     Ledig, mit gesenktem Hals,
Bis die arme schlummerlose
     Seine Botschaft wohl verstand.

Und dann floh es in die Wildniß,
     Wo kein Aug‘ es wieder sah,
Wollte keinem Ritter dienen
     Nach dem schlanken Fortunat.

Murr liest Fortunat, 21. Oktober 2023

Bild: Der vortreffliche Kater Murr liest Fortunat in Frank T. Zumbach, Hrsg: Das Balladenbuch. Deutsche Balladen von den Anfängen bis zur Gegenwart, Artemis & Winkler, Berlin 2004 ff., Seite 165 ff.,
via die Wölfin, 21. Oktober 2023.

Soundtrack: M. Ward featuring First Aid Kit: Too Young to Die,
aus: Supernatural Thing, 2023:

Written by Wolf

27. Oktober 2023 at 00:01

So ersann ein fremder Wand’rer, Nürnberg, dir dies schlichte Lied

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Update zu Zwetschgenzeit (zu spät),
You’ll learn to sprechen Deutsch mein kind, ash fast ash you tesire,
Frankonachten 3/5: Und schuld dran war die Ofenhitz
und Die pelzige Squaw mit der Eisernen Jungfrau:

Ja, genau, es geht um den Longfellow, Henry Wadsworth, gegen den der noch größere Poe ab 1841 bis etwa 1845 einen recht einseitig geführten Longfellow War losbrach, wegen angeblichem Plagiarismus und mangelnder Originalität. Longfellow ließ sich’s nicht verdrießen, führte weiterhin sein luxuriös privatisierendes Leben und unterstützte nach Poes frühem Tod im Rinnstein sogar noch dessen Verwandte — nachdem er inmitten der ausbleibenden Kriegshandlungen 1842 mal in Nürnberg vorbeigeschaut hatte.

Eine Bronzetafel erinnert am Gebäude Karolinenstraße 43/45 an den Besuch des amerikanischen Schriftstellers Henry W. Longfellow in Nürnberg im Jahr 1842. […]

Nuremberg by Henry W. Longfellow, Illustrated With Twenty-Eight Photogravures by the Gebbie & Husson Co., Limited, Illuminated and Arranged by Mary E. and Amy Comegys, Philadelphia 1888Nicht nur amerikanische Kinder, auch etliche ältere Franken erinnern sich, dass sie in ihrer Schulzeit Longfellows Gedicht „Nürnberg“ auswendig gelernt haben, berichtet Altstadtfreunde-Vorsitzende Inge Lauterbach. Die ausführlichen Verse erschienen in mehreren Ausgaben, manche waren sogar mit Goldschnitt und Kupferstichen verziert. Auch in der Nürnberger Stadtbibliothek befinden sich unter den 19 Titeln Longfellows sechs Ausgaben des Loblieds auf die Frankenmetropole.

Die Inspiration für diese Zeilen holte sich der an der Ostküste geborene Amerikaner bei seinem Europa-Besuch im Jahr 1842. Vom 23. bis zum 27. September logierte er im „Hotel zum Strauß“ in der heutigen Karolinenstraße 43/45 (gegenüber dem T-Punkt) und erkundete als kulturbeflissener Tourist die Stadt. […]

In einem Brief an seinen deutschen Dichterfreund Ferdinand Freiligrath schildert er, wie er mit einem Reisegefährten das einstige Wohnhaus des Schusters Hans Sachs besuchte, das sich damals bereits zur Kneipe gewandelt hatte: „Wir tranken einen Krug Bier im Gedenken an den Dichter, während wir uns aus einem Band seiner Werke … vorlasen“.

Schließlich trat Longfellow auch dem „Nürnberger Literarischen Verein“ bei, der später im Pegnesischen Blumenorden aufgegangen ist. Dort wird der Amerikaner immer noch als Mitglied Nr. 677 geführt.

Hartmut Voigt: Späte Erinnerung in Bronze an den Besuch 1842, Nordbayern 17. April 2008.

Nuremberg by Henry W. Longfellow, Illustrated With Twenty-Eight Photogravures by the Gebbie & Husson Co., Limited, Illuminated and Arranged by Mary E. and Amy Comegys, Philadelphia 1888Das Original von Longfellow: Nuremberg 1842 — „In the valley of the Pegnitz, where across broad meadow-lands / Rise the blue Franconian mountains, Nuremberg, the ancient, stands.“ pp. — ist gut dokumentiert. Im Gegensatz zur deutschen Übersetzung von Wilhelm Steuerwald, das es auf vierzeilige Strophen aufteilt, benutzt es pro Strophe zwei Langzeilen — mit dem Vorteil, dass die Zeilen 1 und 3 nicht ungereimt bleiben müssen, und mit dem Nachteil, dass ich die beiden Versionen nicht parallel in eine Weblog-Spalte pressen kann, ohne das Layout heillos zu zerschießen.

Außerdem lehne ich mich soweit aus dem Fenster zu behaupten, dass die Übersetzung, die Das Nürnberg-Lesebuch von Steffen Radlmaier 1994 (und noch in der Neuausgabe 2010) benutzt, von jemandem erstellt wurde, der sich in Nürnberg nicht auskennt; zum Beispiel findet sich auf dem Nürnberger Hauptmarkt nur ein einziger Brunnen, sei er namensstiftend schön oder kreuzhässlich.

Dem Mainer Touristen Longfellow seien Ungenauigkeiten und ein leicht verrutschter Fokus auf das, was Nürnberg ausmacht, nachgesehen. Als ausgesprochenes Meisterwerk war das Stück wohl nicht einmal bei der Produktion gedacht, nur als wertschätzende Gedanken- und Fingerübung während des Sightseeings. Dass Schülergenerationen nach ihm seine Spielerei noch auswendig lernen sollten, wie die führende Nürnberger Altstadtfreundin Inge Lauterbach — siehe oben — hinterbringt, hätte Longfellow wahrscheinlich am meisten von allen Beteiligten gewundert.

Insgesamt liegt der Wert dieses touristischen Gelegenheitsstücks weniger darin, wunder wie genial es geschrieben ist, sondern von wem es geschrieben ist.

——— Henry Wadsworth Longfellow:

Nürnberg

1842, veröffentlicht als Nuremberg: A Poem, in: The Belfry of Bruges and other Poems, 1845,
dt. Übs.: Wilhelm Steuerwald, in: ders., Hrsg: Nürnberg im Lied, Leonhard Schrag, Nürnberg/Leipzig 1913, Seite 12 bis 15,
cit. nach: Steffen Radlmaier, Hrsg: Das Nürnberg-Lesebuch,
ars vivendi verlag, Cadolzburg 1994, Seite 98 bis 101:

In dem Pegnitztal in Franken,
Wo auf weite Wiesenau
Blaue Berge niederblicken,
Stehet Nürnberg altersgrau.

Nuremberg by Henry W. Longfellow, Illustrated With Twenty-Eight Photogravures by the Gebbie & Husson Co., Limited, Illuminated and Arranged by Mary E. and Amy Comegys, Philadelphia 1888Stadt des Handels und der Arbeit,
Stadt des Sanges und der Kunst –
Um die spitzen Giebel flattern
Dohlengleich im fahlen Dunst

Alter Zeit Erinnerungen,
Da die Kaiser kühn und groß
Thronten auf dem felsenfesten,
Zeiterprobten Bergesschloß.

Und in wundersamen Weisen
Rühmte deiner Bürger Sang,
Daß der Reichsstadt Hand und Wirken
Weit durch alle Zeiten drang.

In des Burghofs Mitte stehet,
Eingeschient mit Eisenband,
Noch die Linde, die einst pflanzte
Kaiserin Kunigundes Hand.

Den Sankt Sebald Pfarrhof zieret
Noch des Erkers Heiligtum,
Wo einst Dichter Melchior weilte
Singend Maximilians Ruhm. –

Hier die Wunderwelt der Künste
Allerwärts das Aug entzückt:
Auf dem Marktplatz schöne Brunnen,
Reich mit Bildwerk ausgeschmückt;

Vom Portal der Kathedralen
Heilige in Stein gehauen,
Gottesboten früh’rer Zeiten,
Mahnend auf uns niederschauen;

In der Sankt Sebalduskirche
Ruh’n des Heiligen Gebeine
Unter’m Schutz der zwölf Apostel
Friedlich in dem Silberschreine;

In der Kirche Sankt Laurentius
Ragt die heilige Monstranz
Gleich den Garben der Fontaine
Himmelwärts in hehrem Glanz.

Hier auch lebte, wirkte, kämpfte
Albrecht Dürer fromm und wahr,
Heil’ger Kunst Apostel stellt‘ er
Seines Heilands Leben dar.

Still ertragend seinen Kummer,
Schaffend stets mit ems’ger Hand,
Schaute er gleich einem Pilger
Aus nach jenem besser’n Land.

Emigravit – hat als Inschrift
Man ihm auf sein Grab gegeben;
Tot nicht, nur geschieden ist er,
Denn ihm blühet ewig Leben.

Und die alte Stadt scheint schöner
Schöner strahlt ihr Sonnenschein,
Weil ihr Pflaster er betreten,
Ihre Luft er saugte ein.

Nuremberg by Henry W. Longfellow, Illustrated With Twenty-Eight Photogravures by the Gebbie & Husson Co., Limited, Illuminated and Arranged by Mary E. and Amy Comegys, Philadelphia 1888Durch die Straßen breit und stattlich,
Durch die Gassen schmal und eng
Tönten einst der Meistersinger
Liedesweisen herb und streng.

Aus der fernen düstern Vorstadt
Kamen sie zur schmucken Gilde,
Daß am großen Ruhmestempel
Jeglicher ein Nest sich bilde.

Seine Reime wob der Weber
Nach des Schiffchens Taktesschwingen
Und der Schmied ließ seine Maße
Auf dem Amboß laut erklingen.

Dankend Gott, der große Weisheit
Auf der Schmiede staub’gen Fliesen,
Wie auch im Gebild des Webstuhls
Dichtungsblumen ließ ersprießen.

Hier Hans Sachs der Schusterdichter,
Haupt der wackern Schar und Preis
Größter der Zwölf Weisen Meister,
Sang und lachte bändeweis.

Doch sein Heim ist jetzt ein Bierhaus,
Säuberlich bestreut mit Sand
Ist die Schenke, und um’s Fenster
Blumen flocht der Liebe Hand.

Überm Eingang zeigt ein Bild ihn
Mit dem langen weißen Bart,
Wie in Adam Puschmanns Versen,
Sanft und mild nach Taubenart.

Nuremberg by Henry W. Longfellow, Illustrated With Twenty-Eight Photogravures by the Gebbie & Husson Co., Limited, Illuminated and Arranged by Mary E. and Amy Comegys, Philadelphia 1888Schaffensmüde kommt am Abend
Der gebräunte Handwerksmann,
Zecht im Stuhl des alten Meisters
Aus der blanken Zinnenkann.

Alter Glanz ist hingeschwunden
Wogend und verworren steigen
Vor mir gleich verblaßtem Teppich
Bilder auf in buntem Reigen.

Nicht Konzile und nicht Kaiser
Waren dir zum Weltruhm Führer,
Nein – Hans Sachs, der Schusterbarde,
Und der Maler Albrecht Dürer.

So ersann ein fremder Wand’rer,
Der vom fernen Westen schied,
Auf dem Gang durch Straßen, Höfe,
Nürnberg, dir dies schlichte Lied;

Sammelnd aus des Pflasters Ritzen
Eine bodenständ’ge Blum:
Harter Arbeit hohen Adel,
Heißen Mühens langen Ruhm.

Nuremberg by Henry W. Longfellow, Illustrated With Twenty-Eight Photogravures by the Gebbie & Husson Co., Limited, Illuminated and Arranged by Mary E. and Amy Comegys, Philadelphia 1888

Bilder: Nuremberg by Henry W. Longfellow, Illustrated With Twenty-Eight Photogravures
by the Gebbie & Husson Co., Limited, Illuminated and Arranged by Mary E. and Amy Comegys,
Philadelphia 1888, via Maximun Service 845, 3. August 2023.

Soundtrack: Die Ode an die Freude in einer Flashmob-Version, die eher an den Song of Joy als an den vierten Satz einer Beethoven-Symphonie gemahnt, am 14. Juni 2014 auf dem Nürnberger Lorenzer Platz vor der gleichnamigen, von Longfellow kurz mitbesungenen Kirche. Ach, kommt schon – Mut zur Schnulze! –:

Written by Wolf

20. Oktober 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Biedermeier, Land & See

Und auf einen Schlag zeigte sich mir die Erinnerung

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Update zu Auf der Suche nach den aufgegebenen Blogs
und Als der Bund Spargel einmal tausend Francs kostete:

Das Interessanteste steht wie immer im Anhang, vor allem dann, wenn es gleich Anhänge sind. Das Flimmern des Herzens begibt sich anhand der erhaltenen und unversehens zugänglich gewordenen Korrekturbögen auf die Suche nach der Urfassung der verlorenen Zeit von Marcel Proust.

Das Bulletin d’informations proustiennes 43, Extraausgabe Centenaire de Swann bei Éditions rue d’Ulm brachte 2013 in der Abteilung Les ventes auf Seite 187 bis 209 einen frisch aufgefundenen Zettel mit einem Gedicht auf, das Proust offenbar „als Bravourstück“ mit Auslassungen aus Platzmangel ins Reine geschrieben und als Geschenk verwendet hat.

Das sind die Informationen aus Das Flimmern des Herzens. Wann das genau war und für wen das Geschenk gedacht war, erschließt sich auf den Seiten 187 bis 209, die voller bibliographischer Angaben, nicht aber Gedichte stehen, nicht einmal dann, wenn man auf JSTOR login-berechtigt ist, also einen Zugang mit einem vorgeblichen akademischen Interesse ergaunert, nein: geltend gemacht hat; unsereiner, der sich ehrlicher Weise Das Flimmern des Herzens für maximale sechs Wochen aus der Stadtbibliothek leisten kann, erfährt es schon gleich dreimal nicht und muss es dann halt so glauben.

Das Gedicht, wie es für 42 Euro für ein verlagsfrisches Exemplar auf uns kommt, bringt dafür den Madeleine-Teil aus der verlorenen Zeit recht bravourös auf den Punkt.

——— Marcel Proust:

Rückblick

Manuskript Du côté de chez Swann, Seite 48,
cit. nach Stefan Zweifel, Hrsg.: Das Flimmern des Herzens. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.
Die ursprüngliche Fassung, Die andere Bibliothek, Band 395, November 2017, Seite 675 f.:

Cover Das Flimmern des Herzens, 2017Und auf einen Schlag,
zeigte sich mir die Erinnerung.
Dies war der Geschmack jenes
kleinen Bissen Madeleine, den mir meine
Tante Léonie anbot.
Der Anblick der
kleinen Madeleine hatte mir nichts in Erinnerung gerufen,
bevor ich von ihr gekostet hatte;
vielleicht,
hatte von diesen Erinnerungen, vom Gedächtnis
seit so langer Zeit im Stich gelassen, nichts
überlebt, alles hatte sich zersetzt; die Formen
– namentlich jene des kleinen Muschelgebäcks
vol fetter Sinnlichkeit unter
seinem gestrengen und frommen Faltenwurf –waren
verwittert.
Doch wenn von lang Vergangenem,
nach dem Ableben der geliebten Wesen,
nach der Zernichtung aller Dinge,
nichts mehr Bestand hat, bleiben noch lange Zeit,
zerberchlich zwar, aber lebhafter, weit körperloser,
beständiger, treuer auch, der Geruch und
Geschmack übrig, erinnern sich, Seelen gleich,
und tragen in der Hoffnung, nicht einzubrechen,
über ihrem fast unfasslichen Tröpfchen,
das gewaltige Gebäude der Erinnerung.
Marcel Proust.

Bild: Cover via Amazon.de.

Soundtrack: Jacques Brel: Madeleine, 1962:

Written by Wolf

13. Oktober 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Nahrung & Völlerei, Symbolismus

Doch Frauenliebe habt ihr nie genossen, an Frauenantheil habt ihr nie geglaubt (Man sollte meinen, daß es Dichtung wäre!)

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Update zu Nachtstück 0020: Im rauschenden Wellenschaumkleide
(In dem düstern Poetenstübchen)
,
Gräflein Du bist verrathen
und Fruchtstück 0004: Der heil’ge Rhythmus in Verselein und Rimelein:

Von August Graf von Platen-Hallermünde ist nicht viel auf unsere Tage gekommen. Das leitet sich womöglich vom einflussreicheren Heinrich Heine her, der seinen zweitgrößten Literatenstreit nächst demjenigen mit Ludwig Börne mit dem Grafen Platen geführt hat. Heines Vorwürfe ergingen sich zum einen in dem, was heutzutage unter Kink-Shaming und Homophobie fiele, zum anderen darin, dass Platens Lyrik bis zur Leblosigkeit durchperfektioniert seien.

Ob ein Dichter schwul, objektophil oder mit sonst einer Vorliebe seiner Wahl gesegnet ist, interessiert heute allenfalls dokumentarisch; den zweiten Vorwurf muss man sich aber mal geben: Platen sei ein verächtlicher Dichter, weil er korrekte Metren verwendet. Und gerade dieser Einwand zieht sich bis in die jüngste Literaturforschung durch: Platens kompromisslose Perfektion wie aus der Schulpoetik erzeuge kein lyrisches Tanzen, sondern ein hölzernes Geklapper, das sich durch ganze Gedichtsammlungen zieht. Kann ja alles sein. Persönlich bewundere ich es heillos, wenn jemand seine lyrischen Formen beherrscht und man ihm seine Hebungen und Reimmuster nicht eigens nachzählen muss, weil man sich auf sein Handwerk verlassen kann.

Die verlegerische Pflege von Platens Werk ist spätestens im 20. Jahrhundert abgerissen, möglicherweise wegen Heines Verunglimpfungen, von denen sich sein Ruf nie wieder erholt hat, oder seinem anderen großen Kollegenstreit mit Karl Leberecht Immermann, der bei Platen gern „Nimmermann“ heißt und die Herabsetzungen ebenso wenig verdient wie Platen die seiner Gegenseiten. Seine Werksammlungen im 19. Jahrhundert umfassen mal zwei, mal fünf Bände, die historisch-kritische Ausgabe stammt von 1910. Danach war sein Gedicht Das Grab im Busento von 1820 noch eine Zeitlang Schulstoff.

1982 haben sich Artemis & Winkler noch einmal erbarmt und von Kurt Wölfel und Jürgen Link eine auf zwei Bände angelegte Gesamtausgabe herausgeben lassen, deren erster Band mit der Lyrik natürlich längst vergriffen ist und noch gelegentlich antiquarisch und dann überteuert auftaucht. Der zweite Band mit der Prosa und den Dramen ist gar nicht erst erschienen.

Der vorhandene erste Band Lyrik ist ein veritabler Tausendseiter mit dem Anspruch auf Vollständigkeit und wegen Platens inkriminierer Formenstrenge ein ungeordnetes, aber geradezu unerschöpfliches Kompendium lyrischer Formen; allein die Ghaselen nehmen 157 Seiten ein. Dankenswerter Weise haben die Herausgeber nach jeden thematischen Abschnitt einen weiteren „Aus Platens Werkstatt“ mit unveröffentlichtem Frühwerk und Ausschuss geordnet.

Trotzdem fehlt in all dieser Fülle sein Balladenfragment Der grundlose Brunnen, und ich hoffe nur inständig, dass ich da auf die einzige Fehlstelle weit und breit gestoßen bin und nicht auf ein Beispiel dafür, was da nicht noch alles unbegründet fehlen könnte.

Realistisch erreichbar ist dieses Stück aktuell nur in Frank T. Zumbach, Hrsg.: Das Balladenbuch. Deutsche Balladen von den Anfängen bis zur Gegenwart, ebenfalls bei Artemis & Winkler, Berlin 2016, Seite 268 bis 272. Wo Zumbach es seinerseits her hat, ist ihm auf Nachfrage inzwishen entfallen, er vermutet nur vage in seinem reichhaltigen Keller etwas Zweibändiges aus dem Neunzehnten, das er auch in seiner Balladensammlung nachweist, das wäre dann eine Werksammlung unsicherer Zuordnung von 1847. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist es genau dort bei Zumbach dem professionellen Sprecher Jan Terstiege aufgefallen, der es 2019 für seine Sammlung Literatur zum Hören an einem Balladensonntag eingelesen hat. Fragmentarisch, wie es ist, dauert das zwölf Minuten. Bei Zumbach sind das fünf Druckseiten DIN A4. Ein Jammer, dass die Handlung schon abreißt, bevor sie Fahrt aufnimmt:

Der Graf von Platen entstammte einem schon zu seinen Lebzeiten verarmten Adelsgeschlecht und war Franke, aus der heutigen mittelfränkischen Hauptstadt Ansbach. Gestorben ist er 39-jährig im sizilianischen Syrakus an einer Überdosis von Medikamenten gegen eine Krankheit (Cholera), die er gar nicht hatte.

Jean-Léon Gérôme, La Vérité sortant du puits armée de son martinet pour châtier l'humanité, 1896

——— August Graf von Platen:

Der grundlose Brunnen

Eine fränkische Sage

Fragment, 1820,
cit. nach: Gesammelte Werke des Grafen August von Platen in fünf Bänden, Vierter Band,
J. G. Cotta’scher Verlag, Stuttgart und Tübingen 1847, Seite 206 bis 213:

Die Sonnenfackel tauchte rosenfarben
Sich in die Berge fernhin und erblich,
Eine Schnitterhaufen führte heim die Garben,
Und sang und jubelt‘ und ergötzte sich;
Doch als die heitern Melodien erstarben,
Trat in den Burghof Herzog Udalrich,
Die Knappen aber grüßten ihn und schieden,
Denn er war gern allein und gern vermieden.

Es quoll ein Bronnen in des Hofes Mitte,
Aus dem die röm’schen Männer schon getrunken,
Als hier sie wandelten im Siegerschritte,
Lang eh‘ man Burg und Kirche hier sah prunken,
Und eh‘ man betete nach Christensitte:
Schon war das Mauerwerk halb eingesunken,
Doch standen rings uralte Lindenbäume,
Die ihren Schatten warfen in die Schäume.

Dort ließ nun traurig sich der Herzog nieder,
Und Seufzer hoben seinen Busen schwer,
Tief in die Welle schaut er hin und wieder,
Doch kein Genüge schaut und findet er;
Da kommt des Schlosses Vogt, getreu und bieder,
Der vielbejahrte Diener kommt daher,
Ob er den Herrn gelaunt zu Worten träfe,
Entblößt das Haubt er und die greise Schläfe.

Schon lange sinn‘ ich, spricht er, was euch bange,
Erlauchter Herzog, was euch düster macht:
Wie habt ihr sonst beim Sonnenuntergange
Gescherzt mit Freunden und euch frohgelacht!
Und, wie’s geziemet euerm Fürstenrange,
Die schönen Tage ritterlich verbracht!
Wie scholl’s von Waffen und vom Jägerhorne!
Nun sitzt ihr ewig träumerisch am Borne.

Verschwanden jene Bilder, die den Knaben,
Vom einst’gen Waffenruhm, von Kampf und Sieg,
Vom Habedank aus schöner Hand, umgaben?
Ihr wolltet ziehen in den heil’gen Krieg,
Zur Stätte, wo den Herren sie begraben,
Wo er gen Himmel durch den Aether stieg:
So träumend sonst von Fahrt und Abenteuer
Seid ihr gefesselt nun an dieß Gemäuer?

Was staunst du, daß ich stets mich hier befinde,
Sobald die Stralen im Gebirg verglühten?
Aus dieser Quelle steigen kühle Winde,
Und wenn die Flut zu kräuseln sie sich mühten,
Dann ziehn sie säuselnd durch die laub’ge Linde,
Und wehn herunter den Geruch der Blüten,
Die Blüten selbst, sie fallen oft, betrogen,
Zu Sternen, die sich spiegeln in den Wogen.

Laßt euch beschwören, Herr, bei eurem Ruhme,
Spricht Jener! trotzt dem Zauber, der euch band!
Der Bronnen stammt noch aus dem Heidenthume,
Und ward gegraben von Druidenhand:
Drum wird verzaubert jede Blüt‘ und Blume,
Die hier emporwächst an des Wassers Rand:
Hier ward noch nie ein frommes Werk begonnen,
Und Nixen hausen, wie man sagt, im Bronnen.

Zwar ist das Wasser hier von großer Güte,
Doch ohne wahre, heiligende Kraft:
Denn als vordem, mit gläubigem Gemüte,
Der heil’ge Winfried, der so riesenhaft
Sich um dieß Land und um dieß Volk bemühte,
Von Sünden reinigte die Heidenschaft,
Da sah man nie mit dieser Flut ihn heilen,
So wird erzählt, noch je die Tauf‘ ertheilen.

Auch sagen sie, und solches könnt ihr stündlich
Mit Senkblei selbst erproben oder Stange,
Daß diese Flut so völlig unergründlich,
Daß auf den Boden nie ein Stein gelange:
Drum hütet euch, versucht nicht keck und sündlich,
Ob mit der Hölle sie zusammenhange!
Der Alte rief’s, und zog ihn weg vom Orte,
Da sprach der Herzog diese sanften Worte:

O wollte Gott, ich hätte nie vernommen,
Wie viele Seligkeiten wunderbar
Aus dieses Brunnens heil’ger Tiefe kommen,
Vielleicht bedünkte, was du sagst, mich wahr!
Als einst die Sterne schon am Himmel glommen,
Dem Geiste rätselhaft, dem Auge klar,
Trat ich hierher, mich freuend ihrer Helle
Dort oben und hier unten in der Welle.

Da scholl ein Tönen, wie aus tiefer Vase,
Ausdrückend Sehnen halb und halb Vergnügen,
Ich lauschte hier bewegungslos im Grase,
Und zog den Ton in mich in vollen Zügen:
Mir schien’s als wären’s Lilien von Glase,
An die metallne Schmetterlinge schlügen,
So rein erscholl’s, so tief ergriff’s die Seele,
Ach, wohl kein Lied aus einer Menschenkehle!

Doch war’s ein Lied, noch in mir klingt es rein,
Noch klingt es, doch es klingt zu meinem Schmerze.
Nun find‘ ich hier mich jeden Abend ein,
Daß ich kein zweites schönes Lied verscherze,
Doch, ach nicht zweimal sollt‘ ich glücklich sein,
Und unbefriedigt bleibt mein armes Herze,
Stets horchend auf die wundersam geheime,
Fremdart’ge Weise, die gelinden Reime.

Es war, erwiedert ihm der Vogt, ein Traum:
Oft kann ein Traum der Seele Frieden stören,
Zum Schlafe lockt hier schattig Baum an Baum,
So mocht‘ euch wohl die Phantasie bethören,
Denn niemals ließen aus dem tiefen Raum
Sich menschenähnliche Gesänge hören,
Nur Käfer summen hier mit sachten Stimmen,
Die auf den Blättchen in der Quelle schwimmen.

Doch wißt, woher euch dieser Wunsch entsprossen,
Der nun euch die gewohnte Ruhe raubt?
Ihr seid in frischer Jugend aufgeschossen,
Und dichte Locken fliegen euch um’s Haubt;
Doch Frauenliebe habt ihr nie genossen,
An Frauenantheil habt ihr nie geglaubt,
Nun regen sich, wenn auch noch halb verborgen,
In euch die kommenden, die lieben Sorgen.

O hört mich an mit gütigem Vertrauen,
Wenn je mein wohlgemeinter Rat euch galt,
In diesen Thälern wächst, in diesen Auen
Wie manche jungfräuliche Wohlgestalt;
So laßt die Ritter, Herrn und Edelfrauen
Nach eurem Schlosse laden, jung und alt,
Schmückt einmal wieder eure Burg zum Feste,
Und kommen sie, so wählet euch die Beste.

Der Herzog hört’s, zwar mit beklemmtem Herzen,
Doch seine Stirn entwölkte sich, die hohe,
Und sei’s ein Wechsel nur von Schmerz um Schmerzen,
Des Wechsels freu’n sich Traurige wie Frohe.
Das Fest erscheint, es flackern tausend Kerzen
Den Saal entlang in schöner goldner Lohe,
Und wie den Reigen schlingen zarte Hände,
Da wiederhallen von Musik die Wände.

Der laute Ton von Zither, Flöt‘ und Horne
Durchscholl den Burghof, hallte durch’s Gestein,
Und drang hinab, wo tief im Silberborne
Die Meerfrau wohnte mit drei Töchterlein.
Der ältesten und lieblichsten, Hydorne,
Fuhr jeder Laut in’s tiefe Herz hinein,
Und leichtbereit ein kühnes Wort zu wagen,
Begann sie so der Mutter vorzuklagen:

Das Bad ist kühlend hier im Wasserschwalle,
Viel goldne Fische tauchen in die Wogen,
Viel Edelsteine kleben an der Halle,
Die weit geräumig ist und hoch im Bogen
Gewölbt aus einem einzigen Krystalle,
Vom Lotosteppich lieblich überzogen,
Und ihr geheim und unterirdisch Dunkel
Erhellt durch einen magischen Karfunkel.

Doch hast du, Mutter, uns nicht selbst berichtet,
Um wie viel schöner sich es lebt dort oben,
Das Licht, hier im Karfunkel nur verdichtet,
Ist dort in Stralen durch die Welt zerstoben,
Und wenn die Nacht der Sonne Kraft vernichtet,
So schmückt der Himmel sich mit goldnen Globen,
Der Mond mit ihnen, eine Silberfähre;
Man sollte meinen, daß es Dichtung wäre!

Die Erde, sagt man, dehnt sich, und ihr dienen
Der Kräuter viel zu Stickerei’n und Zier,
Viel Rosen, gleich lebendigen Rubinen,
Und Thau dran, wie beweglicher Sapphir.
O hättest nimmer du erzählt von ihnen,
Sie duften, sagst du, dufteten sie mir!
Umgäbe mich ihr freundliches Gewimmel,
Und drüber hin der amethystne Himmel!

O laß uns drum empor zum Borne steigend,
Ergötzen uns, nur bis die Nacht verschwunden,
Hydorne sprach’s, zwar nicht in Worten zeigend,
Daß jene Töne sie so sehr gebunden,
Doch nicht aus falschem Herzen es verschweigend,
Von Scham vielleicht im Stillen überwunden,
Von einer Scham, die sie sich nicht erklärte.
Die Mutter sprach zur Tochter, und gewährte:

Geh mit den Schwestern nur hinauf, Hydorne,
Freut euch der Sternchen und des Mondenkahnes,
Der Blumen auf den Wiesen und im Korne,
Und all des überird’schen Menschenwahnes,
Doch reizt die Nixenfürstin nicht zum Zorne,
Und eilt zurück beim ersten Ruf des Hahnes,
Daß nicht ein Sonnenstral euch etwa leuchte,
Bevor ihr kehrt in’s unterirdisch Feuchte.

Indessen strömten durch die Burggemächer
Der Gäste viel, und alles regte sich,
Es jubelten die Tänzer und die Zecher,
Solang man Flöte blies und Geige strich;
Doch auch nicht einmal hob den goldnen Becher
Noch flog im Tanze Herzog Udalrich,
Noch blickt er jemals nach den Mädchen allen
Mit einer Miene nur von Wohlgefallen.

Da wandeln plötzlich durch die muntern Schaaren
Drei holde Jungfrau’n, doch wie Lilien bleich,
Sie hatten feine Schleier in den Haaren,
Die bis zur Erde hingen faltenreich
Und von durchsichtigem Gewebe waren,
Der Spinne zarten Silberstoffen gleich.
Ihr Gürtel wob sich aus korallnen Bändern,
Doch feucht erschien der Saum an den Gewändern.

Édouard Debat-Ponsan, La Vérité sortant du Puits, 1898

Bilder: Jean-Léon Gérôme: La Vérité sortant du puits armée de son martinet pour châtier l’humanité, 1896;
Édouard Debat-Ponsan: La Vérité sortant du Puits, 1898.

Soundtrack: Am Brunnen vor dem Tore, aus: Die Trapp-Familie, 1956:

Written by Wolf

6. Oktober 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Biedermeier, Herrschaft & Revolte

Filetstück 0008: Warum sollte er nicht eine ganze Nacht lang wandern können?

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Update zu Weekly Wanderer 0004,
Wanderwochen 01: Goethe guckt in die Ferne
und Wanderwochen 03: 2 + 2 – 2 + 2 = 7 (Ist doch bloß ein Märchen):

Ronny Rose, Night, Tumblr

Beim richtigen von den zwei bekannten schreibenden Walsers — Robert — sieht man immer heimlich Eichendorff ums Eck linsen. In seinem ersten Roman Geschwister Tanner 1907 sind es besonders des älteren Kollegen erster Roman Ahnung und Gegenwart und wie immer der Taugenichts.

Die Schönheit einer Nachtwanderung in einen einzigen Absatz zu fassen, hätte ich mir in meinem Debüt-Roman niemals zugetraut. Seit Robert Walser weiß man: Der Absatz muss einfach nur lang genug sein. Schön und für die ganze Nachtstrecke motivierend muss es sein, von seinem Lieblingslausemädel anfangs mit Bratwurst und Rotwein versorgt zu werden; vom jungen Autoren Walser hätte ich allenfalls gern mehr über den nächtlich aus dem Boden gewachsenen „starken Mann“ erfahren.

Und vor allem, in welcher Landschaft das stattfindet. Leider enthält sich Walser den ganzen Roman lang aller Zeit- und Ortsangaben, und für die Schweiz, die bei Walsers Herkunft aus Biel naheliegt, ist mir das Gelände zu flach. Das Bildmaterial können wir deshalb guten Gewissens dem deutschen Nordosten entnehmen.

Der Protagonist Simon Tanner besucht seinen Bruder Kaspar:

Ronny Rose, Night, Tumblr

——— Robert Walser:

Sechstes Kapitel

aus: Geschwister Tanner, Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1907,
cit. nach dem Suhrkamp-Taschenbuch 1978 u. ö., Seite 103 bis 109:

Ronny Rose, Night, Tumblr

Kaspar befand sich in einem kleinen Landstädtchen, wo er den Auftrag zu erledigen hatte, einen Tanzsaal zu dekorieren, das heißt, dessen Wände von oben bis unten zu bemalen. Es war inzwischen Herbst geworden und eines Tages machte sich Simon, es war ein Sonnabend, nach Feierabend auf den Weg, um die Nacht durch die Strecke zu Fuß zu gehen, die ihn von Kaspar trennte. Warum sollte er nicht eine ganze Nacht lang wandern können. Er hatte eine Landkarte zur Hand genommen und darauf mit dem Zirkel die Zahl der Stunden, die er brauchte, um nach dem Städtchen zu gelangen, scharf abgemessen und hatte wahrgenommen, daß er gerade in einer Nacht, wenn er die Zeit ausnutzte, hingelangen konnte. Der Weg führte ihn zuerst durch die Vorstadt, wo Rosa, seine alte Freundin, wohnte, und er verschmähte nicht, ihr im Vorbeilaufen einen kurzen Besuch abzustatten. Sie war sehr erfreut, ihn nach so langer Zeit wieder einmal zu sehen, nannte ihn einen bösen, treulosen Menschen, daß er sie so habe im Stich lassen können, sagte das aber mehr in einem schmollenden als in einem gereizten Ton und ließ es sich nicht nehmen, Simon ein Glas Rotwein zu trinken zu geben, das, wie sie sagte, ihn für seine Nachtwanderung stärken solle. Auch briet sie ihm auf ihrem Gasherde schnell eine Wurst, stichelte den Dastehenden, während sie kochte, mit nicht unartigen, aber wohlgesetzten Worten, sagte, er müsse ja sehr gut mit Frauen versehen sein und machte ihn lachend darauf aufmerksam, daß er eigentlich die Wurst nicht verdiene, sie nun aber doch haben solle, wenn er künftig fleißiger zu ihr käme. Das versprach, während er sich das Essen schmecken ließ, Simon und trat bald darauf seine Wanderung mit einigem Bangen vor der Anstrengung, die ihm bevorstand, an. Aber jetzt noch feige zurückkehren und die Eisenbahn benutzen, das mochte er doch nicht. So lief er denn vorwärts und fragte immer wieder nach dem richtigen Weg, um ja sicher zu gehen. Bei den Wegweisern zündete er ein Streichhölzchen an, hielt es in die nötige Höhe, um zu sehen, wo der Weg weiter hinliefe. Er ging mit einer ganz rasenden Schnelligkeit, als fürchtete er, der Weg möchte ihm unter seinen Füßen entgehen und davonlaufen. Der Rotwein Rosas hatte ihn befeuert und er wünschte nur, daß bald die Berge kämen, die zu überwinden ihm eine Lust und Leichtigkeit gewesen wäre. So kam er in das erste Dorf und hatte Mühe, sich auf den verschiedenen Dorfwegen, die alle kreuz und quer liefen, zurechtzufinden. Er rief deshalb einen Schmied an, der noch hämmerte, und von diesem erfuhr er, daß er richtig ging. Nun kam eine Landschaft, die ganz verschwommen war, weil sie aus lauter Gebüschen bestand; es ging bergaufwärts; dann kam eine Art Hochebene, die etwas Schauerliches an sich hatte. Es war tiefdunkel, kein Stern am ganzen Himmel, hin und wieder kam der Mond hervor, aber die Wolken verdeckten sein Licht wieder. Nun lief Simon durch einen finsteren Tannenwald, er fing an zu keuchen und paßte besser auf seine Schritte auf; denn er stieß immer wieder an Steine, die im Wege lagen, und das langweilte ihn doch ein wenig. Der Tannenwald hörte auf, Simon atmete freier; denn in dunklen Wäldern zu gehen, so allein, ist nicht immer ungefährlich. Ein großes Bauernhaus stand plötzlich vor ihm wie aus der Erde emporgewachsen und engte seinen Blick ein, ein großer Hund schoß hervor, sprang auf den Wanderer los, aber biß nicht. Simon blieb ganz still und ruhig stehen, starrte den Hund nur an, und so wagte der Hund nicht zu beißen. Weiter ging es! Brücken kamen, die donnerten in der Stille unter den raschen Schritten, denn sie waren von Holz, es waren alte Holzbrücken mit Dächern und Heiligenbildern am Ein- und Ausgange. Simon fing an, gezierte Schritte zu machen, um sich Unterhaltung zu verschaffen. Plötzlich, auf ganz offenem, aber düsterem Feld stand ein starker Mann vor ihm, der ihn anschrie und ihn dabei fürchterlich anstarrte. »Was wollen Sie?« schrie Simon seinerseits, aber er machte eine Schwenkung rund um den Mann herum und lief fort, ohne hören zu wollen, was der Mann wollte. Sein Herz klopfte, es war die Plötzlichkeit der Erscheinung, nicht der Mann selber, die ihn erschreckt hatte. Dann marschierte er durch ein schlafendes, endlos langes Dorf. Ein weißes, langes Kloster sah ihm entgegen und verschwand wieder. Es ging wieder bergauf. Simon dachte an gar nichts mehr, die zunehmende Anstrengung lähmte seine Gedanken; stille Brunnen wechselten mit einsamen Baumgruppen, Wälder mit Wolken, Steine mit Quellen, es schien alles mit ihm zu gehen und hinter ihm zu versinken. Die Nacht war feucht, finster und kalt, seine Wangen aber brannten und seine Haare wurden naß vom Schweiß. Auf einmal erblickte er zu seinen Füßen etwas gestreckt Liegendes, Weites, Schimmerndes und Glänzendes: es war ein See; Simon blieb stehen. Von da an ging es abwärts auf einem fürchterlich schlechten Weg. Zum ersten Mal taten ihm seine Füße weh, aber er achtete nicht darauf, sondern ging weiter. Äpfel hörte er dumpf auf die Wiesen fallen. Wie geheimnisvoll schön die Wiesen waren: undurchsichtbar und dunkel. Das Dorf, das nun folgte, erweckte sein Interesse durch die vornehmen Häuser, die es zur Schau trug. Aber hier wußte Simon nicht mehr weiter. So sehr er suchte, den rechten Weg fand er nicht. Da es ihn erbitterte, wählte er, ohne sich lange zu besinnen, die Hauptstraße. Eine Stunde mochte er gegangen sein, als ihm ein deutliches Gefühl sagte, daß er eine falsche Richtung eingeschlagen hatte, er kehrte wieder um, weinte beinahe vor Zorn und schlug seine Füße gegen die Straße, als hätten sie die Schuld getragen. Er kam wieder ins Dorf zurück: zwei Stunden versäumt: welche Schmach! Er fand auch sogleich den rechten Weg, nun, da er die Augen besser auftat, lief fort, unter Bäumen, die ihr Laub fallen ließen, auf einem schmalen Seitenwege, der ganz mit raschelnden Blättern bedeckt war. Er gelangte in einen Wald, es war ein Bergwald, der schroff in die Höhe strebte, und da Simon keinen Weg mehr vor sich sah, ging er einfach gerade aus, suchte sich, immer höher steigend, durch das dichteste Tannengeäst seine Bahn, zerkratzte sich sein Gesicht, zerrieb seine Hände, aber es ging wenigstens hinauf, bis endlich der Wald aufhörte, durch den er sich stöhnend und fluchend hindurchgerungen, und eine freie Weide vor seinen Augen lag. Er ruhte einen Moment: »Herrgott, wenn ich zu spät komme: welche Blamage!« Weiter! Er ging nicht mehr, er sprang, indem er rücksichtslos seine Beine in die weiche Ackererde stampfte. Ein bleiches, schüchternes Morgenlicht streifte von irgendwoher seine Augen. Er sprang über Hecken, die ihn zu höhnen schienen. Auf einen Weg achtete er schon längst nicht mehr. Eine anständige, breite Straße, das blieb in seiner Phantasie als etwas Köstliches hängen, nach dem er sich von Herzen sehnte. Es ging wieder bergabwärts, in schmale, kleine Schluchten, wo die Häuser an den Halden wie Spielzeuge klebten. Er roch die Nußbäume, unter denen er lief; unten im Tal schien so etwas wie eine Stadt zu sein, aber das war nur eine gierige Ahnung. Endlich fand er die Straße. Seine Beine selbst schienen mitzujubeln über den Fund und er ging ruhiger, bis er einen Brunnen fand, zu dessen Röhre er sich wie ein Wahnsinniger hinstürzte. Unten gelangte er in eine kleine Stadt, kam bei einem weißglänzenden, zierlichen, anscheinend geistlichen Palais vorbei, dessen Verfallenheit ihn tief rührte, und wieder ging es ins offene Land hinaus. Hier fing der Tag an zu grauen. Die Nacht schien zu erbleichen; die lange, stille Nacht machte ein Zeichen der Bewegung. Simon stürmte jetzt den Weg nur so beiseite. Wie bequem erschien ihm das Gehen auf einer solchen glatten Straße, die in großen Windungen zuerst aufwärts, dann prachtvoll gedehnt bergab führte. Nebel sanken auf die Wiesen nieder und gewisse Tagesgeräusche meldeten sich dem Ohr. Wie lang doch eine Nacht war. Durch diese Nacht, die er auf der Erde durchgelaufen, saß vielleicht ein Gelehrter, vielleicht gar sein Bruder Klaus, bei der Lampe am Schreibtisch, und wachte ebenso sauer und mühsam. Ebenso wundervoll mußte einem solchen Stillesitzenden der erwachende Tag vorkommen, wie jetzt ihm, dem Landstraßenläufer. Schon zündete man in kleinen Häusern die Frühmorgenlichter an. Eine zweite, größere Stadt erschien, zuerst mit Vorhäusern, dann mit Gassen, dann mit Toren und einer breiten Hauptstraße, in der Simon ein herrliches Haus mit Statuen von Sandstein auffiel. Es war eine alte Stadtburg, die jetzt als Postgebäude diente. Schon gingen Menschen auf der Straße, die er fragen konnte nach dem Weg, wie am Abend zuvor. Es ging wieder ins flache, freie Land hinaus. Der Nebel zerstob, Farben zeigten sich, entzückte Farben, entzückende Farben, Morgenfarben! Es schien ein herrlicher, blauer Herbstsonntag werden zu wollen. Nun begegnete Simon Leuten, namentlich Frauen, sonntäglich geputzten, die vielleicht schon von weit herkamen, um in die Stadt zur Kirche zu gehen. Immer bunter wurde der Tag. Jetzt sah man die roten, glühenden Früchte neben der Straße in der Wiese liegen, auch fielen beständig reife Früchte von den Bäumen. Es war das reine Obstland, durch das Simon nun weiterschritt. Handwerksburschen begegneten ihm, ganz bequemlich; die nahmen das Gehen nicht so ernst wie er. Eine ganze Gesellschaft dieser Burschen lag ausgestreckt an einem Wiesenrand in den ersten Strahlen der Sonne: welches Bild der Behaglichkeit! Eine Kuh wurde vorbeigeführt, und die Frauen sagten so schön ›guten Tag‹. Simon aß Äpfel auf dem Weg, auch er wanderte jetzt ruhig durch das fremde, schöne, reiche Land. Die Häuser an der Straße waren so einladend, aber noch schöner und zierlicher waren die Häuser, die mitten unter den Bäumen, tiefer im Land, mitten im Grün steckten. Die Hügel gingen anmutig und sanft in die Höhe, die Höhen lockten, alles war blau, von einem herrlichen, feurigen Blau durchzogen, auf Wagen fuhren ganze Gesellschaften von Leuten daher und endlich sah Simon ein kleines Häuschen am Weg, dahinter eine Stadt, und sein Bruder steckte den Kopf durch das Fenster des Hauses. Er war zur rechten Zeit angekommen, kaum eine Viertelstunde nach der vereinbarten Zeit. Und er ging mit Frohlocken in das Haus hinein.

