Archive for the ‘Romantik’ Category
Wer weiß, wem sie geigen – hüt‘ dich, Gesell!
Update zu Das sind die Realitäten und die muss der Mensch vertreten,
Löblich wird ein tolles Streben, wenn es kurz ist und mit Sinn
und Zum Tanz, den sie schauderlich führen
(und Der Adel und die Revolution):
O Mensch betracht
Hie die Figur,
Die nimmt der Tod
Gleich wie die Blum
Und nicht veracht
All Creatur
Frühe und spoht,
Im Feld vergoht.Der Todten-Tantz, wie derselbe in der weitberühmten Stadt Basel,
als ein Spiegel Menschlicher Beschaffenheit, gantz künstlich mit lebendigen Farben gemahlet,
nicht ohne nutzliche Verwunderung zu sehen ist, 1786.
Eichendorffs Kehraus ist seine vielleicht übermütigste Ballade, da dauert meine private Forschung noch an. Schweifreime mit gerade einmal zwei Hebungen, das muss sich sehr akkurat reimen. Das war Präzisionsarbeit, Herr Baron.
Eine ähnliche Tonart haben Goethe in Der Totentanz 1813, Ludwig Uhland in Der schwarze Ritter 1815, Justinus Kerner in Andreas ans Anna 1828, Otto von Loeben in Der Tanz mit dem Tode 1819 oder Franz von Gaudy in Der Zug des Todes, gerade in der Vorgängernummer 1837 des Deutschen Musenalmanachs angeschlagen, an Anregungen fehlt es Eichendorff also nicht.
Eichendorff selbst bezieht seine Auffassung vom Totentanz nur auf seine eigene Quelle: aus seinem ersten Roman Ahnung und Gegenwart 1812, erschienen 1815, wo sich die Figur Leontin auf dem Maskenball als der bekannte, leider 1805 als Schandfleck abgerisssene Tod von Basel verkleidet. – Beide Stellen im Vergleich:
——— Joseph von Eichendorff:
Der Kehraus
aus: Deutscher Musenalmanach, 1838:
Es fiedeln die Geigen,
Da tritt in den Reigen
Ein seltsamer Gast,
Kennt keiner den Dürren,
Galant aus dem Schwirren
Die Braut er sich faßt.
Hebt an, sich zu schwenken
In allen Gelenken.
Das Fräulein im Kranz:
„Euch knacken die Beine. –“
„Bald rasseln auch deine,
Frisch auf spiel’t zum Tanz!“Ein Kenner im Ringe
Betrachtet die Sprünge,
Er findet’s gemein.
„Dir kann’s auch nicht schaden!“
Die vornehmen Waden
Muß er schwingen im Reih’n.Die Spröde hinter’m Fächer,
Der Zecher vom Becher,
Der Dichter so lind,
Muß auch mit zum Tanze,
Daß die Lorbeern vom Kranze
Fliegen im Wind.So schnurret der Reigen
Zum Saal ‚raus in’s Schweigen
Der prächtigen Nacht,
Die Klänge verwehen,
Die Hähne schon krähen,
Da verstieben sie sacht. –So ging’s schon vor Zeiten
Und geht es noch heute,
Und hörest du hell
Aufspielen zum Reigen,
Wer weiß, wem sie geigen –
Hüt‘ dich, Gesell!
Ahnung und Gegenwart
Zweites Buch, Elftes Kapitel,
1812, Johann Leonhard Schrag, Nürnberg 1815:
Es war schon Abend, als Friedrich in der Residenz ankam. Er war sehr schnell geritten, so daß Erwin fast nicht mehr nach konnte. Je einsamer draußen der Kreis der Felder ins Dunkel versank, je höher nach und nach die Türme der Stadt, wie Riesen, sich aus der Finsternis aufrichteten, desto lichter war es in seiner Seele geworden vor Freude und Erwartung. Er stieg im Wirtshause ab und eilte sogleich zu Rosas Wohnung. Wie schlug sein Herz, als er durch die dunklen Straßen schritt, als er endlich die hell beleuchtete Treppe in ihrem Hause hinaufstieg. Er mochte keinen Bedienten fragen, er öffnete hastig die erste Tür. Das große, getäfelte Zimmer war leer, nur im Hintergrunde saß eine weibliche Gestalt in vornehmer Kleidung. Er glaubte sich verirrt zu haben und wollte sich entschuldigen. Aber das Mädchen vom Fenster kam sogleich auf ihn zu, führte sich selbst als Rosas Kammermädchen auf und versicherte sehr gleichgültig, die Gräfin sei auf den Maskenball gefahren. Diese Nachricht fiel wie ein Maifrost in seine Lust. Es war ihm vor Freude gar nicht eingefallen, daß er sie verfehlen könnte, und er hatte beinahe Lust zu zürnen, daß sie ihn nicht zu Hause erwartet habe. Wo ist denn die kleine Marie? fragte er nach einer Weile wieder. O, die ist lange aus den Diensten der Gräfin, sagte das Mädchen mit gerümpftem Näschen und betrachtete ihn von oben bis unten mit einer schnippischen Miene. Friedrich glaubte, es gälte seiner staubigen Reisekleidung; alles ärgerte ihn, er ließ den Affen stehn und ging, ohne seinen Namen zu hinterlassen, wieder fort.
Verdrüßlich nahm er den Weg zu den Redoutensälen. Die Musik schallte lockend aus den hohen Bogenfenstern, die ihre Scheine weit unten über den einsamen Platz warfen. Ein alter Springbrunnen stand in der Mitte des Platzes, über den nur noch einzelne dunkle Gestalten