Ronny Rose, Night, Tumblr

Bilder: Ronny Rose:

  1. Light at the End of the Forest, 26. März 2022;
  2. Foggy Wuhlheide at Night Nr. 2, Berlin Schöneweide, Germany, 26. März 2022;
  3. Foggy Meadow at Night, 28. September 2019;
  4. Small Parking Spot in Forest With a Bit Fog, 28. Oktober 2019;
  5. 7. November 2018.

Ronny Rose, Night, Tumblr

Soundtrack: Hugo Wolf: Nachtzauber, aus: Gedichte von Joseph von Eichendorff, Nr. 8, 1886 ff.,
Eilsabeth Schwarzkopf mit Wilhelm Furtwängler am Klavier, 1969:

Bonus Track: Element Of Crime: Wenn es dunkel und kalt wird in Berlin,
aus: Schafe, Monster und Mäuse, 2018:

Written by Wolf

29. September 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Impressionismus, Land & See

Ein kleines, viereckiges, den Eindruck der Vernachlässigung bietendes Zimmer (dat soll dir sauer uffstoßen)

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Update zu Morgenstern über Greifswald (und keiner schaut hin)
und Dornenstück 0009: Die Kinder verdarben (Schauderhaft, höchst schauderhaft):

Wenn der Dichter [Christian Morgenstern] in der Galgenlyrik also keineswegs nachahmt und spottet, gibt es doch fraglos auch parodistische, satirische Texte von Christian Morgenstern. Von diesen, statt wie Ettlinger 1905 von den Galgenliedern, als den „parodistischen Satiren“ zu sprechen, wäre treffend. Eindeutig Parodien möchte ich solche Texte nennen, die der Dichter als solche verfasst und bezeichnet hat. Vergnüglich liest sich in der Schallmühlen-Parodiensammlung etwa das den Naturalismus vorführende Dramen-„Fragment“ Knochenfraß. […]

In summa: Wer Morgensterns Galgengedichte als Parodien sieht, stellt sich in Widerspruch zu ihrem Dichter.

Anthony T. Wilson: Über die Galgenlieder Christian Morgensterns,
Königshausen & Neumann, Würzburg 2003, Seite 255.

Die von Wilson angeführte „Schallmühlen-Parodiensammlung“ wurde 1928 posthum veröffentlicht und ist selten geworden. Den Volltext von Knochenfraß bringt heute allein die Erlanger Sammlung unter Ernst Rohmer und Gunther Witting an meiner alten Alma Mater, die das Fragment, das schon als solches angelegt ist, als Parodie auf das Drama des Naturalismus, vor allem auf die überaus genauen Bühnenanweisungen und die stark vorherrschende Elendsthematik“ ausweisen.

Die Bilder sind Scherenschnitte des Dichters Morgenstern selbst, die für Die Schallmühle verwendet wurden.

——— Christian Morgenstern

Knochenfraß

Naturalistische Handlung vom Ende der 80er Jahre

(Berliner Schule)

(Fragment)

in: Die Schallmühle. Grotesken und Parodien, Piper Verlag, München 1928:

ZWEITER VORGANG

Christian Morgenstern, Drache überm EisbergEin kleines, viereckiges, den Eindruck der Vernachlässigung bietendes Zimmer. Die Diele ist acht Tage lang nicht mehr naß gescheuert worden. Rechts vorn sind ein paar violettbräunliche Stiefelabdrücke (eigenwillig auftretender Frauenfuß) auf dem fadenscheinigen, rotgrünen, mit bleifarbenen, eiförmigen Mustern getupften Teppich zu bemerken. Die Tapete ist von jenem feuchten ungesunden Blau, wie man es in ganz neuen Häusern zu finden pflegt; nervöse, hektisch rote Phantasie-Ornamente verstärken den trostlosen Eindruck. Links hinten, etwa beim siebenten Ornament von unten, baumelt ein Stück der Tapete, in schiefem Winkel gewaltsam abgerissen, herab; dahinter sieht man den gelblich schmutzigen und bereits abbröckelnden Kalk der Mauer. Aus der angeräucherten Decke ragt ein rostiger Haken, der von rechts nach links (vom Zuschauer aus) gekrümmt, früher offenbar eine Lampe trug. Jetzt hängt nur ein lilafarbener Wollfaden herunter, auf dessen unterer Partie eine stahlgrün schillernde Schmeißfliege sitzt. Die wässerig-gelben Möbel sind teilweise völlig ruiniert. Die einwärts gebogenen Tischbeine an der Innenseite abgeschurrt. Aus dem halboffenen, dreifüßigen Kleiderschrank dringt erstickender Geruch. Eine bräunlicbe, ins Lachsfarbige verschießende Weste pendelt verträumt an einem Holznagel. Im Winkel rechts hinten liegt eine wimmernde Masse. Eine schwammige wimmernde Masse. Ein aschfahles Gesicht wickelt sich aus den Fetzen eines türkischen Shawls. Durch die dicke Dämmerung dunstet ein grünlich-schleimiges Lallen.

Die Tür wird aufgestoßen. Ein Weib in Lumpen trampst herein. Mitte Vierziger. Fett. Kolporteuse-Manieren.

„Nabend!“ (Schnubbert in die Alkohol-Atmosphäre. Geht nach hinten, stößt mit dem linken Fuß ärgerlich nach dem türkischen Shawl.)

„Hat sich der olle Knerjel wieder beschikkert wie ne Sackstrippe.“

(Mit häßlichem Mienenausdruck):

„Na, wart’, du Lerge, du – dat soll dir sauer uffstoßen. Verbubanzt mich meene eenzige Schabracke.“

(Der Shawl wird langsam lebendig.)

Christian Morgenstern, Der gekränkte Dackel

Bilder: Christian Morgenstern:

  1. Drache überm Eisberg, via Miehs, 7. September 2020;
  2. Der gekränkte Dackel, via Calwer, Booklooker 17. Juni 2023,

Scherenschnitte in: Die Schallmühle, 1928.

Soundtrack: The Beatles: Misery (wegen der Elendstendenzen natürlich;
hätten Sie bis jetzt bestimmt auch nicht gekannt), aus: Please Please Me, 1963:

Written by Wolf

22. September 2023 at 00:01

Nun werd‘ ich wieder zu leben versuchen

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Update zu Das Leben:

Nihilismus bedeutet ja, grob vereinfacht, aber verständlich: Das Leben ist sinnlos und wir werden alle sterben. Existenzialismus bedeutet: Das Leben ist sinnlos und wir werden alle sterben, und soll ich jetzt heulen oder was?

Josef Székely, Ada ChristenDas können nur die Ösis: leichtherzige Gedichte über den unvermeidbaren Tod. Es kann sein, dass andere Völkerschaften es im Laufe der Jahrhunderte mit wechselndem Erfolg abgeschaut haben, aber für 1868 gebärdet sich Ada Christen hier weit vor der Zeit in ganz übermütiger Weise existenzialistisch.

Bekannt wurde Ada Christen durch ihre 1868 erschienene, durch von Ferdinand von Saar vermittelte und unten zitierte erste Gedichtsammlung Lieder einer Verlorenen, die wegen ihrer erotischen und sozialen Thematik ebenso großes Aufsehen wie hohe Auflagen erregte. Allein ihre feudale Grabstätte auf dem Evangelischen Friedhof Matzleinsdorf mit ihrem bürgerlichen Namen Christiane Breden (ohne „von“) zeugt von einem gewissen Erfolg im vorangegangenen Leben.

——— Ada Christen:

Letzter Versuch

aus: Lieder einer Verlorenen, Hoffmann & Campe, Hamburg 1868:

Ich habe mich zu erhängen gesucht:
     Der Strick ist abgerissen.
Ich bin in’s Wasser gesprungen:
     Sie erwischten mich bei den Füßen.
Ich habe die Adern geöffnet mir:
     Man hat mich noch gerettet.
Ich sprang auch einmal zum Fenster hinaus:
     Weich hat der Sand mich gebettet.
Den Teufel! ich habe nun alles versucht,
     Woran man sonst kann verderben –
Nun werd‘ ich wieder zu leben versuchen:
     Vielleicht kann ich dann sterben.

Bild: Josef Székely (1838–1901), via Facebook: Deutsche Literatur – German Literature, 19. Mai 2023.

Soundtrack zum Nachweis, dass auch Franken, mit deren Gitarristen Veit „Vito C.“ Kutzer ich mal im einen oder anderen Anglistik-Seminar gesessen haben muss, „es“ können:
J.B.O., die seit 1996 nicht mehr James Blast Orchester heißen dürfen:
Ein guter Tag zum Sterben, aus: Eine gute CD zum Kaufen, 1994
und in zahlreichen eigenen Versionen noch viel öfter:

Written by Wolf

15. September 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Realismus, Vier letzte Dinge: Tod

Über mir, der weiten Fahrt Genoss, seine Schwingen schlug ein Albatros

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Update zu Der Fluch des Albatros
und Du warst den Meeren mitternachts entstiegen:

„God save thee, ancyent Marinere!
„From the fiends that plague thee thus—
„Why look’st thou so?“—with my cross bow
I shot the Albatross.

Samuel Taylor Coleridge: The Rime of the Ancient Mariner, 1798.

Weh mir Frevler, daß ich schoß
den Schicksalsvogel Albatros!
Dreimal wehe, daß ich traf!
Dafür trifft mich des Schicksals Straf‘!

Dr. Erika Fuchs, 1966.

Unerfindlich, ob drei Exemplare einer Art schon die Art definieren. Jedenfalls weiß ich bis jetzt von genau drei Balladen, die von je einem Albatros handeln, und würde doch sehr, wenn es keins gäbe, ein Genre der Albatros-Ballade vermissen.

Albatros-Ballade 1 ist natürlich The Rime of the Ancient Mariner von Samuel Taylor Coleridge 1798: den Anglophonen so bekannt wie unsereinem die eine oder andere Schiller-Ballade und bedeutend genug, dass Gustave Doré sie 1876 in sein Langzeitprojekt aufnahm, in dem er die gesamte Weltliteratur illustrieren wollte. Albatros-Ballade ist der daran angelehnte Fluch des Albatros: von Dr. Erika Fuchs für den gleichnamigen Entenhausener Bericht mit einer einzigen Strophe angestoßen und 2006 von Else Ehrenbrett von unbekannten Autoren vervollständigt hinterbracht – also mehreren Interessierten wichtig genug, um danach zu fragen und tätig den Text zu sichern.

Albatros-Ballade 3 ist Der Albatros von Erich Arendt 1951: inhaltlich sehr viel ernster und getragener, dafür in siebenzeiligen Strophen im Reimschema ABABACC, wobei C immer -os mit dem refrainartig abschließenden „Albatros“ lautet – mit einer Abweichung in der fünften Strophe, die nur sechs Zeilen im Schema ABBACC hat, wahrscheinlich weil sich auf „Sturmes“ überhaupt nichts Verwendbares reimen will.

Laut seiner ausführlichsten zugänglichen Biographie auf Wikipedia emigrierte der Kommunist und Ehemann der „Halbjüdin“ Käthe „Katja“, geborene Hayek,

nach Frankreich, wo er als „feindlicher Ausländer“ in verschiedenen Lagern interniert wurde. Aus dem letzten Lager bei Bordeaux floh Arendt. Über Paris musste das Ehepaar 1941 vor den siegreichen deutschen Truppen weiter fliehen. Es gelang ihnen, Visa für Kolumbien zu erhalten. Auf der Reise dorthin internierten die Engländer Arendt kurze Zeit, da sie ihn für einen Spion hielten. In Kolumbien war Arendt weiter politisch tätig, schrieb sein erstes Buch, verkaufte mit seiner Frau hausgemachte Pralinen und Marzipan und bereiste die Karibik.

Auf der Schiffsüberfahrt nach Kolumbien entstand das Gedicht.

——— Erich Arendt:

Der Albatros

1941, Erstdruck in: Trug doch die Nacht den Albatros, 1951:

Albatrosse, Edinburgh journal of natural history and of the physical sciencesSonnen sanken um mein Schiff und stiegen:
Wochen stiller großer Wiederkehr!
Wolkenwände sah ich ferne liegen,
und sie sanken lautlos in das Meer.
Immer aber hört ichs oben fliegen:
       Über mir, der weiten Fahrt Genoss,
       seine Schwingen schlug ein Albatros.

Lag im weißen Glanz der Meeresspiegel
um mein Schiff, so senkte sich sein Flug.
Seine schmalen weitgespannten Flügel
glitten wassernah um Heck und Bug,
segelleicht, als ob das Licht ihn trug.
       Wenn die tiefe Stille ihn verdroß,
       flog mit Zornesschrei der Albatros.

Mittags schwand in leeren Himmelshellen
er empor; steil über grüner See.
Plötzlich löste sich ein Stein im schnellen
Schlag und streifte dicht das Schiff in Lee,
und ein Schnabelhieb drang in die Wellen.
       Während Wasser ihm vom Leib noch floß,
       floh mit blutigem Fang der Albatros.

Erst im Sturmwind, der mit weißem Biß
in die Tiefen fuhr, daß Nacht und Meer aufschäumten,
kam er wieder, als mein Segel riß,
Blitze lachten, schwarze Wogen bäumten,
als die Meergruft auf mein Schiff sich schmiß:
       Dunkler Pfeil, der durch den Himmel schoß,
       schwang durch Sturm und Licht der Albatros.

Wieland Förster, Erich Arendt, 1968, MagdeburgUnd sein Schrei brach aus dem Herz des Sturmes
hell und heiß, unfaßbar und inständig,
von Empörung heiß, von Zorn lebendig:
Wilde Kraft des auferstandenen Sturmes.
       Meiner Seele tapferster Genoss,
       rief er ihren Zorn, der Albatros.

In den Abenden der heißen Meere,
wenn der Purpurhimmel jäh verging,
und des Dunkels schwarze Tropenschwere
undurchdringbar vor den Augen hing,
flog sein Schatten hörbar überm Meere.
       Wenn die Nacht die Sternensicht verschloß,
       trug die Nacht doch stets den Albatros.

Eines Tages um die Mittagswende
stieg aus ewigem Glanz das harte Riff.
Palmen wuchsen aus dem Lichtgelände
und die Bai umrauschten grüne Wände,
in die Bucht lief einsam ein mein Schiff.
       Fern am Horizont, der nackt und groß,
       flog für immer fort der Albatros.

Nur in Träumen noch am Strand nach Jahren,
zog er wie ums Schiff im stillen Flug.
Und – da Not und Knechtschaft unerträglich waren,
daß das Herz den Haß nicht mehr ertrug,
stieg sein Schrei, dem großen Zorn entfahren:
       Wilder Ruf, der durch den Himmel schoß,
       über mir, wie einst – mein Albatros!“

Fachliteratur:

Bilder: Edinburgh journal of natural history and of the physical sciences,
with the Animal kingdom of the Baron Cuvier, Plate CLXXVI (Illustration), 1835–1840;
Wieland Förster: Erich Arendt, 1968, Kloster Unser Lieben Frauen (Außengelände S), Magdeburg,
Foto: H. Brünig, 5. März 2011, via Das schöne Detail: Skulpturen in Magdeburg – Im Skulpturenpark.

Soundtrack: Karat: Albatros, aus: Über sieben Brücken, 1979:

Written by Wolf

8. September 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Das Tier & wir, Novecento, ~~~7-Zeiler~~~

Dornenstück 0014: Der Tod liegt ihr am Arm und macht ihr doch nicht warm

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Update zu Seht, wie, was lebt, zum Ende leufft (gegen-hüpfendes Lied):

Wie problematisch doch manche Gedichte altern. Nicht nur die komisch, auch die moralisch gemeinten. Aber gut, mit 369+ Jahren sehen wir alle problematisch aus.

——— Friedrich von Logau:

Grabschrifft / einer Hure.

als Salomon von Golaw,
aus: Salomons von Golaw Deutscher Sinn-Getichte. Drey Tausend, Andres Hundert, 46.,
Cum Gratia & Privilegio Sac. Cæs. Majestatis. In Verlegung Caspar Kloßmanns /
Gedruckt in der Baumannischen Druckerey durch Gottfried Gründern, Breßlaw / 1654:

Hier liegt / die gerne lag ;
Hat jmmer Nacht für Tag
Weil als der Tag die Nacht
Ihr mehr Belieben bracht
Nur diß ist ihr Beschwer :
Die Armen sind jhr leer ;
Der Tod liegt jhr am Arm
Vnd macht jhr doch nicht warm
Die so geliebte Schoß
Deckt jetzt ein Erdenkloß.

Johannes Vermeer, Bei der Kupplerin, um 1656

Bild: Johannes Vermeer: Bei der Kupplerin, um 1656. Die Hure in behördlich für das Gewerbe vorgeschriebenem Gelb, wie auch für die Juden.

Soundtrack: Hanns Eisler / Bertolt Brecht: Lied der Kupplerin,
aus: Die Rundköpfe und die Spitzköpfe, 1932,
Yael Avram live für: Scenes of Cabaret, Jerusalem Academy of Music and Dance Vocal Department, 2019:

Bonus Track: Lindi Ortega: On My Way to Hell (Witchy Version), 2019:

Written by Wolf

1. September 2023 at 00:01

Am Baum der Menschheit prangtest du (und das Irdische trübt ihn im Himmel nicht)

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Update zu Noch immer (ja, noch immer),
Was er wünscht, ist Licht, mehr Licht,
Puschkins Faust 1 von 2: Es gähnt das Grab, das man euch gräbt und
Puschkins Faust 2 von 2: Sag mir, durch welche Zaubersprüche bekomme ich Macht über dich?:

Goethe ruht seit 1832 in der Fürstengruft auf dem Historischen Friedhof zu Weimar. Von dort hat er eine einwandfreie Aussicht auf die 1860 unmittelbar an die Gruft gebaute Russisch-Orthodoxe Kapelle. Das bedeutet, er wohnt näher an der russischen Großfürstin Maria Pawlowna als an seiner Restfamilie, mit seiner 1816 vorausgestorbenen Ehefrau teilt er sich nicht einmal denselben Friedhof, mit seinem einzigen überlebenden Sohn nicht einmal das Land. Im Sarg seines Nachbarn im Tode Schiller ruhte bis 2008 sonstwer, nur nicht Schiller, seitdem überhaupt niemand mehr.

Was Wunder, dass zwei seiner schönsten Nachrufe aus dem Russischen stammen: von Jewgeni Baratynski und Fjodor Tjuttschew, der sogar mal 14 Jahre in München gelebt und unter vielen anderen Übersetzungen aus dem Deutschen auch die bis heute bekannteste russische Faust-Übersetzung angefertigt hat.

Beide Gedichte werden uns vom selben Übersetzer nahegebracht: Wjatscheslaw Iwanow. Seine eigene Erklärung zu beiden Übersetzungen stand 1987 zweisprachig in der Zeitschrift Corona, das Entstehungsjahr war mit meinen Mitteln nicht zu eruieren.

Was kann man in Goethes Situation noch Schöneres erhoffen, als drei Tage vor seinem 274. Geburtstag eine Würdigung des eigenen Todes geschenkt zu kriegen.

——— Wjatscheslaw Iwanow:

Zwei russische Gedichte auf den Tod Goethes

in: Corona, Jahr IV, Heft 6, Brüssel 1987, Seite 157 bis 162:

Boratynskijs (1800–1844) und Tjutschews (1803–1873) Nachrufe auf den großen Hingeschiedenen gehören zum Schönsten, was je in der Poesie zu Goethes Lobe gesagt worden ist. Sie zeugen von seiner Wirkung auf das russische Geistesleben jener Zeit und sind nicht minder bezeichnend für die Eigenart der beiden Lyriker.

I.

Fürstengruft Weimar, Luftbild, Klassik Stiftung WeimarVon seinem um ein Jahr jüngeren, damals dreißigjährigen Zeitgenossen Boratynskij (diese Schreibung ist der üblichen „Baratynskij“ als die genealogisch beglaubigte vorzuziehen) urteilte Puschkin folgendermaßen: „Er gehört zu unseren vortrefflichsten Dichtern. Bei uns ist er originell, weil er überhaupt denkt. Er würde überall originell sein, denn er denkt auf eigene Art, ebenso folgerecht wie selbständig, und fühlt dabei innig und tief.“ Puschkin preist die Harmonie seiner Verse, die Frische seiner Sprache, Lebhaftigkeit und Präzision seines Ausdrucks; er hält ihn für den größten russischen Elegiker, betont das metaphysische Element seiner Lyrik, vergleicht ihn einmal mit dem über das Geheimnis des Todes grübelnden Hamlet. Boratynskij selbst, voll jener vornehmen Bescheidenheit, die bei in sich gekehrten Naturen oft einen verschwiegenen Stolz birgt, schreibt seiner melancholischen Muse keine prangende Schönheit, wohl aber „einen ungewöhnlichen Gesichtsausdruck“ zu. Der elegische Ton war in der damaligen Dichtung vorherrschend; aber das schwermütige Nachdenken Boratynskijs ist nichts weniger als sentimental. Seine Resignation hatte sich mit stoischem Gleichmut gepanzert. Seinen unverhohlenen Agnostizismus kleidet er in männlich ernste, trauervoll majestätische Ruhe. Sein eigenster Stil kommt im Monumentalen und Lapidaren zu voller Geltung. Das Bedürfnis des wunden Herzens, das Vergängliche sub specie aeternitatis zu betrachten, verleiht seinen persönlichsten Äußerungen einen ergreifend tiefen Klang, eine geheimnisvolle, an Weissagung gemahnende Bedeutsamkeit. Angesichts der kommenden Zeiten, die immer gieriger dem Nützlichen nach jagen, beschwört er die Gestalt des „letzten Dichters“ herauf, des letzten Vertrauten der Natur, deren „Herz sich dem Menschen verschließt“, seitdem er sich unterfangen hat, ihre Geständnisse „mit Waage und Maß“ zu erpressen. Es ist, als ob der Geist dieses „Pensieroso“ das gesamte Leben und Streben der Menschheit von den Gipfeln eines dem Strome der Zeiten entrückten über individuellen Gedächtnisses wie ein düsteres Trauerspiel überschaue. Unser Gedicht hebt wirksam an mit dem einwörtigen Satz („predstäla“), einem Zeitwort in der weiblichen Aoristform, das etwa heißt: „sie trat vor, aufrecht stehend erschien sie“; die Frauengestalt der Todesbringerin entspricht der volkstümlichen Vorstellung, die wohl mit dem Femininum des Namens „smert’“, pallida Mors, zusammenhängt.

Die dem Gedichte auf den Tod Goethes zugrunde liegende Anschauung gilt der Entelechie des durch schöpferisch-mitfühlende Erkenntnis die Schranken des Einzelbewußtseins überwindenden und sein Selbst im Herzen des Alls wiederfindenden menschlichen Geistes. Das Pathos dieser Betrachtung gipfelt in einer eigenartigen Theodizee: gesetzt, der Schöpfer habe der Menschenseele die individuelle Unsterblichkeit versagt, sein Beschluß wäre dennoch dadurch gerechtfertigt, daß diese Seele sich, wie wir’s an Goethes Beispiel lernen, als fähig erweist, in die Zeitlichkeit ihrer Sonderexistenz einen ewigen Inhalt zu fassen. Ist ihr aber ein Fortleben nach dem Tode bestimmt, so muß ihre Läuterung vom Erdenrest in dem Maße erleichtert sein, in welchem sie vermocht hat, die Gaben des hiesigen Daseins mit ihrer Liebe Gegengaben schöpferisch voll und fruchtbar zu erwidern. Die Beziehung einzelner Gedanken auf die entsprechenden Motive des Goetheschen Denkens und Dichtens bedarf keiner besonderen Hervorhebung. Vom Schädel des Genius spricht der Dichter offenbar in Erinnerung an die Terzinen „Bei Betrachtung von Schillers Schädel“. Das Hören des Wachstums von Pflanzen ist hingegen ein fast wortgetreues Zitat aus Puschkins „Propheten“.

– Was Boratynskij sang, mag im Versmaß des Originals etwa so wiedergegeben werden:

Sie hub ihren Schleier, da schloß der Greis
Die Adleraugen in Frieden:
Hat alles vollbracht, was im irdischen Kreis
Dem edelsten Müh’n ist beschieden.
Benetzt nicht mit Tränen die Erdenscholl’,
Wo des Genius’ Schädel vermodern soll!

Erlosch; aber nichts hienieden blieb
Vom sonnigen Gast ungesegnet,
Der allem, was pocht an ein Herz um Lieb’,
Teilnehmenden Herzens entgegnet.
Es flog sein Gedanke weit und breit;
Seine Schranke war die Unendlichkeit.

Wie manches nährte die schaffende Glut:
Der Weisheit Schau’n, die Gestalten
Der Kunst, und der hoffenden Zeiten Mut,
Und das hohe Vermächtnis der Alten.
Gleich luden sein Sinnen, gleich waren ihm wert
Der Königspalast und der ärmste Herd.

Sein Atmen war eins mit dem atmenden All:
Er verstand das Gemurmel der Quellen,
Des Laubes Geflüster, des Schauers Schall
Und hörte die Knospen schwellen.
Er sah in der Bibel der Sterne hell;
Ihm vertraut’ ihr Sehnen die Meereswell’.

Ergründet ward und zutiefst durchschaut
Von ihm des Menschen Wesen.
Und wenn wir aufs Jenseits vergebens getraut,
Und müssen wir gänzlich verwesen,
Sobald die Erscheinung verfliegt in die Luft,
Wird den Schöpfer rechtfertigen diese Gruft.

Und wird uns umsonst vor der Schwelle bang,
Erlöset vom engeren Streben,
Nachdem er den Zeiten in vollem Gesang
Das Zeitliche wiedergegeben,
Entschwebt er als Lichtgeist zum ewigen Licht,
Und das Irdische trübt ihn im Himmel nicht.

II.

Fürstengruft Weimar mit russisch-orthodoxer Kapelle, Klassik Stiftung WeimarTjutschews poetische Rede kann man allenfalls in der traditionellen Kunstsprache der Rhetorik, die für die Poetik eigentlich eine fremde Sprache ist, mit Andrej Bjelyi als „metaphorisch“ bezeichnen. Man könnte mit gleichem Recht auch von der durchgängigen „Personifikation“ bei diesem Dichter reden, wenn es nicht ratsamer wäre, nach Wladimir Solowjows Vorgang, von vorneherein festzustellen, daß in seinem Gesichtskreise überhaupt alles mythologisch belebt ist, denn so ist nicht sein Mund geründet, sondern sein Auge beschaffen. Sind doch seine schmucklosesten Äußerungen, wie „der Wind säuselt“ oder „die Sterne scheinen“, in denen kein Grammatiker einen Tropus wittern dürfte, lauter synthetische Urteile, die seinem unentwegt stauenden Schauen der Allbeseelung entspringen und deshalb einen ganz anderen Sinn haben als die gleichen Sätze im Munde des modernen Menschen – er sei denn ein Dichter, d.h. ein des Infantilismus Verdächtiger, der noch nicht alle Rudimente animistischen Wunderglaubens aus seinem Bewußtseinsfeld verdrängt hat. So ist auch die „Übertragung“ (Metapher), wie wir sie bei einem Geisterseher von Tjutschews Art finden, vielmehr als Gleichsetzung gemeint: in der ZauberSphäre eines Geistes, der „zum anderen Geiste spricht“, wäre sie wohl geradezu Verwandlung, und etwa der „Gottheit lebendiges Kleid“ ist für den Erdgeist, der es wirkt, gewiß ebensowenig eine Metapher, als er selbst für eine „Personifikation“ gelten kann. Es gründet sich nämlich diese synthetische Metapher nicht auf assoziierende Tätigkeit der Einbildungskraft, die mit der Heranziehung des Entlegenen, aber irgendwie Ähnlichen ihr Spiel treibt, sondern auf intuitive Erkenntnis einer wesenhaften Verbundenheit der dieselbe Idee auf verschiedenen Ebenen des Daseins vielgestaltig offenbarenden Dinge, bzw. sie mannigfach betätigenden Wesenheiten, die sich im bedeutsamen Gleichnis (das, wie gesagt, als Gleichsetzung gedacht ist) gegenseitig widerspiegeln und ausdeuten. Man fühlt sich unwillkürlich erinnert an die herrliche Vision der „Himmelskräfte“, die „auf- und niedersteigen und sich die goldnen Eimer reichen“.

Und man wird überhaupt kaum fehlgehen, wenn man diese Stilart aus dem Studium der Goetheschen Dichtung, die Tjutschew eifrig übersetzte, herleitet. Es stand übrigens der seherischen Aphasie des Dichters, der das Silentium heiligte und jeden begrifflich ausgesprochenen Gedanken als Lüge empfand, wie er’s in seinem „Silentium“ überschriebenen Gedichte gesteht, kein anderes Mittel außer sinnvollen Bildwandlungen zu Gebote, um „Unerhörtes“, das, wie Goethes Ariel sagt, „sich nicht hört“ im geheimen Weben der Natur, dem inneren Gehör einigermaßen vernehmlich zu machen und, worauf es ihm ganz besonders ankam, das ihn mit antikem Schauder erfüllende antinomische Nebeneinanderbestehen und Miteinanderringen der Lichtsphäre der Erscheinungen und des nächtlichen Geisterreichs der urgründlichen Tiefe zu künden. Eine derartige Metapher hat eine natürliche Potenz und Tendenz, sich zu einem Mythengebilde zu entfalten; gebricht es ihr an innerer Lebenskraft zu diesem Erblühen, so artet sie leicht in Allegorie aus.

Auch unser Gedicht ist eine einzige breit ausgemalte Metapher: Goethe, das schönste Blatt am Menschheitsbaume. Der auf die wesenhafte Einheit des Sinnbilds und des Versinnbildlichten eingestellte Dichter sagt eben: „du warst es“, und nicht: „du glichst“. Wo rührt das Bild her? Zunächst denkt man wohl an die homerische Reminiszenz: „Wie die Blätter, die wechseln, so sind auch der Menschen Geschlechter.“ Aber dem naturphilosophischen Freunde Schellings schwebt vielmehr die „Metamorphose der Pflanzen“ vor, ja überhaupt Goethes Morphologie, der auch die Wort wahl des Gedichtes sich fügt. Im Blatte erkennt Goethe den Urtypus der Pflanze. Also: wie sich das Blatt zum Baume verhält, so verhält sich das menschliche Individuum zur Menschheit; im Einzelnen ist das Ganze enthalten. Allein dieses offene Geheimnis kommt nur in denjenigen Individualitäten ungetrübt zum Vorschein, in welchen sich die Entelechie des menschlichen Wesens am vollsten und schönsten verwirklicht. Die Idee der vollendeten harmonischen Menschlichkeit, in Goethes geistiger Persönlichkeit angeschaut, bildet den gemeinsamen Zug der beiden „Nachrufe“.

Derjenige Tjutschews blieb zu Lebzeiten des Dichters im „Silentium“ begraben und erschien erst in einer lyrischen Nachlese von 1879. Er trägt das Datum“ 1832″ und keinen Titel. Tjutschew wurde als junger Mensch dem alten Goethe vorgestellt und von ihm freundlich angesprochen.

– Wir lassen das Gedicht in unserer Übersetzung folgen:

Am Baum der Menschheit prangtest du, gestaltet
Zum schönsten Blatt durch Erd- und Sonnenkraft,
Vom lichtesten, vom reinsten Strahl entfaltet,
Gesättigt mit des Baumes bestem Saft.

Einstimmig war dein Flüstern, lispelnd Zittern
Mit seiner Seele leisestem Getön;
Du rauschtest sibyllinisch mit Gewittern
Und spieltest mit dem Zephyrhauch der Höh’n.

Kein Herbstwind war’s, kein Sommerregenschauer,
Der dich geraubt; du übertrafst an Glanz
Das grüne Laub, an unverwelkter Dauer –
Und fielst von selbst, gleichwie aus einem Kranz.

Goethes Sarg, Find a Grave

Bilder: Klassik Stiftung Weimar:

Von 1860 bis 1862 wurde die Russisch-Orthodoxe Kapelle als Grablege für Großherzogin Maria Pawlowna an die Fürstengruft angebaut und ein Durchbruch zwischen den Gotteshäusern geschaffen.

Frank K. für Find a Grave, 10. Juli 2010.

Soundtrack: Сварга: Смерть, 2021:

Written by Wolf

25. August 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Klassik, Vier letzte Dinge: Tod

Fruchtstück 0008: Roth ist ja dein ganzer Mund, er macht deinen Fehler kund

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Update zu Fruchtstück 0002: Ein Schooß voll den begehr ich nicht,
Liebchen öffne deinen Schoos,
Denn meine Jungferschafft ist pflücke (ein Mädchen macht sich nichts daraus)
und Vom Büblein auf dem Eise (Der Vater hat’s geklopfet):

Wann hat das angefangen, dass Kirschen im Einzelhandel weit vor August erhältlich sind, ja eigentlich zur Kirschenzeit nur noch die letzten angegorenen Obstreste in Beuteln aus Klarsicht-Erdöl vor sich hingammeln, 8,99 €/kg?

Wie bei den lyrischen Auslassungen über Beerenobst fällt auch bei Kirschen immer wieder der anzügliche Vergleich auf: nämlich von heranreifenden Früchten mit sehr jungen Mädchen, die vorerst nur unter Aufbietung verharmlosender Koketterie zum Geschlechtsverkehr herangezogen werden können. Richtet sich die Lyrik an Kinder, gestaltet sich die Anzüglichkeit immerhin noch als moralinsaures mütterliches Verbot.

Vom Genuss verfrühter Früchte muss in allen, gerade auch allegorischen Fällen abgeraten werden.

——— Wilhelm August Corrodi:

Die Kirschen.

Émile Munier, Le cerisier, The Cherry Tree, Der Kirshbaum, 1890aus: Fünfzig Fabeln und Bilder aus der Jugendwelt,
Druck und Verlag von Friedrich Schultheß,
Zürich 1876, Seite 62:

Mutter.   Hast du, Kind, es denn vergessen,
       Was ich sagte, und gegessen
       Von der ganz unreifen Frucht?
       Sprich, wo hast du sie gesucht?

Kind.   Nein, ich habe nichts gegessen,
       Bin nur unter’m Baum gesessen,
       Schaute nur die Kirschen an,
       Böses hab’ ich nichts gethan.

Mutter.   Schäm’ dich, jetzt erst noch zu lügen;
       Alle deine Worte trügen,
       Roth ist ja dein ganzer Mund,
       Er macht deinen Fehler kund.

K. (erschrocken.)   Ach, verzeih’ mir, liebe Mutter,
       Soll gewiß nicht mehr gescheh’n.

Mutter.   Nun, ich hoff’ es, denn dem Lügner
       Kann es niemals wohl ergeh’n.

Bild: Émile Munier: Le cerisier, 1890.

Soundtrack: Nils Koppruch: Kirschen (wenn der Sommer kommt), aus: Caruso, 2010:

Written by Wolf

18. August 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Biedermeier, Nahrung & Völlerei

Don’t Try

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Update for Nachtstück 0023: Watch out, the world’s behind you und
Dornenstück 0003: Junge Mädchen mit Mündern wie Barrakudas und Körpern wie Zitronenbäume:

Karmen Love, Charles Bukowski grave, 3. Mai 2023

——— Open Culture:

“Don’t Try”: Charles Bukowski’s Concise Philosophy of Art and Life

February 25th, 2013:

In 1994, [Henry Charles Bukowski, Jr., * 16. August 1920 as Heinrich Karl Bukowski in Andernach; † 9. März 1994 in San Pedro] was buried in a Los Angeles cemetery, beneath a simple gravestone. The stone memorializes the poet’s name. It recites his dates of birth and death, but adds the symbol of a boxer between the two, suggesting his life was a struggle. And it adds the very succinct epitaph, “Don’t Try.”

There you have it, Bukowski’s philosophy on art and life boiled down to two words. But what do they mean? Let’s look back at the epistolary record and find out.

Karmen Love, Charles Bukowski grave, 3. Mai 2023

In October 1963, Bukowski recounted in a letter to John William Corrington how someone once asked him, “What do you do? How do you write, create?” To which, he replied: “You don’t try. That’s very important: ‘not’ to try, either for Cadillacs, creation or immortality. You wait, and if nothing happens, you wait some more. It’s like a bug high on the wall. You wait for it to come to you. When it gets close enough you reach out, slap out and kill it. Or if you like its looks you make a pet out of it.

So, the key to life and art, it’s all about persistence? Patience? Timing? Waiting for your moment? Yes, but not just that.

Jumping forward to 1990, Bukowski sent a letter to his friend William Packard and reminded him: “We work too hard. We try too hard. Don’t try. Don’t work. It’s there. It’s been looking right at us, aching to kick out of the closed womb. There’s been too much direction. It’s all free, we needn’t be told. Classes? Classes are for asses. Writing a poem is as easy as beating your meat or drinking a bottle of beer.

The key to living a good life, to creating great art — it’s also about not over-thinking things, or muscling our way through. It’s about letting our talents appear, almost jedi-style. Or is it?

Karmen Love, Charles Bukowski grave, 3. Mai 2023

In 2005, Mike Watt (bass player for the Minutemen, fIREHOSE, and the Stooges) interviewed Linda Bukowski, the poet’s wife, and asked her to set the record straight. Here’s their exchange.

Watt: What’s the story: “Don’t Try”? Is it from that piece he wrote?

Linda: See those big volumes of books? They’re called Who’s Who In America. It’s everybody, artists, scientists, whatever. So he was in there and they asked him to do a little thing about the books he’s written and duh, duh, duh, duh, duh. At the very end they say, is there anything you wanna say, you know, what is your philosophy of life, and some people would write a huge long thing. A dissertation, and some people would just go on and on. And Hank just put, “Don’t Try.” Now, for you, what do you think that means?

Watt: Well for me it always meant like be natural.

Linda: Yeah, yeah.

Watt: Not like…being lazy!

Linda: Yeah, I get so many different ideas from people that don’t understand what that means. Well, “Don’t Try? Just be a slacker? lay back?” And I’m no! Don’t try, do. Because if you’re spending your time trying something, you’re not doing it…”DON’T TRY.”

It’s Monday. Get out there. Just do it. But patiently. And don’t break a sweat.

Karmen Love, Charles Bukowski grave, 3. Mai 2023

Images: Karmen Love: Charles Bukowski, May 3rd, 2023 in Green Hills Memorial Park:

Finally got to drink some whiskey with old Hank before the cops escorted us off the premise…

I wonder if he laughed and looked up my skirt as I walked away … xoxoxo

Soundtrack: Ludwig van Beethoven: Piano Concerto No. 5 in E-flat major, Op. 73, 1809,
Arthur Rubinstein and Jerusalem Symphony Orchestra under Alexander Schneider, live in Jerusalem, 1975:

Bonus Track: Janis Joplin and The Kozmic Blues Band: Try (Just a Little Bit Harder),
from: I Got Dem Ol‘ Kozmic Blues Again Mama!, 1969
live in Jahrhunderthalle, Frankfurt am Main, April 12th, 1969:

Written by Wolf

11. August 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Novecento, Weisheit & Sophisterei

Lieber mal einen ordentlichen Happen, als den ganzen Tag Wasserdampf

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Update zu Jedoch die schlimmste Lüge war: Auf Wiedersehn:

Es hat etwas entschieden Befreiendes und Tröstliches, dass dem Nikotinkonsum – dem damals noch liebevollere Bezeichnungen anhafteten – in einem sage und schreibe Lungensanatorium der oberen Klasse dermaßen das Wort geredet wird, und am eloquentesten von dessen Vorsteher und leitendem Arzt Hofrat Dr. Behrens.

Hans Castorps (und Sigmund Freuds) bevorzugte Zigarrenmarke Maria Mancini, nach 1940 eingestellt, gibt’s seit 2022 wieder im Handel; des Hofrats stärkeres Kraut St. Felix-Brasil war durchgehend erhältlich.

——— Thomas Mann:

Neckerei. Viatikum. Unterbrochene Heiterkeit

aus: Der Zauberberg, S. Fischer Verlag, Berlin 1924,
Taschenbuch-Gesamtausgabe 1990, Setie 71 f.:

„Ich rauche ja nie“, antwortete Joachim. „Warum sollt‘ ich denn gerade hier rauchen.“

„Das verstehe ich nicht!“ sagte Hans Castorp. „Ich verstehe es nicht, wie jemand nicht rauchen kann, — er bringt sich doch, sozusagen, um des Lebens bestes Teil und jedenfalls um ein ganz eminentes Vergnügen! Wenn ich aufwache, so freue ich mich, daß ich tagsüber werde rauchen dürfen, und wenn ich esse, so freue ich mich wieder darauf, ja ich kann sagen, daß eigentlich bloß esse, um rauchen zu können, wenn ich damit natürlich auch etwas übertreibe. Aber ein Tag ohne Tabak, das wäre für mich der Gipfel der Schalheit, ein vollständig öder und reizloser Tag, und wenn ich mir morgens sagen müßte: heut gibt’s nichts zu rauchen, – ich glaube, ich fände den Mut gar nicht, aufzustehen, wahrhaftig, ich bliebe liegen. Siehst du: hat man eine gut brennende Zigarre – selbstverständlich darf sie nicht Nebenluft haben oder schelcht ziehen, das ist im höchsten Grade ärgerlich – ich meine: ha man eine gute Zigarre, dann ist man eigentlich geborgen, es kann einem buchstäblich nichts geschehn. Es ist genau, wie wenn man an der See liegt, dann liegt man eben an der See, nicht wahr, und braucht nichts weiter, weder Arbeit noch Unterhaltung … Gott sei Dank raucht man ja in der ganzen Welt, es ist nirgendwo unbekannt, soviel ich weiß, wohin man auch etwa verschlagen werden sollte. Selbst die Polarforscher statten sich reichlich mit Rauchvorrat aus für ihre Strapazen, und das hat mich immer sympathisch berührt, wenn ich es las. Denn es kann einem sehr schlecht gehen, – nehmen wir mal an, es ginge mir miserabel; aber solange ich noch meine Zigarre hätte, hielte ich’s aus, das weiß ich, sie brächte mich darüber weg.“

„Immerhin ist es etwas schlapp“, sagte Joachim, „daß du so daran hängst. Behrens hat ganz recht: Du bist ein Zivilist – er meinte es ja wohl mehr als Lob, aber du bist ein heilloser Zivilist, das ist die Sache. Übrigens bist du ja gesund und kannst tun, was du willst“, sagte er, und seine Augen wurden müde.

[…]

Humaniora

ebenda, Seite 353 bis 355:

„Wie schmeckt der Krautwickel, Castorp? Lassen Sie mal sehen, ich bin Kenner und Liebhaber. Die Asche ist gut: was ist denn das für eine bräunliche Schöne?“

Jacob Ferdinand Voet, Maria Mancini als Kleopatra, zwischen 1663 und 1672„Maria Mancini, Postre de Banquete aus Bremen, Herr Hofrat. Kostet wenig oder nichts, neunzehn Pfennig in reinen Farben, hat aber ein Bukett, wie es sonst in dieser Preislage nicht vorkommt. Sumatra-Havanna, Sandblattdecker, wie Sie sehen. Ich habe mich sehr an sie gewöhnt. Es ist eine mittelvolle Mischung und sehr würzig, aber leicht auf der Zunge. Sie hat es gern, wenn man ihr lange die Asche läßt, ich streife nur höchstens zweimal ab. Natürlich hat sie ihre kleinen Launen, aber die Kontrolle bei der Herstellung muß besonder sgenau sein, denn Maria ist sehr zuverlässig in ihren Eigenschaften und luftet vollkommen gleichmäßig. Darf ich Ihnen eine anbieten?“

„Danke, wir können ja mal tauschen.“ Und sie zogen ihre Etuis.

„Die hat Rasse“, sagte der Hofrat, indem er seine Marke hinreichte. „Temperament, wissen Sie, Saft und Kraft. Sankt Felix-Brasil, ich habe es immer mit diesem Charakter gehalten. Ein rechter Sorgenbrecher, brennt wie ein Schnaps, und namentlich gegen das Ende hat sie was Fulminantes. Einige Zurückhaltung im Verkehr wird empfohlen, man kann nicht eine an der anderen anzünden, das geht über Manneskraft. Aber lieber mal einen ordentlichen Happen, als den ganzen Tag Wasserdampf …“

Sie drehten die gewechselten Geschenke zwischen den Fingern, prüften mit sachlicher Kennerschaft diese schlanken Körper, die mit den schräg gleichlaufenden Rippen ihrer erhöhten, hie und da etwas gelüfteten Wickelränder, ihrem aufliegenden Geäder, das zu pulsen schien, den kleinen Unebenheiten ihrer Haut, dem Spiel des Lichtes auf ihren Flächen und Kanten etwas organisch Lebendiges hatten. Hans Castorp sprach es aus:

„So eine Zigarre hat Leben. Sie atmet regelrecht. Zu Hause ließ ich es mir mal einfallen, Maria in einer luftdichten Blechkiste aufzubewahre, um sie vor Feutchtigkeit zu schützen. Wollen Sie mir glauben, daß sie starb? Sie kan um und war tot binnen Wochenfrist, – lauter ledrige Leichen.“

Und sie tauschten ihre Erfahrungen aus über die beste Art, Zigarren aufzubewahren, namentlich Importen. Der Hofrat liebte Importen, er hätte am liebsten immer nur schwere Havannas geraucht. Nur leider vertrug er sie nicht, und kleine Henry Clay’s, die er einmal in einer Gesellschaft ans Herz genommen, hätten ihm, wie er erzählte, um ein Haar unter den Rasen gebracht. „Ich rauche sie zum Kaffee“, sagte er, „eine nach der anderen, und denke mir wenig dabei. Aber wie ich fertig bin, da steigt mir die Frage auf, wie mir eigentlich zu Sinne wird. Ganz anders jedenfalls, total fremdartig, wie noch nie im Leben. Nach Hause zu kommen, war keine Kleinigkeit, und wie ich da bin, da denke ich erst recht, mich laust der Affe. Eisbeine, wissen Sie, kalter Schweiß, wo Sie wollen, linnenweiß das Gesicht, das Herz in allen Zuständen, ein Puls, – mal fadenförmig und kaum zu fühlen, mal holterdiepolter, über Stock und Stein, verstehen Sie, und das Gehirn in einer Aufregung … Ich war überzeugt, daß ich abtanzen sollte. Ich sage: abtanzen, weil das ein Wort ist, das mir damals einfiel und das ich brauchte zur Kennzeichnung meines Befindens. Denn eigentlich war es höchst fidel und eine rechte Festivität, obgleich ich kolossale Angst hatte oder, richtiger gesagt, ganz und gar aus Angst bestand. Aber Angst und Festivität schließen sich ja nicht aus, das weiß jeder. Der Bengel, der zum erstenmal ein Mädchen haben soll, hat auch Angst, und sie auch, und dabei schmelzen sie nur so vor Vegnüglichkeit. Na, ich wäre ebenfalls beinahe geschmolzen, mit wogendem Busen wollte ich abtanzen. Aber die Mylendonk brachte mich mit ihren Anwendungen aus der Stimmung. Eiskompressen, Bürstenfrottage, eine Kampferinjektion, und so blieb ich der Menschheit erhalten.“

Hans Castorp, sitzend in seiner Eigenschaft als Patient, blickte mit einer Miene, die von Gedankentätigkeit zeugte, zu Behrens auf, dessen blaue, quellende Augen sich beim Erzählen mit Tränen gefüllt hatten.

„Sie malen doch manchmal, Herr Hofrat“, sagte er plötzlich.

Bild: Jacob Ferdinand Voet: Maria Mancini als Kleopatra, zwischen 1663 und 1672,
75 cm auf 62 cm, Staatliche Museen zu Berlin.

Soundtrack: Gas: Zauberberg, 1997:

Written by Wolf

4. August 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Expressionismus, Nahrung & Völlerei

Blumenstück 011: Dass du und deine Mutter euch festhaltet und die Uhr bleibt stehen und alles ist für immer

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Update zu The clock may stop, the hand be broken, then Time be finished unto me!:

William-Adolphe Bouguereau, Jeune Mère contemplant son enfant, 1871Werd‘ ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zu Grunde gehn!
Dann mag die Todtenglocke schallen,
Dann bist du deines Dienstes frey,
Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen,
Es sey die Zeit für mich vorbey!

Faust I, Vers 1699 bis 1706.

Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.
Und so verbringt, umrungen von Gefahr,
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
Solch ein Gewimmel möcht‘ ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
Zum Augenblicke dürft‘ ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdetagen
Nicht in Aeonen untergehn. –
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß‘ ich jetzt den höchsten Augenblick.

Faust II, Vers 11574 bis 11586.

——— Benjamin Weltraum Weissinger:

2020

Facebook, 26. Juli 2023:

„Du hast aber eine schöne Uhr.“

„Oh? Danke 🙂“

„Was ist deine Lieblingszeit?“

„Hm, da muss ich überlegen. Vielleicht 17 Uhr. Dann bin ich zuhause und lege mich aufs Sofa und genieße es ein bisschen zu dösen und Musik zu hören, bevor ich Abendbrot mache. 🙂 – Was ist denn deine Lieblingszeit?“

„2 Uhr nachts.“

„Huch? Aber dann schläfst du doch sicher, oder?“

L- Wiley Fine, 1965„Nein, meistens nicht. Meine Mutter kommt dann nach Hause und sitzt am Küchentisch und weint und trinkt einen Tee. Marokkanische Minze. Sie denkt ich schlafe, aber ich bin wach. Wenn ich komme, wischt sie sich die Tränen weg, lächelt mich an und sagt alles ist gut und schaut auf ihre Uhr – sie hat auch eine schöne Uhr. Eine … ja. Und dann sagt sie um Himmels willen Miri, 2 Uhr, es ist so spät, jetzt aber ab mit dir ins Bett, dann setzt sie sich noch zu mir und lächelt und liest mir manchmal noch was vor. Aber beim nächsten Mal, wenn es wieder 2 Uhr nachts ist, sitzt sie dort wieder und weint oder ist traurig ohne Tränen.“

„Das tut mir sehr leid. Aber warum ist denn das dann deine Lieblingsuhrzeit? Es gibt doch bestimmt Uhrzeiten, wo du etwas Schöneres erlebst, oder?“

„Nein.“

„Hm.“

„Verstehst du nicht. Um 2 Uhr ist meine Mutter da und weint und wenn ich wach bin und komme, dann lächelt sie. Dann geht es ihr besser. Bist du schon mal eingeschlafen und hast dir gewünscht, dass du und deine Mutter euch festhaltet und die Uhr bleibt stehen und alles ist für immer?“

„Ja, ich glaube, ich weiß, was du meinst, sowas ähnliches habe ich mir auch schon mal gewünscht.“

„Aber die Uhren sind nur schön, das Wichtigste können Sie nicht. Die Zeit an der richtigen Stelle anhalten.“

„Das stimmt, das sollte mal jemand erfinden.“

„Dann ich.“

„Ok 🙂 das fände ich super. Gibst du mir dann Bescheid?“

„Ja. Wenn wir uns nochmal sehen. Es wird aber dann auch in den Nachrichten kommen.“

Bilder: William-Adolphe Bouguereau: Jeune Mère contemplant son enfant, 1871;
L. Wiley Fine, from Coraddi, 1965, via Abecedarian, 21. Oktober 2021.

Soundtrack: Sinéad O’Connor (* 8. Dezember 1966; † 26. Juli 2023):
This Is to Mother You, aus: Gospel Oak, 1997:

Bonus Track: Pink Floyd: Mother, aus: The Wall, 1979,
Sinéad O’Connor live in Berlin, 21. August 1990:

Raucht ihr denn nicht, Menschenkinder?

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Update zu Vor der Götter Nase,
Sollen denn aber bloß diese Kasus in der neu aufblühenden Kunstschule gebildet werden (wenn wir bei deutscher Mundart bleiben)?
und Ein ganz anderer Kerl als der Fuchs oder Wolf (so, gerade so bist du):

Man erwähne es nicht allzu oft gegenüber meiner Frau, aber ich rauche noch und stehe dazu. Nichts Gefährlicheres oder Illegaleres als Selbergedrehte als Supermarkt-Hausmarke ohne Filter, und wenn ich zu faul zum Drehen bin, das Gebrösel mit Filter im Vierzigerpack vom Penny. Das hat mehr mit Verdrängung als mit Vernunft zu tun; mein Hausarzt reibt sich heute schon die Hände. Umso erfreulicher, bei den Großschreibern der wichtigen Jahrhunderte Argumente dafür zu finden.

Paul Carl Leygebe, Tabakskollegium Friedrichs I. in Preußen, um 1710

——— Ludwig Tieck:

Die Gesellschaft auf dem Lande

Berlinischer Taschenkalender, 1825,
cit. nach der Winkler-Ausgabe, Band 3: Novellen, 1965, Seite 249 bis 51:

„Raucht ihr denn nicht, Menschenkinder?“ rief Binder, dem sein Bedienter jetzt eine lange Pfeife hereintrug: „Römer, seid Ihr denn aus der Art geschlagen? Herr Obrist? Denn der Alte, das weiß ich, darf es seiner Frau wegen nur selten versuchen.“

Römer hatte nur auf eine Einladung gewartet. Er teilte aus seinem Vorrate allen die Pfeifen aus, indem er sich die längste vorbehielt, auch der Baron rauchte, nur Franz, der den Tabak haßte, hatte sich entfernt. Gotthold versuchte sein geringes Talent, und Cajus, der seine eigene Schwäche kannte, hatte nur die Miene eines Rauchenden.

„Wunders genug“, fing Binder wieder an, „daß du heut in deinem Zopfkollegium, alter Professor und Baron, nicht jener Tabagie, jenes Rauchkollegii ebenfalls rühmlich erwähnt hast, welches der erste Friedrich Wilhelm auch gestiftet, und durch seine Autorität das Tabakrauchen veredelt hat. Denn man denke, wie man wolle, man lebe, wie es sich schickt, man hege Meinungen, noch so bizarr, oder freventlich, so bleibt das eine doch ausgemacht: das Rauchen macht erst den Mann, den Deutschen und vollends den Preußen. Sieh, Alter, wenn du nur mehr rauchen dürftest, so würdest du auch reifer und tiefsinniger denken. So wie der Mensch, scheinbar unbeschäftigt, den Rauch vor sich hinbläst, der sich kräuselt, aufsteigt, windet und verschwindet, so folgen ganz von selbst die feinsten Gedanken aus dem Kopf nach, und repräsentieren sich auf diesen Wolken, als dem ätherischen Grund des sublimen Gemäldes. Und immer ergänzt sich die verschwindende Hinterwand, und ebenso die neuen Einsichten. Wer nicht denken kann, rauche nur, und er findet seine eigene Seele. Ruach nennt sie der Ebräer: Rauch.“

„Ei! wie gelehrt!“ sagte der Baron ironisch.

The Night Picture Collector, Smoking Girl, 9. März 2023Das hab ich eben von deinem Prediger, einem trefflichen Manne, gelernt“, antwortete Binder, „der nur den Fehler hat, daß er sich gern reden hört. Aber, Alter, sieh, wie du und Römer jetzt ehrwürdig da sitzen und stehen. So ist der Mensch erst Mensch und erfüllt vollkommen seine Bestimmung. Vorn die lange Pfeife, erhaben, groß gestaltet, sein wahres Denkorgan, das Kennzeichen seines Tiefsinns, Rauch ausströmend. Und am besten jene baumstarken Röhre, die zugleich zu Stützen und Knütteln dienen können. Hinten herabhangend der mächtige patriotische deutsch-preußische Zopf, der niedergeht, sowie der Kopf sich stolz zurückwirft, der sich erhebt, sowie der Denker demütig den Sand beschaut. In der Mitte zwischen Zopf und Pfeife der Mensch nun selbst: vollständig aufgetakelt als veritabler Dreimaster, tiefsegelnd, ausgerüstet, so daß jeder seine Flagge, den dreieckigen Hut, die Kokarde auf dem Zopf oben, respektieren muß. Das müßte und sollte das Kostüm sein, um wichtige Handlungen des Lebens zu verrichten, so sollte der Mann an den Traualtar und als Pate an den Taufstein treten, so zu Hofe gehen, so in der Fremde sich den vornehmen Gesellschaften vorstellen lassen. Aber wir bleiben einseitig, hierin, wie in allen Dingen, und meinen, der Zopf soll es allein ausmachen; wenn aber das Gegengewicht der Pfeife mangelt: so fehlt Harmonie und Ebenmaß, das Haar wird übermütig, der Kopf sinkt zu stark hintenüber, wie wir es heut an unserm Wirte haben erleben müssen, und die ehrwürdigste Sache schlägt zum Spaß und Spott aus.“

„Es gibt mehr Leute“, bemerkte der Baron, „die sich gern sprechen hören.“

Georg Lisiewski, Tabakskollegium, ca. 1737

Tabakskollegium: Paul Carl Leygebe: Tabakskollegium Friedrichs I. in Preußen,
um 1710, Neues Palais Potsdam;
Georg Lisiewski, zugeschrieben: Das Tabakskollegium, ca. 1737,
Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg.
In der Mitte zwischen Zopf und Pfeife: The Night Picture Collector: Smoking Girl, 9. März 2023.

Soundtrack: Micah P. Hinson: The Last Song, aus: Presents The Holy Strangers,
und What Does It Matter Now?, live im Appelbrugparkje, Gent, 2017:

Written by Wolf

21. Juli 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Nahrung & Völlerei, Romantik

And wou‘d love more, cou‘d I but love thee less

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Update zu Fruchtstück 0001: Das Angenehme mit dem Schönen zu verbinden:

Die Sammlung Loves Alchymie, 2010 von Hille Perl mit angeschlossenen Sirius Viols, Lee Santana und Dorothee Mields umfasst nicht ausschließlich Vertonungen über John Donne. Unter anderen galt es für mich ein Gedicht von Sir John Suckling zu übersetzen, das wie die meisten auch wieder Song heißt. Ich veröffentliche meine Versuche nach einer angemessen Zeitspanne, weil weder Hille sie verwendet noch Sony sie bezahlt hat, und da inzwischen wohl auch nichts mehr nachkommt.

Das Lied erscheint als Szenenmusik in Sucklings Bühnenstück Aglaura, 1637. Im Album Loves Alchymie findet es seinen Platz als Beispiel für cavalier poetry statt der sonst darauf vertretenen, geradezu entgegengesetzten metaphysical poetry. Die Vertonung stammt von Henry Lawes.

Als Vorlage zum Übersetzen hat Hille mir eine etwas andere Fassung als die zuverlässigste auffindbare in The Works of Sir John Suckling: Containing His Poems, Letters and Plays bei Jacob Tonson, London 1709 geliefert, wie sich überhaupt die Rekonstruktion von Texten vor 1800 schwierig genug gestaltet; deshalb hab ich nach den 13 Jahren nochmal grob drübergebürstet. Das heißt, hier steht gratis etwas Besseres, als was ich in Abrechnung nach Anschlägen (besser als nach Normseiten wird Lyrik nicht bezahlt) an Sony verkauft hätte.

Satanas Aeternus, 11. Februar 2023

——— Sir John Suckling:
aus: Aglaura, 1637:

Song

I.

No, no, fair heretic, it needs must be
       But an ill love in me,
       And worse for thee:

For were it in my Power,
To love thee now this Hour,
       More than I did the last,

‘Twould then so fall,
       I might not Love at all;
Love that can flow, and can admit Increase,
Admits as well an Ebb, and may grow less.

II.

True love is still the same; the Torrid Zones,
       And those more Frigid ones,
       It must not know:

For Love grown cold or hot,
Is Lust, or Friendship, not
       The Thing we have;

For that‘s a Flame wou‘d die,
Held down, or up too high:
Then think I love more than I can express.
And wou‘d love more, cou‘d I but love thee less.

Lied

I.

Nein, nicht doch, süße Ketzerin,
       Ich liebe dich gar unzulässig,
       Ja, schlimmer noch für dich,

Denn stünde es in meiner Macht,
dich jetzt zu lieben, anbetracht
       Der Stunde, und mehr als vorher,

Wo’s zulässig geblieben,
       so würde ich dich gar nicht lieben.
Die Lieb‘, die wachsen kann und fließen,
darf auch verebben und sich vergießen.

II.

Die wahre Liebe bleibt. Die Zonen,
       Wo Frost und heißes Sengen wohnen,
       Sind nichts, was mich angeht,

Wenn Liebe gefrieren und auflodern würde,
Dann hieße sie Freundschaft nur oder Begierde,
       Nicht das, was zwischen uns besteht,

Weil Liebesflammen nur schlecht tragen
Und sterben, wenn sie zu niedrig schlagen.
Drum glaub, ich lieb mehr, als ich sage und singe,
Und liebte dich mehr, wenn’s auch weniger ginge.

Fair heretics: Satanas Aeternus: 11. Februar 2023; 12. April 2022.

Satanas Aeternus, 12. April 2022

Soundtrack: Bridge City Sinners: Unholy Hymns, aus: Unholy Hymns, 2021:

Written by Wolf

14. Juli 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Glaube & Eifer, Renaissance

Johndonnerstag 4: Schick mir mein Blut, schick meinen Blick

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Obligates Update zu Johndonnerstag 3: Wiser far than I:

With her eyes alone she could give this response, this absolutely erotic response, as if febrile waves were trembling there, pools of madness… something devouring that could lick a man all over like a flame, annihilate him, with a pleasure never known before.

Anaïs Nin: Little Birds, 1979.

——— John Donne:

The Message

SEND home my long stray’d eyes to me,
Which, O ! too long have dwelt on thee ;
Yet since there they have learn’d such ill,
       Such forced fashions,
       And false passions,
              That they be
              Made by thee
Fit for no good sight, keep them still.

Send home my harmless heart again,
Which no unworthy thought could stain ;
Which if it be taught by thine
       To make jestings
       Of protestings,
              And break both
              Word and oath,
Keep it, for then ‚tis none of mine.

Yet send me back my heart and eyes,
That I may know, and see thy lies,
And may laugh and joy, when thou
       Art in anguish
       And dost languish
              For some one
              That will none,
Or prove as false as thou art now.

Die Botschaft

Schick mir meinen Blick zurück, den weit geschweiften,
Der, ach!, zu lang auf dir geruht,
Den an so viel Bosheit gereiften
       Und lasterhaften
       Leidenschaften,
              Der nichts Schönes mehr fasst:
              Leg ihn zur Rast,
Dann wird alles wieder gut.

Schick mir mein Blut zurück, das arglos nur
Strömt, von Falschheit unbefleckt,
Das allererst von dir erfuhr,
       Wie man lügt,
       quält und höhnt,
              Eid und Wortbruch
              versöhnt –
Doch behalt’s, weil das nicht in mir steckt.

Schick mir mein Blut, schick meinen Blick,
Auf dass ich wisse und sehe, zurück –
Auf dass ich mich weide, wie du dich schindest,
       Ganz allein
       in deiner Pein
              Schmachtest,
              wie du vorher lachtest,
Bis du einen so böse, wie du jetzt bist, findest.

Ich veröffentliche meine Übersetzungsversuche von 2010 nach einer angemessen Zeitspanne, weil weder Hille sie jemals verwenden noch Sony sie bezahlen wird. In diesem Fall war meine Vorlage nicht die bei der National Library of Scotland, sondern die im Luminarium.

Anaïs Nin, Little Birds, 1979, Self Portraits by Marianne Renoir, 2022 Anaïs Nin, Little Birds, 1979, Cover

Bilder: Anaïs Nin: Little Birds, 1979, i. e. Die verborgenen Früchte
via Self Portraits by Marianne Renoir, 29. August 2022;
Cover, 1979 bis 2004.

Soundtrack: Giovanni Coperario: The Message,
in: Hille Perl / Lee Santana / Dorothee Mields / Sirius Viols: Loves Alchymie, 2010:

Written by Wolf

6. Juli 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Ehestand & Buhlschaft, Renaissance

Johndonnerstag 3: Wiser far than I

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Obligates Update zu Johndonnerstag 2: Gestern sank die Sonne hin und ging doch wieder auf:

——— John Donne:

The Bait

Come live with me, and be my love,
And we will some new pleasures prove
Of golden sands, and crystal brooks,
With silken lines and silver hooks.

There will the river whisp’ring run
Warm’d by thy eyes, more than the sun;
And there th‘ enamour’d fish will stay,
Begging themselves they may betray.

When thou wilt swim in that live bath,
Each fish, which every channel hath,
Will amorously to thee swim,
Gladder to catch thee, than thou him.

If thou, to be so seen, be’st loth,
By sun or moon, thou dark’nest both,
And if myself have leave to see,
I need not their light, having thee.

Let others freeze with angling reeds,
And cut their legs with shells and weeds,
Or treacherously poor fish beset,
With strangling snare, or windowy net.

Let coarse bold hands from slimy nest
The bedded fish in banks out-wrest;
Or curious traitors, sleeve-silk flies,
Bewitch poor fishes‘ wand’ring eyes.

For thee, thou need’st no such deceit,
For thou thyself art thine own bait:
That fish, that is not catch’d thereby,
Alas! is wiser far than I.

Wie versprochen und all meiner Erinnerung nach waren die Übersetzungen der metaphysischen Gedichte von John Donne et collegae für Loves Alchymie pünktlich im Oktober 2010 fertig. Darunter findet sich eine schön marschierende Version von The Bait.

Alexander Scott Harris, Marandah Chaffée, Light Reading, 25. Januar 2016Irgendwas ist ja immer: Ohne Hille Perls kenntnisreichen Hinweis darauf, dass in The Bait der für Donnes Empfinden zu populäre Christopher „Kit“ Marlowe verulkt wird — Shakespeares beste Konkurrenz, den Sie aus Shakespeare in Love von 1998 kennen — hätte ich nicht einmal die parodierende Tonart ins Ohr genommen. Und wie um des Himmels willen parodiert man Marlowe?

Nach zwei, drei Tagen so vergnüglichem wie unnützem Blättern in meinem herumgilbenden Penguin-Marlowe erwies es sich als hilfreich genug, so altertümelnd zu schreiben, wie ich sowieso dauernd rede. Das schmeichelt dem Textfluss, es ist ja auch so ein wässeriges Thema. Dazu musste ich einfach zulassen, nicht geradezu verhindern, dass Strophe 1 so unvermeidlich nach dem Erlkönig klingt, und schon gibt’s einen intertextuellen Bezug, der als Parodie durchgeht, was griechisch ist und „Gegen-Gesang“ bedeutet. So viel Glück — soviel schon als nächste Versprechung — hatte ich bei den nächsten Übersetzungen nicht.

Vor allem war der Rhythmus des Originals nicht einzuhalten, egal ob ich mir drei Stunden oder drei Jahre Zeit zum Einlesen und Umschmelzen genommen hätte: Englische Wörter sind nun mal kürzer als deutsche. Da musste ich vor allem in Strophe 5 ein Stück Inhalt opfern, das der Gesamtaussage hoffentlich nicht zu viel abbricht.

Die Silben der einzelnen Verse sind mit Daktylen statt Trochäen aufgefüllt, die von Natur aus eine Senkung mehr haben und meinem bisherigen Überblick nach nirgends knitteln — was meint: Die Hebungen stimmen überall; zu den Senkungen haben die bisherigen Jahre des Abstands nichts geholfen, dass ich kalten Herzens noch mehr hinauskicken wollte. Wer sich heute meine Übersetzung ohne das Original im Ohr hersagt, sollte nicht mehr viele Einwände erheben. Hoffe ich.

Aus Pragmatik sind manche Stellen wörtlich übersetzt, andere nachgedichtet — was dem Original insofern strukturell entspricht, als ab der 5. Strophe eigentlich ein neues Gedicht anfängt. Die letzte Strophe mag ich recht gerne. Das liegt großenteils am Rohstoff der Vorlage und ist darum ganz ordentlich geraten, finde ich in meiner grenzenlosen Bescheidenheit.

——— John Donne:

Der Köder

Komm her zu mir und leb mit mir,
Gar neue Freuden zeig ich dir
An kristallenem Bach auf goldenem Sand
Mit silbernem Haken an seidenem Band.

Wo dein Auge den murmelnden Fluss erblickt,
Das ihn noch mehr denn die Sonne erquickt,
Wird sich das Fischvolk in dich verlieben
Und sehnen, mit dir den Treubruch zu üben.

Alexander Scott Harris, Marandah Chaffée, Light Reading, 25. Januar 2016Badest in all diesem Leben du dann,
Kommt jeder Fisch, welcher mit Drum und Dran
Bestückt, gleich entzückt zu dir hingeschwommen
Und nimmt dich froher, als wenn du ihn genommen.

Ist dir dergleichen abschlägig beschieden,
Deine Blöße dem Mond und der Sonne zu bieten,
Verfinsterst du beide. Wie bescheidest du mich?
Ich bedarf ihres Lichts nicht, denn ich hab ja dich.

Sollen andre frieren, bluten
In Schilf und Rohr, mit Angelruten
Und Schlingen und Reusen und löchrigen Netzen
Sich selber täuschen und die Fische verletzen.

Sollen ruppige Hände an den Ufern sich schinden,
Schleimigen Nestern die Brut zu entwinden
Und durch Verrat mit hemdseidnen Fliegen
Das schweifende Auge des Fisches zu trügen.

Denn du bedarfst nicht solcher List,
Weil du dein eigner Köder bist:
Der Fisch, der dem entwischt, ist leider
Um einiges als ich gescheiter.

Ich veröffentliche hier meine Versuche nach einer angemessen Zeitspanne, weil weder Hille sie verwendet noch Sony sie bezahlt hat, und da inzwischen wohl auch nichts mehr nachkommt.

Bilder: Alexander Scott Harris (Fotos) & Marandah Chaffée (Model & Text):
Light Reading, January 25th, 2016:

I venture to Greenpoint to meet Alex on a Monday afternoon…

I gasp out loud and make some silly exclamation when I discover his bedroom wall collage of 35mm prints. I’m a fan. There is something distinctly overlapping in our documentary style.

I ask to borrow a white t-shirt and make myself comfortable in my favorite underwear, a ridiculously old Victoria’s Secret cotton thong in cheetah print. His roommate Moto offers the use of his bedroom window and a couple Camel Crush cigarettes.

Alex asks if I have any ginger friends and can I please introduce them so he can photograph them. I do. I smoke the Camels and read the teachings of Hermes from the pages of The Kybalion.

We laugh at the normalcy of hanging out half dressed, discussing life philosophy. “Do you always go this deep?” he asks.

I ask if I can smoke some weed. Alex asks if it will make me all “squinty eyed.”

We carry on for hours like old friends. I take some selfies. We say our goodbyes.

I forget my book upstairs.

Soundtrack: Genau das, genau von dort.

Written by Wolf

29. Juni 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Ehestand & Buhlschaft, Renaissance

Johndonnerstag 2: Gestern sank die Sonne hin und ging doch wieder auf

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Obligates Update zu Johndonnersag 1: Goe, and catche a falling starre:

Cover Loves Alchymie, 2010Wie meiner werten Auftraggeberin Hille Perl bei Lieferung der Übersetzungen für die Dowland-Vertonungen für ihre eigene Präsenz versprochen, hab ich mich an einen Extended Remix — das ist: eine Übersetzung aller fünf Strophen des Song II statt nur der üblichen und für die CD eingesungenen drei gesetzt. Und siehe: Es verträgt die Länge ganz gut. Meines Wissens ist das jetzt die einzige einigermaßen zugängliche deutsche Version des vollständigen Gedichts. Man korrigiere mich notfalls, aber die Reste von Vordtriede bringen es gar nicht und Koppenfels nur dreistrophig.

Wie lebendig John Donne ist, hat spätestens die Perl-Santana-Mields-Sirius-Viols-Sammlung über John Dowland Loves Alchymie 2010 gezeigt. Da werden sich Exzellenz wohl noch wünschen dürfen, dass eins seiner schönsten Gedichte wenigstens einmal vollständig irgendwo steht.

——— John Donne,
nach 1604, veröffentlicht 1633:

Song II

Sweetest love, I do not go,
     For weariness of thee,
Nor in hope the world can show
     A fitter love for me;
          But since that I
At the last must part, ‚tis best,
Thus to use myself in jest
     By feigned deaths to die.

Yesternight the sun went hence,
     And yet is here to-day;
He hath no desire nor sense,
     Nor half so short a way;
          Then fear not me,
But believe that I shall make
Speedier journeys, since I take
     More wings and spurs than he.

O how feeble is man’s power,
     That if good fortune fall,
Cannot add another hour,
     Nor a lost hour recall;
          But come bad chance,
And we join to it our strength,
And we teach it art and length,
     Itself o’er us to advance.

When thou sigh’st, thou sigh’st not wind,
     But sigh’st my soul away;
When thou weep’st, unkindly kind,
     My life’s blood doth decay.
     It cannot be
That thou lovest me as thou say’st,
If in thine my life thou waste,
     Thou art the best of me.

Let not thy divining heart
     Forethink me any ill;
Destiny may take thy part,
     And may thy fears fulfil.
          But think that we
Are but turn’d aside to sleep.
They who one another keep
     Alive, ne’er parted be.

Lied II

Liebste mein, Süßeste, nein,
     Ich scheide nicht aus Überdruss
Und Hoffnung, dass die Welt mir ein
     Besseres Lieben bieten muss;
          Doch weiß ich, dass
Ich sterbe im Ernst,
Und übe vorerst, damit du’s lernst,
     Das Sterben nur zum Spaß.

Gestern sank die Sonne hin
     Und ging doch wieder auf:
Ganz ohne Ziel, ganz ohne Sinn,
     Mit halb so weitem Lauf.
          Drum gib nicht verloren
Die schnellere Reise, die ich begann,
Denn im Vergleich lege ich an
     Viel schnellere Flügel und Sporen.

Ach, wie schwach der Mensch, der ringt,
     Bleibt, wenn ihm auch das Glück zufällt,
Und keine Stunde wiederbringt
     Noch ihrer eine zugesellt.
          Doch wenn es sich wendet,
Machen wir uns mit Macht und Dauer
Unser Unglück doppelt sauer,
     Bis es noch schlimmer endet.

Wenn du seufzest, seufzt kein Wind –
     Meine Seele seufzt da im Entschweben;
Wenn du weinst, unseliges Kind,
     Versiegt all mein Blut und mein Leben.
          Doch glaub ich dir,
Dass du mich, so wie du sagst, liebst –
Denn wenn du in deinem mein Leben hingibst,
     Dann bist du das Beste an mir.

Glaub nie in deinem ahnungsvollen
     Herzen an die Gefahr,
Ich könnte je etwas Böses uns wollen,
     Sonst macht dein Schicksal Ängste wahr.
          Glaub lieber, dass die,
Die nur schlafend anderweitig
Sich kehren und durch sich gegenseitig
     Leben, die trennen sich nie.

Dieses Luminarium überhaupt, es rockt ungemein. Was allein im Donneschen Song II für Lieder drinstecken, von denen der teure Verstorbene nichts wissen konnte.

Der Anklang am Anfang ist seinerseits schon wieder in Vergessenheit, weil es ein schon angegrautes Lied von der Ersten Allgemeinen Verunsicherung ist (Neppomuk’s Rache, 1990):

Arrivederci, ciao, ciao, mon amour,
wie konnte ich mich nur erdreisten?
Du bist mir zu kostbar, zu gut eine Spur,
ich kann mir dich nicht mehr leisten.

Arrivederci, ciao, ciao, mon amour,
ich weine nicht, wenn ich scheide.
Arrivederci, ab jetzt wein ich nur
noch, wenn ich Zwiebeln schneide.

Das hört erst auf mit The only thing that looks good on me is you (irgend so ein Bryan Adams), „all mein Blut und mein Leben“ ist selbstverständlich das Ännchen von Tharau, Anfang dritte Strophe ist „When you’re smiling“ – Louis Armstrong, späterhin als Dixieland-Standard missbraucht – und die letzte Strophe riecht mir stark nach Love Me Tender. Das Allerbeste an dem ganzen Extended Remix ist der Anfang zweite Strophe. Herrschaften, hoffentlich ist das ein Original von mir. Das hat fühlbar — durch Donnes Verdienst — die Qualität von „Das ist nicht die Sonne, die untergeht, sondern die Erde, die sich dreht“, der Sokrates-Zuschreibung durch Tomte. Das will ich singen können.

Die Überschrift heißt aus gleichen Gründen wie beim ersten Song („Goe and catch a falling star“) Lied statt Song, klar. Im übrigen veröffentliche ich hier meine Versuche nach einer angemessen Zeitspanne, weil weder Hille sie verwendet noch Sony sie bezahlt hat, und da inzwischen wohl auch nichts mehr nachkommt.

Bild: Cover Loves Alchymie, 2010.

Soundtrack: John Dowland auf John Donne: Sweetest Love I Doe Not Goe,
aus: Hille Perl, Lee Santana, Dorothee Mields, Sirius Viols, a. a. O., 2010:

Written by Wolf

22. Juni 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Ehestand & Buhlschaft, Renaissance

Johndonnerstag 1: Goe, and catche a falling starre

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Update zu Perliana
und Coronadvent 5: The effects of Herod’s jealous general doom:

Die Aufgabe war, den Song von John Donne (sprechen Sie das mal schnell hintereinander weg), der sich um 1604 einordnet, zu übersetzen.

Hille Perl und die Sirius Viols einschließlich angetrautem Lee Santana an den Theorben und Tochter Marthe als Special Guest an der Zweit-Viola da Gamba; golden ziselierten Sopran stiftet Dorothee Mields — veröffentlichten eine Sammlung Lieder des Dichters: Loves Alchymie wurde Anfang März 2010 aufgenommen und erschien als Sequel zu In Darkness Let Me Dwell, einer Sammlung über John Dowland, im September 2010.

Cover I Darkness Let Me Dwell, 2010Mit beiläufiger Grandezza, jedoch treffsicher wie in allen Dingen, fragte mich Hille Perl, glaubhaften Aufzeichnungen nach am 14. Februar 2010:

Haste schonmal John Donne übersetzt?

Noch kein Wort vom Song notabene in ihrer Frage, aber John Donne, konnte ich ihr antworten, o ja, wirst lachen, hab ich tatsächlich schon mal übersetzt. Schon paar Tage her und hat mir bis heute kein Mensch bezahlt, aber es war der Song — der ja wohl berückend ist und außerdem das Motto zum Stardust by the incredible Neil Gaiman. Über meine Lösung wird man wahrscheinlich lange & fruchtlos disputieren können, aber das Entwaffnende daran ist ja der Rhythmus, und wir Deutsche haben doch so lange Wörter. Auf Fränkisch ist es meistens leichter.

Das könnte ich noch wissenschaftlicher formulieren, aber in der Sache jederzeit unterschreiben. Wirklich umwälzend ist tatsächlich die zeitlos gültige Erkenntnis in einer modern gebliebenen Geisteshaltung und in einer schmissigen Form.

Zur Orientierung gebe ich hier die Vollversion in der weniger verbreiteten originalen frühneuenglischen Schreibweise wieder, nach der vollständigsten, halbwegs erreichbaren Gesamtausgabe John Donne: Poetical Works, von Sir Herbert Grierson bei Oxford University Press erstmals 1912 herausgegeben und seither nicht mehr grundlegend verändert:

——— John Donne:

Song

ca. 1604, published 1633:

Goe, and catche a falling starre,
     Get with child a mandrake roote,
Tell me, where all past yeares are,
     Or who cleft the Divels foot,
Teach me to heare Mermaides singing,
     Or to keep off envies stinging,
          And find
          What winde
Serves to advance an honest minde.

If thou beest borne to strange sights,
     Things invisible to see,
Ride ten thousand daies and nights,
     Till age snow white haires on thee,
Thou, when thou retorn’st, wilt tell me
All strange wonders that befell thee,
          And sweare
          No where
Loves a woman true, and faire.

If thou findst one, let mee know,
     Such a Pilgrimage were sweet;
Yet doe not, I would not goe,
     Though at next doore wee might meet,
Though shee were true, when you met her,
And last, till you write your letter,
          Yet shee
          Will bee
False, ere I come, to two, or three.

Bislang existieren fünf deutsche Donne-Übersetzungen unterschiedlicher Vollständigkeit und Qualität von

  • John DonneWerner Vordtriede: Metaphysische Dichtungen, Insel Verlag 1961. Nachfolgeauflagen sind mit anderen Dichtern, aber unter der Anfangszeile des Song, aufgegangen in Geh, fang einen Stern, der fällt;
  • Annemarie Schimmel: Nacktes denkendes Herz, 1969;
  • K. Wydmond: Liebeslieder (Songs and Sonets), Privatdruck von Christian Nekvedavicius 1981. Das war die erste wirklich vollständige Übersetzung des geschlossenen Corpus, leider so weit unverständlich, dass gegenüber dem Original nicht viel geholfen ist, außerdem apokryph geworden und wenn greifbar, praktisch unerschwinglich;
  • Christa Schuenke & Maik Hamburger: Zwar ist auch Dichtung Sünde, Reclam Leipzig 1983, erweitert 1986. Die Auswahl ist reichhaltig und gilt als gelungen;
  • Werner von Koppenfels: Alchimie der Liebe, Henssel textura 1986, übergegangen zu Diogenes. Die bisher letzte, noch genießbare Auswahl, welcher auch der Song als das erwähnte Motto für die deutsche Version von Stardust (Sternenwanderer bei Ullstein) entnommen ist.

Der Perl-Santana-Mields-Sirius-Viols-Sammlung über John Dowland liegen keine deutschen Übersetzungen bei, was Sony BMG geklagt sei, weil solcher Erstellung zu teuer, zu raumgreifend im Booklet oder zu langwierig war. Vielmehr hätte Hille Perl aus eigenem Antrieb Speicherplatz ihrer eigenen Website damit belasten müssen. Wer heute ihre CD hört und besser verstehen will — was ich ausdrücklich empfehle — muss gleichzeitig das Internet aufschlagen, um mitzulesen. Das soll mit dem Sequel — immerhin gleiche Epoche (elisabethanische Shakespearezeit. Donnes Lebensdaten stimmen mit Dowlands genau genug überein, dass man sie andauernd verwechselt), ähnlicher Umgang mit ähnlichem Thema, gleicher Vorname, sogar gleiche zwei Anfangsbuchstaben des Nachnamens — nicht wieder passieren; die Donne-Übersetzungen mussten also frühzeitig erstellt oder zusammengesucht und ins Booklet eingeplant werden.

Bei der bekannten Caprice von Sony in Copyrightfragen (lassen Sie mich hier nicht von ihrem Umgang mit YouTube anfangen) kommt der Veröffentlichung sehr entgegen, dass John Donne seit deutlich mehr als 70 Jahren tot ist und deshalb von jedem reproduziert und adaptiert werden darf, der Freude an dergleichen hat — oder wie Werner von Koppenfels es 1986 im Nachwort zu seiner Übersetzung ausdrückt:

Keine der bisherigen Ausgaben […] hat Donne zu einer lebendigen Präsenz im deutschen Sprachraum verholfen, und keine ist so frei von Reimnot und Wortstellungskrampf, daß sich weitere Versuche erübrigen. Weder Dichterwitwen noch Copyright wehren gottlob solch verwegenem, aber notwendigem Unterfangen.

Hurra. Es wäre verwegen, aber notwendig und von Natur aus erlaubt? Na, dann ans Werk! Mein eigener erster Versuch am Song liegt leider vor der Zeit, in der man so selbstverständlich Speichermedien für seine literarischen Bemühungen verwendete, außerdem erscheint eine Donne-Übersetzung mit oberostfränkischen Einschüssen aus dem Landkreis Nürnberger Land für eine internationale Verwendung nicht einmal mehr fragwürdig, selbst wenn er gerade dazu dient, von Koppenfels‘ beklagtem Wortstellungskrampf vorzubeugen. Darum legte Hille ihren Einstiegsversuch vor, mit dem sie bei ihrer mir verschlossenen recherchefreien Naturmethode gar nicht so kläglich abschnitt:

Kannst Du denn zur Schnuppe fliegen
die Alraune schwanger kriegen?
Sagen wo die Zeit geblieben
wer in des Teufels Fuß den Spalt getrieben?

Mir selbst lagen zum Einlesen in Donnes Tonfall die Gesamtausgabe von Sir Grierson sowie die deutschen Auswahlen von Vordtriede und von Koppenfels vor, also die älteste und die jüngste. Das gestützte Einfühlen geschah entgegen Hilles Rat, die ihre Übersetzungsarbeit lieber unbeschwert von geistigem Ballast angeht; mein eigener Approach ist aber, zuvor zu studieren, was da schon gedacht und versucht wurde — und ja: Das ist verkopft. Mehr als diese drei Bücher gaben die mir ohne weitere Einschreibungen zugänglichen Bibliotheken ohnehin nicht her. Aus ihnen entnahm ich, dass selbst Ullstein, wie angeführt, das Rad nicht neuerfunden, sondern ein noch ausreichend geländegängiges Hollandrad aus den Achtzigern wiederverwendet hatte — und weit weniger ermutigende Sachen als die mit dem freilaufenden Copyright:

Wenn Lyrik unübersetzbar ist und gerade deshalb den sprachlichen Grenzgänger zum Betreten Utopias einlädt, so muß dies (falls ein Paradox die Steigerung verträgt) umso mehr für den größten der Metaphysical Poets gelten. Zur berüchtigten Silbenknappheit des Englischen, einer naturgegebenen Erschwernis englisch-deutscher Versübersetzung, kommen bei Donne unglaubliche Bedeutungsdichte bei komplizierten Reimmustern und Strophenformen, dramatisch abrupte Gedankenführung, überspannter, enjambementreicher Satzbau, Nachbarschaft gegensätzlicher Stillagen, Wortspiele aller Art und schwindelerregende Metaphorik. (Die Referenzbereiche der Bildersprache wie alte Kosmologie, Jurisprudenz, Theologie, Alchimie, Aberglauben, Petrarkismus, elisabethanischer Alltag stehen dem modernen Leser nicht gerade besonders nahe.)

Werner von Koppenfels, a.a.O.

Damit waren die Schwierigkeiten klar, alle davon entmutigend genug, keine davon unüberwindlich. Nach der üblichen Phase der Prokrastination übersetzte ich in der Osternacht 2010 das ganze Stück in einem Husarenritt runter. Ich verkünde nie das Evangelium, will aber grundsätzlich immer einen Grund angeben können, warum ich an welcher Stelle genau das und nicht etwas anderes hingeschrieben habe. Nicht jede meiner Lösungen muss die beste aller möglichen sein, aber man darf voraussetzen, dass ich mir bei jeder etwas gedacht habe. Zum Beispiel im Lied.

Mit derselben Überschrift geht die Erklärungsnot schon los: Die Übersetzung war für ein CD-Booklet vorgesehen — also passender ein „Lied“ wie bei Schubert, und nicht, wie man sich auch wünschen könnte, als „Song“ belassen wie bei Brecht oder Lennon/McCartney. Genau das meinte ich damit, dass es auf Fränkisch statt Deutsch oft zielgenauer und eindeutiger wäre: Das süddeutsch dialektale „Liedl“ wäre unzweifelhaft. Außerdem befürchtete ich bei „Song“ schon wieder eine schlimmste anzunehmende Klassikabonnement-Rentnerschaft quaken zu hören: „I hob denkt, des is af deidsch, wos kennäsn dou ned deidsch redn?!“ Also Lied und ecce epistula.

Ob die mandrake eine „Mannswurz“ oder „Alraune“ – metrumhalber nicht „Alraun“ – sein sollte, wollte ich als einzige Stelle explizit Hille höchstselbst entscheiden lassen. War ja die „Mannswurz“ immerhin einer ihrer Wunschvorschläge und gefiel mir deswegen, weil es betont, wie es ja überhaupt gar nichts Männlicheres auf der Welt geben kann, und ausgerechnet dem soll einer jetzt Kinder machen gehen. Dagegen „Alraune“: kommt dem Alchymie-Teil des Oberthemas entgegen und würde voraussichtlich unmittelbarer verstanden. Der unmaßgeblich einzigen Testleserin war nicht geläufig, was eine Mannswurz ist, erschien aber bei Alraune die im kollektiven Bewusstsein verankerte Bilderwelt aus Paracelsus, Kabbala und Frankenstein.

Die erste Eindeutschung, Vordtriede bei Insel 1961, meint zu der Stelle noch:

Ich halte die zweite Zeile, obwohl dies die einzige Lesart ist, für verderbt. „Get with child a mandrake root“ scheint, über die gewollte Unmöglichkeit hinaus, sinnlos. Vielleicht sollte man lesen: „Werde schwanger durch Alraun“ [statt: „Schwängere mir den Alraun“].

Was für ein phantasieloser Lyrikübersetzer. Auch später im Nachwort:

Unmöglich sich vorzustellen, das romantische Lied könne sich Donnescher Verse bedienen.

Ist das so? fragte ich da die Musik in Gestalt von Hille, fällt die Musik wirklich dermaßen unterschiedlich aus, nur weil da einer im Text mit Conceit und Metaphysik gelahrte Inhalte in Gefühlsdarstellung überträgt, statt sein Inneres auszuforschen oder was immer die späteren Romantiker und Viktorianer ihre Formen gießen?

Andernorts meint Vordtriede:

Die dichterischen Hauptmittel […] sind, inhaltlich, der Witz im weitesten Sinn und, formal, der wechselnde Rhythmus und die Antithese.

Wenn wir das auf Musik anwenden, kam für meinen laienhaften Begriff Mozart raus, jedenfalls etwas viel Späteres als Donne, oder nicht? Wie weit war Donne seiner Zeit voraus — oder Vordtriede hinterher? Johann Sebastian Bach, zeitlich näher an Donne und gleich ihm einer, der dem Rest der Welt Jahrhunderte voraus war, konnte ja alles — und ich Übersetzerlein stand damit da und sollte mich mit diesem virtuellen Olymp voller Genies danach richten.

Meine Lösung für den Anfang „Wer fängt mir“ ist, wie man bemerken wird, jambisch, nicht trochäisch wie alle drei originalen Donne-Strophen. Und beide bestehenden, veröffentlichten und vorliegenden Übersetzungen der zwei Werners (ist das fürs Donne-Übersetzen Voraussetzung oder nur Qualifikation?) Vordtriede und von Koppenfels halten das auch ein. Respekt an die Kollegen, aber ich fand dieses Fitzelchen in der Formgebung unnötig, wenn man dafür den Inhalt süffiger gestalten konnte. Ohnehin war mir nie eingegangen, wie man Gedichte ausgerechnet so gestrenge danach einteilen mag, ob sie vor ihren — meistens — vier Hebungen noch ein Silbchen Auftakt haben oder nicht. Wenn man erst die eine oder andere Form angefangen hat, soll man sie weiter durchhalten, soviel ist wahr, sonst verliest und verschluckt man sich ständig, und im Vortrag klingt es wie früher Reinhard Mey („zum Behúf der Vórla-gé beim zuständ‘-gén Ertéilungsámt“). Sollten mir solche Stellen unterlaufen, darf man mich immer noch nachkorrigieren. Mir fallen schon lange keine mehr auf, aber man liest als Schreibender ja immer nur, was da stehen soll.

Abgesehen von solchem überschätzten Auftaktgefrickel galt es den Donnischen Rhythmus einzuhalten, ohne zuviel vom Inhalt dranzugeben. Das hat Vordtriede wie von Koppenfels ja offenkundig auch in Atem gehalten — gerade in den jeweils letzten drei Versen, in denen man kein Reimpaar, sondern einen Dreier finden muss. Trochäen sind unter Umständen schön und nützlich, nur wenn etwas an diesen pointierten Stellen hakt, das fällt auf und kann das ganze Lied zerstören. Und bitte kurze Wörter, die möglichst viel Bedeutung tragen, oder wozu sonst stehen die so prominent aufgebockt in den Strophen?

Der Tonfall blieb deshalb antikisierend wie das Original, dabei so flüssig lesbar wie irgend möglich. Und sollte, gemäß Vordtriedes „gewollter Unmöglichkeit“ eine Idee von „Ja, nee, is klar, ne“ behalten — ein gottergeben resignierendes Dreinfügen in das Schicksal, wohl nirgends ein treues Weib zu finden. Denn man freut sich nicht ob dieser Aussicht, doch kann sich ihrerhalber auch nicht entleiben: ein Lachen unter Tränen, das frisch wie am ersten Tag von 1604 herüberweht.

Strophe 3 bekam einen alternate take, das ist: eine vorab entstandene Version, mit der ich dann doch nur so mittelglücklich war. Ich behielt sie trotzdem vorerst als Materialrücklage, falls Hille Änderungen anregte; hier teile ich sie aus dokumentarischer Nostalgie mit. Übersetzerseits empfohlen wurde schon bei Lieferung das, was als Fließtext dastand.

Der größte Rest war hoffentlich selbsterklärend: Wenn man es toterklären musste, lebte es nicht mehr, und grade das sollte mein Ehrgeiz sein. Das Zielpublikum war eins, das sich auf denkbar „schwere“ Musik einlassen, und keins, das sich lange mit lyrischen Inhalten auseinandersetzen wollte. Es musste umso besser werden, als es nicht der hero sein sollte.

Und siehe, nach einer Latenzzeit von drei Tagen war ich immer noch halbwegs zufrieden mit dem Ergebnis. Im Direktvergleich liest sich meine neue nämlich eingängiger als die zwei erreichbar verlegten Versionen, worin ich gerade für die Verwendung im CD-Booklet eine objektive Qualität begründen kann. Das mag an meiner Hybris liegen, mit der ich leben muss. Hilles Loves Alchymie bekommt also etwas richtig blitzblank Zeitgemäßes. Im Wortlaut:

——— John Donne:

Lied

Wer fängt mir eine Schnuppe, geht
     der Mannswurz Kinder machen,
bringt Jahre wieder, die verweht,
     könnte Satans Huf zerkrachen?
Lass die Meerjungfrauen singen,
     lass die Eifersucht verklingen
          und find
          den Wind,
der solchen weht, die aufrecht sind.

Bist du einer mit dem klaren
     Blick, der schaut, was keiner glaubt,
kannst doch zehntausend Tage fahren
     und Nächte, bis voll Schnee dein Haupt;
wenn du wiederkommst, berichte
deine seltenen Gesichte:
          Nie fand
          ein Land
ein Weib gleich schön und treu bekannt.

Wirst du Meldung machen müssen,
     pilgre ich, wohin sich’s lohnt.
Oder will ich’s gar nicht wissen,
     denn selbst wenn sie beim Nachbarn wohnt
und du sie treu getroffen hast,
hätt sie doch, eh du dich versahst,
          zwei
          bis drei
betrogen, bevor ich dabei.

~~~|~~~~~~~|~~~

((Strophe 3, alternate take:

Findst du eine, sag mir’s weiter,
     die Pilgerfahrt hätt sich gelohnt.
Nein, tu’s nicht, das ist gescheiter,
     denn selbst wenn sie beim Nachbarn wohnt
und du sie noch treu treffen magst,
hätt sie doch, bis du’s mir erst sagst
     zwei
     bis drei
betrogen, bevor ich dabei.))

I Heard the Mermaids Singing, 2008 PosterFast schade ist, dass die Musik bei meiner Übersetzung längst eingegeigt war und nur noch für den Feinmix anstand: Mit all dem Wissen, das einem wegen magerer 3×9 Zeilen aus allen Ecken zuläuft, hätte ich glatt gern Regie geführt: Ein „Brillantfeuerwerk von Conceits“ begegne uns da, „Daseinsdeutung im Zeichen des Todes als Garanten irdischer Desillusion und der Jenseitshoffnung“, obendrauf „selbstquälerische Liebeslogik“, die erfüllte Liebe nur als wechselseitiges Glück möglich hält und demnach — news and surprise — das ernst nehmen muss, was heute significant other heißt, und alles mit „erotischer Motivik als zentraler Bestandteil der geistlichen Bildersprache“ — mithin etwas Zwingendes auf dem Wege von mittelalterlicher Marienminne über Shakespeare zu den 1990er Riot Grrrlz. „Ein Job für Oskar Supermaus“ — oder für Pink Floyd? oder für ein Wagnerorchester, das Hollywoodschinken versoundtrackt? oder Tom Waits plus zwei schläfrige Bierdümpfel an Pump Organ und Singender Säge? Zu wievielt, hieß es, haben Hille und Kollegen das eingespielt…? — Und woher und von wem sind eigentlich die ganzen anderen nötigen Übersetzungen?

Ich veröffentliche meine Versuche nach einer angemessen Zeitspanne, weil weder Hille sie verwendet noch Sony sie bezahlt hat, und da inzwischen wohl auch nichts mehr nachkommt.

Bilder: Cover In Darkness Let Me Dwell, 2010;
John Donne, ca 1595;
I Heard the Mermaids Singing, 2008.

Soundtrack: ibidem, a. a. O.:

Written by Wolf

15. Juni 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Ehestand & Buhlschaft, Renaissance

Sie werden stets die Menschheit quälen: – der Teufel selber holt sie nicht

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Update zu Was denn sonst, bei diesem Sauwetter
und Gefühl kann man zu Markt nicht bringen, doch Manuskripte jederzeit:

Das ist nun von jenem Heinrich Hoffmann mit dem Struwwelpeter. Die schwarze Pädagogik hält er offensichtlich seit seinem berüchtigten Kinderbuch 1844 durch, aber in der Ballade aus seinen Humoristischen Studien, die aus siebenzeiligen Strophen besteht, muss man sich nicht so um das Seelenheil einer kindlichen Zielgruppe sorgen.

Die Strophenform mit Schema ABABCCB, das sinnvoll begründet vom einem Sonett unterbrochen wird, rettet das Werk vor dem Ruch der Büttenrede.

Moderne Wiedergaben unterschlagen gern die dritte Strophe mit der Anrede an die Muttersprache.

Jacobus de Teramo, Der Teufel Belial am Tor zur Hölle, 1473

——— Heinrich Hoffmann:

Wie der Teufel den Schwanz verlor

aus: Humoristische Studien, Literarische Anstalt J. Rütten, Frankfurt am Main 1847, Seite 307 bis 320:

Der Teufel hat den Schwanz verloren,
       Er sitzt beschämt daheim und klagt.
So hört mir zu, spitzt eure Ohren!
       Die Mähr‘ sei nicht umsonst gesagt.
Vor allen euch, Poeten, gilt es;
Bedient euch gleichen Schirms und Schildes,
       Wenn euch einmal der Teufel plagt!

Im Schweiß des Angesichts, des blassen,
       Saß einst ein Dichterling und schrieb,
Indeß der Schnee, toll ausgelassen,
       Sich um die matten Scheiben trieb.
Doch heute ging es nicht, das Reimen,
Trotz zwängen, flicken, biegen, leimen,
       Wie er die Stirn‘ auch glühend rieb.

Du gute, deutsche Muttersprache,
       Was bist du ein gesundes Weib!
Wie hat mit Folter man und Plage
       Zerschunden dir den schönen Leib!
Und doch voll Kraft die jungen Glieder!
Wann kommt dein Simson, daß er wieder
       Zu Paaren die Philister treib‘!

Verzweifelnd nagte an dem Kiele
       Der Dichter, plötzlich sprang er auf:
„Zum Teufel mit dem dummen Spiele!
       Zu was die Waare, wo kein Kauf?
Die ganze Welt hab‘ ich besungen,
Durch Eis und Wüsten mich gerungen;
       Zu Bergen steigt der Hefte Hauf.“

„Allein die Menschheit liegt im Argen;
       Die Mode gilt bei Buch und Frack.
Den Lorbeerkranz, den dürren, kargen,
       Man wirft ihn weg an Lumpenpack.
Indeß sie meinen glühend heißen
Gesängen kalt den Rücken weisen,
       Herrscht allwärts dummer Ungeschmack.“

„Was ich euch biet‘, ist lauter Honig;
       Ihr lauft, als wär‘ es saurer Wein!
Wie in dem Pestspitale wohn‘ ich
       Mit meinen Versen hier allein.
Verdammtes Recensentenwesen!
Hielt Jemand mir nur aus beim Lesen,
       Und sollt’s der Teufel selber sein!“

Kaum hat er dieses Wort gesprochen,
       So hört er Schritte auf der Flur,
Dann an der Thür ein leises Pochen.
       „Ach, war‘ es ein Verleger nur!
Herein! Herein!“ – O Graus und Schrecken!
Er sieht sich durch die Thüre strecken
       Des Satan’s höllische Figur.

Mit Horn und Schwanz und Pferdefüßen
       Der Teufel, wie er leibt und lebt,
Nach wechselseitigem Begrüßen
       Nun also an zu sprechen hebt:
„Ich hörte Euer Wohlgeboren
Hier oben schimpfen und rumoren,
       Daß mir das Herz im Leib gebebt.“

„Drum nahm ich mir heraufzukommen
       Die Freiheit, und bin gern bereit
Nach Eurem Wunsch, den ich vernommen,
       Euch zuzuhören ein’ge Zeit.
Ist gleich das Publikum ein kleines,
So ist’s geduldig doch wie eines
       Nur irgend ringsum weit und breit.“

„Ei, seid willkommen mir, Verehrter!“
       Rief lauten Jubels der Poet.
„Ich will Euch lesen, Hochgelehrter,
       Mit tausend Freuden, wie Ihr seht.
Hier ist ein Stuhl; kommt, laßt Euch nieder!
Roman, Novelle, Drama, Lieder,
       Sagt, was Euch zu Befehle steht!“

„Gemach! Zu was so stürmisch eilen?“
       Spricht jener: „Glaubt’s ich bleibe hier!
Doch gebt zuvor mir ein paar Zeilen;
       So ist’s bei uns Geschäftsmanier.
Ich schüre unterdes das Feuer;
Mich friert’s hier oben ungeheuer.
       Ich bin verwöhnt; verzeiht es mir!“

„Erlaubt, daß ich Euch gleich bediene;
       Die Kleinigkeit ist flugs gemacht.“
Indeß er schreibt, hat im Kamine
       Der Teufel ’s Feuer angefacht;
Und kaum war er damit zu Ende,
So hat der Dichter schon behende
       Ein zierlich Blatt ihm dargebracht.

„Den Reim, den ich hier schreibe, sei’s mein letzter,
Den möcht‘ ich recht mit Gift und Galle tränken,
Dich feiles Publikum damit zu kränken,
Ich ein Poet, ein schnöd zurückgesetzter.

Stumpf ist dein Sinn, ein schmählich ungewetzter;
Blind ist dein Aug‘, ja blind den plumpsten Ränken.
Den Tagesaffen magst du dich verschenken,
Ich mag dich nicht, ich ein gehetzt zerfetzter.

Weltmüde bin ich längst ja schon gewesen;
So will ich denn dem Teufel mich verschreiben;
Dem Publikum ruf ich noch: Gott befohlen!

Doch muß der Teufel ruhig sitzen bleiben,
Bis ich ein einzig Trauerspiel gelesen;
Dann kann er mich und meine Verse holen!“

Dem Teufel schien dieß sehr zu munden,
       Und schmunzelnd sprach er, lustverklärt:
„Ein jeder hat für freie Stunden
       Noch so ein Lieblingssteckenpferd.
Ich nun, ich sammle Autographen.
Welch Glück, daß wir zusammentrafen!
       Dieß Blättchen ist mir vieles wert.

Doch jetzt genug, mein lieber Dichter;
       Der Worte sind schon viel zu viel!
Seit lang war ich auf nichts erpichter
       Als heut‘ auf Euer Trauerspiel.“
Er rückt zwei Sessel mit Behagen,
Und jenen scheint ein Blick zu fragen,
       Ob Platz zu nehmen ihm gefiel.

Der Satan setzt sich. – Armer Satan!
       Der Handel da gefällt mir nicht.
Ein kluger Mann hört klugen Rath an,
       Eh‘ er in Händel sich verflicht. –
Der Dichter aber schließt die Thüre,
Damit ihn heut bei der Lectüre
       Kein Unberuf’ner unterbricht.

Der Dichter setzt sich, liest den Namen,
       Sodann ein langes Personal.
Was da für Leut‘ zusammenkamen!
       Raubmörder, Gauner sonder Zahl,
Buhldirnen, Heuchler, Henkersknechte,
Giftmischer, Pfaffen, geile schlechte,
       Und and’re Schufte nach der Wahl.

Dem Teufel läuft’s ob dieser Horde
       Wie Eiseskälte durch die Haut.
Er brummt halb ärgerlich die Worte:
       „Ich glaube, alter Narr, dir graut!
Was hat der Gimpel denn gelesen,
Als ein Register solcher Wesen,
       Wie täglich sie die Hölle schaut?“

Der erste Akt schien noch erträglich;
       Der Teufel denkt: „Bald bin ich quitt!“
Im zweiten aber war’s schon kläglich,
       Was da er für Gesichter schnitt!
Ihr saht wohl Einen schon sich zwingen,
Zu grobe Bissen zu verschlingen;
       So war es, wie der Aermste litt.

Im dritten Akte ward’s noch schlimmer,
       Dem Teufel selbst verging der Spaß.
Es häuften Greu’l auf Greu’l sich immer;
       Ihm wurde weh, er wurde blaß.
Verstopft hätt‘ er sich gern die Ohren;
Der Angstschweiß brach aus allen Poren;
       Bleich saß er, zitternd da und naß.

Der Dichter liest mit neuem Feuer
       Den vierten Akt, er glüht und schnaubt.
Des Teufels Angst wird ungeheuer,
       Er springt empor, ihm brennt das Haupt,
Er hält den Leib, er dehnt die Glieder,
Geht händeringend auf und nieder,
       Er wimmert laut, des Sinns beraubt.

Der fünfte Akt! – Nun gilt’s sich retten!
       Er muß in’s Freie, schnappt nach Luft;
Und läg‘ er zehnfach auch an Ketten,
       Er muß aus dieser Todtengruft.
Die Thüre, ach! ist fest verschlossen;
Der Teufel hat sich rasch entschlossen.
       „Hör‘ auf mit deinem Lesen, Schuft!“

„Verdammter Unsinn! Pfui! Abscheulich!
       Die Hölle dankt für solchen Gast!“
Und zum Kamine springt er eilig,
       Er klettert aufwärts voller Hast;
Doch wie er eben will verschwinden,
Hat ihn der Dichter rasch von hinten,
       Zu rechter Zeit am Schwanz erfaßt.

„Halt Satan! Schurke, trugerfüllter!“
       Schreit laut der Dichter, „halte Wort!“ –
Der Teufel zappelt, wüthend brüllt er
       Im engen Rauchfang: Feuer! Mord!
Er muß es sich gefallen lassen;
Der Dichter weiß ihn gut zu fassen,
       Und liest mit Pathos weiter fort.

Dem Teufel blutet Kopf und Seite.
       Da reißt das unglücksel’ge Band,
Und wimmernd sucht er rasch das Weite,
       Doch mit dem Schweife in der Hand
Steht der Poet und mit dem Buche.
Erzürnt mit einem derben Fluche
       Wirft Schwanz und Heft er an die Wand. –

Als Christen hör‘ ich euch nun fragen
       Nach der Moral in dem Gedicht.
Nun seht! Es giebt auf Erden Plagen,
       Die dauern, bis die Welt zerbricht.
Viel‘ Dichter sind dahin zu zählen;
Sie werden stets die Menschheit quälen: –
       Der Teufel selber holt sie nicht.

Matthias Gerung, Der Klerus schlemmt im Rachen eines Teufels, ca. 1536

Bilder: Jacobus de Teramo: Der Teufel Belial am Tor zur Hölle, aus: Das Buch Belial, Augsburg 1473,
via Danse Macabre, 7. Januar 2014;
Matthias Gerung, Zuschreibung: Der Klerus schlemmt im Rachen eines Teufels, Satire auf den Ablaß, Holzschnitt vor 1536.

Soundtrack: Elvis Presley: (You’re the) Devil in Disguise, 1963:

Written by Wolf

9. Juni 2023 at 00:01

Blumenstück 011: Er ward wie ein Sieb, ohne Außen und Innen

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Update zu And such a life I wish to live,
Du warst den Meeren mitternachts entstiegen
und Psalmen gottverbrämter Bücher:

Unterschätzte Fränkinnen und Franken; heute: Maria Luise Weissmann: Gebürtig 1899 aus Schweinfurt wie Friedrich Rückert, zehnjährig mit dem professoralen Vater nach Hof und während des Weltkriegs nach Nürnberg versetzt, dort Sekretärin des Nürnberger Literarischen Bundes und Teil der literaturrevolutionären Vereinigung Das Junge Franken, ab 1919 in München Buchhändlerin in der neugegründeten Bücherkiste, 1929 mit zarten 30 Sommern schon wieder an Angina gestorben, seitdem idyllisches Fleckchen auf dem Müncher Waldfriedhof.

Ihre Veröffentlichungen sind typischerweise schmale Lyriksammlungen in bibliophilen Kleinauflagen. Erst drei Jahre nach ihrem Tod geriet Der Einsiedler überhaupt ans Licht einer potenziellen Öffentlichkeit: rilkewürdig und wunderschön.

Carl Spitzweg, Der Einsiedler vor seiner Klause, 1844

——— Maria Luise Weissmann:

Der Einsiedler

entstanden 1922–1929,
Erstdruck in: Gesammelte Dichtungen, Heinrich F. S. Bachmair, Pasing bei München 1932,
in: Imago. Ausgewählte Dichtungen, 1946:

Er hatte seit Jahren nicht mehr gesät;
verstreut noch reifte ihm das Getreide,
zuletzt ließ er den Hafer ungemäht.
Sein Pferd verlor sich auf der Weide.

Er brach eine Zeit noch Beeren vom Ast,
als müsste er einen Hunger stillen,
dann vergaß er auch diese letzte Last,
um seiner tieferen Ruhe willen.

Er saß vor der Hütte bei Tag und Nacht,
die Hütte verfiel in Wind und Regen,
allmählich wuchsen die Gräser sacht
seinen Füßen und Knien entgegen

und wuchsen langsam durch seine Hand.
Er ward wie ein Sieb, ohne Außen und Innen.
Gleichmäßig und ganz ohne Widerstand
konnten die Jahre durch ihn rinnen.

Carl Spitzweg, Strickender Einsiedler, ca. 1865 bis 1875

Bilder: Carl Spitzweg: Der Einsiedler vor seiner Klause, 1844, Öl auf Leinwand, 30,5 auf 34,5 cm;
Strickender Einsiedler, ca. 1865–1875, Öl auf Karton, 18 auf 23 cm.

Soundtrack: Samuel Barber: Hermit Songs, 1953,
Aufnahme 1954 mit Samuel Barber höchstselbst am Klavier; Sopran: Leontyne Price:

Written by Wolf

2. Juni 2023 at 00:01

Die Welt ist rund. Was nützt es am End‘, zu schaukeln auf müßiger Welle!

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Update zu Before Frühstück:

Anahita Zarineh Paul, 31. Juli 2011

Auf Dagobert Duck hab ich schon immer gehört. In der Geschichte vom fliegenden Teppich, i. e. Rug Riders in the Sky, 26. Dezember 1963, die ich aus eigenem Bestand nur in der Melzer-Übersetzung zitieren kann, findet sich seine luzide Beobachtung, die er zu dem Teppich sagt, der immer nur nach Osten fliegen will:

Egal … Wenn du lange genug nach Osten fliegst, kommst du nach Westen.

Anahita Zarineh Paul, 31. Juli 2011

Eine Einsicht, die er mit E. T. A. Hoffmann in einer Parodie, die ich seit Jahren wiederzufinden suche, und Heinrich Heine teilt. Onkel Dagobert, wie wir ihn von ferne familiär anreden dürfen, hat es am nüchternsten in der gedrängtesten Form gesagt. Heine dafür zweimal in verschiedener Form.

Anahita Zarineh Paul, 31. Juli 2011

——— Heinrich Heine:

Unsere Marine.

Nautisches Gedicht

in: Zeitgedichte, Mai 1844:

Wir träumten von einer Flotte jüngst,
Und segelten schon vergnüglich
Hinaus aufs balkenlose Meer,
Der Wind war ganz vorzüglich.

Wir hatten unsern Fregatten schon
Die stolzesten Namen gegeben,
Prutz hieß die eine, die andre hieß
Hoffmann von Fallersleben.

Da schwamm der Kutter Freiligrath,
Darauf als Puppe die Büste
Des Mohrenkönigs, die wie ein Mond
(Versteht sich ein schwarzer) grüßte.

Da kamen geschwommen ein Gustav Schwab,
Ein Pfizer, ein Kölle, ein Mayer;
Auf jedem stand ein Schwabengesicht
Mit einer hölzernen Leier.

Da schwamm die Birch-Pfeiffer, eine Brigg,
Sie trug am Fockmast das Wappen
Der deutschen Admiralität
Auf schwarzrotgoldnem Lappen.

Wir kletterten keck an Bugspriet und Rahn
Und trugen uns wie Matrosen,
Die Jacke kurz, der Hut beteert,
Und weite Schifferhosen.

Gar mancher, der früher nur Tee genoß
Als wohlerzogener Eh’mann,
Der soff jetzt Rum und kaute Tabak,
Und fluchte wie ein Seemann.

Seekrank ist mancher geworden sogar,
Und auf dem Fallersleben,
Dem alten Brander, hat mancher sich
Gemütlich übergeben.

Wir träumten so schön, wir hatten fast
Schon eine Seeschlacht gewonnen –
Doch als die Morgensonne kam,
Ist Traum und Flotte zerronnen.

Wir lagen noch immer im heimischen Bett
Mit ausgestreckten Knochen.
Wir rieben uns aus den Augen den Schlaf,
Und haben gähnend gesprochen:

„Die Welt ist rund. Was nützt es am End‘,
Zu schaukeln auf müßiger Welle!
Der Weltumsegler kommt zuletzt
Zurück auf dieselbe Stelle.“

Anahita Zarineh Paul, 31. Juli 2011

Weltumseglerinnenbilder: Anahita Zarineh Paul: 1; 2; 3; 4, 31. Juli 2011.

Soundtrack: The Stranglers: Always The Sun, aus: Dreamtime, 1986.
Hab ich immer fast so gemocht wie den Onkel Dagobert:

Written by Wolf

26. Mai 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Junges Deutschland, Land & See

Schlummernde Mieze, drawn from life, 1s 6d

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Update zu I should be stronger than weeping alone
(und mit pragmatischen Messingdrähten zum Skelett zusammengeworfelt)
,
Und ich singe was ich fühle,
Im Bewusstsein seines Wertes sitzt der Kater auf dem Dach
und Hier liegt ein Kater der schönsten Art:

Bleiben wir vorerst bei der Kernkompetenz des Internets: Katzenbilder.

Ein Prachtexemplar erblicken wir in George Baxter: Puss Napping, 1856, Druck nach dem Baxter Process auf Papier, 109 auf 153 Millimeter, was annähernd DIN A6, der Postkartengröße entspricht.

George Baxter, Puss Napping, 1856, British Museum

Dargestellt ist eine sitzend schlafende, tabby-farbene Katze, vermutlich der Rasse Britisch oder Europäisch Kurzhaar, nach einer späteren Beschreibung nach einem lebenden Modell gemalt – was im Falle der Katze glaubwürdig erscheint, aber schon weniger im Falle der sechs Mäuse, die sie in vorsichtiger Neugier betrachten.

Der Maler George Baxter firmiert nicht als Maler, sondern als Drucker, und wird nach manchen Definitionen als Erfinder des modernen Farbdrucks gefeiert. Gebürtig 1804, meldete Baxter 1835, also 31-jährig, das Patent für den Baxter Process an: der Sammelausdruck für mehrere verschiedene Tiefdruckverfahren, bei denen mehrere meist holzgeschnitzte Blöcke Farbe auf eine Hauptplatte aufbringen.

Laut seinem Biographen Courtney Lewis verwendete Baxter für Puss Napping vier Zinkblöcke – also ein minder aufwändiger Druck. Baxter verkaufte das Bild am 21. Januar 1856 für 1 Shilling und Sixpence, nach der Kaufkraft des vorletzten Jahrhunderts geschätzt eher der Preis für ein Stück reproduzierbaren Kunsthandwerks denn für ein Kunstwerk im engeren Sinne.

Erst in einem Kunstkatalog von 1860 wurde es als „nach dem Leben gezeichnet“ beschrieben. Der verwendete Block wurde ebenfalls 1860 bei Southgate and Barrett versteigert. Die Druckplatten erschienen in den Wiederverkaufslisten von Baxter, Vincent Brooks, Vincent Brooks, Day & Son sowie Le Blond. Letzterer verwendete den Block weiter; die so entstandenen Drucke sind nicht mehr von Baxter signiert.

1936 wurde das Exemplar vom Britischen Museum erworben, müsste also nach allen erhältlichen Beschreibungen recto signiert sein. Derzeit wird es nicht ausgestellt.

Bild: a. a. O., via Victorians, Vile Victorians, 24. Juni 2021.

Soundtrack: Harry S. Miller: The Cat Came Back, 1893 in der Version der allezeit herzwärmenden (und bekennend lesbischen) Anna Roberts-Gevalt und Joe DeJarnette live zu Hause in Baltimore, 2010:

Written by Wolf

19. Mai 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Das Tier & wir, Romantik

Die pelzige Squaw mit der Eisernen Jungfrau

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Update zu Gespräch mit einem frischerstandenen Vampyren (was niemand hören wollte),
The clock may stop, the hand be broken, then Time be finished unto me!
und Unvorworm is alderbest:

Desillusionierend genug, dass der verbreitete Gebrauch Eiserner Jungfrauen weitgehend als blutrünstig romantisierend widerlegt ist: Beweisstück A, B, C, D. Beweisstück E, dass sicher keine Folterknechte ihre frisch exekutierten Delinquenten aus einer Eisernen Jungfrau durch Öffnen der Vorderhälfte in den Burggraben plumpsen ließen: 1.) hat der Nürnberger Burggraeben nie Wasser geführt, und wenn 2.) doch oder wenn 3.) auch nicht, wozu hätten Folterknechte und sonstige Verantwortliche für Burghygiene frisch oder – schlimmer – vor längerem exekutierte Leichen darin wissen wollen?

Wie fest ich daran geglaubt habe – aber im Mittelalterverein hat man nur was über Kalligraphie, Nadelbinden, Brettchenweben und Wie man eyn teutsches Mannsbild bey Kräfften hält gelernt. Das konnte nur von einer Katzengeschichte aus geschehen, die mich als Welpe zu einer Phase der Vampirromantik um den Dracula-Roman weitergereicht hat. Die Jungfrauen sind allesamt Nachbildungen des schwarzromantischen 19. Jahrhunderts, wie die ganzen schon als Ruine konzipierten Burgruinen auch.

Die besten klassischen und modernen Katzengeschichten, Diogenes 1973, CoverSoweit ich mich an Die Squaw von Bram Stoker erinnere, war die in der Stadtbücherei meiner Kindheit im Diogenes-Sampler Die besten klassischen und modernen Katzengeschichten – von denen es auch Ausprägungen in Hund und Pferd gab –, und die Jungfrau war wohl mal auf der Burg.

Die Stokersche Squaw stammt von 1893, aber man weiß nicht, auf welcher Erinnerung beruhend, denn:

Bram Stoker war nie in Siebenbürgen, dafür nachweislich zweimal in Nürnberg, 1885 und 1893.

wie Michael Kroner von der Siebenbürgischen Zeitung, 1. Mai 2003 weiß – und an gleicher Stelle, dass die Nürnbergische Folterei einst im Fünfeckturm stattfand, bevor er erst ein ein beliebter Kinder- und Jugendtreff und danach aus Brandschutzgründen geschlossen wurde.

Also neben dem Bahnhof im Germanischen findet sich schon mal nix, sondern dou moumä zum Haubdmargd nunder und widder en Burchberch nauf (ortsübliche Mundart). Nachdem man da droben rezenterweise einen Tiefen Brunnen, in dem wie überall woanders auch der Kaiser Barbarossa dauerschlafen soll, eine Jugendherberge und den gleichzeitig höchsten, niedrigsten, dicksten und dünnsten Turm der Stadt und dann noch besagten fünfeckigen kennt, aber keine Folterkammer, hätte man die alte junge Dame am ehesten in den Lochgefängnissen vermutet, also gor ned am Burchberch drom, sondern glei newerm Haubdmargd, wo immerhin einiges Foltergerät herumrostet. Ist da aber nicht. Aus der New York Times vom 26. November 1893 – FAMOUS TORTURE INSTRUMENTS.; The Earl of Shrewsbury’s Collection Soon to be exhibited Hero – weiß man heute: Die Jungfrau „wurde möglicherweise bereits 1802 ausgestellt. Das Original ging 1945 bei den alliierten Luftangriffen auf Nürnberg verloren.“

Jaja, möglicherweise, gell. Zur Belustigung elendsbewusster Touristen und ausfliegender Schulklassen steht immerhin eine 1890er Kopie davon — die möglicherweise Bram Stoker spätestens auf seiner zweiten Nürnbergreise 1893 zu Gesichte bekommen haben kann — nach einiger Weltreise im Rothenburger Kriminalmuseum. Das läge immer noch unweit Nürnbergs im unterschätzten Regierungsbezirk Mittelfranken, hätte aber einem Jahrgang nach dem andern die Schulausflüge mit interdisziplinärer Literaturauslegung versaut.

Auffallend bleibt bei Stoker, dass Nürnberg nicht Nuremberg, sondern Nurnberg heißt, und die Burg kein castle, sondern the Burg ist. Der Irving, der dort um 1893 den Faust hätte spielen sollen, ist vermutlich die viktorianische Shakespeare-Kapazität Henry Irving. – Es folgt der Volltext der Fiktion auf gleich zwei Ebenen:

Nürnberg, Stadtansicht ca. 1902

——— Bram Stoker:

The Squaw

in: Holly Leaves: The Christmas Number, aus: The Illustrated Sporting and Dramatic News, 2. Dezember 1893,
gesammelt in: Dracula’s Guest and Other Weird Stories, George Routledge & Sons, Ltd., London 1914:

Nurnberg at the time was not so much exploited as it has been since then. Irving had not been playing Faust, and the very name of the old town was hardly known to the great bulk of the travelling public. My wife and I being in the second week of our honeymoon, naturally wanted someone else to join our party, so that when the cheery stranger, Elias P. Hutcheson, hailing from Isthmian City, Bleeding Gulch, Maple Tree County, Neb. turned up at the station at Frankfort, and casually remarked that he was going on to see the most all-fired old Methuselah of a town in Yurrup, and that he guessed that so much travelling alone was enough to send an intelligent, active citizen into the melancholy ward of a daft house, we took the pretty broad hint and suggested that we should join forces. We found, on comparing notes afterwards, that we had each intended to speak with some diffidence or hesitation so as not to appear too eager, such not being a good compliment to the success of our married life; but the effect was entirely marred by our both beginning to speak at the same instant—stopping simultaneously and then going on together again. Anyhow, no matter how, it was done; and Elias P. Hutcheson became one of our party. Straightway Amelia and I found the pleasant benefit; instead of quarrelling, as we had been doing, we found that the restraining influence of a third party was such that we now took every opportunity of spooning in odd corners. Amelia declares that ever since she has, as the result of that experience, advised all her friends to take a friend on the honeymoon. Well, we “did” Nurnberg together, and much enjoyed the racy remarks of our Transatlantic friend, who, from his quaint speech and his wonderful stock of adventures, might have stepped out of a novel. We kept for the last object of interest in the city to be visited the Burg, and on the day appointed for the visit strolled round the outer wall of the city by the eastern side.

Pot Pourri, Nürberg, Fünfeckiger Turm mit Folterkammer, Postkarte 1917The Burg is seated on a rock dominating the town and an immensely deep fosse guards it on the northern side. Nurnberg has been happy in that it was never sacked; had it been it would certainly not be so spick and span perfect as it is at present. The ditch has not been used for centuries, and now its base is spread with tea-gardens and orchards, of which some of the trees are of quite respectable growth. As we wandered round the wall, dawdling in the hot July sunshine, we often paused to admire the views spread before us, and in especial the great plain covered with towns and villages and bounded with a blue line of hills, like a landscape of Claude Lorraine. From this we always turned with new delight to the city itself, with its myriad of quaint old gables and acre-wide red roofs dotted with dormer windows, tier upon tier. A little to our right rose the towers of the Burg, and nearer still, standing grim, the Torture Tower, which was, and is, perhaps, the most interesting place in the city. For centuries the tradition of the Iron Virgin of Nurnberg has been handed down as an instance of the horrors of cruelty of which man is capable; we had long looked forward to seeing it; and here at last was its home.

In one of our pauses we leaned over the wall of the moat and looked down. The garden seemed quite fifty or sixty feet below us, and the sun pouring into it with an intense, moveless heat like that of an oven. Beyond rose the grey, grim wall seemingly of endless height, and losing itself right and left in the angles of bastion and counterscarp. Trees and bushes crowned the wall, and above again towered the lofty houses on whose massive beauty Time has only set the hand of approval. The sun was hot and we were lazy; time was our own, and we lingered, leaning on the wall. Just below us was a pretty sight—a great black cat lying stretched in the sun, whilst round her gambolled prettily a tiny black kitten. The mother would wave her tail for the kitten to play with, or would raise her feet and push away the little one as an encouragement to further play. They were just at the foot of the wall, and Elias P. Hutcheson, in order to help the play, stooped and took from the walk a moderate sized pebble.

“See!” he said, “I will drop it near the kitten, and they will both wonder where it came from.”

“Oh, be careful,” said my wife; “you might hit the dear little thing!”

“Not me, ma’am,” said Elias P. “Why, I’m as tender as a Maine cherry-tree. Lor, bless ye. I wouldn’t hurt the poor pooty little critter more’n I’d scalp a baby. An’ you may bet your variegated socks on that! See, I’ll drop it fur away on the outside so’s not to go near her!” Thus saying, he leaned over and held his arm out at full length and dropped the stone. It may be that there is some attractive force which draws lesser matters to greater; or more probably that the wall was not plump but sloped to its base—we not noticing the inclination from above; but the stone fell with a sickening thud that came up to us through the hot air, right on the kitten’s head, and shattered out its little brains then and there. The black cat cast a swift upward glance, and we saw her eyes like green fire fixed an instant on Elias P. Hutcheson; and then her attention was given to the kitten, which lay still with just a quiver of her tiny limbs, whilst a thin red stream trickled from a gaping wound. With a muffled cry, such as a human being might give, she bent over the kitten licking its wounds and moaning. Suddenly she seemed to realise that it was dead, and again threw her eyes up at us. I shall never forget the sight, for she looked the perfect incarnation of hate. Her green eyes blazed with lurid fire, and the white, sharp teeth seemed to almost shine through the blood which dabbled her mouth and whiskers. She gnashed her teeth, and her claws stood out stark and at full length on every paw. Then she made a wild rush up the wall as if to reach us, but when the momentum ended fell back, and further added to her horrible appearance for she fell on the kitten, and rose with her black fur smeared with its brains and blood. Amelia turned quite faint, and I had to lift her back from the wall. There was a seat close by in shade of a spreading plane-tree, and here I placed her whilst she composed herself. Then I went back to Hutcheson, who stood without moving, looking down on the angry cat below.

As I joined him, he said:

“Wall, I guess that air the savagest beast I ever see—’cept once when an Apache squaw had an edge on a half-breed what they nicknamed ‘Splinters’ “cos of the way he fixed up her papoose which he stole on a raid just to show that he appreciated the way they had given his mother the fire torture. She got that kinder look so set on her face that it jest seemed to grow there. She followed Splinters mor’n three year till at last the braves got him and handed him over to her. They did say that no man, white or Injun, had ever been so long a-dying under the tortures of the Apaches. The only time I ever see her smile was when I wiped her out. I kem on the camp just in time to see Splinters pass in his checks, and he wasn’t sorry to go either. He was a hard citizen, and though I never could shake with him after that papoose business—for it was bitter bad, and he should have been a white man, for he looked like one—I see he had got paid out in full. Durn me, but I took a piece of his hide from one of his skinnin’ posts an’ had it made into a pocket-book. It’s here now!” and he slapped the breast pocket of his coat.

Whilst he was speaking the cat was continuing her frantic efforts to get up the wall. She would take a run back and then charge up, sometimes reaching an incredible height. She did not seem to mind the heavy fall which she got each time but started with renewed vigour; and at every tumble her appearance became more horrible. Hutcheson was a kind-hearted man—my wife and I had both noticed little acts of kindness to animals as well as to persons—and he seemed concerned at the state of fury to which the cat had wrought herself.

“Wall, now!” he said, “I du declare that that poor critter seems quite desperate. There! there! poor thing, it was all an accident—though that won’t bring back your little one to you. Say! I wouldn’t have had such a thing happen for a thousand! Just shows what a clumsy fool of a man can do when he tries to play! Seems I’m too darned slipperhanded to even play with a cat. Say Colonel!” it was a pleasant way he had to bestow titles freely—“I hope your wife don’t hold no grudge against me on account of this unpleasantness? Why, I wouldn’t have had it occur on no account.”

He came over to Amelia and apologised profusely, and she with her usual kindness of heart hastened to assure him that she quite understood that it was an accident. Then we all went again to the wall and looked over.

The cat missing Hutcheson’s face had drawn back across the moat, and was sitting on her haunches as though ready to spring. Indeed, the very instant she saw him she did spring, and with a blind unreasoning fury, which would have been grotesque, only that it was so frightfully real. She did not try to run up the wall, but simply launched herself at him as though hate and fury could lend her wings to pass straight through the great distance between them. Amelia, womanlike, got quite concerned, and said to Elias P. in a warning voice:

“Oh! you must be very careful. That animal would try to kill you if she were here; her eyes look like positive murder.”

He laughed out jovially. “Excuse me, ma’am,” he said, “but I can’t help laughin’. Fancy a man that has fought grizzlies an’ Injuns bein’ careful of bein’ murdered by a cat!”

When the cat heard him laugh, her whole demeanour seemed to change. She no longer tried to jump or run up the wall, but went quietly over, and sitting again beside the dead kitten began to lick and fondle it as though it were alive.

“See!” said I, “the effect of a really strong man. Even that animal in the midst of her fury recognises the voice of a master, and bows to him!”

“Like a squaw!” was the only comment of Elias P. Hutcheson, as we moved on our way round the city fosse. Every now and then we looked over the wall and each time saw the cat following us. At first she had kept going back to the dead kitten, and then as the distance grew greater took it in her mouth and so followed. After a while, however, she abandoned this, for we saw her following all alone; she had evidently hidden the body somewhere. Amelia’s alarm grew at the cat’s persistence, and more than once she repeated her warning; but the American always laughed with amusement, till finally, seeing that she was beginning to be worried, he said:

“I say, ma’am, you needn’t be skeered over that cat. I go heeled, I du!” Here he slapped his pistol pocket at the back of his lumbar region. “Why sooner’n have you worried, I’ll shoot the critter, right here, an’ risk the police interferin’ with a citizen of the United States for carryin’ arms contrairy to reg’lations!” As he spoke he looked over the wall, but the cat on seeing him, retreated, with a growl, into a bed of tall flowers, and was hidden. He went on: “Blest if that ar critter ain’t got more sense of what’s good for her than most Christians. I guess we’ve seen the last of her! You bet, she’ll go back now to that busted kitten and have a private funeral of it, all to herself!”

Amelia did not like to say more, lest he might, in mistaken kindness to her, fulfil his threat of shooting the cat: and so we went on and crossed the little wooden bridge leading to the gateway whence ran the steep paved roadway between the Burg and the pentagonal Torture Tower. As we crossed the bridge we saw the cat again down below us. When she saw us her fury seemed to return, and she made frantic efforts to get up the steep wall. Hutcheson laughed as he looked down at her, and said:

“Goodbye, old girl. Sorry I injured your feelin’s, but you’ll get over it in time! So long!” And then we passed through the long, dim archway and came to the gate of the Burg.

When we came out again after our survey of this most beautiful old place which not even the well-intentioned efforts of the Gothic restorers of forty years ago have been able to spoil—though their restoration was then glaring white—we seemed to have quite forgotten the unpleasant episode of the morning. The old lime tree with its great trunk gnarled with the passing of nearly nine centuries, the deep well cut through the heart of the rock by those captives of old, and the lovely view from the city wall whence we heard, spread over almost a full quarter of an hour, the multitudinous chimes of the city, had all helped to wipe out from our minds the incident of the slain kitten.

We were the only visitors who had entered the Torture Tower that morning—so at least said the old custodian—and as we had the place all to ourselves were able to make a minute and more satisfactory survey than would have otherwise been possible. The custodian, looking to us as the sole source of his gains for the day, was willing to meet our wishes in any way. The Torture Tower is truly a grim place, even now when many thousands of visitors have sent a stream of life, and the joy that follows life, into the place; but at the time I mention it wore its grimmest and most gruesome aspect. The dust of ages seemed to have settled on it, and the darkness and the horror of its memories seem to have become sentient in a way that would have satisfied the Pantheistic souls of Philo or Spinoza. The lower chamber where we entered was seemingly, in its normal state, filled with incarnate darkness; even the hot sunlight streaming in through the door seemed to be lost in the vast thickness of the walls, and only showed the masonry rough as when the builder’s scaffolding had come down, but coated with dust and marked here and there with patches of dark stain which, if walls could speak, could have given their own dread memories of fear and pain. We were glad to pass up the dusty wooden staircase, the custodian leaving the outer door open to light us somewhat on our way; for to our eyes the one long-wick’d, evil-smelling candle stuck in a sconce on the wall gave an inadequate light. When we came up through the open trap in the corner of the chamber overhead, Amelia held on to me so tightly that I could actually feel her heart beat. I must say for my own part that I was not surprised at her fear, for this room was even more gruesome than that below. Here there was certainly more light, but only just sufficient to realise the horrible surroundings of the place. The builders of the tower had evidently intended that only they who should gain the top should have any of the joys of light and prospect. There, as we had noticed from below, were ranges of windows, albeit of mediaeval smallness, but elsewhere in the tower were only a very few narrow slits such as were habitual in places of mediaeval defence. A few of these only lit the chamber, and these so high up in the wall that from no part could the sky be seen through the thickness of the walls. In racks, and leaning in disorder against the walls, were a number of headsmen’s swords, great double-handed weapons with broad blade and keen edge. Hard by were several blocks whereon the necks of the victims had lain, with here and there deep notches where the steel had bitten through the guard of flesh and shored into the wood. Round the chamber, placed in all sorts of irregular ways, were many implements of torture which made one’s heart ache to see—chairs full of spikes which gave instant and excruciating pain; chairs and couches with dull knobs whose torture was seemingly less, but which, though slower, were equally efficacious; racks, belts, boots, gloves, collars, all made for compressing at will; steel baskets in which the head could be slowly crushed into a pulp if necessary; watchmen’s hooks with long handle and knife that cut at resistance—this a speciality of the old Nurnberg police system; and many, many other devices for man’s injury to man. Amelia grew quite pale with the horror of the things, but fortunately did not faint, for being a little overcome she sat down on a torture chair, but jumped up again with a shriek, all tendency to faint gone. We both pretended that it was the injury done to her dress by the dust of the chair, and the rusty spikes which had upset her, and Mr. Hutcheson acquiesced in accepting the explanation with a kind-hearted laugh.

Pot Pourri, Eiserne Jungfrau, Postkarte ca. 1900But the central object in the whole of this chamber of horrors was the engine known as the Iron Virgin, which stood near the centre of the room. It was a rudely-shaped figure of a woman, something of the bell order, or, to make a closer comparison, of the figure of Mrs. Noah in the children’s Ark, but without that slimness of waist and perfect rondeur of hip which marks the aesthetic type of the Noah family. One would hardly have recognised it as intended for a human figure at all had not the founder shaped on the forehead a rude semblance of a woman’s face. This machine was coated with rust without, and covered with dust; a rope was fastened to a ring in the front of the figure, about where the waist should have been, and was drawn through a pulley, fastened on the wooden pillar which sustained the flooring above. The custodian pulling this rope showed that a section of the front was hinged like a door at one side; we then saw that the engine was of considerable thickness, leaving just room enough inside for a man to be placed. The door was of equal thickness and of great weight, for it took the custodian all his strength, aided though he was by the contrivance of the pulley, to open it. This weight was partly due to the fact that the door was of manifest purpose hung so as to throw its weight downwards, so that it might shut of its own accord when the strain was released. The inside was honeycombed with rust—nay more, the rust alone that comes through time would hardly have eaten so deep into the iron walls; the rust of the cruel stains was deep indeed! It was only, however, when we came to look at the inside of the door that the diabolical intention was manifest to the full. Here were several long spikes, square and massive, broad at the base and sharp at the points, placed in such a position that when the door should close the upper ones would pierce the eyes of the victim, and the lower ones his heart and vitals. The sight was too much for poor Amelia, and this time she fainted dead off, and I had to carry her down the stairs, and place her on a bench outside till she recovered. That she felt it to the quick was afterwards shown by the fact that my eldest son bears to this day a rude birthmark on his breast, which has, by family consent, been accepted as representing the Nurnberg Virgin.

When we got back to the chamber we found Hutcheson still opposite the Iron Virgin; he had been evidently philosophising, and now gave us the benefit of his thought in the shape of a sort of exordium.

“Wall, I guess I’ve been learnin’ somethin’ here while madam has been gettin’ over her faint. “Pears to me that we’re a long way behind the times on our side of the big drink. We uster think out on the plains that the Injun could give us points in tryin’ to make a man uncomfortable; but I guess your old mediaeval law-and-order party could raise him every time. Splinters was pretty good in his bluff on the squaw, but this here young miss held a straight flush all high on him. The points of them spikes air sharp enough still, though even the edges air eaten out by what uster be on them. It’d be a good thing for our Indian section to get some specimens of this here play-toy to send round to the Reservations jest to knock the stuffin’ out of the bucks, and the squaws too, by showing them as how old civilisation lays over them at their best. Guess but I’ll get in that box a minute jest to see how it feels!”

“Oh no! no!” said Amelia. “It is too terrible!”

“Guess, ma’am, nothin’s too terrible to the explorin’ mind. I’ve been in some queer places in my time. Spent a night inside a dead horse while a prairie fire swept over me in Montana Territory—an’ another time slept inside a dead buffler when the Comanches was on the war path an’ I didn’t keer to leave my kyard on them. I’ve been two days in a caved-in tunnel in the Billy Broncho gold mine in New Mexico, an’ was one of the four shut up for three parts of a day in the caisson what slid over on her side when we was settin’ the foundations of the Buffalo Bridge. I’ve not funked an odd experience yet, an’ I don’t propose to begin now!”

We saw that he was set on the experiment, so I said: “Well, hurry up, old man, and get through it quick!”

“All right, General,” said he, “but I calculate we ain’t quite ready yet. The gentlemen, my predecessors, what stood in that thar canister, didn’t volunteer for the office—not much! And I guess there was some ornamental tyin’ up before the big stroke was made. I want to go into this thing fair and square, so I must get fixed up proper first. I dare say this old galoot can rise some string and tie me up accordin’ to sample?”

This was said interrogatively to the old custodian, but the latter, who understood the drift of his speech, though perhaps not appreciating to the full the niceties of dialect and imagery, shook his head. His protest was, however, only formal and made to be overcome. The American thrust a gold piece into his hand, saying: “Take it, pard! it’s your pot; and don’t be skeer’d. This ain’t no necktie party that you’re asked to assist in!” He produced some thin frayed rope and proceeded to bind our companion with sufficient strictness for the purpose. When the upper part of his body was bound, Hutcheson said:

“Hold on a moment, Judge. Guess I’m too heavy for you to tote into the canister. You jest let me walk in, and then you can wash up regardin’ my legs!”

Whilst speaking he had backed himself into the opening which was just enough to hold him. It was a close fit and no mistake. Amelia looked on with fear in her eyes, but she evidently did not like to say anything. Then the custodian completed his task by tying the American’s feet together so that he was now absolutely helpless and fixed in his voluntary prison. He seemed to really enjoy it, and the incipient smile which was habitual to his face blossomed into actuality as he said:

“Guess this here Eve was made out of the rib of a dwarf! There ain’t much room for a full-grown citizen of the United States to hustle. We uster make our coffins more roomier in Idaho territory. Now, Judge, you jest begin to let this door down, slow, on to me. I want to feel the same pleasure as the other jays had when those spikes began to move toward their eyes!”

“Oh no! no! no!” broke in Amelia hysterically. “It is too terrible! I can’t bear to see it!—I can’t! I can’t!” But the American was obdurate. “Say, Colonel,” said he, “why not take Madame for a little promenade? I wouldn’t hurt her feelin’s for the world; but now that I am here, havin’ kem eight thousand miles, wouldn’t it be too hard to give up the very experience I’ve been pinin’ an’ pantin’ fur? A man can’t get to feel like canned goods every time! Me and the Judge here’ll fix up this thing in no time, an’ then you’ll come back, an’ we’ll all laugh together!”

Once more the resolution that is born of curiosity triumphed, and Amelia stayed holding tight to my arm and shivering whilst the custodian began to slacken slowly inch by inch the rope that held back the iron door. Hutcheson’s face was positively radiant as his eyes followed the first movement of the spikes.

“Wall!” he said, “I guess I’ve not had enjoyment like this since I left Noo York. Bar a scrap with a French sailor at Wapping—an’ that warn’t much of a picnic neither—I’ve not had a show fur real pleasure in this dod-rotted Continent, where there ain’t no b’ars nor no Injuns, an’ wheer nary man goes heeled. Slow there, Judge! Don’t you rush this business! I want a show for my money this game—I du!”

The custodian must have had in him some of the blood of his predecessors in that ghastly tower, for he worked the engine with a deliberate and excruciating slowness which after five minutes, in which the outer edge of the door had not moved half as many inches, began to overcome Amelia. I saw her lips whiten, and felt her hold upon my arm relax. I looked around an instant for a place whereon to lay her, and when I looked at her again found that her eye had become fixed on the side of the Virgin. Following its direction I saw the black cat crouching out of sight. Her green eyes shone like danger lamps in the gloom of the place, and their colour was heightened by the blood which still smeared her coat and reddened her mouth. I cried out:

Pot Pourri, Eiserne Jungfrau, Postkarte ca. 1910“The cat! look out for the cat!” for even then she sprang out before the engine. At this moment she looked like a triumphant demon. Her eyes blazed with ferocity, her hair bristled out till she seemed twice her normal size, and her tail lashed about as does a tiger’s when the quarry is before it. Elias P. Hutcheson when he saw her was amused, and his eyes positively sparkled with fun as he said:

“Darned if the squaw hain’t got on all her war paint! Jest give her a shove off if she comes any of her tricks on me, for I’m so fixed everlastingly by the boss, that durn my skin if I can keep my eyes from her if she wants them! Easy there, Judge! don’t you slack that ar rope or I’m euchered!”

At this moment Amelia completed her faint, and I had to clutch hold of her round the waist or she would have fallen to the floor. Whilst attending to her I saw the black cat crouching for a spring, and jumped up to turn the creature out.

But at that instant, with a sort of hellish scream, she hurled herself, not as we expected at Hutcheson, but straight at the face of the custodian. Her claws seemed to be tearing wildly as one sees in the Chinese drawings of the dragon rampant, and as I looked I saw one of them light on the poor man’s eye, and actually tear through it and down his cheek, leaving a wide band of red where the blood seemed to spurt from every vein.

With a yell of sheer terror which came quicker than even his sense of pain, the man leaped back, dropping as he did so the rope which held back the iron door. I jumped for it, but was too late, for the cord ran like lightning through the pulley-block, and the heavy mass fell forward from its own weight.

As the door closed I caught a glimpse of our poor companion’s face. He seemed frozen with terror. His eyes stared with a horrible anguish as if dazed, and no sound came from his lips.

And then the spikes did their work. Happily the end was quick, for when I wrenched open the door they had pierced so deep that they had locked in the bones of the skull through which they had crushed, and actually tore him—it—out of his iron prison till, bound as he was, he fell at full length with a sickly thud upon the floor, the face turning upward as he fell.

I rushed to my wife, lifted her up and carried her out, for I feared for her very reason if she should wake from her faint to such a scene. I laid her on the bench outside and ran back. Leaning against the wooden column was the custodian moaning in pain whilst he held his reddening handkerchief to his eyes. And sitting on the head of the poor American was the cat, purring loudly as she licked the blood which trickled through the gashed socket of his eyes.

I think no one will call me cruel because I seized one of the old executioner’s swords and shore her in two as she sat.

Nürnberg, Aus der Folterkammer, ca. 1910

Bilder:

  1. Nürnberg, Stadtansicht ca. 1902;
  2. Eiserne Jungfrau, E. Nister, ca. 1900;
  3. Eiserne Jungfrau, ca. 1910;
  4. Nürnberg – Fünfeckiger Turm mit Folterkammer, Ansichtskarte 1917;
  5. Nürnberg, Aus der Folterkammer, ca. 1910,

via Pot Pourri: Bram Stoker, Nuremberg and the Iron Virgin, 5. November 2012;
Cover Die besten klassischen und modernen Katzengeschichten, Diogenes, Zürich 1973,
via TF-Versandhandel, Tirschenreuth.

Soundtrack: Iron Maiden: Iron Maiden, aus: Iron Maiden, 1980:

Won’t you come into my room, I wanna show you all my wares.
I just want to see your blood, I just want to stand and stare.
See the blood begin to flow as it falls upon the floor.
Iron Maiden can’t be faught, Iron Maiden can’t be sought.

Oh Well, wherever, wherever you are,
Iron Maiden’s gonna get you, no matter how far.
See the blood flow watching it shed up above my head.
Iron Maiden wants you for dead.

Written by Wolf

12. Mai 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Das Tier & wir, Expressionismus

Fruchtstück 0007: In meinem Leben weiß ich einen Kranken (Drum fass ich diese Menschen nicht)

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Update zu Dornenstück 0009: Die Kinder verdarben (Schauderhaft, höchst schauderhaft),
Die leichtfüßige passive Aggression der Revolution
und Psalmen gottverbrämter Bücher:

Lebenshilfe in Schweifreimen, in der die Zigaretten noch duften. Das können nur Österreicher.

——— Anton Wildgans:

Das Lächeln

Eine Frühlingsballade

14. Mai 1907:

Wie doch die Menschen sind: sie sorgen,
Was morgen werden wird und übermorgen –
Und ihre Seelen bleiben blind und arm.
An Gärten wandern sie vorbei, an Gittern,
Die von dem Drängen junger Sträucher zittern,
Und ihre Seelen füllt der ewig gleiche Harm.

Daß über Nacht ein Wunder neu geboren,
Daß aus der alten Häuser tiefen Toren
Nun wieder Kinderlaut und Kühle weht –
Und daß sich Wölkchen bilden in den Lüften
Von Zigaretten- und Orangendüften
Oder Parfum, wenn eine schöne Frau vorübergeht –

Sie fühlen dieses nicht und nicht das Neigen
Der Abende, wenn sich in langen Reigen
Müd-armes Volk die Straßen heimwärts drängt,
Sie sehen nicht, wie diese bleichen Wangen
Der jungen Mädchen vor dem Frühling bangen,
Der so viel Sehnsucht und Gefahr verhängt …

In meinem Leben weiß ich einen Kranken,
Gelähmt an Gliedern, Willen und Gedanken,
Nur seine Seele war dem Wunder heil –
Der konnte lächeln, wenn der erste Schimmer
Der Frühlingssonne in sein traurig Zimmer
Sich leise schob, ein goldner, zarter Keil.

Der konnte lächeln über jede Blüte,
Daß dieses Lächelns wundervolle Güte
Dem toten Auge flüchtig Leben gab:
Der konnte weinen über Kinderlieder
Und tiefer atmen, wenn der Duft vom Flieder
Ihn grüßen kam in seiner Kissen Grab.

Und dieses Lächeln, diese Tränen waren
So überreich an jenem Wunderbaren,
Des alle darben, die so dumpf-gesund.
Und ich hielt dieses Mannes Hand im Sterben,
Und ward zu seines Lächelns Erben,
Das wie ein Blühen lag um seinen blassen Mund.

Drum faß ich diese Menschen nicht, die sorgen,
Was morgen werden wird und übermorgen,
Und ihre Seelen bleiben blind und arm.
An Gärten wandern sie vorbei, an Gittern,
Die von dem Drängen junger Sträucher zittern,
Und ihre Seelen füllt der ewig gleiche Harm.

Maximilian Florian, Der Gelähmte. Kranker Mann, 1933

Bild: Maximilian Florian: Der Gelähmte (Kranker Mann), 1933, Sammlung Belvedere, Wien.

Soundtrack: Ludwig van Beethoven: Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit, in der lydischen Tonart. Molto adagio – neue Kraft fühlend. Andante – Molto adagio – Andante – Molto adagio. Mit innigster Empfindung, aus: Streichquartett Nr. 15 in a-Moll op. 132, 1825:

Bonus Track: Lael Neale: Faster Than the Medicine, aus: Star Eaters Delight, 2023:

Written by Wolf

5. Mai 2023 at 00:01

Heuer ist’s Vöglein nicht wiederkommen

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Update zu Barfußwochen 05: Weder Schuh und weder Strümpf
(und einen Striffel um den Hals)
,
Flämmchen,
So war’s dem Doctor Faust nicht halb zu Muth,
Wer weiß, wem sie geigen – hüt‘ dich, Gesell!
und Nachtstück 0031: Deine Augen sind die Nacht and the wind will be my hands
(Der Nachtwächter aber schüttelte den Kopf)
:

Mit der vereinzelt gebliebenen Strophe Es sang ein Vöglein hier jedes Jahr ist es wie mit dem Wetterleuchten fern im Dunkeln: Die hat Eichendorff weder ausgebaut noch in eine seiner Gedichtsammlungen hinübergerettet, vielmehr nur im Roman Dichter und ihre Gesellen 1833 verwendet. Grund genug, es ans Licht der weltweit verbreiteten Computerbildschirme zu heben.

Dagegen stammt die Stelle darin, an der das Kränzlein schon wieder herausgerissen erscheint, noch aus der Ballade Der armen Schönheit Lebenslauf in Aus dem Leben eines Taugenichts und das Marmorbild. Zwei Novellen nebst einem Anhange von Liedern und Romanzen 1826.

Gleichzeitig dient der Ausschnitt als Beleg für eine Flämmchen-Figur.

——— Joseph von Eichendorff:

Siebzehntes Kapitel

aus: Dichter und ihre Gesellen, Duncker & Humblot, Berlin 1833:

Hunderd-Eyed Fox, Bird Girl, 2022Auf einmal bog er rasch mitten in das Blütenmeer von Gärten hinein. Sie kamen an ein kleines, aber wohlgebautes, reinliches Haus, von Efeu, Weinlaub und blühenden Bäumen reizend überwachsen und verdeckt; die Tauben, die sich auf dem Dache in der Abendsonne spiegelten, die offenstehenden Fenster und Türen, wo bunte Schmetterlinge flimmernd ein und aus flatterten, alles gab ein wunderliches Bild südlicher Häuslichkeit. Otto führte seinen Begleiter ohne weiteres gerade durch das Haus in ein dahinter gelegenes einsames Gärtchen, umgeben von Nachbargärten, die von allen Seiten blühend hereinhingen und jede Aussicht verschlossen.

„Wo sind wir denn hier?“ fragte endlich Fortunat erstaunt. Indem aber erschien ein Mädchen in der Haustür, er erkannte sogleich die schöne Annidi wieder. Sie begrüßte ihn etwas verwirrt und beschämt, dann trat sie unter eine Weinlaube und begann aus ihrem Handkörbchen einen Tisch reinlich zu decken, Gläser und Teller aufzustellen. Draußen im Nachbargarten hörten sie einen Knaben fröhlich singen:

Es sang ein Vöglein hier jedes Jahr:
Wie schön das Kränzlein im dunklen Haar!
Heuer ist’s Vöglein nicht wiederkommen;
Wer hat dir das schöne Kränzlein genommen?

Nun hielt sich Otto nicht länger, es kam alles heraus: daß Annidis Eltern seine Besuche ohne bestimmte Erklärung nicht weiter dulden wollten, daß er seit einigen Tagen mit dem Mädchen verheiratet und sich nun samt den Ihrigen hier eingenistet habe. Fortunat erschrak über diese ganz unerwartete Entdeckung und überdachte schnell die wunderlichen Folgen, die diese Übereilung für Otto herbeiführen mußte. Doch wurde er bald durch die liebliche Erscheinung der jungen Frau wieder beschwichtigt, die sich, ihrer neuen Lage noch ungewohnt, fortwährend mehr zierlich dienend als mitgenießend erwies, als sie sich nun fröhlich unter der Laube um den Tisch setzten. Auch ihre Eltern gesellten sich jetzt zu ihnen, zu Fortunats heimlichem Unbehagen, den die gewöhnlichen, welsch gekniffenen Gesichter störten. Sie mischten sich öfters ungeschickt mit in das Gespräch, redeten viel von guter Wirtschaft und dem nötigen Fleiße ihres Schwiegersohnes im Büchermachen, und Fortunat konnte wohl bemerken, daß sie ihn selbst als einen Zeitverderber und zweideutigen Kameraden Ottos scheel ansahen. – Unbekümmert saß und schmauste unterdes das glückliche Ehepaar, Annidi auf einem Fußbänkchen mit beiden Armen auf Ottos Knie gestützt und die gebratenen Kastanien ausschälend, die sie jede zur Hälfte miteinander teilten. Der Mond schimmerte schon durch das Weinlaub, Otto war seligstill, die junge Frau überaus schön, drüben sang der Knabe wieder:

„Wer hat dir das Kränzlein genommen?“

Daniel Bilmes, Descending Into the Unknown, ca. 2023Fortunaten aber überwältigte mitten in dieser Stille eine unwiderstehliche Wehmut, als sei Otto nun hier in der Fremde märchenhaft verzaubert. Es wollte ihm das Herz zersprengen, er schützte ein dringendes Geschäft vor, ergriff schnell seinen Hut und nahm tief gerührt Abschied von dem Freunde, wie von einem Verstorbenen. Als er zurückblickte, standen Otto und Annidi noch in der Haustür. Glühwürmchen schwärmten leuchtend durch das Rebengelände, er sah von der schönen Frau nur noch die glänzenden Augen und Schultern, Otto erschien todbleich im Mondschein.

In wirren Gedanken war Fortunat hastig nach Hause geeilt. Der Mond schien prächtig über den alten Garten, er lauschte, ob er Fiametta nicht wieder singen hörte, doch alles blieb still. Als er aber um den Pfeiler des Schlosses trat, fuhr er heftig zusammen, denn in einer der Alleen glaubte er plötzlich sich selber zu erblicken. Unverwandt starrte er hin, die Gestalt zeigte sich noch einmal im hellsten Mondlicht, es war seine Kleidung, sein Gang, seine Haltung, und doch schien es wieder ein ganz fremder junger Mann. Jetzt blieb der Unbekannte lauernd hinter einer Hecke stehen. Da kam auf einmal Fiametta aus dem Gebüsch hervorgesprungen, besah ihn lachend rundum, dann gingen sie Arm in Arm tiefer in den Garten hinein. Mitten im fröhlichen Plaudern aber schienen sie plötzlich Fortunats Schatten auf dem Rasen zu bemerken, er sah sie erschrocken entfliehen, und bald war die ganze Erscheinung im Dunkel wieder verschwunden.

Via Happy Heidi, 2. November 2022Fortunat aber hatte sich im Schloß gewandt und ging heftig in seinem Zimmer auf und nieder. »Also diesem galt das Abendliedchen letzthin, o ich Tor!« sagte er mit einem bittern Gefühl, das er sich selbst nicht eingestehen mochte. Es war fest beschlossen, er wollte sogleich morgen weiter nach Neapel reisen, ohne Fiametta noch einmal wiederzusehen. Noch in der Nacht schrieb er sein Vorhaben dem Marchese, der eben auf dem Lande war, und packte, in geheimer Wut lustige deutsche Lieder singend, seinen Koffer. Dabei schwirrten ihm die Worte aus einem alten Liede:

Das Kränzlein ist herausgerissen,
Ganz ohne Scheu sie mich anlacht:
Geh du vorbei: sie wird dich grüßen,
Winkt dir zu einer schönen Nacht.

immerfort durch den Sinn, daß er darüber aus Herzensgrunde hätte weinen mögen.

Und das ist nur eins von den nicht wiederverwendeten Gedichten aus dem Gesellen-Roman. Die übrigen retten wir auch noch. Sie erinnern mich dran, ja?

Bilder: Hundred-Eyed Fox: Bird Girl, 2022;
Daniel Bilmes: Descending Into the Unknown, via Aqua Regia, 2. Januar 2023;
Happy Heidi: birds in art, 2. November 2022.

Soundtrack: Pink Floyd: Several Species of Small Furry Animals Gathered Together in a Cave and Grooving with a Pict, aus: Ummagumma, 1969:

Und als Bonus Track etwas, das man ohne innere Verletzungen anhören kann:
Lael Neale: Dead Bird, aus: I’ll Be Your Man, 2015:

Written by Wolf

28. April 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Das Tier & wir, Romantik

Je ne suis pas d’accord / Je déteste ce que vous écrivez / Je n’aime pas vos idées

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Update zu Begräbnis des Glaubens (L’enterrement de la foi):

Ich hab nichts gegen Vorurteile.

Harry Rowohlt.

Je meurs en adorant dieu, en aimant mes amis, en ne détestant pas mes ennemis, en haissant la superstition.

Voltaire, 8. Februar, † „erst“ 30. Mai 1778.

50 Jahre lesen können, davon 25 im Internet, und man kennt alle Kalendersprüche. Alle. Von „Anonym“ bis „Oscar Wilde“, erstaunlich viele sollen von Coco Chanel sein, der Bestand ist die letzten 50 Jahre recht stabil geblieben, höchstens dass mal ein „Arbeit macht das Leben süß“ ausscheidet. Nachhaltig beeindruckt hat mich um 1980 ein einziger, den ich schon nicht mehr so oft antreffe, von Voltaire:

Ich bin nicht einverstanden mit dem, was Sie sagen, aber ich würde bis zum Äußersten dafür kämpfen, daß Sie es sagen dürfen.

Das mit dem Sagen-Dürfen wird in letzter Zeit weithin am liebsten für die eigene Person eingefordert, gern unter Berufung auf einen Freiheitsbegriff, der sich an den eigenen, keiner Definition werten Vorlieben orientiert; „bis zum Äußersten“ wird dabei allenfalls eine längst bestehende Meinungsfreiheit strapaziert, die zugleich geleugnet wird. Lange Geschichte.

Jean-Baptiste Pigalle, Voltaire nu, 1776Beeindruckend und aufgeklärt, ja selbstlos genug von Monsieur Voltaire. Eine viel interessantere und menschlich zuträglichere Frage als die, ob in dem Deutschland, wie wir es seit 1990 kennen, nun eine Meinungsfreiheit gewährleistet sei oder nicht, ist daher: Wo ist das Zitat genau her? — Im Original kursieren die Versionen:

Je ne suis pas d’accord avec ce que vous dites, mais je me battrai jusqu’à la mort pour que vous ayez le droit de le dire.

Monsieur l’abbé, je déteste ce que vous écrivez, mais je donnerai ma vie pour que vous puissiez continuer à écrire.

Oder zahmer:

Je n’aime pas vos idées mais je me battrai pour que vous puissiez les exprimer.

Wer sonst nichts über Voltaire weiß, kennt immer noch seine Portraits mit dem verschmitzten Mausegesicht unter den kleidsam gebrannten Locken und mindestens eine dieser Versionen in unwesentlich voneinander abweichenden Eindeutschungen. Auf der Suche nach dem französischen Original kommt man dem Wust an populär-unwissenschaftlichen „Quellenangaben“ und leichtfüßigen Auslassungen am besten im französischen Wikipédia-Artikel über Tolérance bei. Zur Zeit meines letzten Aufsuchens war derselbe immer noch alles andere denn gültig abgeschlossen, bot aber immerhin in einer Fußnote ein Sprungbrett. Im weiteren Verlauf der Bearbeitungen, die nicht ich vornehmen möchte, erwarte ich eher größere Prominenz denn Streichung der Quelle. Die persönliche Anrede in der Version an den Monsieur l’abbé deutet noch auf die größte biographische Zuverlässigkeit.

Eine prominente Fundstelle, die es wissen sollte, nämlich Sandrine Campese vom zitierten Projet Voltaire, räumt gleich als erstes in der Überschrift auf: „Voltaire n’a jamais dit : « Je ne suis pas d’accord avec vous, mais je me battrai… »“ — und aus der Traum vom Kalenderspruch von Voltaire, und die Brennlocken waren eine Perücke. Konstruktiv führt Madame Campese eine Evelyn Beatrice Hall ins Feld, die eine der Variationen verwendet hat:

I disapprove of what you say, but I will defend to the death your right to say it.

— und zwar genau so, als englisches Original. Unter dem zeittypisch geschlechtsneutralen Pseudonym S. G. Tallentyre ist Frau Hall 1903 mit der englischsprachigen Biographie The Life of Voltaire, 1906 mit der Biographiensammlung The Friends of Voltaire und 1919 mit den Brief-Übersetzungen Voltaire In His Letters hervorgetreten. Der angeführte englische Satz erscheint 1906 in The Friends of Voltaire, in Kapitel VII. Helvétius: The contradiction (1715–1771):

What the book could never have done for itself, or for its author, persecution did for them both. „On the Mind“ became not the success of a season, but one of the most famous books of the century. The men who had hated it, and had not particularly loved Helvétius, flocked round him now. Voltaire forgave him all injuries, intentional or unintentional. „What a fuss about an omelette!“ he had exclaimed when he heard of the burning. How abominably unjust to persecute a man for such an airy trifle as that! „I disapprove of what you say, but I will defend to the death your right to say it,“ was his attitude now.

Online findet sich dieses englische Original digitalisiert im Kontext auf Seite 199. Sinnigerweise wurde die Stelle im Exemplar der Reese Library of the University of California irgendwann zwischen 1906, als es veröffentlicht, und 2008, als es digitalisiert wurde, sehr gezielt handschriftlich angestrichen — mitsamt den Anführungszeichen, die sehr schnell und sehr leichtfertig so ausgelegt wurden, als ob Hall hier Voltaire direkt zitiert hätte.

Evelyn Beatrice Hall, The friends of Voltaire, 1906, Seite 198 und 199

Man hätte es wissen können, wenn man wollte: Der gerade zweiseitige Artikel in den Modern Language Notes, Band 58, No. 7, pp. 534 bis 535 von Burdette Kinne: Voltaire Never Said it! stammt schon vom November 1943.

Überhaupt zeigt sich die englischsprachige Literatur hier sehr viel schlauer, im Falle Voltaires sagt sich treffender: aufgeklärter als die deutsche: Auf einem Gegenwert von ebenfalls ungefähr zwei Seiten überhschaut der Stammtisch Beau Fleuve. A multidisciplinary collaboration for Communication, Research, and Lunch unter dem Stichwort Voltaire die gesamte Quellenlage:

The phrase

„I disapprove of what you say, but I will defend to the death your right to say it“

is widely attributed to Voltaire, but cannot be found in his writings. With good reason. The phrase was invented by a later author as an epitome of his attitude.

It appeared in The Friends of Voltaire (1906), written by Evelyn Beatrice Hall under the pseudonym S[tephen] G. Tallentyre. Chapter VII is devoted to Helvétius (1715-1771), whom she depicts as a kindly, generous person, with a hint of more talent to raise him above mediocrity. He married and settled in the sticks, with a new wife who was unfashionably old (32), and they were happy. This was ended by his tragic aspiration, to earn some small glory for himself as a philosopher.

In 1758, he published „De l’Esprit,“ which Hall renders „On the Mind.“ From the little Hall says of it directly, I take it that this was a moral-relativist tract, adducing bad social conditions as the cause of immoral behavior, regarding humans essentially as animals, and skeptical of the validity of moral claims generally.

This was unpopular with everyone – secular philosophers, all of the church, the government. It certainly got him noticed, but not by all at once. Voltaire immediately regarded the work as a serious disappointment from one who had been a somewhat promising protege. He was most insulted to have been compared in it with lesser intellectual lights (Crébillon and Fontenelle). It was widely criticized by other wits of their enlightened social circle. For a few months, however, it escaped the notice of the government.

Then the Dauphin read it.

The privilege to publish was revoked; the censor who approved its publication was sacked. A rolling wave of official condemnation began, culminating with the Pope (Jan. 31, 1759) and the Parliament of Paris (Feb. 6) and public book-burning by the hangman (Feb. 10), an honor shared with Voltaire’s „Natural Law.“

On the principle that anything so unpopular with the government must ipso facto be pretty good, the official condemnation permanently established Helvétius’s philosophical repute among the fashionable salon crowd, and rehabilitated him among the intellectual elite as well, to a great extent. He became popular in Protestant Germany and England.

Hall wrote:

…The men who had hated [the book], and had not particularly loved Helvétius, flocked round him now. Voltaire forgave him all injuries, intentional or unintentional. `What a fuss about an omelette!‘ he had exclaimed when he heard of the burning. How abominably unjust to persecute a man for such an airy trifle as that! `I disapprove of what you say, but I will defend to the death your right to say it,‘ was his attitude now. But he soon came, as a Voltaire would come, to swearing that there was no more materialism in `On the Mind‘ than in Locke, and a thousand more daring things in `The Spirit of Laws.‘

(Boldface added here for emphasis.) Friends is not a scholarly work, but Hall is fairly scrupulous throughout the book to state within the text whether she is quoting speech or text, and whether various reports are first-person or likely hearsay. I believe it was reasonable of her to expect that `I disapprove … say it‘ would be recognized as her own characterization of Voltaire’s attitude. I think some readers were confused because of the way she follows this with paraphrases of his spoken criticisms.

In any case, the phrase was too eloquent, so it became quoted, and famous names attach themselves to quotes, to the detriment of the less well-known originators.

Hall herself claimed later that she had been paraphrasing Voltaire’s words in his Essay on Tolerance:

„Think for yourselves and let others enjoy the privilege to do so too.“

Hall died in 1919 [laut Wikipedia erst 1956]. In his A Book of French Quotations (1963), Norbert Guterman suggested that the probable source for the quotation was a line in a 6 February 1770 letter to M. le Riche:

„Monsieur l’abbé, I detest what you write, but I would give my life to make it possible for you to continue to write.“

Laut Sandrine Campese im Projet Voltaire sollte Evelyn Beatrice Hall später bestätigen, dass das Zitat ihre eigene Formulierung war und daher nicht in Anführungszeichen gesetzt werden sollte. Ob das aufgrund einer Ungeschicklichkeit des Autors, Verlegers oder Setzers geschah, das Zitat wurde schnell ins Französische übersetzt und gewann die bekannte Eigendynamik.

Voltaire war also, wenn man nichts als dieses eine Zitat benutzt, mit spätestens 75 Jahren zu einer recht mehrheitsfähigen Auffassung von Toleranz gelangt. Allein das wäre schon ganz ordentlich für eine Lebensaufgabe, dabei stammt sein Traité sur la Tolérance schon von 1763. Der Monsieur l’abbé ist seinem Beruf bis heute wirksam genug nachgekommen, dass er auf Voltaires Ablehnung stoßen konnte, alles andere wäre eine Verfehlung eines kirchlichen Auftrags gewesen. Frau Hall bleibt das Verdienst, eine Formulierung zu finden, die man offensichtlich ohne weiteres Voltaire zutraut, auf der Gegenseite nur vielleicht die lässliche Sünde eines Satzzeichenfehlers.

„Dieu est un comédien jouant devant un public trop effrayé pour rire.“ Das soll auch von Voltaire sein.

Weiterführende Studien zur Toleranz: Voltaire: Traité sur la Tolérance,
das ist: Über die Toleranz, 1763, Lesung Friedhelm Ptok:

Bilder: Voltaire mit verschmitztem Mausegesicht, aber ohne Brennlocken:
Jean-Baptiste Pigalle: Voltaire nu, 1776, via Images d’Art;
Evelyn Beatrice Hall: The friends of Voltaire, 1906, Seite 198 und 199.

Beiträge zur Toleranz: Monty Python: Das Leben des Brian, 1979:

Ich möchte, dass ihr mich von jetzt an Loretta nennt.

Dieselben: Der Sinn des Lebens, 1983, Schluss:

Ach naja, das ist ja nichts Besonderes. Seien Sie nett zu Ihren Nachbarn, vermeiden Sie fettes Essen, lesen Sie ein paar gute Bücher, machen Sie Spaziergänge und versuchen Sie, in Frieden und Harmonie mit Menschen jeden Glaubens und jeder Nation zu leben.

Bonus Track: Guy Davis: We Don’t Need More Banjos in This World, aus: Legacy, 2004:

Written by Wolf

21. April 2023 at 00:01

Nachtstück 0031: Deine Augen sind die Nacht and the wind will be my hands (Der Nachtwächter aber schüttelte den Kopf)

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Update zu Nachtstück 0015: Bis die Zeit auch Dich verspeist und
Ein Haufen belebter Maschinen, welche von der Natur hervor getrieben worden wären, für sie zu arbeiten:

Soviele Eichendorff-Gedichte – was wir nahezu als Gattungsbegriff verwenden – man auswenig kennt, ist Wetterleuchten fern im Dunkeln selten unter ihnen. Das hat Eichendorff nämlich in keine Gedichtsammlung aufgenommen, sondern nur in seinem zweiten und letzten Roman Dichter und ihre Gesellen 1833 verwendet. Man muss also davon wissen oder abseitige Spätromantik wälzenderweise zufällig darauf stoßen – auch wenn seine Aufforderung „Schüttle nur die dunklen Locken“ wörtlich noch einmal in Verlorne Liebe 1834 erging. Dazu passt unschlagbar des Dichters selten verwendete Daguerrotypie aus seinem Todesjahr 1857. Und das Lied der Handsome Family in ähnlicher Grundstimmung. Und einmal mehr erscheinen uns die drei Stränge Text, Bild und Musik wie zum Zopf geflochten.

Hans Zatzka, Feentanz, ca. 1923

——— Joseph von Eichendorff:

Eilftes Kapitel

aus: Dichter und ihre Gesellen, Duncker & Humblot, Berlin 1833, Kapitelschluss:

Joseph von Eichendorff, Daguerrotypie 1857Da betete die Alte still vor sich, denn nun glaubte sie’s selbst auch, daß in der Abendstille ein Engel an ihrem Hause vorübergegangen. – Währenddes stieg der Maler Albert, bis an die Zähne bewaffnet, still und ernst den Waldberg hinan. Er hatte vorhin die Gräfin auf dem Felsen, dann den Fürsten heimlich hinaufschleichen gesehen und in seiner Tugendhaftigkeit sogleich beschlossen, mit Gut und Blut die Unschuld zu beschützen. Die Nacht war schon hereingebrochen, die ganze Gegend stand wie in Gedanken im Mondglanz umher, und als Juanna wieder im Schloß an ihrem Fenster stand, hörte sie unter sich den Strom aufrauschen, wie von Ruderschlägen. Es war Lothario, der unten auf einem Nachen vorüberfuhr und sang, sie konnte durch den Nachtwind nur folgende Worte verstehen:

Wetterleuchten fern im Dunkeln,
Wunderbar die Berge stehn,
Nur die Bäche manchmal funkeln,
Die im Grund verworren gehn,
Und ich schaue froh erschrocken
Wie in eines Traumes Pracht
Schüttle nur die dunklen Locken,
Deine Augen sind die Nacht.

Der Nachtwächter unter den Fenstern aber schüttelte den Kopf und sah zu seiner Verwunderung auf dem Felsen drüben eine lange Gestalt, auf ihr Schwert gestützt, die halbe Nacht hindurch gleich einer verlornen Schildwacht stehen.

——— The Handsome Family:

Far from Any Road

aus: Singing Bones, 2003, verwendet als Vorspann für True Detective ab 2014:

From the dusty mesa, her looming shadow grows
Hidden in the branches of the poison creosote
She twines her spines up slowly towards the boiling sun
And when I touched her skin, my fingers ran with blood.

In the hushing dusk, under a swollen silver moon
I came walking with the wind to watch the cactus bloom
A strange hunger haunted me; the looming shadows danced
I fell down to the thorny brush and felt a trembling hand.

When the last light warms the rocks and the rattlesnakes unfold
Mountain cats will come to drag away your bones
And rise with me forever across the silent sand
And the stars will be your eyes and the wind will be my hands.

Bilder: Joseph von Eichendorff, Daguerrotypie 1857, via Zeno;
Hans Zatzka: Feentanz, frühes 20. Jahrhundert, via Happy Heidi, 30. Dezember 2021;
Emil Supp: Mondscheinpartie mit Mädchenreigen im Augenschein von Satyrn, 1923,
via Very Important Lot, 15. Januar 2021.

Emil Supp, Mondscheinpartie mit Mädchenreigen im Augenschein von Satyrn, 1923

Written by Wolf

14. April 2023 at 00:01

Dornenstück 0013: Heute spielen die letzten Schrammeln

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Update zu Oh my, oh my, oh my, what if it was true? (O wolle nicht ergründen, was einmal unergründlich ist),
Der poetische Act,
Durch die Mumie einer altägyptischen Prinzessin bereichert
und Dornenstück 0007: Non stabat pater dolorosus:

Das requiem viennense aus dem harten Kern der Wiener Gruppe ist leider keine direkte Übersetzung des bekanntesten Requiems, das von dem deutschgebürtigen Salzburger Mozart 1791 stammt, aber formal eine vollauf gültige Sequenz einer Missa pro defunctis mit wahrnehmbaren Anspielungen auf die Mozarteische Lösung: So bedeutet „gib eana ka rua / leicht eana ham / mid deina latean“, wörtlich ins Bundesdeutsche übersetzt „gib ihnen keine Ruhe, leuchte ihnen heim mit deiner Laterne“, wohl das bekannte „Requiem aeternam dona eis, Domine, / Et lux perpetua luceat eis“ aus dem Introitus. Und so geht das weiter, stellenweise nicht ohne Brillanz. Wer im oberdeutschen Sprachraum aufgewachsen ist, mag alledem folgen können, Leser ab dem Mitteldeutschen abwärts tun mir leid. Und das ist überaus passend für ein Wienerisches Requiem zum Karfreitag.

Die nicht nur kon-, sondern ganz allgemein geniale Vertonung stammt erst von Peter Hudler und Andreas Teufel von Schrammelbach, aus: Ka rua, 2021.

——— H. C. Artmann, Gerhard Rühm:

requiem viennense

aus: Gerhard Rühm, Hrsg.: Die Wiener Gruppe, Rowohlt, Hamburg 1985,
cit. nach H. C. Artmann: Sämtliche Gedichte, Jung und Jung, Salzburg und Wien 2003, Seite 250 bis 254:

requiem

St. Wilgefortiska rua
ka rua
ka rua
gib eana ka rua
leicht eana ham
mid deina latean
daß blean
und rean
in wean

sei ned fäu
aum zenträu
olle bana
unta d schdana
schdeck ins mäu
happ dein deu

ka rua
ka rua
ka rua
gib eana ka rua
leicht eana ham
mid deina latean
daß blean

dies irae

saf und oschn
s nutzt ka woschn
graus von hintn
graus von vuan
und an gachn
und an zuan
sacramentum in favilla
dies irae, dies illa

tuba mirum

heite schbün die letztn schrammen
duach die finstan gäng und kuchln
daß die foeschn beißaln scheppan
aus n heampa foen die rammen

duach die luft do saust a biachl
und die buchschdam die foen obe
druckaschwäaz dreibt oes aus d lecha
rotz, di foßt ka doschndiachl!

söbst die äagstn raunza guschn
schmähschdad sans und ohne aufdrog
schdengan do in fleckalbodschn
und haum nix mea zum vaduschn

rex tremendae

kan pardon
kan pardon
zinseszins und wochnlohn

recordare

St. Wilgefortisjo, des woan hoet fesche zeitn
wia ma no an guidn gschepft haum
schnitzln, schdötzn, brodne antn
hauma mit vöslaua guaglt

jo, des woan hoet fesche zeitn
wo ma di duli gschdödn madln
einezwickt haum in die wadln
oda viregricht die wadln

jo, des woan hoet fesche zeitn
wo noch sel’ge walzer klangen
und der himmel voller geigen
und die geigen walzer sangen

jo, des woan hoet fesche zeitn
wia die zeitn no gnua zeit ghobt
wia die zeitn no gnua zeit ghobt
und der ausgang noch in weiten …

confutatis

charon, laß dein ruderplätschern
wir, die wir uns vor zwetschgen bäumen
winden uns vor lethes schäumen
wenn zum aufbruch du uns winkest

lacrimosa

rean rean rean
blean blean blean
rean rean rean
blean blean blean
saf und oschn
s nutzt ka woschn
rean rean rean
blean blean blean

benedictus

wer kommt denn da
wer kommt denn da
wie ist doch gleich der namel
den kenn ich doch
den kenn ich doch
des is da neiche schrammel

agnus dei

jetzt samma
jetzt samma
jetzt samma aus n schneida
und wuaschtln
und wuaschtln
und wuaschtln wieda weida
jetzt samma
jetzt samma
jetzt samma aus n schneida
und wuaschtln
und wuaschtln
und wuaschtln wieda weida
jetzt samma
jetzt samma
jetzt samma aus n schneida
und wuaschtln
und wuaschtln
und wuaschtln wieda weida






~~~\~~~~~~~/~~~

St. Wilgefortis

Bilder: Ansichten der bärtigen Jungfau und fiktiven Volksheiligen Wilgefortis, das ist: Kümmernis,
aus nicht mehr nachvollziehbaren Stellen meist erloschener Tumblr-Sammlungen,
nebst einer Serie von Pietàs mit anderen gekreuzigten heiligen Jungfrauen von Hieronymus Wierix,
spätestens 1609, Radierung via Britisches Museum.

Soundtrack: Wolfgang Amadeus Mozart: Requiem in d-Moll, KV 626, 1791,
live unter dem berlingebürtigen Steirer Nikolaus Harnoncourt, ca. 1981:

Written by Wolf

7. April 2023 at 00:01

Filetstück 0007: Kindergeschrei ist auch ein Gesangbuchvers

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Update zu Geibels Wesen und Beruf,
Hochwaldklangwolke: Die einzelnen Minuten, wie sie in den Ozean der Ewigkeit hinuntertropfen,
Uns eine Drehorgel kaufen und unsere eigene Geschichte auf eine Leinwand malen lassen und ein Lied davon machen und es absingen auf allen Gassen des Vaterlandes!
und Frankonachten 5/5: Du bist schon lange gestorben:

Es ist eigentlich eine böse Zeit! Das Lachen ist teuer geworden in der Welt, Stirnrunzeln und Seufzen gar wohlfeil. Auf der Ferne liegen blutig dunkel die Donnerwolken des Krieges, und über die Nähe haben Krankheit, Hunger und Not ihren unheimlichen Schleier gelegt; – es ist eine böse Zeit!

A. a. O., Anfang.

Sperlingsgasse Berlin 1955Wie schon längst versprochen, wenngleich nur mir selber, habe ich mich unter den Großlangweilern der Weltliteratur zum wiederholten Mal auf das nächste Niveau gewagt: an Wilhelm Raabe.

Schon sein Debut Die Chronik der Sperlingsgasse von 1854 f., gedruckt 1857, experimentiert Raabe mit den Erzählkategorien: Der Ich-Erzähler spricht deutlich nicht mit der Stimme des 24-jährigen Autors Raabe, sondern ist in Gestalt des greisen Chronisten „Johannes Wachholder“ ein halb unzuverlässiger Erzähler, der sich eine durchweg assoziative Chronologie, Abschweifungen, persönliche Wertungen und sogar das Eingreifen fremder Erzählerstimmen erlaubt.

Eine der letzteren ist die des leutseligen Karikaturenzeichners „Ulrich Strobel“, der sich über die Auffassung des Deutschtums im späten Biedermeier auslässt, wie sie vermutlich der Autor Raabe selbst vertreten hat. Ich bringe Strobels Gastbeitrag namens Strobeliana zur Chronik, um einen Block gekürzt und mit erklärenden Links zu den Stellen, die der Winkler-Ausgabe eine Anmerkung wert waren.

Mit oder ohne Verlaub meiner versammelten lesenden Bekanntschaft, also nicht allzuvieler Menschen, die allenfalls, dem deutschen Feuilleton folgend, nur zu dessen Jubiläen zwei Minuten lang Gutes über Wilhelm Raabe sprechen, kann ich das für politisch diskutierwürdig, aber ums Verrecken nicht langweilig finden.

Sperlingsgasse Berlin 2010

——— Wilhelm Raabe:

Strobeliana.

aus: Die Chronik der Sperlingsgasse, 1857; Winkler-Ausgabe Seite 139 bis 143:

3 Uhr. – Ich habe mir eine Zigarre angezündet, den Bogen neben mich ins Fenster gelegt und beginne meine Beobachtungen. […]

Es war an einem Sonntagmorgen im Juli, als ich auf braunschweigschem Grund und Boden am Uferrand der Weser lag und hinüberblickte nach dem jenseitigen Westfalen. Früh vor Sonnenaufgang war ich, über Berg und Tal streifend, mit dem ersten Strahl im Osten in ein gleichgültiges Dorf hinabgestiegen. Ich hatte Kaffee getrunken unter der Linde vor dem Dorfkrug, hatte behaglich das Treiben des Sonntagsmorgens im Dorf belauscht und andächtig der kleinen Glocke zugehört, die in dem spitzen, schiefergedeckten Kirchturm läutete. Manchem hübschen, drallen niedersächsischen Mädchen, das sich über den sonderbaren, plötzlich ins Dorf geschneiten Fremdling wunderte, hatte ich lächelnd zugenickt; ich hatte Bekanntschaft mit der gesamten Kinder-, Hühner-, Gänse- und Entenwelt des „Krugs“ gemacht, dem weißen Spitz den Pelz gestreichelt und manche Frage über „Woher und Wohin“ beantwortet. Mit meinem Wirt (der zugleich Ortsvorsteher war) hatte ich das Bienenhaus besucht, darauf die Gemeinde, den Kantor und Pastor in die Kirche gehen sehen und hatte mich zuletzt allein im Hofe unter der Linde gefunden, nur umgehen von der quackenden, piepsenden geflügelten Schar des Federviehs. Aus diesem dolce far niente hatte mich plötzlich das Schreien eines Kindes aufgeschreckt. Es drang aus dem Haus hinter mir und bewog mich, aufzustehen und in das niedere, vom Weinstock umsponnene Fenster zu sehen. Eine alte Frau war eben beschäftigt, einen widerspenstigen, heulenden, strampelnden Bengel von vier Jahren mit Wasser, Seife und einem wollenen Lappen tüchtig zu waschen, welcher Prozedur drei bis vier andere kleine „Blaen“ angstvoll zusahen, wartend, bis die Reihe an sie kommen würde.

„Nun, Mutter“, sagte ich, mich auf die Fensterbank lehnend; „und Ihr seid nicht in der Kirche?“

Die Alte sah auf und sagte lachend: „Et geit nich immer; ek mott düsse lüttgen Panzen waschen und antrecken – Herre – Kinderschrieen is ok een Gesangbauksversch!“

Ich nahm den Hut ab und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Welch eine wunderbar schöne Predigt lag in den fünf Worten des alten Weibes! Eine Schwalbe beschrieb eben ihren Bogen um mich, ihrem Neste unter dem niedrigen Dachrande zu, und klammerte sich, ihre Beute im Schnabel, an die Tür ihrer kleinen Wohnung, begrüßt von dem jubelnden Gezwitscher der federlosen Brut. Ich konnte der alten Frau kein Wort mehr sagen.

„Kinderschrieen is ok een Gesangbauksversch!“ murmelte ich leise, zu meinem Tisch unter der Linde zurückgehend. Ich riß ein Blatt aus meiner Brieftasche, schrieb darauf: Kinderschreien is ok een Gesangbauksversch, und zog es mit einem Strauß Waldblumen unter das Hutband.

Träumend schritt ich dann durch die Tür des Dorfkirchhofs, vorüber an den bunten, geputzten Gräbern, zu dem offnen Kirchtor (auf dem Lande braucht der Protestantismus seine Kirchen während des Gottesdienstes noch nicht zu schließen) und lehnte andächtig an der Esche davor. Mit großer Freude hörte ich, wie der junge Pastor eine Gellertsche Fabel in das Gleichnis aus dem fernen Orient schlang, während die Schwalben in dem heiligen Gebäude hin und her schossen und ein verirrter Schmetterling seinen Weg durch die geöffnete Kirchtür eben wieder zurückfand.

„Kinderschrieen is ok een Gesangbauksversch!“ rief ich, über die niedere Mauer in das freie Feld springend und durch die gelben Kornwogen mit ihrem Kranz von Flatterrosen am Rande der Weser zu wandernd. Da hatte ich mich ins Gras unter einen Weidenbusch geworfen und träumte in das Murren des alten Stromes neben mir hinein, während drüben im katholischen Lande eine Prozession singend den Kapellenberg zu dem Marienbild hinaufzog und hinter mir die protestantischen Orgeltöne leise verklangen. Welch ein wundervoller, blauer, lächelnder Himmel über beiden Ufern, über beiden Religionen, welch eine wogende Gefühlswelt im Busen, anknüpfend an die fünf Worte der alten Bäuerin! Ich war damals jünger als jetzt und legte das Gesicht in die Hände:

„Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott!
Ich habe keinen Namen
Dafür! Gefühl ist alles – – –“

Thomas Wolf, Hermannsstatue 2015Ein näher kommender Gesang weckte mich plötzlich: ich blickte auf. Brausend und schnaufend, die gelben Fluten gewaltig peitschend, kam der „Hermann“ die Weser herunter. Der Kapitän stand auf dem Räderkasten und griff grüßend an den Hut, als das Schiff vorbeischoß. Hunderte von Auswandrern trug der Dampfer an mir vorüber, hinunter den Strom, der einst so viele Römerleichen der Nordsee zugewälzt hatte. Ein Männerchor sang: „Was ist des Deutschen Vaterland„, und die alten Eichen schienen traurig die Wipfel zu schütteln; sie wußten keine Antwort darauf zu geben, und das Schiff flog weiter. Die Weser trägt keine fremden Leichen mehr zur Nordsee hinab, wohl aber murrend und grollend ihre eigenen unglücklichen Söhne und Töchter! – Ich verließ meinen Ruheplatz und ging durch den Buchenwald den nächsten Berg hinauf bis zu einer freien Stelle, von wo aus der Blick weit hinausschweifen konnte ins schöne Land des Sachsengaus. Welch eine Scholle deutscher Erde! Dort jene blauen Höhenzüge – der Teutoburger Wald! Dort jene schlanken Türme – die große germanische Kulturstätte, das Kloster Corvey! Dort jene Berggruppe – der Ith, cui Idistaviso nomen, sagt Tacitus. Ich bevölkerte die Gegend mit den Gestalten der Vorzeit. Ich sah die achtzehnte, neunzehnte und zwanzigste Legion unter dem Prokonsul Varus gegen die Weser ziehen und lauschte ihrem fern verhallenden Todesschrei. Ich sah den Germanicus denselben Weg kommen und lauschte dem Schlachtlärm am Idistavisus, bis der große Arminius, der „turbator Germaniae“, durch die Legionen und den Urwald sein weißes Roß spornte, das Gesicht unkenntlich durch das eigene herabrieselnde Blut, geschlagen, todmüde. Ich sah, wie er die Cheruska von neuem aufrief zum neuen Kampf gegen die „urbs“, wie das Volk zu den Waffen griff: Pugnam volunt, arma rapiunt plebes, primores, juventus, senes!

Ral Roletschek, Herkulesstatue 2018Aber wo ist denn die Puppe? kam mir damit plötzlich in den Sinn. Ich schleuderte den Tacitus ins Gras, stellte mich auf die Zehen, reckte den Hals aus, so lang als möglich, und schaute hinüber nach dem Teutoburger Walde. Da eine vorliegende „Bergdruffel“ (wie Joach. Heinr. Campe sagt) mir einen Teil der fernen, blauen Höhen verbarg, gab ich mir sogar die Mühe, in eine hohe Buche hinaufzusteigen, wo ich auch das Fernglas zu Hülfe nahm. Vergeblich – nirgends eine Spur vom Hermannsbild! Alles, was ich zu sehen bekam, war der große Christoffel bei Kassel, und mit einem leisen Fluch kletterte ich wieder herunter von meinem luftigen Auslug. Hatte ich aber eben einen leisen Segenswunsch von mir gegeben, so ließ ich jetzt einen um so lautern los. Ich sah schön aus! „Das hat man davon“, brummte ich, während ich mir das Blut aus dem aufgeritzten Daumen sog, „das hat man davon, wenn man sich nach deutscher Größe umguckt: einen Dorn stößt man sich in den Finger, die Hosen zerreißt man, und zu sehen kriegt man nichts als – den großen Christoffel.“ Ärgerlich schob ich mein Fernglas zusammen, steckte den Tacitus zurück in die Tasche und ging hinkend den Berg hinunter wieder der Weser zu. Ärgerlich warf ich mich, am Rande des Flusses angekommen, abermals ins Gras. Was hatte sich alles zwischen die gefühlsselige Stimmung von vorhin und den jetzigen Augenblick gedrängt! Der Himmel war noch ebenso blau, die Berge noch ebenso grün, der Papierstreifen von vorhin steckte noch neben den Waldblumen an meinem Hute, und doch – wie verändert blickte mich das alles an! Hätte das Dampfschiff mit seinen Auswandrern nicht später kommen können, da es doch sonst immer lange genug auf sich warten läßt? Hätte ich Narr nicht unterlassen können, nach dem Hermannsbild auszuschauen? Wie ruhig könnte ich dann jetzt im Grase meinen Mittagsschlaf halten, ohne mich über den großen Christoffel, den so viele brave Katten mit ihrem Blute bezahlt haben, zu ärgern! – Ich versuchte mancherlei, um meinen Gleichmut wiederzugewinnen; ich kitzelte mich mit einem Grashalm am Nasenwinkel, ich porträtierte einen dicken, gemütlichen Frosch, der sich unter einem Klettenbusch sonnte – es half alles nichts! – Der Dämon Mißmut ließ mich nicht los, wütend sprang ich auf, schrie: Hole der Henker die Wirtschaft! und marschierte brummend auf Rühle zu – – – Wetter, was ist das für ein Lärm in der Sperlingsgasse?! Heda – da ist ein Hundefuhrwerk in einen Viktualienkeller hinabgepoltert, und ich – ich, der Karikaturenzeichner Ulrich Strobel, sitze hier und schmiere Unsinn zusammen! Hol der Henker auch die Chronik der Sperlingsgasse! – Adieu, Wachholder!

Sperlingsgasse Berlin 2013

Bilder:

Soundtrack: „Ein Männerchor sang: ‚Was ist des Deutschen Vaterland'“, Ernst Moritz Arndt 1813:

Bonus Track: Hannes Wader: Vaters Land, aus: Wünsche, 2001:

Written by Wolf

31. März 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Biedermeier, Herrschaft & Revolte

Würste sprechen kein Hochdeutsch (ziemlich trunken eines billigen süßlichen Weines)

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Update zu Die alte und neue Inertia (Warum hast du nichts gelernt?),
Dieses treffliche Märchen vom Schmidt
und Dornenstück 0010: Antisterntaler:

——— Rio Reiser / Dietmar Robert / Ignaz Semmel:

Je wodewi dehacka

als Hoffmanns Comic Teater, aus: Die wunderliche Gasterey, 1965,
cit. nach: Blackbox, Möbius Records (Buschfunk), 2016:

Je wodewi dehacka
De knohe ide knacka
De wide in desa!
De sine bide knöhel
Bore wi in löhel
Un hänge ihn danuff
Je wodewi dehacka
De knohe ide knacka
De wide in desa!

„Hä?“ – Gute und berechtigte Frage.

Rio Reiser, um 1970

Rio „Ralph Christian Möbius“ Reiser, der erklärtermaßen nach dem Anton Reiser bei Karl Philipp Moritz heißt, nur leider seit dem 20. August 1996 ebenso 46-jährig wie schmerzlich abgeht, befehligte mit 15 Jahren sein erstes Kunstprojekt namens Hoffmanns Comic Teater. Darin unterläuft uns erst der Einakter Die Wunderliche Gasterey nach dem fast gleichnamigen Grimmschen Kinder- und Hausmärchen, nach dem Aarne-Thompson-Uther-Index aus der Motivkategorie ATU 334: Haushalt der Hexe, und darin ein dadaistisch anmutendes Vokalstück, gefolgt von dem Instrumentalstück Blut- Und Leberwurst, das offensichtlich nach den Haupthandelnden des Grimmschen Märchens heißt.

Rio Reiser war nämlich vier Jahre auf dem Nürnberger Melanchthon-Gymnasiumy, weswegen ich ihn um seine humanistische Grundausbildung beneide, und erinnert sich an den Zusammenhang aus nicht allzulanger Zeit danach in König von Deutschland. Von Ton, Steine, Scherben bis in die Hitparaden 1994:

Rio Reiser, um 1970

Anfang Juni kam ein Anruf aus Nürnberg. Ich wurde dort gebraucht. Das Teater – die Fantastischen Vier – wollten drei Einakter aufführen. Ich fuhr hin. Ich war ja der Hauskomponist. Die vier wohnten in einer Ladenwohnung, Nähe Plärrer, in der Schreyerstraße. Zwei Zimmer. Beide waren von der Scheuerleiste bis zur Decke bemalt. Selbst die Zimmerdecken waren bemalt. Jeder der vier war an diesem Kunstwerk beteiligt. Ihre vier Stile zusammen ergaben eine Art galaktisches Barock. Hier wurde eine Dauer-Arbeits-Party gefeiert. Während im Hintergrund ständig die Beach Boys „Pet Sounds“ oder Johnny Cash „Orange Blossom Special“ zum Besten gaben, saßen sie zwischen leeren und halb vollen Martini- und Portweinflaschen und schnitzten und malten an Requisiten.

Die drei Einakter, die für die Aufführung ausgesucht waren, hießen „Rückkehr nach Terra“, „Gibt es Geister und Phantome?“ und „Die wunderliche Gasterey“. „Rückkehr nach Terra“ spielte in der Pilotenkanzel eines Raumschiffs, das sich auf die Erde zubewegt. Der Kapitän des Raumschiffs ist Adolf Hitler. „Gibt es Geister und Phantome“ war eine Art Jahrmarkts-Show, in der alle mögichen PSI-Phänomene vorgeführt wurden. Das Filetstück aber war „Die wunderliche Gasterey“ nach einem düsteren Grimm-Märchen, das Dietmar Robert alias Ignaz Semmel zu einem Stück umgearbeitet hatte. Es handelte von dem Mordkomplott einer Blutwurst gegen eine Leberwurst. Die Blutwurst, gespielt vom Autor selbst, hatte zwei düstere Arien: „Jetzt woll’n wir ihn zerhacken“ und „Das Wasser kocht“. Es fiel reichlich dramatische Musik an, auch bei den anderen beiden Stücken. Kostüme und Masken konnten größtenteils aus dem Teater-Fundus übernommen werden. Dietmar baute sich auch noch einen übergroßen dreistöckigen Hut. Außerdem brauchte er ein „langes, langes Messer, das blinkte, als wäre es frisch gewetzt“. An diesem Messer zu schnitzen und zu polieren, war eine seiner Hauptbeschäftigungen. Der „Ich-weiß-nicht-wer’s-gewesen-ist“, dargestellt von Blalla, bekam ein Kostüm und eine Maske, über und über mit Glühbirnchen besetzt, die von Taschenlampenbatterien gespeist waren. Der „Affe mit der großen Wunde“ wurde durch eine Esel ersetzt, der lateinische Lehrsätze von sich gab: „Plenus venter non studet libenter.“ Aus „Besen und Schippe“ wurden zwei Hähne, die Gehilfen der Blutwurst. Die beiden sollten auch Gitarre spielen. Für die Hähne schlug ich Richard Schorr und Georg Brütting vor. Die beiden hatten Lust, sie ahnten ja nicht, dass sie am Ende des Stücks von Dietmar – Sohn der beiden Speerwurf-Olympiasieger von 1936 – mit dem langen, langen Messer, an dem er schon so liebevoll schnitzte, durchbohrt werden sollten. So wollte es der Autor und Hauptdarsteller.

Geprobt werden konnte nur nachts, nach der letzten Vorstellung des „Neuen Theater Nürnberg“. Bei „Rückkehr nach Terra“ und „Gibt es Geister und Phantome“ gab es keine Probleme. Nur bei der „Wunderlichen Gasterey“, dem Lieblingskind, hatten wir noch nicht die richtige Lösung. Eines Nachts behauptete Blalla, Würste würden nicht Hochdeutsch sprechen und erst recht nicht das merkwürdige Barock-Deutsch, das Dietmar ihnen in den Mund gelegt hatte. Aber wie spechen Würste? – „Kannakkisch!“

Aber was ist Kannakkisch? Wir zerbrachen uns die Köpfe, schon ziemlich trunken eines billigen süßlichen Weines namens Lambrusco. Nach drei Stunden hatten wir’s geschafft. Das Stück war übersetzt. Die Blutwurst sagte jetzt nicht mehr: „Bon Matin, Bruder, ist eine kleine Visite gefällig?“ sondern „Bomati Budda, is gefälli i kli visit?“, „Oder stör ich?“ – „Odde story?“, „Ich geh schon wieder, ich geh schon wieder!“ – „Igoschowodda, Igoschowodda!“ – Und so weiter. Nur Latein blieb Latein. Nach einer Woche war die Musik fertig, entweder auf Tonband aufgenommen oder mit Richard und Georg eingeprobt, und ich verließ die Gasterey bei den Fantastischen Vier. Mein Geld war alle. […]

Die Premiere der drei Stücke war einer der beeindruckendsten Theaterabende, die ich erlebt habe. Das Publikum war entgeistert. Dergleichen war in Nürnberg noch nie gesehen worden. Wunderlich-Galaktisches-Kabuki-Theater-Ballett.

Von Hoffmanns Comic Teater ist nicht viel dokumentiert. Vermisst wird mit oder ohne des Künstlers Memoiren, wenngleich nicht ganz so sehr wie dessen feuerköpfichte Person, eine Aufnahme von Je wodewi dehacka samt nachfolgendem Blut- Und Leberwurst, die etwas zugänglicher als in der monumentalen, derweilen streng limitierten und von eifersüchtigen Erben gehüteten Rio Reiser – Blackbox gemacht wird. Traut sich jemand?

Rio Reiser, um 1970

Bilder: Rio Reiser, eins via seiner von Peter und Gert Möbius Rio Reiser Haus e. V., offiziell betriebenen Website, eins via Max Hölz und eins aus seinem Polaroid-Archiv, auch via offizielle Website, alle um 1970.

Soundtracks: natürlich wie sich das auf einer anständigen Dauer-Arbeits-Party gehört:
Beach Boys: Pet Sounds, aus: Pet Sounds, 1966;
Johnny Cash: Orange Blossom Special, aus: Orange Blossom Special, 1965:

Written by Wolf

24. März 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Herrschaft & Revolte, Novecento

Wer weiß, wem sie geigen – hüt‘ dich, Gesell!

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Update zu Das sind die Realitäten und die muss der Mensch vertreten,
Löblich wird ein tolles Streben, wenn es kurz ist und mit Sinn
und Zum Tanz, den sie schauderlich führen
(und Der Adel und die Revolution):

O Mensch betracht
Hie die Figur,
Die nimmt der Tod
Gleich wie die Blum
Und nicht veracht
All Creatur
Frühe und spoht,
Im Feld vergoht.

Der Todten-Tantz, wie derselbe in der weitberühmten Stadt Basel,
als ein Spiegel Menschlicher Beschaffenheit, gantz künstlich mit lebendigen Farben gemahlet,
nicht ohne nutzliche Verwunderung zu sehen ist, 1786.

Eichendorffs Kehraus ist seine vielleicht übermütigste Ballade, da dauert meine private Forschung noch an. Schweifreime mit gerade einmal zwei Hebungen, das muss sich sehr akkurat reimen. Das war Präzisionsarbeit, Herr Baron.

Eine ähnliche Tonart haben Goethe in Der Totentanz 1813, Ludwig Uhland in Der schwarze Ritter 1815, Justinus Kerner in Andreas ans Anna 1828, Otto von Loeben in Der Tanz mit dem Tode 1819 oder Franz von Gaudy in Der Zug des Todes, gerade in der Vorgängernummer 1837 des Deutschen Musenalmanachs angeschlagen, an Anregungen fehlt es Eichendorff also nicht.

Eichendorff selbst bezieht seine Auffassung vom Totentanz nur auf seine eigene Quelle: aus seinem ersten Roman Ahnung und Gegenwart 1812, erschienen 1815, wo sich die Figur Leontin auf dem Maskenball als der bekannte, leider 1805 als Schandfleck abgerisssene Tod von Basel verkleidet. – Beide Stellen im Vergleich:

——— Joseph von Eichendorff:

Der Kehraus

aus: Deutscher Musenalmanach, 1838:

Es fiedeln die Geigen,
Da tritt in den Reigen
Ein seltsamer Gast,
Kennt keiner den Dürren,
Galant aus dem Schwirren
Die Braut er sich faßt.

Horst Janssen, Totentanz, 1975Hebt an, sich zu schwenken
In allen Gelenken.
Das Fräulein im Kranz:
„Euch knacken die Beine. –“
„Bald rasseln auch deine,
Frisch auf spiel’t zum Tanz!“

Ein Kenner im Ringe
Betrachtet die Sprünge,
Er findet’s gemein.
„Dir kann’s auch nicht schaden!“
Die vornehmen Waden
Muß er schwingen im Reih’n.

Die Spröde hinter’m Fächer,
Der Zecher vom Becher,
Der Dichter so lind,
Muß auch mit zum Tanze,
Daß die Lorbeern vom Kranze
Fliegen im Wind.

So schnurret der Reigen
Zum Saal ‚raus in’s Schweigen
Der prächtigen Nacht,
Die Klänge verwehen,
Die Hähne schon krähen,
Da verstieben sie sacht. –

So ging’s schon vor Zeiten
Und geht es noch heute,
Und hörest du hell
Aufspielen zum Reigen,
Wer weiß, wem sie geigen –
Hüt‘ dich, Gesell!

Jacques Callot, Totentanz

Ahnung und Gegenwart

Zweites Buch, Elftes Kapitel,
1812, Johann Leonhard Schrag, Nürnberg 1815:

Es war schon Abend, als Friedrich in der Residenz ankam. Er war sehr schnell geritten, so daß Erwin fast nicht mehr nach konnte. Je einsamer draußen der Kreis der Felder ins Dunkel versank, je höher nach und nach die Türme der Stadt, wie Riesen, sich aus der Finsternis aufrichteten, desto lichter war es in seiner Seele geworden vor Freude und Erwartung. Er stieg im Wirtshause ab und eilte sogleich zu Rosas Wohnung. Wie schlug sein Herz, als er durch die dunklen Straßen schritt, als er endlich die hell beleuchtete Treppe in ihrem Hause hinaufstieg. Er mochte keinen Bedienten fragen, er öffnete hastig die erste Tür. Das große, getäfelte Zimmer war leer, nur im Hintergrunde saß eine weibliche Gestalt in vornehmer Kleidung. Er glaubte sich verirrt zu haben und wollte sich entschuldigen. Aber das Mädchen vom Fenster kam sogleich auf ihn zu, führte sich selbst als Rosas Kammermädchen auf und versicherte sehr gleichgültig, die Gräfin sei auf den Maskenball gefahren. Diese Nachricht fiel wie ein Maifrost in seine Lust. Es war ihm vor Freude gar nicht eingefallen, daß er sie verfehlen könnte, und er hatte beinahe Lust zu zürnen, daß sie ihn nicht zu Hause erwartet habe. Wo ist denn die kleine Marie? fragte er nach einer Weile wieder. O, die ist lange aus den Diensten der Gräfin, sagte das Mädchen mit gerümpftem Näschen und betrachtete ihn von oben bis unten mit einer schnippischen Miene. Friedrich glaubte, es gälte seiner staubigen Reisekleidung; alles ärgerte ihn, er ließ den Affen stehn und ging, ohne seinen Namen zu hinterlassen, wieder fort.

Josef Fenneker, TotentanzVerdrüßlich nahm er den Weg zu den Redoutensälen. Die Musik schallte lockend aus den hohen Bogenfenstern, die ihre Scheine weit unten über den einsamen Platz warfen. Ein alter Springbrunnen stand in der Mitte des Platzes, über den nur noch einzelne dunkle Gestalten hin und her irrten. Friedrich blieb lange an dem Brunnen stehen, der seltsam zwischen den Tönen von oben fortrauschte. Aber ein Polizeidiener, der, in seinen Mantel gehüllt, an der Ecke lauerte, verjagte ihn endlich durch die Aufmerksamkeit, mit der er ihn zu beobachten schien.

Er ging ins Haus hinein, versah sich mit einem Domino und einer Larve, und hoffte seine Rosa noch heute in dem Getümmel herauszufinden. Geblendet trat er aus der stillen Nacht in den plötzlichen Schwall von Tönen, Lichtern und Stimmen, der wie ein Zaubermeer mit rastlos beweglichen, klingenden Wogen über ihm zusammenschlug. Zwei große, hohe Säle, nur leicht voneinander geschieden, eröffneten die unermeßlichste Aussicht. Er stellte sich in das Bogentor zwischen beide, wo die doppelten Musikchöre aus beiden Sälen verworren ineinander klangen. Zu beiden Seiten toste der seltsame, lustige Markt, fröhliche, reizende und ernste Bilder des Lebens zogen wechselnd vorüber, Girlanden von Lampen schmückten die Wände, unzählige Spiegel dazwischen spielten das Leben ins Unendliche, so daß man die Gestalten mit ihrem Widerspiel verwechselte, und das Auge verwirrt in der grenzenlosen Ferne dieser Aussicht sich verlor. Ihn schauderte mitten unter diesen Larven. Er stürzte sich selber mit in das Gewimmel, wo es am dichtesten war.

Gewöhnliches Volk, Charaktermasken ohne Charakter vertraten auch hier, wie draußen im Leben, überall den Weg: gespreizte Spanier, papierne Ritter, Taminos, die über ihre Flöte stolperten, hin und wieder ein behender Harlekin, der sich durch die unbehülflichen Züge hindurchwand und nach allen Seiten peitschte. Eine höchst seltsame Maske zog indes seine Aufmerksamkeit auf sich. Es war ein Ritter in schwarzer, altdeutscher Tracht, die so genau und streng gehalten war, daß man glaubte, irgend ein altes Bild sei aus seinem Rahmen ins Leben hinausgetreten. Die Gestalt war hoch und schlank, sein Wams reich mit Gold, der Hut mit hohen Federn geschmückt, die ganze Pracht doch so uralt, fremd und fast gespenstisch, daß jedem unheimlich zumute ward, an dem er vorüberstreifte. Er war übrigens galant und wußte zu leben. Friedrich sah ihn fast mit allen Schönen buhlen. Doch alle machten sich gleich nach den ersten Worten schnell wieder von ihm los, denn unter den Spitzen der Ritterärmel langten die Knochenhände eines Totengerippes hervor.

Friedrich wollte eben den sonderbaren Gast weiter verfolgen, als sich die Bahn mit einem Janhagel junger Männer verstopfte, die auf einer Jagd begriffen schienen. Bald erblickte er auch das flüchtige Reh. Es war eine kleine, junge Zigeunerin, sehr nachlässig verhüllt, das schöne schwarze Haar mit bunten Bändern in lange Zöpfe geflochten. Sie hatte ein Tamburin, mit dem sie die Zudringlichsten so schalkisch abzuwehren wußte, daß ihr alles nur um desto lieber nachfolgte. Jede ihrer Bewegungen war zierlich, es war das niedlichste Figürchen, das Friedrich jemals gesehen.

In diesem Augenblicke streiften zwei schöne, hohe weibliche Gestalten an ihm vorbei. Zwei männliche Masken drängten sich nach. Es ist ganz sicher die Gräfin Rosa, sagte die eine Maske mit düsterer Stimme. Friedrich traute seinen Ohren kaum. Er drängte sich ihnen schnell nach, aber das Gewimmel war zu groß, und sie blieben ihm immer eine Strecke voraus. Er sah, daß der schwarze Ritter den beiden weiblichen Masken begegnete, und der einen im Vorbeigehen etwas ins Ohr raunte, worüber sie höchst bestürzt schien und ihm eine Weile nachsah, während er längst schon wieder im Gedränge verschwunden war. Mehrere Parteien durchkreuzten sich unterdes von neuem, und Friedrich hatte Rosa aus dem Gesichte verloren.

Ermüdet flüchtete er sich endlich an ein abgelegenes Fenster, um auszuruhen. Er hatte noch nicht lange dort gestanden, als die eine von den weiblichen Masken eiligst ebenfalls auf das Fenster zukam. Er erkannte sogleich seine Rosa an der Gestalt. Die eine männliche Maske folgte ihr auf dem Fuße nach, sie schienen beide den Grafen nicht zu bemerken. Nur einen einzigen Blick! bat die Maske dringend. Rosa zog ihre Larve weg und sah den Bittenden mit den wunderschönen Augen lächelnd an. Sie schien unruhig. Ihre Blicke durchschweiften den ganzen Saal und begegneten schon wieder dem schwarzen Ritter, der wie eine Totenfahne durch die bunten Reihen drang. Ich will nach Hause sagte sie darauf ängstlich bittend, und Friedrich glaubte Tränen in ihren Augen zu bemerken. Sie bedeckte ihr Gesicht schnell wieder mit der Larve. Ihr unbekannter Begleiter bot ihr seinen Arm, drängte Friedrich, der gerade vor ihr stand, stolz aus dem Wege und bald hatten sich beide in dem Gewirre verloren.

Josef Fenneker, TotentanzDer schwarze Ritter war indes bei dem Fenster angelangt. Er blieb vor Friedrich stehen und sah ihm scharf ins Gesicht. Dem Grafen grauste, so allein mit der wunderbaren Erscheinung zu stehn, denn hinter der Larve des Ritters schien alles hohl und dunkel, man sah keine Augen. Wer bist du? fragte ihn Friedrich. Der Tod von Basel, antwortete der Ritter und wandte sich schnell fort. Die Stimme hatte etwas so Altbekanntes und Anklingendes aus längstvergangener Zeit, daß Friedrich lange sinnend stehen blieb. Er wollte ihm endlich nach, aber er sah ihn schon wieder im dicksten Haufen mit einer Schönen wie toll herumwalzen.

Ein Getümmel von Lichtern draußen unter den Fenstern lenkte seine Aufmerksamkeit ab. Er blickte hinaus und sah bei dem Scheine einer Fackel, wie die männliche Maske Rosa nebst noch einer andern Dame in den Wagen hob. Der Wagen rollte darauf schnell fort, die Lichter verschwanden, und der Platz unten war auf einmal still und finster.

Er warf das Fenster zu und wandte sich in den glänzenden Saal zurück, um sich ebenfalls fortzubegeben. Der schwarze Ritter war nirgends mehr zu sehen. Nach einigem Herumschweifen traf er in der mit Blumen geschmückten Kredenz noch einmal auf die nur allzugefällige Zigeunerin. Sie hatte die Larve abgenommen, trank Wein und blickte mit den muntern Augen reizend über das Glas weg. Friedrich erschrak, denn es war die kleine Marie. Er drückte seine Larve fester ins Gesicht und faßte das niedliche Mädchen bei der Hand. Sie zog sie verwundert zurück und zeichnete mit ihrem Finger ratend eine Menge Buchstaben in seine flache Hand, aber keiner paßte auf seinen Namen.

Er zog sie an ein Tischchen und kaufte ihr Zucker und Naschwerk. Mit ungemeiner Zierlichkeit wußte das liebliche Kind alles mit ihm zu teilen, und blinzelte ihm dazwischen oft neugierig in die Augen. Unbesorgt um die Reize, die sie dabei enthüllte, riß sie einen Blumenstrauß von ihrem Busen und überreichte ihn lächelnd ihrem unbekannten, sonderbaren Wirte, der immerfort so stumm und kalt neben ihr saß. Die Blumen sind ja alle schon verwelkt, sagte Friedrich, zerzupfte den Strauß und warf die Stücke auf die Erde. Marie schlug ihn lachend auf die Hand und riß ihm die noch übrigen Blumen aus. Er bat endlich um die Erlaubnis, sie nach Hause begleiten zu dürfen, und sie willigte mit einem freudigen Händedruck ein.

Als er sie nun durch den Saal fortführte, war unterdes alles leer geworden. Die Lampen waren größtenteils verlöscht und warfen nur noch zuckende, falbe Scheine durch den Qualm und Staub, in welchen das ganze bunte Leben verraucht schien. Die Musikanten spielten wohl fort, aber nur noch einzelne Gestalten wankten auf und ab, demaskiert, nüchtern und übersatt. Mitten in dieser Zerstörung glaubte Friedrich mit einem flüchtigen Blicke Leontin totenblaß und mit verwirrtem Haar in einem fernen Winkel schlafen zu sehen. Er blieb erstaunt stehen, alles kam ihm wie ein Traum vor. Aber Marie drängte ihn schnell und ängstlich fort, als wäre es unheimlich, länger an dem Orte zu hausen.

Als sie unten zusammen im Wagen saßen, sagte Marie zu Friedrich: Ihre Stimme hat eine sonderbare Ähnlichkeit mit der eines Herrn, den ich sonst gekannt habe. Friedrich antwortete nicht darauf. Ach Gott! sagte sie bald nachher, die Nacht ist heut gar so schwül und finster! Sie öffnete das Kutschenfenster, und er sah bei dem matten Schimmer einer Laterne, an der sie vorüberflogen, daß sie ernsthaft und in Gedanken gesunken war. Sie fuhren lange durch eine Menge enger und finsterer Gäßchen, endlich rief Marie dem Kutscher zu, und sie hielten vor einem abgelegenen, kleinen Hause. Sie sprang schnell aus dem Wagen und in das Haus hinein. Ein Mädchen, das in Mariens Diensten zu sein schien, empfing sie an der Haustür. Er ist mein, er ist mein! rief Marie kaum hörbar, aber aus Herzensgrunde, dem Mädchen im Vorübergehen zu und schlüpfte in ein Zimmer.

Das Mädchen führte den Grafen mit prüfenden Blicken über ein kleines Treppchen zu einer andern Tür. Warum, sagte sie, sind Sie gestern abend nicht schon zu uns gekommen, da Sie vorbeiritten und so freundlich heraufgrüßten? Ich sollte wohl nichts sagen, aber seit acht Tagen spricht und träumt die arme Marie von nichts als von Ihnen, und wenn es lange gedauert hätte, wäre sie gewiß bald gestorben. Friedrich wollte fragen, aber sie schob die Tür hinter ihm zu und war verschwunden.

Er trat in eine fortlaufende Reihe schöner, geschmackvoller Zimmer. Ein prächtiges Ruhebett stand im Hintergrunde, der Fußboden war mit reichen Teppichen geschmückt, eine alabasterne Lampe erleuchtete das Ganze nur dämmernd. In dem letzten Zimmer sah er die niedliche Zigeunerin vor einem großen Wandspiegel stehen und ihre Haare flüchtig in Ordnung bringen. Als sie ihn in dem vordern Zimmer erblickte, kam sie sogleich herbeigesprungen und stürzte mit einer Hingebung in seine Arme, die keine Verstellung mit ihren gemeinen Künsten jemals erreicht. Der erstaunte Friedrich riß in diesem Augenblicke seinen Mantel und die Larve von sich. Wie vom Blitze berührt, sprang Marie bei diesem Anblicke auf, stürzte mit einem lauten Schrei auf das Ruhebett und drückte ihr mit beiden Händen bedecktes Gesicht tief in die Kissen.

Was ist das! sagte Friedrich, sind deine Freunde Gespenster geworden? Warum hast du mich geliebt, eh‘ du mich kanntest, und fürchtest dich nun vor mir? Marie blieb in ihrer Stellung und ließ die eine Hand, die er gefaßt hatte, matt in der seinigen; sie schien ganz vernichtet. Mit noch immer vestecktem Gesichte sagte sie leise und gepreßt: Er war auf dem Balle dieselbe Gestalt, dieselbe Maske. Du hast dich in mir geirrt, sagte Friedrich, und setzte sich neben sie auf das Bett, viel schwerer und furchtbarer irrst du dich am Leben, leichtsinniges Mädchen! Wie der schwarze Ritter heute auf dem Balle, tritt überall ein freier, wilder Gast ungeladen in das Fest. Er ist so lustig aufgeschmückt und ein rüstiger Tänzer, aber seine Augen sind leer und hohl, und seine Hände totenkalt, und du mußt sterben, wenn er dich in die Arme nimmt, denn dein Buhle ist der Teufel. Marie, seltsam erschüttert von diesen Worten, die sie nur halb vernahm, richtete sich auf. Er hob sie auf seinen Schoß, wo sie still sitzen blieb, während er sprach. Ihre Augen und Mienen kamen ihm in diesem Augenblicke wieder so unschuldig und kindisch vor, wie ehemals. Was ist aus dir geworden, arme Marie! fuhr er gerührt fort. Als ich das erste Mal auf die schöne grüne Waldeswiese hinunterkam, wo dein stilles Jägerhaus stand, wie du fröhlich auf dem Rehe saßest und sangst, der Himmel war so heiter, der Wald stand frisch und rauschte im Winde, von allen Bergen bliesen die Jäger auf ihren Hörnern, das war eine schöne Zeit! Ich habe einmal an einem kalten, stürmischen Herbsttage ein Frauenzimmer draußen im Felde sitzen gesehen, die war verrückt geworden, weil sie ihr Liebhaber, der sich lange mit ihr herumgeherzt, verlassen hatte. Er hatte ihr versprochen, noch an demselben Tage wiederzkommen. Sie ging nun seit vielen Jahren alle Tage auf das Feld und sah immerfort auf die Landstraße hinaus. Sie hatte noch immer das Kleid an, das sie damals getragen hatte, das war schon zerrissen und seitdem ganz altmodisch geworden. Sie zupfte immer an dem Ärmel und sang ein altes Lied zum Rasendwerden. Marie stand bei diesen Worten schnell auf und ging an den Tisch. Friedrich sah auf einmal Blut über ihre Hand hervorrinnen. Alles dieses geschah in einem Augenblicke.

Was hast du vor? rief Friedrich, der unterdes herbeigesprungen war. Was soll mir das Leben! antwortete sie mit verhaltener, trostloser Stimme. Er sah, daß sie sich mit einem Federmesser gerade am gefährlichsten Flecke unterhalb der Hand verwundet hatte. Pfui, sagte Friedrich, wie bist du seitdem unbändig geworden! Das Mädchen wurde blaß, als sie das Blut erblickte, das häufig über den weißen Arm floß. Er zog sie an das Bett hin und riß schnell ein Band aus ihren Haaren. Sie kniete vor ihm hin und ließ sich gutwillig von ihm das Blut stillen und die Wunde verbinden. Das heftige Mädchen war währenddessen ruhiger geworden. Sie lehnte den Kopf an seine Knie und brach in einen Strom von Tränen aus.

Da wurden sie durch Mariens Kammermädchen unterbrochen, die plötzlich in die Stube stürzte und mit Verwirrung vorbrachte, daß soeben der Herr auf dem Wege hierher sei. O Gott! rief Marie sich aufraffend, wie unglücklich bin ich! Das Mädchen aber schob den Grafen, ohne sich weiter auf Erklärungen einzulassen, eiligst aus dem Zimmer und dem Hause und schloß die Tür hinter ihm ab.

Draußen auf der Straße, die leer und öde war, begegnete er bald zwei männlichen, in dunkle Mäntel dichtverhüllten Gestalten, die durch die neblige Nacht an den Häusern vorbeistrichen. Der eine von ihnen zog einen Schlüssel hervor, eröffnete leise Mariens Haustür und schlüpfte hinein. Desselben Stimme, die er jetzt im Vorbeigehen flüchtig gehört hatte, glaubte er vom heutigen Maskenballe auffallend wiederzuerkennen.

Da hierauf alles auf der Gasse ruhig wurde, eilte er endlich voller Gedanken seiner Wohnung zu. Oben in seiner Stube fand er Erwin, den Kopf auf den Arm gestützt, eingeschlummert. Die Lampe auf dem Tisch war fast ausgebrannt und dämmerte nur noch schwach über das Zimmer. Der gute Junge hatte durchaus seinen Herrn erwarten wollen, und sprang verwirrt auf, als Friedrich hereintrat. Draußen rasselten die Wagen noch immerfort, Läufer schweiften mit ihren Windlichtern an den dunklen Häusern vorüber, im Osten standen schon Morgenstreifen am Himmel. Erwin sagte, daß er sich in der großen Stadt fürchte; das Gerassel der Wagen wäre ihm vorgekommen wie ein unaufhörlicher Sturmwind, die nächtliche Stadt wie ein dunkler eingeschlafener Riese. Er hat wohl recht, es ist manchmal fürchterlich, dachte Friedrich, dann ihm war bei diesen Worten, als hätte dieser Riese Marie und seine Rosa erdrückt, und der Sturmwind ginge über ihre Gräber. Bete, sagte er zu dem Knaben, und leg dich ruhig schlafen! Erwin gehorchte, Friedrich aber blieb noch auf. Seine Seele war von den buntwechselnden Erscheinungen dieser Nacht mit einer unbeschreiblichen Wehmut erfüllt, und er schrieb heute noch folgendes Gedicht auf:

Der armen Schönheit Lebenslauf

Die arme Schönheit irrt auf Erden,
So lieblich Wetter draußen ist,
Möcht gern recht viel gesehen werden,
Weil jeder sie so freundlich grüßt.

Josef Fenneker, TotentanzUnd wer die arme Schönheit schauet,
Sich wie auf großes Glück besinnt,
Die Seele fühlt sich recht erbauet,
Wie wenn der Frühling neu beginnt.

Da sieht sie viele schöne Knaben,
Die reiten unten durch den Wind,
Möcht manchen gern im Arme haben,
Hüt dich, hüt dich, du armes Kind!

Da ziehn manch redliche Gesellen,
Die sagen: ‚Hast nicht Geld noch Haus,
Wir fürchten deine Augen helle,
Wir haben nichts zum Hochzeitsschmaus.‘

Von andern tut sie sich wegdrehen,
Weil keiner ihr so wohl gefällt,
Die müssen traurig weitergehen,
Und zögen gern ans End‘ der Welt.

Da sagt sie: ‚Was hilft mir mein Sehen,
Ich wünscht‘, ich wäre lieber blind,
Da alle furchtsam von mir gehen,
Weil gar so schön mein Augen sind.‘

Nun sitzt sie hoch auf lichtem Schlosse,
In schöne Kleider putzt sie sich,
Die Fenster glühn, sie winkt vom Schlosse,
Die Sonne blinkt, das blendet dich.

Die Augen, die so furchtsam waren,
Die haben jetzt so freien Lauf,
Fort ist das Kränzlein aus den Haaren,
Und hohe Federn stehn darauf.

Das Kränzlein ist hinausgerissen,
Ganz ohne Scheu sie mich anlacht;
Geh du vorbei: sie wird dich grüßen,
Winkt dir zu einer schönen Nacht.

Da sieht sie die Gesellen wieder,
Die fahren unten auf dem Fluß,
Es singen laut die lust’gen Brüder;
So furchtbar schallt des einen Gruß:

‚Was bist du für ’ne schöne Leiche!
So wüste ist mir meine Brust,
Wie bist du nun so arm, du Reiche,
Ich hab an dir nicht weiter Lust!‘

Der Wilde hat ihr so gefallen,
Laut schrie sie auf bei seinem Gruß,
Vom Schloß möcht sie hinunterfallen
Und unten ruhn im kühlen Fluß.

Sie blieb nicht länger mehr da oben,
Weil alles anders worden war,
Von Schmerz ist ihr das Herz erhoben,
Da ward’s so kalt, doch himmlisch klar;

Da legt sie ab die goldnen Spangen,
Den falschen Putz und Ziererei,
Aus dem verstockten Herzen drangen
Die alten Tränen wieder frei.

Kein Stern wollt‘ nicht die Nacht erhellen,
Da mußte die Verliebte gehn,
Wie rauscht der Fluß! die Hunde bellen,
Die Fenster fern erleuchtet stehn.

Nun bist du frei von deinen Sünden,
Die Lieb zog triumphierend ein,
Du wirst noch hohe Gnade finden,
Die Seele geht in Hafen ein.

Der Liebste war ein Jäger worden,
Der Morgen schien so rosenrot,
Da blies er lustig auf dem Horne,
Blies immerfort in seiner Not.

Basler Totentanz

Bilder: via Frank T. Zumbachs Mysterious World: 1.: Horst Janssen, 1975, 12. Mai 2015;
2.: Jacques Callot, 21. November 2013;
3, 4 und 5: Josef Fenneker, 11. November 2016;
6.: Johann Rudolf Feyerabend: Aquarell-Kopie vom Basler Totentanz, 1806.

Soundtrack: Franz Liszt: Totentanz. Paraphrase über „Dies irae“, ebenfalls im Vergleich:
Valentina Lisitsa in der Version für Klavier und Orchester, 1847–1853:

und Marta Czech mit der Bearbeitung für 1 Klavier, 1860–1865 (Entstehungsjahr fraglich):

Written by Wolf

17. März 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Romantik, Vier letzte Dinge: Tod

Blumenstück 010: Der Pirat und die tosende See

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Update zu Vielleicht bis zum Meer,
Zu schweigen beginnen,
Du warst den Meeren mitternachts entstiegen,
Seemannsgarn & Wahrheit
und Herzschlag:

——— Friedrich Dürrenmatt:

Meere

aus: Daniel Keel, Anna von Planta, Hrsgg.:
Das Mögliche ist ungeheuer. Ausgewählte Gedichte, Diogenes, Zürich 1993,
cit. nach: Tintenfaß. Das Magazin für den überforderten Intellektuellen, Nummer 21, Diogenes, Zürich 1997:

Ich liebe das Haus zu verlassen

In einen Tag zu gehen, der sich
gegen Abend neigt

Durch Meere roten Laubs zu waten

Und die See halt so: Tos.

Der Pirat und die tosende See, 2006

Pirat: Johanna (* 1990, mit 16), 2006;
die tosende See: * Isar (Würm-Kaltzeit, mit ca. 10.000 bis 115.000), 2006.

Soundtrack: Rummelsnuff: Trägt die Woge dein Boot, aus: Himmelfahrt, 2012:

Written by Wolf

10. März 2023 at 00:01

Tomatensuppe Salomonis

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Update zu Nur die Wurst hat zwei,
Das Beste sind die Kartoffeln
und Goethes Kindergartenfutter:

Um die Clavicula Salomonis des biblischen Königs Salomo(n) lassen sich gleich zwei Schlüsselstellen der Weltliteratur herumwickeln: einmal bei Goethe, wie Mephisto sich seit Faust. Ein Fragment 1788 in Fausti Studierzimmer – „Faust mit dem Pudel hereintretend“ – vom Pudel zum Teufel auswächst, und einmal bei Neil Gaiman im ersten Teil der Sandman-Comics, wie Roderick Burgess den Traum, das ist: der Sandman, statt seiner älteren Schwester, das ist: der Tod, für den größten Teil des 20. Jahrhunderts beschwört und einsperrt.

Amanda Pike hat diese Beziehung entdeckt und erklärt sie für The Sandman Group, 3. November 2022:

If you’re familiar with the medieval grimoire The Key of Solomon (referenced in Goethe’s Faust), it’s the grimoire supposedly written by King Solomon himself. The oldest copy is in the British Museum while English translations can be found in many book stores.

Anyway, I thought this was funny. King Solomon’s Tomato Soup Recipe. 😛

Imagine if Roderick got this spell by mistake.

Das Rezept für Tomatensuppe in Verbindung mit dem König Salomo ist bildlich dargestellt mit der Legende:

About this time last year I made a fake solomon seal, infiltrated some of the edgy appropriative „qabala“ groups, posted this and told people it helps them see through lies.

It says tomato soup. Outside letter say garlic bread. Alchemical symbols mean salt, water, potassium, boil and mix thoroughly. The Latin is just the word for tomato. It went mini-viral.

King Solomon's Tomato Soup Recipe

Amanda Pikes erwähnte „Reference in Goethe’s Faust“ ist in der Tragödie erstem Theil, Vers 1238 bis 1258:

Soll ich mit dir das Zimmer theilen,
Pudel, so laß das Heulen,
So laß das Bellen!
Solch einen störenden Gesellen
Mag ich nicht in der Nähe leiden.
Einer von uns beyden
Muß die Zelle meiden.
Ungern heb ich das Gastrecht auf,
Die Thür‘ ist offen, hast freyen Lauf.
Aber was muß ich sehen!
Kann das natürlich geschehen?
Ist es Schatten? ist’s Wirklichkeit?
Wie wird mein Pudel lang und breit!
Er hebt sich mit Gewalt,
Das ist nicht eines Hundes Gestalt!
Welch ein Gespenst bracht‘ ich ins Haus!
Schon sieht er wie ein Nilpferd aus,
Mit feurigen Augen, schrecklichem Gebiß.
O! du bist mir gewiß!
Für solche halbe Höllenbrut
Ist Salomonis Schlüssel gut.

Was Roderick Burgess mit dem Sandman statt mit Death anstellt und was daraus erwächst, nimmt zahlreiche Comicseiten ein und kann daher nicht hier wiedergegeben werden: Das Copyright-Gefrickel um eine Comicserie, deren 75 Einzelhefte ab 1989 noch für ein paar eingeweihte Nerds gut waren, aber 2022 zur ausgewachsenen Netflix-Serie umgeschmolzen wurden, tu ich mir nicht an. Den Zyklus von neil Gaiman sollte ohnehin jeder (und selbstverständlich jede) mal gelesen haben; wenn Sie statt Neil Gaiman 1989 bis 1996 Wesley Dodd 1939 bis 1953 erwischt haben, erzählen Sie mir, wie’s war, das interessiert mich fast noch mehr als die Clavicula Salomonis, von der man reich werden soll. Und natürlich, was dabei rauskommt, wenn man Tomaten mit Salzwasser und Kaliumcarbonat, vulgo Pottasche zusammenrührt, um sie als Tomatensuppe auszugeben, von der man wenigstens satt werden soll.

Bild: Anonymes Meme in edgy appropriative „qabala“ groups, via Amanda Pike, 3. November 2022.

Soundtrack: John Hinckley: Never Ending Quest, 2021:

Written by Wolf

3. März 2023 at 00:01

Als der Vicomte de Chateaubriand einmal nicht Lord Byron traf (denn mich konnte die Welt verlieren, ohne mein Verschwinden überhaupt zu bemerken)

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Update zu Seht, Ehrenbreitstein mit gesprengter Mauer,
Hair as red as stockings blue,
Der Sommer ohne Freischütz und
Begräbnis des Glaubens (L’enterrement de la foi):

Sand pits. View near Harrow on the Hill

——— Lord Byron:

Lines written beneath an Elm
In the
Churchyard of Harrow on the Hill

September 2, 1807:

Spot of my youth! whose hoary branches sigh,
Swept by the breeze that fans thy cloudless sky;
Where now alone I muse, who oft have trod,
With those I loved, thy soft and verdant sod;
With those who, scatter’d far, perchance deplore,
Like me, the happy scenes they knew before:
Oh! as I trace again thy winding hill,
Mine eyes admire, my heart adores thee still,
Thou drooping Elm! beneath whose boughs I lay,
And frequent mus’d the twilight hours away;
Where, as they once were wont, my limbs recline,
But, ah! without the thoughts which then were mine:
How do thy branches, moaning to the blast,
Invite the bosom to recall the past,
And seem to whisper, as they gently swell,
„Take, while thou canst, a lingering, last farewell!“

     When Fate shall chill, at length, this fever’d breast,
And calm its cares and passions into rest,
Oft have I thought, ‚twould soothe my dying hour,—
If aught may soothe, when Life resigns her power,—
To know some humbler grave, some narrow cell,
Would hide my bosom where it lov’d to dwell;
With this fond dream, methinks ‚twere sweet to die—
And here it linger’d, here my heart might lie;
Here might I sleep where all my hopes arose,
Scene of my youth, and couch of my repose;
For ever stretch’d beneath this mantling shade,
Press’d by the turf where once my childhood play’d;
Wrapt by the soil that veils the spot I lov’d,
Mix’d with the earth o’er which my footsteps mov’d;
Blest by the tongues that charm’d my youthful ear,
Mourn’d by the few my soul acknowledged here;
Deplor’d by those in early days allied,
And unremember’d by the world beside.

Byron's Elm

Das schrieb – der 6. und bekannteste – Lord Byron über die Ulme, unter welcher er als Schüler der Harrow School zu Harrow on the Hill in Greater London gerne verweilt hatte. Schüler war Seine Lordschaft dort 1801 bis 1805, das Gedicht stammt, siehe oben, von 1807. 1817 wurde Byron Vater seiner Tochter Clara Allegra Byron, die 1822 im Alter von fünf Jahren schon wieder starb und (nicht erst) dadurch als tragisches Opfer einer unseligen Verkettung aus missverstandener Vaterschaft und unzeitiger, nämlich erst posthumer Aufmerksamkeit gelten muss; eine düstere Geschichte.

Ebenfalls 1822 erinnerte sich der Franzose Chateaubriand beim Anblick der Harrowschen Schauplätze an seinen englischen Berufskollegen, biochronologisch noch nichts von Klein-Allegras Kindstod ahnend; eine weit weniger düstere Geschichte:

Byron's Tomb

——— François-René de Chateaubriand:

London, April bis September 1822.

Lord Byron.

aus: Erinnerungen von jenseits des Grabes. Meine Jugend. Mein Leben als Soldat und Reisender,
12. Buch, Abschnitt 4. Neu bearbeitet, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Brigitte Sändig,
ars una, München 1994, Seite 311 bis 315:

Während meines englischen Exils lebte Lord Byron in der Schule von Harrow, einem Dorf zehn Meilen von London. Er war noch ein Knabe, ich ein junger Mann und ebenso unbekannt wie er; er war im schottischen Weideland, am Ufer des Meeres aufgewachsen wie ich < href=“https://de.wikipedia.org/wiki/Saint-Malo&#8220; target=“_blank“ title=“Saint-Malo, Wikipedia“>in der bretonischen Heide – und ebenfalls am Ufer des Meeres. Er liebte die Bibel und Ossian über alles, genauso wie ich; er sang in Newstead-Abbey von seinen Kindheitserinnerungen wie ich im Schloß von Combourg.

Auf meinen Ausflügen in die Umgebung von London, als ich so unglücklich war, bin ich wohl zwanzigmal durch das Dorf Harrow gekommen, wußte aber nicht, welch großen Geist es beherbergte. Ich habe mich auf den Friedhof unter die Ulme gesetzt, in deren Schatten Lord Byron 1807, als ich aus Palästina zurückkam, die Verse schrieb:

„Baum meiner Jugend, dessen Zweige klagen,
Wenn in dein Laub sich klare Lüftchen wagen,
Wo ich allein jetzt bin, de oft vor Jahren
Den Raum betrat mit der Genossen Scharen …
Wenn das Geschick des Herzens Glut verkühlt,
Und nicht mehr Gram und Leidenschaft drin wühlt …
Hier möcht ich schlafen, wo mein Hoffen lebte,
Wo Jugendlust und Ruhe mich umschwebte;
Auf ewig von dem Schattendach umschlungen,
Bedeckt vom Rasen, wo ich einst gesprungen …
Beweint von Freunden, die ich früh besessen,
Im übrigen – von aller Welt vergessen.“

Und ich werde sagen: Sei gegrüßt, du alte Ulme, zu deren Füßen sich Byron als Kind den Launen seines Alters überließ, während ich in deinem Schatten von René träumte, unter der gleichen Ulme, wo der Dichter später Childe Harold ersann. Byron wünschte sich auf dem Friedhof, der Zeuge seiner Kinderspiele gewesen war, ein namenloses Grab – ein vergeblicher Wunsch, da der Ruhm ihm entgegensteht.

Wenn ich durch Harrow gekommen bin, ohne zu wissen, daß Lord Byron als Kind hier lebte, so sind auch Engländer durch Combourg gereist, ohne zu ahnen, daß ein kleiner Vagabund, der in diesen Wäldern aufwuchs, einige Spuren hinterlassen würde. Der Reisende Arthur Young schrieb, als er durch Combourg fuhr:

„Von Pontorson bis Comburg macht die Gegend einen verwilderten Eindruck. Die Landwirtschaft ist hier nicht weiter entwickelt als bei den Huronen, was im Binnenland unglaublich escheinen mag. Die Bevölkerung ist fast ebenso wild wie das Land, und die Stadt Combourg einer der schmutzigsten und unfreundlichsten Orte weit und breit: Lehmhäuser ohne Fensterscheiben und ein so schlechtes Pflaster, daß man jeden Augenblick fehltritt; keinerlei Kanalisation. – Dennoch gibt es hier ein Schloß, das sogar bewohnt ist. Wer ist dieser Monsieur de Chateaubriand, der Besitzer, der so starke Nerven hat, daß er inmitten all diesen Schmutzes und dieser Armut leben kann? Unterhalb dieses scheußlichen Haufens Elend liegt ein schöner, von Wäldern umgebener See.“

Dieser Monsieur de Chateaubriand war mein Vater: die Stätte , die dem schlechtgelaunten Agronomen so häßlichj erscheint, war nichtsdestoweniger ein edler und schöner, wenngleich düsterer und ernster Wohnsitz. Und hätte Mister Young mich, die schwache Efeupflanze, die sich an diesen unwirtlichen Türmen emporzuranken begann, überhaupt wahrnehmen können, da er nur damit beschäftigt war, unsere Ernte zu sichten?

Es sei mir gestattet, diesen 1822 in England geschriebenen Seiten die nachstehenden, 1834 und 1840 verfaßten anzufügen; sie werden das Kapitel über Lord Byron vervollständigen.

Gedenkstein Allegra Byron von 1980

Es wird vielleicht in Zukunft von einigem Interesse sein, das Zusammentreffen der beiden Häupter der neuen französischen und englischen Schule festzustellen, die beide eine gleiche Basis ihrer Vorstellungen, ihrer Bestimmungen, wenn nicht sogar fast gleiche Lebensgewohnheiten besaßen: Der eine ist Pair von England, der andere Pair von Frankreich; beide haben den Orient bereist und waren einander oft ziemlich nahe, ohne sich je zu sehen; nur ist das Leben des engischen Dichters mit weniger großen Ereignissen durchsetzt als das meinige.

Die ersten Übersetzer, Kommentatoren und Bewunderer Lord Byrons haben sich wohl gehütet, darauf aufmerksam zu machen, daß einige Seiten meiner Werke dem Verfasser des Childe Harold einen Moment in Erinnerung bleiben konnten; sie hätte geglaubt, damit seinen Ruhm zu schmälern. Jetzt, da sich der Enthusiasmus etwas gelegt hat, versagt man mir diese Ehre weniger. Unser unsterblicher Sänger hat im letzten Band seiner Lieder gesagt: „In einer der vorhergehenden Strophen spreche ich von den ‚Leiern‘, die Frankreich Monsieur de Chateaubriand verdankt.“ Ich fürchte nicht, daß dieser Vers von der neuen poetischen Schule veleugnet wird, die, unter Adlerflügeln geboren, sich zu Recht oft eines solchen Ursprungs rühmt. Der Einfluß des Autors von Le Génie du Christianisme ist auch im Ausland spürbar geworden, und es ist vielleicht nur recht und billig anzuerkennen, daß der Sänger von Childe Harold zur gleichen Familie wie René gehört.

Harrow on the Hill, blue doorWas ich hier über die Verwandtschaft der Ideen und der Stimmung zwischen dem Chronisten von René und dem Sänger von Childe Harold gesagt habe, kostet den unsterblichen Barden kein einziges Haar. Wie kann die Muse des schottischen Flusses Dee, die eine Leier und Flügel trägt, durch meine erdverhaftete Muse ohne Laute geschmälert werden? Lord Byron wird leben, da er als Kind seines Jahrhunderts, genau wie ich und Goethe vor uns beiden, die Leidenschaft und das Unglück dieses Jahrhunderts zum Ausdruck gebracht hat; mögen auch meine Irrfahrten und mag das Windlicht meiner gallischen Barke dem Schiff Albions auf unerforschten Meeren als Wegweiser gedient haben.

Überhaupt können zwei Geister von gleicher Beschaffenheit sehr wohl gleiche Vorstellungen entwickeln, ohne daß man ihnen deswegen den Vorwurf machen könnte, daß sie sklavisch dem gleichen Weg gefolgt seien. Es ist erlaubt, in einer fremden Sprache ausgedrückte Ideen und Bilder zu benutzen, um die eigene Sprache damit zu bereichern; das ist in allen Jahrhunderten und zu allen Zeiten so gewesen. Ich gebe gern zu, daß in meiner ersten Jugend Ossian, Werther, die Träumereien eines einsamen Spaziergängers und die Betrachtungen über die Natur meine Ideen beeinflußten; doch habe ich nichts von dem Genuß verheimlicht, den mir die Werke bereiteten, an denen ich mich ergötzte.

Wenn es wahr ist, daß etwas von René in die Substanz der einzigen Person eingegangen ist, die unter verschiedenen Namen als Childe Harold, auftritt – als Conrad, Lara, Manfred, der Giaur, wenn Lord Byron mich zufällig durch sein Leben wiederbelebt hätte, sollte er dann die Schwachheit besessen haben, mich nicht ein einziges Mal zu erwähnen? Ich bin also einer jener Väter, die man verleugnet, wenn man die Macht erlangt hat? Kann ich Lord Byron, der fast alle französischen Schriftsteller seiner Zeit zitiert, völlig unbekannt gebrlieben sein? Hat er nie von mir sprechen hören, als um ihn herum die englischen Zeitungen, genau wie die französischen, zwanzig Jahre lang von dem Streit um meine Werke widerhallten und die New-Times zwischen dem Verfasser von Le Génie du Christianisme und dem von Childe Harold eine Parallele zog?

Es gibt keinen Geist, so glänzend er auch sei, der nicht seine leicht verwundbaren Stellen, seine argwöhnischen Anwandlungen hat; man will das Zepter behalten, fürchtet, es teilen zu müssen, ärgert sich über den Vergleich mit anderen. So hat ein anderes großes Talent meinen Namen in einem Werk über Literatur nicht erwähnt. Gott sei Dank schätze ich mich nach meinem wahren Wert und habe nie nach Herrschaft gestrebt; da ich nur an die religiöse Wahrheit glaube – und eine Form dieser Wahrheit ist die Freiheit – habe ich ebensowenig Glauben in mich al sin irgendetwas anderes hier auf Erden gesetzt. Wenn ich aber bewunderte, so war es immer mein Bedürfnis, nicht zu schweigen; darum erklärte ich meine Begeisterung für Madame de Staël und für Lord Byron. Was gibtr es Schöneres als als Bewunderung? Das ist himmlische Liebe, Hingebung bis zum Kult. Man fühlt sich von Dankbarkeit für die Gottheit durchdrungen, die die Grundlagen unserer Fähigkeiten erweitert, die unserer Seele neue Aussichten eröffnet, die uns ein so großes, so reines, von Furcht und Neid ganz freies Glück gewährt.

Übrigens beweist der kleine Einwand, den ich in diesen Memoiren gegen den größten englischen Dichter seit Milton erhebe, nur eines: den hohen Wert, den ich darauf gelegt hätte, daß sich seine Muse meiner erinnert.

Harrow on the Hill, Schule und Kirche

Lord Byron hat auf erbärmliche Weise Schule gemacht. Ich nehme an, er war genauso betroffen von den Childe Harolds, die er ins Leben gerufen hat, wie ich es über die Renés bin, die um mich herum ihren Träumen nachhängen.

Das Leben Lord Byrons ist Gegenstand vieler Nachforschungen und Verleumdungen. Die jungen Männer haben seine magischen Worte für puren Ernst genommen; die Frauen waren geneigt, sich, wenngleich mit Entsetzen, von diesem Ungeheuer verführen zu lassen, wollten diesen einsamen und unglücklichen Satan trösten. Wer weiß? Vielleicht hat er die Frau nicht gefunden, die er suchte, ein Weib, das schön genug, ein Herz, das ebenso weit war wie das seinige. Einer trügerischen Meinung nach ist Byron die alte Schlange der Verführung und der Verderbtheit, nur weil er die Verderbtheit des menschlichen Geschlechts wahrnimmt. Er ist ein unseliger, leidender Genius, der zwischen die Geheimnisse der Materie und des Geistigen gestellt ist, der keine Lösung für das Rätsel des Universums sieht, der das Leben als eine abscheuliche grundlose Ironie, als ausschweifendes Lächeln des Bösen betrachtet. Er ist der Sohn der Verzweiflung, der verachtet und verleugnet und der sich für die unheilbare Wunde, die er in sich trägt, rächt, indem er alles, was sich ihm nähert, durch Wollust zum Schmerz führt. Er ist ein Mann, der das Alter der Unschuld nicht gekannt und nie in die Lage gekommen ist, von Gott verworfen und verflucht zu werden; ein Mann, der bereits verurteilt aus dem Schoße der Natur hervorging und der der Verdammte des Nichts ist.

Dies ist der Byron der überspannten Phantasien, aber wie ich glaube, ist es nicht der wirkliche Byron.

Wie bei den meisten, so sind auch in Lord Byron zwei verschiedene Menschen vereinigt: der Mensch der Natur und der Mensch des Systems. Als der Dichter erkannte, welche Rolle das Publikum ihm zuschrieb, übernahm er sie und begann, die Welt zu verdammen, die er bisher nur träumerisch wahrgenommen hatte. Dieser Prozeß ist aus der chronologischen Ordnung seiner Werke ablesbar.

Sein Genie hat bei weitem nicht das Ausmaß, das man ihm zuschreibt, es ist sogar ziemlich beschränkt. Sein poetisches Denken ist nur ein Seufzer, eine Klage oder eine Verwünschung; als das ist es bewundernswert. Man sollte die Leier nicht danach fragen, was sie denkt, sondern was sie singt.

Sein Geist ist sarkastisch und wandelbar, aber auf eine Art, die aufregt, so daß sein Einfluß unheilvoll ist. Der Schriftsteller hat zweifellos Voltaire gelesen und ahmt ihn nach.

Lord Byron, mit allen Vorzügen ausgestattet, hatte wenig Anlaß, mit seiner Geburt unzufrieden zu sein. Selbst der Vorfall, der ihn unglücklich machte und seine Überlegenheiten mit menschlicher Gebrechlichkeit verband, hätte ihm keinen Kummer verursachen müssen, weil er trotzdem geliebt wurde.

Die Geschwindigkeit, mit der heute der Ruhm vergeht, ist beklagenswert. Nach einigen Jahren – was sage ich? schon nach einigen Monaten hört die Anhimmelei auf und macht dem Verruf Platz. Man sieht schon den Nimbus Byrons verblassen. Wir verstehen seinen Genius besser; in Frankreich wird man ihm länger Altäre errichten als in England. Da Childe Harold sich vor allem durch die Schilderung besonderer, individueller Gefühle auszeichnet, werden die Engländer, die allen gemeinsame Gefühle vorziehen, den Dichter mit seinem tiefenm, traurigen Aufschrei schließlich leugnen. Sie sollten sich damit in Acht nehmen! Wenn sie je das Bild des Mannes zerstören, der sie wieder auleben läßt, was bleibt ihnen dann?

Als ich 1822 während meines Aufenthalts in London meine Ansichten über Lord Byron niederschrieb, hatte er nur noch zwei Jahre auf Erden zu leben; er starb 1824, zu der Zeit, als Enttäuschungen und Widerwärtigkeiten auf ihn zukamen. Ich bin ihm im Leben, er ist mir im Tode vorangegangen. Er wurde vor der Zeit abberufen. Meine Nummer kam vor der seinen, und dennoch wurde die seinige zuerst gezogen. Childe Harold hätte bleiben sollen, denn mich konnte die Welt verlieren, ohne mein Verschwinden überhaupt zu bemerken.

Panorama Harrow on the Hill

Bilder: Harrow on the Hill Churchyard – Byron’s tomb, crosses and John Leighton,
Churchyard Monuments;
Harrow On The Hill, St Mary’s Church, The Peachey Tomb And The Elm 1906,
The Francis Frith Collection;
10 London hills – 8. Harrow Hill…, Exploring London, 2. Juni 2021;
The Short Tragic Life of Allegra Byron, Darkest London, 19. Oktober 2012.

Kirche Harrow on the Hill

Soundtrack: François Devienne (1759 bis 1803): Sonate en quatuor pour le clavecin ou le forte piano avec accompagnement de flûte, cors et alto obligés. Il y a une partie de violoncelle pour remplacer celle du cor (Sonate zu vieren) in F-Dur, live im Auditorium de la Maison de la Radio, Paris 31. Januar 2018:

Written by Wolf

24. Februar 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Land & See, Romantik

Fruchtstück 0006: Ja wer wird denn gleich verzweifeln

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Update zum 200. Eintrag,
Ein Mann zwischen den Altern
und Du hast genug geflennt:

Robert Gernhardt muss nicht eigens, daher wird Marion Vina empfohlen.

„Ist das ein Zeugma?“ fragt die Wölfin.

„Nein“, sag ich, „das ist eine Grafikdesignerin und Illustratorin.“

„Wolfwolfwolf.“

——— Robert Gernhardt:

Trost und Rat

aus: Wörtersee, 1981:

Ja wer wird denn gleich verzweifeln,
weil er klein und laut und dumm ist?
Jedes Leben endet. Leb so,
daß du, wenn dein Leben um ist

von dir sagen kannst: Na wenn schon!
Ist mein Leben jetzt auch um,
habe ich doch was geleistet:
ich war klein und laut und dumm.

Marion Vina, Trost und Rat, 4. Januar 2023

Bild: Marion Vina: Trost und Rat, 4. Januar 2023.

Kleinlaut und klug: Sia: Big Girls Cry, 2014:

Written by Wolf

17. Februar 2023 at 00:01

Missing Poe

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Update zu Etwas distinkt Metaphysisch-Transzendentales,
Weinfassreiten an der Küste der Nacht (oder geschah es bei Tage),
Die Wonnen des Fuchsjägers: 4 fundamentale Voraussetzungen eines seligen Lebens
und vor allem All I lov’d — I lov’d alone:

Poe-Illustration Arthur RackhamDurchgeblättert hab ich dieser Tage den vierten Band Poe, den mit den Gedichten und der ausgewählten Essayistik. Im letzteren Teil fällt auf, dass drei der wichtigsten Stücke über Poetik handeln. Als ob man’s nicht wüsste, aber ich merk mir nie den genauen Namen seiner Bauanleitung für The Raven; The Philosphy of Composition war’s wohl, as opposed to The Rationale of Verse und The Poetic Principle — und dann darf man sich noch dreierlei übersetzte Überschriften dazumerken und kennt sich grad noch soweit aus, dass His Poeness die Poetik alles andere denn wurschtegal war. Und dann steht unter Anmerkungen noch zur Logik des Verses (das mit dem Rationale) gut versteckt, dass es auch noch „eine Arbeit, die er ganz diesem Thema gewidmet hat“ geben soll: Notes on English Verse vom März 1843, im allfälligen Vierbänder ansonsten unterschlagen.

Der Skandal mit Derjenigenwelchen Ausgabe hat schon viel früher angefangen: Bis jetzt komme ich auf 5 oder je nach Zählung 8 Gedichte, die da nicht drin sind. Chronologisch nach der Entstehung:

  1. Stanzas;
  2. Elizabeth;
  3. Original;
  4. Serenade;
  5. Lines on Ale.

Und sofort vermisst man schmerzlich deutsche Übersetzungen. Ich könnte mich ja dranwagen, aber auf dem Niveau von Hans Wollschläger sollten sie schon stattfinden. – Was die Schuhmann-Schmidt-Wollschläger’sche Poe-Ausgabe verschweigt:

——— Edgar Allan Poe:

  • Stanzas I–IV

    The title “Stanzas” was assigned by E. C. Stedman and G. E. Woodberry in 1894, and has generally been widely accepted.

    This is one of the poems in this collection that Poe never reprinted.

    Poe’s motto preceeding the poem is from Bryon’s Island, 1823, Canto II, lines 382–285. (Mabbott, in his edition of Poe’s poems, cites the reference as “Canto II, xvi, lines 13-16,” but different editions provide different numbering. In the 1823 edition, printed in London, the lines are numbered within the full canto. An 1824 edition, printed in Philadelphia, and an 1831 edition, also printed in London, give no line numbers. All editions divide the cantos into sections bearing Roman numerals.

    In the second line of stanza 2, “ferver” may be “fervor” or more likely “fever.”

    How often we forget all time, when lone
    Admiring Nature’s universal throne;
    Her woods — her wilds — her mountains — the intense
    Reply of Hers to Our intelligence!

    1.

    In youth have I known one with whom the Earth
    In secret communing held — as he with it,
    In day light, and in beauty from his birth:
    Whose fervid, flick’ring torch of life was lit
    From the sun and stars, whence he had drawn forth
    A passionate light-such for his spirit was fit —
    And yet that spirit knew — not in the hour
    Of its own fervor — what had o’er it power.

    2.

    Poe-IllustrationPerhaps it may be that my mind is wrought
    To a ferver [[fever]] by the moon beam that hangs o’er,
    But I will half believe that wild light fraught
    With more of sov’reignty than ancient lore
    Hath ever told — or is it of a thought
    The unembodied essence, and no more
    That with a quick’ning spell doth o’er us pass
    As dew of the night-time, o’er the summer grass.

    3.

    Doth o’er us pass, when, as th‘ expanding eye
    To the lov’d object — so the tear to the lid
    Will start, which lately slept in apathy?
    And yet it need not be — (that object) hid
    From us in life — but common — which doth lie
    Each hour before us — but then only bid
    With a strange sound, as of a harp-string broken
    T‘ awake us — ‚Tis a symbol and a token.

    4.

    Of what in other worlds shall be — and giv’n
    In beauty by our God, to those alone
    Who otherwise would fall from life and Heav’n
    Drawn by their heart’s passion, and that tone,
    That high tone of the spirit which hath striv’n
    Tho‘ not with Faith — with godliness — whose throne
    With desp’rate energy ‚t hath beaten down;
    Wearing its own deep feeling as a crown.

  • ~~~\~~~~~~~/~~~

  • Elizabeth

    undated manuscript, about 1829. Acrostichon for Poe’s Baltimore cousin, Elizabeth Rebecca Herring (1815–1889).

    Some scholars, including T. O. Mabbott, note that the seventh lines reads “in persuing,” with “pursuing” misspelled. Examination of the manuscript, however, shows this to be a misreading.

    A photographic facsimile of the manuscript was printed in the auction catalogue for The Library of H. Bradley Martin: Highly Important American and Children’s Literature, New York: Sotheby’s, January 30 and 31, 1990, lot 2218, with notes by Richard Kopley.

    Elizabeth — it surely is most fit
         (Logic and common usage so commanding)
    In thy own book that first thy name be writ,
         * Zeno and other sages notwithstanding:
    And I have other reasons for so doing
         Besides my innate love of contradiction:
    Each poet — if a poet — in pursuing
         The muses thro‘ their bowers of Truth or Fiction,
    Has studied very little of his part,
         Read nothing, written less — in short’s a fool
    Endued with neither soul, nor sense, nor art,
         Being ignorant of one important rule,
    Employed in even the theses of the school —
         Called —— I forget the heathenish Greek name —
    (Called any thing, its meaning is the same)
         “Always write first things uppermost in the heart”

    Edgar

    * It was a saying of this philosopher “that one’s own name should never appear in one’s own book”.

  • ~~~\~~~~~~~/~~~

  • Original

    undated manuscript, about 1829, published 1875:

    Poe-IllustrationFrom childhood’s hour I have not been
    As others were — I have not seen
    As others saw — I could not bring
    My passions from a common spring —
    From the same source I have not taken
    My sorrow — I could not awaken
    My heart to joy at the same tone —
    And all I lov’d — I lov’d alone —
    Then — in my childhood — in the dawn
    Of a most stormy life — was drawn
    From ev’ry depth of good and ill
    The mystery which binds me still —
    From the torrent, or the fountain —
    From the red cliff of the mountain —
    From the sun that ’round me roll’d
    In its autumn tint of gold —
    From the lightning in the sky
    As it pass’d me flying by —
    From the thunder, and the storm —
    And the cloud that took the form
    (When the rest of Heaven was blue)
    Of a demon in my view —

  • ~~~\~~~~~~~/~~~

  • Serenade

    This was printed as “by E. A. Poe” in the Baltimore Saturday Visiter of April 20, 1833, after its receipt from “E. A. P.” had been acknowledged in the issue of April 13. It was completely forgotten until in 1917 Professor John C. French located a file of the paper for 1833 in the hands of Miss Elizabeth Cloud Seip. He reprinted “Serenade” in the Dial for January 31, 1918 (64:121), and again in Modern Language Notes, May 1918 (33:257-258). Killis Campbell inserted a text in the second issue of his Poems at p. 137. In line 12, I change the sure misprint “mountains,” to “mountain’s” but otherwise follow the original printing.

    Poe-IllustrationSo sweet the hour — so calm the time,
    I feel it more than half a crime
    When Nature sleeps and stars are mute,
    To mar the silence ev’n with lute.
    At rest on ocean’s brilliant dies
    An image of Elysium lies:
    Seven Pleiades entranced in Heaven
    Form in the deep another seven:
    Endymion nodding from above
    Sees in the sea a second love:
    Within the valleys dim and brown,
    And on the spectral mountain’s crown
    The wearied light is lying down:
    And earth, and stars, and sea, and sky
    Are redolent of sleep, as I
    Am redolent of thee and thine
    Enthralling love, my Adeline.
    But list, O list! — so soft and low
    Thy lover’s voice tonight shall flow
    That, scarce awake, thy soul shall deem
    My words the music of a dream.
    Thus, while no single sound too rude,
    Upon thy slumber shall intrude,
    Our thoughts, our souls — O God above!
    In every deed shall mingle, love.

  • ~~~\~~~~~~~/~~~

  • Lines on Ale

    „Believed to have been written in 1848 at a tavern in Lowell, Massachusetts“:

    Fill with mingled cream and amber,
         I will drain that glass again.
    Such hilarious visions clamber
         Through the chamber of my brain.
    Quaintest thoughts, queerest fancies
         Come to life and fade away.
    What care I how time advances;
         I am drinking ale today.

Und das sind nur die, so man findet, indem man gar nicht sucht.

Bilder: Illustrationen zu Werken von Poe, gesammelt aus einer Suchanfrage innerhalb tumblr.com nach „Poe Illustration“, die ich für Teile der Public Domain halte. Die erste ist jedenfalls von Arthur Rackham.

Soundtrack: Larkin Poe: Bleach Blonde Bottle Blues, aus: Venom & Faith, 2018:

Written by Wolf

10. Februar 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Romantik, Weisheit & Sophisterei

Nachtstück 0030: Wenn acht nach sieben kommt

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Update zu so net,
Schmerz, Tod und Graus gar spaßig zu erfassen
und Was singelt ihr und klingelt im Sonetto?:

Ein Sonett, das gar kein Sonett ist, noch nicht einmal Lyrik, und eins, das nicht einmal geschrieben wurde. Weil es nicht angeht, aller sieben Jahre einmal Krieg und Frieden zu lesen, aber dann Даниил Хармс, das ist: Daniil Charms nicht zu kennen.

Übrigens lassen sich, was in der Übersetzung nicht zur Geltung kommen kann, auf Russisch Sieben und Acht besonders leicht verwechseln, weil das eine семь und das andere восемь heißt. Und das ist noch gar nichts. #keinrussischlernen

——— Daniil Charms:

Sonett

übs. Ilse Tschörtner, in: Daniil Charms: Zwischenfälle, Verlag Volk und Welt, Berlin 1990:

Sonett Bleichkomplex und Fleckentferner mit reinem Sauerstoff, ohne Erdölchemie, WindelwissenMir ist mal etwas ganz Eigenartiges passiert: Ich hatte auf einmal vergessen, was eher kommt – sieben oder acht. Ich ging zu den Nachbarn und fragte, was sie meinten. Aber wie groß war meine Verwunderung, als sich plötzlich herausstellte, dass auch sie die Reihenfolge der Zahlen vergessen hatten.

1,2,3,4,5 und 6 wussten sie noch, aber wie weiter, das hatten sie vergessen.

Wir gingen zusammen zum Kaufhaus „Gastronom“ in der Snamenskaja, Ecke Bassejnaja, und fragten die Kassiererin. Die Kassiererin lächelte traurig, nahm ein kleines Hämmerlein aus dem Mund, zog die Luft durch die Nase ein und sagte: „Meines Erachtens kommt sieben in dem Fall nach acht, wenn acht nach sieben kommt.“

Erfreut bedankten wir uns bei der Kassiererin und liefen hinaus. Doch plötzlich, als wir uns die Auskunft der Kassiererin genauer überlegten, verstummten wir wieder, denn sie kam uns völlig sinnlos vor.

Was tun? Wir gingen in den Sommergarten und fingen an, die Bäume zu zählen. Doch als wir bei sechs angelangt waren, blieben wir stehen und gerieten in Streit. Nach Ansicht der einen folgte sieben, nach Ansicht der anderen acht.

Wir würden noch lange gestritten haben, aber zum Glück fiel ein Kind von der Bank und brach sich beide Kiefer. Das brachte uns von unserem Streit ab.

Da trennten wir uns und gingen nach Hause.

Bilder: Sonett Bleichkomplex und Fleckentferner mit reinem Sauerstoff, ohne Erdölchemie,
via Windelwissen.

Soundtrack: Daniil-Charms-Verfilmung von Отава Ё: Дворник, 2012,
das ist: Straßenkehrer oder Hausmeister, 2012, aus: Что за песни, 2013,
auf das lettische Weihnachtslied Tumša tumša tā eglīte,
im Hof des Anna-Achmatova-Museums, Sankt Petersburg:

Written by Wolf

3. Februar 2023 at 00:01

Deutschlandzyklus 2: Nordland Südstadt

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Update zu Deutschlandzyklus 1: So geht’s doch auch
und Zahlenzyklus:

Zuzeiten komme ich immer noch so weit verloren, dass ich mich in die Obhut einer Kneipe begeben muss. Vorzugsweise ist das nicht „die“, sondern das Südstadt München, laut Eigenbeschreibung „ein alternatives Wohnzimmer mitten im Schlachthofviertel“, das seine Kernkompetenzten von „Wein, Weib, Gesang“ auf „Essen, trinken und versinken“ umdefiniert hat, weil sich auf „versumpfen“ gleich mal gar nix Benutzbares reimt.

Der Erkenntniswert der Kneipensitzung war gering, aber als ich zum Nachbestellen kurz zu mir kam, hatte ich schon mit der Herstellung eines Wessobrunner Kindergebetchens (Erstes) angefangen (hier nicht gesammelt). Was einem unter Einfluss von zehn Bieren mit ausreichender Whisk(e)ybegleitung und einer viel zu jungen Bedienung (Theaterwissenschaft) mit hellblauen Fingernägeln halt so einfällt.

5.00 Uhr, Greetsiel

Aus dem Seewetterbericht auf Radio Ostfriesland
       hat sich Morgenmoderator die Meldung
              für die für die Fünf-Uhr-Nachrichten
                     gerade noch mal so
                            selber gestrichen,

nach denen der Nighthawk bis vor vier Minuten
       komplette B-Seiten früher Van-Zandt-LPs abgespielt
              und das Stockwerk vollgequalmt hat

um der alten Zeiten willen,
       wo ihm die Arbeit nicht verboten, abgeschafft, eingespart
              und eindeutig, aber mit Begründung verbeten wurde.

Der Landfunk
       richtet sich an schlaflose Studienräte,
              die um halb sechs
                     in ihre Kleinstadtrealschule aufbrechen müssen;

das Seewetter ist nicht unzuverlässig,
       der Krabbenkutter fährt nie mehr zu spät aus,
              seit die Bahnstrecke nach Emden stillgelegt
                     und das Kursbuch abgeschafft ist.

Paul-Scheerbart-Vignette

Vorher-Bild:

Biergläser im Südstadt

Paul-Scheerbart-Vignette

Der Ring der nie gelungen

Motiv des Werdens
     fängt in Es-Dur
          alles an dann

dass einer alles
     haben will und
          wie alles durcheinanderwirbelt

und am Schluss
     wenn endlich alle
          tot sind ist

               halt alles hin.

Fiddler’s Green

In der Oberpfalz
     scheint der Regen
          wie die Sonne

wenn er von
     der Wetterseite aus
          Lindenblätter da wegweht

wo er drei
     Tage lang aufs
          Pflaster Blasen platscht.

Rabenfelsen

Untersberg Untersberg Untersberg
Untersberg Karl der Große Untersberg
Untersberg Untersberg Untersberg

Kyffhäuser Kyffhäuser Kyffhäuser
Kyffhäuser Barbarossa Kyffhäuser
Kyffhäuser Kyffhäuser Kyffhäuser

Trifels Trifels Trifels
Trifels Friedrich II. Trifels
Trifels Trifels Trifels

Bergentrückung:

Trifels Trifels Trifels
Trifels Richard Löwenherz Trifels
Trifels Trifels Trifels

Paul-Scheerbart-Vignette

Während-Bild:

Leute im Südstadt

Paul-Scheerbart-Vignette

Hymne von außen

Walzertakt:

1.: Des basst sich in ka Weaner Liad,
wos a Piefkines no von uns leana wiad,
          der
          scho lang bisher
seine Glieder riahrt,
bis er miader wiad.

2.: Des basst sich in kaan Woizertakt,
wia dem sei Hirn vü zu boid zerwaacht,
          wann er
          beim Professör
Siggi Freud bei der Nacht
auf der Rekamjör drobm flackt.

Ref.: Geh Teitschland oide Mieswurzn,
     geh hab di ned a so,
          gehab di ned,
     benimm di ned,
benimm di liawer scho.
Geh Teitschland oide Krauturschel,
     des hob i vü
          des habts ihr vü
               des hamma vü
                    des hams doch vü
                         gscheider
                              jo leider
                                   und so weider:
                         daham.

Paul-Scheerbart-Vignette

Kurz-vor-Nachher-Bild:

Christina vom Südstadt mit den hellblauen Fingernägeln

Paul-Scheerbart-Vignette

„Und die“, fragt Christina mit den hellblauen Fingernägeln, „und die alle, die soll man echt singen können?“

„Logisch“, sag ich, „man kann alles singen. Okay, außer den Gurreliedern von Arnold Schönberg vielleicht.“

„Schönberg seh ich ein“, überlegt sie, „und dein Motiv des Werdens aus dem Rheingold in Es-Dur?“

„Es-Dur ist so eine typische Mädchentonart“, sag ich, „Es-Dur geht nicht auf Sauftour.“

„Wenn das ein Kalauer war“, sagt sie, „zahlst du gleich doppelt. Schmerzensgeld.“

„Eher sing ich alle anderen“, sag ich.

„Das will ich hören“, sagt sie.

„Wenn du mir noch eine Halbe hinstellst“, sag ich.

Sie feixt mir über die Theke hinweg breit ins Gesicht und tut es.

Buidln: Südstadt München, Juli 2017 bis Oktober 2021,
plus ein selbergemachtes von heuer ungefähr
und die Vignette von Otto Kokoschka für Paul Scheerbart, ohne Jahr.

Soundtrack: Richard Wagner: Motiv des Werdens in Es-Dur, aus: Das Rheingold, 1869:

Written by Wolf

27. Januar 2023 at 00:01

Veröffentlicht in Land & See, ~ Weheklag ~

Vom Büblein auf dem Eise (Der Vater hat’s geklopfet)

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Update zu Der den Wasserkothurn zu beseelen weiß,
Sie sollen und müssen gerettet sein!,
Was denn sonst, bei diesem Sauwetter
und Meine Urgroßmutter und die Wolken:

Das hat mir meine Großmutter als Das Büblein auf dem Eise beigebracht – korrekt mit dem Dativ-e, ich erinnere mich an nichts anderes – und das, ohne daraus allzu naheliegende zotige Reime abzuleiten.

Lange war mir nicht klar, dass die Leute Wörter wie „heuer“ gar nicht kennen, und wenn es gleich zu Anfang kommt, für alle verbleibenden Strophen verloren sind. Heute erhellt, dass der Dichter Friedrich Güll erstens am 1. April und zweitens im mittelfränkischen Ansbach geboren ist und deshalb fast alles darf, drittens am Heiligabend und viertens in München gestorben ist und deshalb wahrscheinlich nichts damit anfangen konnte, wenn die Leute das handliche „heuer“ mit „in diesem Jahr“ umschreiben müssen.

Wo wir gerade von Strophen reden: Im Originaldruck sind sie auf fünf Verse aufgeteilt. Indem sich die jeweils ersten zwei davon dreihebig binnenreimen, also keine richtigen Alexandriner sind, ergibt das für die Vortragspraxis einwandfrei siebenzeilige Strophen.

Wenn das die Großmutter geahnt hätte. Gemerkt haben es die Illustratorin Gertrud Caspari und ihr – wie ich vermute – Ehemann und Herausgeber Walther Caspari für ihre Ausgabe in: Frühling, Frühling überall! zu Kinderliedern von Friedrich Güll, 1910 und öfter. Ohne an Herrn Gülls unbefugt herumbessern zu wollen, sieht das siebenzueilige Layout doch gleich viel cantabiler aus. Meinen blitzgescheiten, lyrisch bewanderten Lesern gebe ich dennoch Gülls ursprüngliche Schreibweise wieder.

Nach den jugendbildnerischen Begriffen des jungen Jahrtausends fällt die Moral von der Geschicht‘ unter kohlrabenschwarze Pädagogik. Dafür kann meine Großmutter aber nix, und außerdem ist das Gedicht sehr lustig. Und jawohl, schwarze Pädagogik hat mir geschadet.

———- Friedrich Güll:

13. Will sehen was ich weiß
Vom Büblein auf dem Eis.

1827, in: Georg Paysen Petersen, Hrsg.: Mütterchen, erzähl uns was!
Erzählungen, Gedichte, Lieder, Spiele, Rätsel und Sprüche
für Kinderstube und Kindergarten, Verlag von Otto Meißner, Hamburg 1894, Seite 318:

Gefroren hat es heuer noch gar kein festes Eis.
Das Büblein steht am Weiher und spricht so zu sich leis:
„Ich will es einmal wagen,
Das Eis, es muß doch tragen.“ –
          Wer weiß?

Das Büblein stampft und hacket mit seinem Stiefelein.
Das Eis auf einmal knacket, und krach! schon bricht’s hinein.
Das Büblein platscht und krabbelt
Als wie ein Krebs und zappelt
          Mit Schrein.

„O helft, ich muß versinken in lauter Eis und Schnee!
O helft, ich muß ertrinken im tiefen, tiefen See!“
Wär nicht ein Mann gekommen,
Der sich ein Herz genommen,
          O weh!

Der packt es bei dem Schopfe und zieht es dann heraus:
Vom Fuße bis zum Kopfe wie eine Wassermaus.
Das Büblein hat getropfet,
Der Vater hat’s geklopfet
          Zu Haus.

Gertrud Caspari für Frühling, Frühling überall. Zu Kinderliedern von Friedrich Güll, 1910, 1925

Bild: Gertrud Caspari für: Gertrud und Walther Caspari, Hrsgg.: Frühling, Frühling überall! zu Kinderliedern von Friedrich Güll, 1925.

Soundtrack: Tori Amos: Winter, aus: Little Earthquakes, 1992:

Written by Wolf

20. Januar 2023 at 00:01

Dornenstück 0012: So mag der Schreckenstraum sich dann entfalten (Wehe dem Menschenerzeugten!)

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Update zu Was ist das? Ich glaub, es hackt! Das ist doch kein Teufelspakt!
Bitchy Lessing und
Das Ungeheuerste, das Entsetzlichste, das Schaudervollste:

Das neue Jahr nimmt Fahrt auf: Eine höhere Instanz, an die wir noch nicht zu glauben verlernt haben, steh uns bei. Die Hoffnung zappelt ja immer bis zuletzt.

Menschen, denen ausreichend Erdenzeit vergönnt war, sich an einer Zivilisation zu beteiligen, ist es gelungen, fünf Beleidigungen in einem einzigen Fragesatz unterzubringen: Beim Anblick meines Bücherregals ist ihnen spontan nichts anderes eingefallen als:

„Habt ihr die ganzen alten Schwarten von euren Eltern geerbt?“

Das wären eine Beleidigung pro Satzteil und eine zusätzliche für den überspannenden Bogen, der sich tiefer und schmerzhafter als die Summe seiner Teile wölbt – also effizienter als die vierfache Herabsetzung für Bier: „Ich krieg ein kleines alkoholfreies Radler.“

Was auf nur dreifache Weise in diese Reihung gehört: Adelbert von Chamisso hat eins seiner ersten poetischen Werke, seinen Faust, 1803 als Versuch aufgefasst – und damit, was in den Besprechungen von Chamissos Frühwerk gerne zu kurz kommt: immerhin fünf Jahre vor der Veröffentlichung von Goethes Tragödie erstem Theil, und konnte sich daher allenfalls, so er das wollte, auf dessen Fragment, in Druck seit 1790, beziehen. In seiner selbst geordneten Sammlung letzter Hand hat Chamisso den FaustVersuch mit dem späteren Der Tod Napoleons, 1828 als Gedicht in dramatischer Form eingestuft.

Ungekürzt:

——— Adelbert von Chamisso:

Faust.

Ein Versuch.

1803.

1803:

Doch wozu ist des Weisen Thorheit nütz?
Schlegels Shakespeare
(„Was ihr wollt.“ III. 1)

Faust. Sein Guter und sein Böser Geist, zwei Stimmen

Faustens Studierzimmer, von einer einzigen Lampe erleuchtet.

Faust.

Der Jugend kurze Jahre sind dahin,
Dahin die Jahre kräft’ger Mannheit, Faust!
Es neigt sich schon die Sonne deines Lebens –
Hast du gelebt? hier, fremd in dieser Welt,
Verträumtest du die karggezählten Stunden,
Nach Wahrheit ringend, die Pygmäenkräfte
Anstrengend in dem Riesenkampf – o Tor!

F. C. Weiß, Adelbert von Chamisso, für Julius Eduard Hitzig, derselbe, Werke, 1839Du, der in wildem Jungendfeuer schwelgend,
Uneingedenk der Zukunft, deiner selbst,
Des großen Weltalls, das um dich sich kreist,
Genuß nur kennst, Genuß nur kennen willst;
Beglückter Liebling du der Gegenwart,
Dich muß ich weis, so wie du glücklich bist,
Auch preisen. – Weis! – und Tor? – Sinnleere Namen!
Nur Kranke gibt’s, ich kenne keine Toren.
Ein Funke glomm im Busen mir, (ihn legte
Die fremde Hand,) er mußte hoch entlodern,
Und ewig ungelöschten Durst mir flammen; –
Vom Allerschaffer fordr ich alle Schuld,
Wir müssen wollen, ja wir müssen! – müssen?
Nicht frei denn? – also, wollend, nur ein Stein,
Der in die Tiefe fällt, und fühlt – er wolle.

Was bist du Mensch denn? gier’ger Allumfasser
Des Universums kühner Freier du,
Der blind, in Nacht, in zwiefach ew’gem Dunkel
Gebannt zu irren, nichts erkennen kannst,
Ein ewig ungelöstes Rätsel dir;
Erschaffer deiner Welt nach ewigen
Gesetzen, selbst von ihr erschaffen,
Was bist du mächt’ger, nicht’ger Erdenwurm?
Ein Gott in Banden, oder nur ein Staub?
Was ist des Denkens, was der Sinnen Welt?
Die Zeit, der Raum, die Allumfassenden,
Und ihre Schöpfungen, durch die sie werden?
Was außer ihnen, das Unendliche?
Was ist die Gottheit, jeder großen Kette
Ein erstes ewig unbegriffnes Glied,
Das, nicht getragen, alle Glieder trägt? –
Erscheinung nur und Wahn ist alles mir.
Es wirft das Licht, das innre, dort hinaus
Auf ausgespannte Nacht die Bilder hin,
Ein leerer Widerschein des eignen Ichs,
Und so entsteht die Welt, die ich erkenne.
So hat – vielleicht der Zufall es geordnet,
Der große Bildner, den sie Gottheit nennen.
Und wenn, nicht bloß gedacht, dort Geist und Körper
Und Gottheit sind, – wie faß ich sie? – umsonst!
Es treten ewig zwischen sie und mich
Der Sinne Lügen, der Vernunft Gesetze.

Ihr ew’ge Rätsel, schrecklich grimm’ge Nattern,
Die stets ihr euch erzeugt und euch verzehrt,
Und mir das Herz verzehrt im grausen Spiele
Der stets verschlungnen und erzeugten Kreise;
Ich kann euch nicht verscheuchen, nicht erdrücken,
Ihr stürmet rastlos mir die bange Seele;
Weh dem, den ihr zum ernsten Kampfe reizet!
Es furchet tief des Denkers Stirne sich,
Und Zweifel ist der schwererrungne Preis.

Nein! länger soll der Schlangenbiß des Zweifels
Nicht langsam mir am kranken Herzen nagen,
Nicht giftig reizen mehr der Wunden Schmerzen.
Ich will gesunden in der Wahrheit Scheine,
Erschwingen kühn das sternenferne Ziel,
Das eitel strebend nimmer ich erklommen.

Er sucht eine magische Rolle hervor, entfaltet sie auf seinem Tische und spricht,
indem er die Hand auf die Zauberschrift legt.

Sind’s keine Träume, die du hingezeichnet,
So folg ich, Seher, deiner Riesenspur,
Ich schreite deine Bahn und zage nicht.
Wenn horchend deinem mächt’gen Rufe, Geister,
Dir dienend, ihres Reiches Nacht entstiegen;
Wird mir die Geisterwelt sich auch eröffnen.
Belehrung zollen mir die finstern Mächte.

Die Geisterbeschwörung

Die ihr, gehüllt in furchtbar dunklen Schleier,
Die Seele mir umwallt, gehorchet, Geister,
Dem ernsten, festen Willen, der euch ruft.

Böser Geist Eine Stimme zur Linken.

Dem ernsten, festen Willen wird gehorchet.
Du Sohn des Staubes, ihm entschwungen kühn
Und ähnlich uns, sprich dein Begehren aus.

Guter Geist Eine Stimme zur Rechten.

Faust! Faust!

Faust.

Auch du! Dir hab ich nicht gerufen, fleuch!
Abschütteln will ich deiner Knechtschaft Joch,
Entfleuch! Nicht du, Unmächtiger, vermagst
Den heißen Durst des Lechzenden zu stillen,
Die sturmgeschlagnen Wellen zu besprechen.
Du lähmst den Flug mir, hebe dich von dannen!
Ich will ihn männlich fliegen und nicht zagen.
Ich wende mich von dir, ich folge dem;
Belehrung fordr ich, Wahrheit und Erkenntnis.

Böser Geist.

Nicht menschlich sprichst du Worte hohen Sinnes.
Hast du mit Mannes Ernst mich hergebannt.
So schwöre mir den Preis zu – deine Seele;
Und öffnen will ich dir der Wahrheit Schätze,
Und was der Mensch vermag, sollst du erkennen.

Guter Geist.

Faust, Faust!
Den seligen Menschen
Gewährte der Vater,
Von allen den Früchten
Des Gartens zu kosten;
Den seligen Menschen
Verwehrte der Vater
Die einzige Frucht.

Und listig schmeichelnd hob die Schlange sich:
Ihr würdet Göttern gleich, wenn ihr die Frucht,
Die herrliche, zu kosten euch erkühntet,
Die euch der Vater streng verwehrt zu brechen,
Nicht Vater er, der neidische Tyrann!

Faust, Faust!
Dem kindlichen Menschen,
Die Freuden des Lebens,
Sie knospen ihm alle.
Er weilet, wo duftend
Die Rosen ihm blühen,
Die Früchte ihm winken.
Geflügelten Schrittes
Leicht hin über Dornen
Zu schweben, zu eilen,
Gesellt‘ ihm der Vater
Die holden Gefährten,
Den Glauben, die Hoffnung,
Treu ihm in wechselndem Glück.

Faust, Faust!
Es gab zu ahnden das Unendliche
Der Vater dir den Geist,
Gab, liebend anzubeten, dir das Herz:
Und, rechtend mit dem Vater, wagest du,
Vom Strahle seiner Liebe mild beschienen,
Zu fordern jene Frucht, des Todes Frucht.
Verschmäh, verschmäh des Lebens Glück und Kronen,
Und ringe nach der Gottheit fernem Ziele;
Des Rächers Rache trifft den schuld’gen Scheitel!

Faust.

Erschuf zu ausgesuchten Qualen mich
Ein Gott des Hasses, den der Schmerz erfreut?

Guter Geist.

Das Glück umblühte deines Lebens Pfade.

Faust.

Es ist Erkennen mir das einz’ge Glück.

Guter Geist.

Die Hoffnung blüht dem Dulder, lern entbehren.

Faust.

Sie welkte in der schwer erkrankten Brust.

Guter Geist.

Der Tugend Kranz umgrüne deine Locken.

Faust.

Auch diesen Kranz entriß der Zweifel mir.

Guter Geist.

Du willst, du willst, und deine Freuden welken.

Faust.

So wähl ich denn, nicht frei, das eigne Weh.

Guter Geist.

Faust! handle glaubend, wie du frei dich fühlest.

Faust.

Nein, nein! ich bin nicht frei, ich will’s nicht sein.

Guter Geist.

So treffe denn die schwere Schuld den Frevler.

Faust.

Die schwere Schuld wälz ich dem Schöpfer zu,
Der mich zu hoch begabt, zu tief gedrückt,
Der feindlich mir den regen Geist gegeben.

Guter Geist.

Und ihn zu bändigen, den Willen dir.
Des Rächers Rache trifft den schuld’gen Scheitel!

Faust.

Dich, Geist der frühen Rache, schrecklicher,
Der furchtbar ahndend nicht begangne Sünden,
Gedanken nur des Herzens, angstumzischend
Der Hölle Schlangen furchtbar um mich schlingst,
Erschütternd nicht des Mannes ernsten Willen,
Dich straf ich Lügen; nein, ich bin nicht frei;
Ein ehrnes Schicksal waltet über mir
Und unaufhaltsam reißt es mich dahin,
Und eisern fällt, und trifft das grause Los.

Böser Geist Halb laut.

Der Falsche lügt sich deinen guten Geist.

Faust.

Du lügst dich meinen guten Geist, entfleuch!
Ich wende mich von dir, ich folge dem.
Belehrung fordr ich, Wahrheit und Erkenntnis.

Böser Geist.

Wohlan! so schwöre mir den Preis zu, Faust;
Und öffnen will ich dir der Wahrheit Schätze,
Und was der Mensch vermag, sollst du erkennen.
Selbst brich den Stab denn über deine Seele.

Der Stab des Gerichtes wird Fausten in die Hand gezaubert,
er erschrickt, und faßt sich rasch wieder.

Faust.

Du, rascher Sohn des Augenblickes, Wille,
Gebäre rasch die Tat.

Guter Geist.

Die ernste Tat.
Die spät fortwirkend in der Zeiten Schoße,
Entfallen dir, ein Raub der fremden Mächte,
Gehöre ewig der Notwendigkeit.
Noch, Faust, gehört des Herzens Willen dir.

Böser Geist Halblaut und langsam.

Und öffnen will ich dir der Wahrheit Schätze
Und was der Mensch vermag, sollst du erkennen.

Faust.

Gehört noch mir, – gedacht, gewollt, gehandelt!

Guter Geist.

Und wagtest du zu denken ihn, den großen,
Den schrecklichen Gedanken: Ewigkeit?

Faust.

Ich dacht ihn, ja! doch der Moment allein
Gehört dem Menschen, im Momente lebt er,
Drum kauft er um der Zukunft teuren Preis
Des Augenblickes rasch entflohne Lust.
Es kann die Zukunft auch ein Traum nur sein.

Guter Geist.

Und wenn auf Wahrheit jener Traum hindeutet?

Faust.

So mag der Schreckenstraum sich dann entfalten.
Du wetzest selbst des Zweifels gift’gen Zahn,
Der mich zerfleischt. Nicht Wahrheit kann das Herz
Zermalmend treffen, das für sie nur schlägt,
Nur schrecklich ist die Qual mir, die ich dulde;
Sie muß sich enden. Stählern ist die Brust,
Und jedes Schmerzes Pfeil entprallt unmächtig,
Den nicht des Zweifels Schreckensarm geschnellt.
Ich will der ew’gen Rache männlich harren,

Und festen Blickes ihr entgegen sehn.
Ich fluche dir, und deinem Gott, und breche
Entschlossen selber des Gerichtes Stab.

Guter Geist.

Wehe dem Menschenerzeugten!
Wehe! zerbrechet die Krone.
Er stürzet, nachhallend
Empfängt ihn die Tiefe
Zerschmettert vom jähligen Fall.

Es wandle im Tale
Der Menschenerzeugte,
Und weide die Blicke
An blumigen Auen.
Nicht wag er zu heben
In blendende Höhen
Zur Sonne den Blick.
Vom lieblichen Kleide
Der nährende Erde
Rückstrahlt ihm die Farbe,
Ein sanfteres Licht.
Ihm g’nüge der bunte,
Der liebliche Schein.
Nicht gierigen Herzens
Erheb er die Wünsche
Zur Sonne empor.
Erklimmt er der Berge
Beschneiete Gipfel,
Zu nahen der Sonne
Verzehrendem Licht;
Nicht näher der fernen,
Erblindet das Aug ihm,
Und schwankenden Schrittes
Entgleitet der Fuß.
Der schwindlichten Höhe
Entstürzt er, nachhallend
Empfängt ihn die Tiefe
Zerschmettert vom jähligen Fall.

Wehe dem Menschenerzeugten!
Wehe! zerbrechet die Krone.
Entwunden den Armen
Der sorgenden Liebe,
Hin eilt er – und stürzet;
Er stürzet, nachhallend
Empfängt ihn die Tiefe
Zerschmettert vom jähligen Fall.

Faust den Stab zerbrechend.

Zerbrochen ist der Stab.

Guter Geist.

Er ist zerbrochen.

Böser Geist.

Er ist zerbrochen.

Lange Stille

Faust.

Nun?

Böser Geist.

Ich lache deiner, leichtes Spielwerk du
Der gier’gen Wünsche deines stolzen Herzens;
Ich lache deiner, Tor, den ich verachte,
Und zolle dir den Preis, den du bedungen.

Der Zweifel ist menschlichen Wissens Grenze,
Die nur der blinde Glaube überschreitet.
Dich bann ich, ohne Anker, ohne Segel
Zu irren auf dem feindlich dunklen Meere,
Wo dir kein Grund, wo keine Ufer dir,
Dem ohne Hoffnung Strebenden erscheinen;
Bis vor dir nächtlich sich das Tor eröffnet,
Das furchtbar dir geahndete, des Todes,
Und neue Schauder schrecklich dich ergreifen;
Denn mir gehöret deine Ewigkeit:
Ich zolle dir den Preis, den du bedungen.

Des Glaubens Blume blühte kindlich dir,
Du hast sie stolz zertreten, forderst Wahrheit.
Wohl! schreckend ruf ich dir die Wahrheit zu:
Aus deiner Weisen Widersprüchen strahlte
Sie dir entgegen, die geahndete:
Der Zweifel ist menschlichen Wissens Grenze,
Es kann der Staubumhüllte nichts erkennen,
Dem Blindgebornen kann kein Licht erscheinen.

So wie die Sprache, wie des Wortes Schall
Dir Mittler des Gedankens ist und Zeichen;
So ist des Sinns Empfinden, der Gedanke selbst
Dir Sprache bloß und eitles leeres Zeichen
Der ewig dir verhüllten Wirklichkeit.
Du kannst nur denken durch den Mittler Sprache,
Nur mit dem Sinne schauen die Natur,
Nur nach Gesetzen der Vernunft sie denken.
Und hättest hundert Sinne du und tausend,
Du kargbegabter, und erhöbe freier
Sich dein Gedanke ins vielseitiger –
Befühlte All; so würdest immer du,
Getrennt, vereint mit ihm durch Körpers Bande,
Nur eigne Schatten schaun und nichts erkennen.
Es strebe, trachte angestemmt der Mensch;
Ihm fiel das Los. Der reine Geist allein,
Der ruhende, erkennt; nicht ihn umfaßt
Die ew’ge Mauer, die sich zwischen dir
Und der ersehnten Wahrheit trennend hebt.
Die Mauer stürzt der Tod; die Rächerin,
Sie harret furchtbar deiner in dem Lande,
Wo nicht gestrebet, nicht getrachtet mehr,
Wo zollen einer wird des Lebens Lohn.

Nachhallen muß ich deiner Worte Schall,
Nachspiegeln deines Denkens Schatten dir,
Nachlügen deiner Weisen Traumgebilde,
Dir, einem Menschen, ich, ein Geist, zu nahen;
Gedanken, Worte, Menschenträume fassen
Kein ähnlich Bild der ewig dir Verhüllten.
Doch Wahrheit, Wahrheit hast du dir bedungen;
Nun! was der Mensch vermag, sollst du erkennen:

Der Zweifel ist menschlichen Wissens Grenze, –
Ist furchtbar rächend deines Lebens Schlange.
Verzweifle, niedrer Erdenwurm, den tiefer
In seinen Staub zurück ich niedertrete;
Nicht heben darfst du jenen dunklen Schleier,
Es bringt die Zeit dir keine Blume mehr,
Und mir gehöret deine Ewigkeit.
So öffn ich rächend dir der Wahrheit Schätze,
So zoll ich dir den Preis, den du bedungen.

Faust im Begriff, sich niederzuwerfen gegen die Seite, woher die Stimme des guten Geistes hallte, erhebt sich rasch wieder und spricht.

Nein! niederknieen nicht vor dir, Verkünder
Des siebenmal erfüllten schweren Fluches,
Der mir das Haupt umflammt, und nicht vor ihm.
Vernichtung heißt der Gott, den ich anrufe.
Ihr seid unmächtig, der Vergangenheit
Ihr leicht erworbnes Eigentum zu rauben.

O könnt ich wieder fluchen euch! o könnt ich
In Menschenqualen euch verzagen sehn,
In ew’gen Menschenqualen euch verzweifeln,
Und laut auflachend gräßlich euch verhöhnen!
Fluch selber mir, daß ich ohnmächtig bin,
Daß nur ein leiser, eitler Laut der Lippe
Entbebet, in dem Winde zu verhallen!

Ersehnte Spornerin der eitlen Wünsche,
Ich habe, Wahrheit, deine Dunstgestalt
Verfolgt, und unermeßlich weit verfolgt,
Und ihr geopfert jeden Hoffnungsschimmer;
Gestrandet steh ich nun auf schroffer Klippe,
Rings um mich her die dunkle tiefe Flut,
Und um das Haupt mir donnerschwangre Wolken.
Ich werde nimmer, nimmer sie umfangen,
Um die ich hin den teuren Preis geworfen!

Böser Geist.

Die Mauer stürzt der Tod; die Rächerin,
Sie harret furchtbar deiner in dem Lande,
Wo nicht gestrebet, nicht getrachtet mehr,
Wo zollen einer wird des Lebens Lohn.

Faust.

Die Mauer stürzt der Tod; – sie harret meiner
In jenem Lande… – Schlange meines Lebens!
Wo nur das Aug ich wende, starrest du
Mich gräßlich an. – Verdammnis, – Ewigkeit,
Laßt eure Qualen nicht den Zweifel sein!
Umstürze du, Erfüllung, jene Mauer;
Verhüllte Rächerin, sei Rettung mir,
Ich will in jenem Lande dich verfolgen.

Wie er sich gegen den Geist wenden will, den Tod zu erflehen, wird ihm ein Dolch in die Hand gezaubert, er wendet die Spitze gegen sein Herz, und stößt ihn langsam hinein.

Verdammnis, ewige, in deinen Schoß! –
Vielleicht Vernichtung nur, vielleicht Erkenntnis,
Gewißheit doch.

Er stürzt, die Lampe erlischt, das Theater ist tief verfinstert. Langsam fällt der Vorhang.

Bild: F. C. Weiß: Adelbert von Chamisso, für Julius Eduard Hitzig: derselbe: Werke, 1839.

Soundtrack eigentlich zum anderen Gedicht in dramatischer Form:
Eliza Carthy & Norma Waterson: Bonaparte’s Lament, aus: Gift, 2010:

Written by Wolf

13. Januar 2023 at 00:01

Akzisaufseher Goethe aus der Karmelitergasse

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Update zu Krieg is nur für reiche Lajte,
Ich trinke ein Glas Burgunder!,
Hört zu und berstet vor Langerweile:

und Dornenstück 0009: Die Kinder verdarben (Schauderhaft, höchst schauderhaft):

Was der nachmalige Schwejk-Hašek seiner Stammzeitung Karikatury 1911 noch als Satire auf der eher gutmütigen Seite verkaufen konnte, wird so ja gar nicht mehr wahrgenommen. Vielmehr ist heute der Bibliophile der Depp. Und da weiß ich, wovon ich rede. Gedeihliches neues Jahr mitsammen.

Josef Lada, Mezi bibliofily, 1911

——— Jaroslav Hašek:

Unter Bibliophilen

id est Mezi bibliofily, in: Karikatury, velké vydání 3, 19. Juni 1911,
übs. Rudolf Feigl, Artia-Verlag Prag,
cit. nach Rudolf Chonawetz, Hrsg.: Von Spaßvögeln, Witzbolden und Schelmen,
Verlag Neues Leben, Ostberlin 1983, Seite 300 bis 303:

Das Allerschlimmste, was jemandem zustoßen kann, ist, in die Hände einer Literaturfreundin zu fallen, die in ihrem Salon Bibliophile versammelt und Literaturabende veranstaltet, bei denen Tee gereicht wird und wo auf jeden Literaturfreund zwei Stückchen Kuchen entfallen.

Es ist wahr, daß ich diese Literaturabende bei Frau Herzan nicht besuchen mußte, aber ich wollte der Einladung meines Freundes Folge leisten, dem ich weisgemacht hatte, zu Hause eine originelle, in Menschenhaut gebundene, persische Ausgabe der Gedichte von Hafis zu haben. Mein Freund verbreitete das unter Bibliophilen und Literaturfreunden. Das genügte, daß ihre Mäzenin, Frau Herzan, den Wunsch äußerte, mich kennenzulernen.

Im Salon blickten mich zwölf aufrichtige Gesichter an, aus denen die gesamte Weltliteratur auf mich sah. Mein Kommen wurde lebhaft begrüßt, und ein Besucher mit den in Menschenhaut gebundenen Gedichten von Hafis hatte wohl Anspruch auf vier Stückchen Kuchen.

Ich nahm, mir also aus der Schüssel vier Stückchen Kuchen, und für das Fraäulein mit der Brille neben mir blieb nicht ein einziges übrig. Das betrübte sie so, daß sie über Goethes „Wahlverwandtschaften“ zu sprechen begann.

Neben mir saß irgendein Literaturhistoriker und wandte sich an mich mit der Frage: „Belieben Sie den ganzen Goethe zu kennen?“

„Vom Scheitel bis zur Sohle“, ewiderte ich ernst, „er trägt gelbe Schnürschuhe und auf dem Kopf einen braunen Filzhut, ist Akzisaufseher und wohnt in der Karmelitergasse.“

Die Bibliophilen blickten mich traurig und vorwurfsvoll an. Um die allgemeine Verlegenheit zu maskieren, fragte mich die Gastgeberin: „Haben Sie großes Interesse für Literatur?“

„Gnädige Frau“, erwiderte ich, es gab Zeiten, da ich viel las. Ich habe ‚Die drei Musketiere‚, ‚Die Maske der Liebe‘, den ‚Hund von Baskerville‚ und andere Romane gelesen. Bei den Nachbarn hob man für mich die Romanbeilage der ‚Politika‚ auf, und jedesmal am Wochenende hab ich dann alle sechs Fortsetzungen auf einmal gelesen. Das lesen hat mich immer sehr interessiert, und so konnte ich es zum Beispiel gar nicht erwarten, ob die Gräfin Leona den Zwerg Richard heiratet, der ihretwegen den eigenen Vater ermordetet, der wiederum ihren Verlobten aus Eifersucht erschossen hatte. Ja, ein Buch kann wirklich Wunder wirken. Als es mir sehr schlecht ging, las ich den ‚Jüngling von Messina‘. Mit neunzehn Jahren wurde jener junge Mann Räuber. Er hieß Lorenzo. Ja, damals las ich noch. Heute aber lese ich nicht viel. Es interessiert mich nicht mehr.“

Die Literaturfreunde wurden blaß. Ein baumlanger Mensch mit durchdringendem Blick fragte mich kurz und streng wie ein Untersuchungsrichter: „Interessieren Sie sich für Zola?“

„Ich weiß über ihn sehr wenig“, erwiderte ich, „ich hörte über ihn nur, daß er während des Deutsch-Französischen Kriegs bei der Belagerung von Paris gefallen ist.“

„Kennen Sie Maupassant?“ fragte mich jener Mann recht wütend.

„Ich hab von ihm ‚Die sibirischen Erzählungen‘ gelesen.“

„Da irren Sie sich“, rief das Fräulein mit der Brille neben mir aufgebracht aus. „‚Die sibirischen Erzählungen‚ sind von Korolenko und Sieroszewski. Maupassant ist doch Franzose.“

„Ich dachte, er ist Holländer“, sagtet ich ruhig. „Ist er aber Franzose, sp hat er vielleicht ‚Die sibirischen Erzählungen‘ ins Französische übersetzt.“

„Aber Tolstoi kennen Sie?“ fragte die Gastgeberin.

„Ich habe sein Begräbnis im Kino gesehen. Aber ein Chemiker wie Tolstoi, der das Radium entdeckte, hat ein würdigeres Begräbnis verdient.“

Für einen Augenblick verstummten alle. Der Literaturhistoriker mir gegenüber blickte mich mit blutunterlaufenen Augen an und fragte ironisch: „Aber die tschechische Literatur kennen Sie doch bestimmt durch und durch?“

„Ich habe zu Hause das ‚Dschungelbuch‘, das wird Ihnen vielleicht genügen“, sagte ich mit Nachdruck.

„Aber das ist doch ein Engländer, dieser Kipling“, sagte ein wortkarger Herr, der sein Gesicht in beiden Händen verbarg, als würde er weinen.

„Von Kipling habe ich nicht gesprochen“, rief ich beleidigt aus, „ich sprach doch über das Dschungelbuch von Tuček.“

Ich vernahm, wie sich zwei Herren so, daß ich es hören konnte, zuflüsterten, ich sei ein Rindvieh.

Ein blasser junger Mann mit langem Haar faltete die Hände und brachte mit zarter Stimme vor: „Sie erfassen nicht die Schönheiten der Literatur, gewiß verstehen Sie auch nicht den Stil, den brillanten Satzbau zu würdigen, nicht einmal Gedichte begeistern Sie. Kennen Sie von Liliencron jene Stelle, wo Sie in den Wolken die Schönheit der Natur erfüheln, erahnen: Wolkenschäfchen ziehen, fliegen, blaue Wölkchen fliegen und fliegen, über Berg und Tal, über der Wälder grüne Streifen?“

Er erhob die Stimme, stützte sich auf die Schulter eines Literaturfreundes, der neben ihm saß, und fuhr fort: „Und ‚Das Feuer‘ von D’Annunzio? Wenn Sie die wunderschöne treffende Schilderung venezianischer Feste gelesen hätten und dabei diese Liebesgeschichte …“

Er betrachtete den Auerstrumpf, fuhr sich mit der Hand über die Stirn und wartete, was ich dazu sagen würde.

„Ich habe Sie nicht genau verstanden, warum hat denn der D’Annunzio bei diesen Festen Feuer gelegt? Wieviel Jahre hat er dafür gefaßt?“

„D’Annunzio ist der beühmteste italienische Dichter“, erklärte mir das Fräulein mit der Brille unermüdlich.

„Da ist merkwürdig“, bemerkte ich unschuldig.

„Was ist daran Merkwürdiges“, brüllte im wahrsten Sinne des Wortes ein Herr, der bisher den Mund nicht aufgemacht hatte, „kennen Sie überhaupt irgendeinen italienischen Dichter?“

„Ich erwiderte würdevoll: „Gewiß, Robinson Crusoe.“ Bei diesen Worten blickte ich mich um.

Zwölf Literaturfreunde und Bibliophile wurden in diesem Augenblick grau, und zwölf vorzeitig ergraute Literaturfreund und Bibliophile warfen mich durch das Parterrefenster auf die Straße hinaus.

Bild: Josef Lada für Jaroslav Hašek: Mezi bibliofily, Karikatury, 19. Juni 1911.

Soundtrack als abermaliger Versuch für einen neuen Anfang:
Anti Cornettos: Korsakov Syndrom, aus: Dohuggandedeoiweidohuggan, 2014:

Written by Wolf

6. Januar 2023 at 00:01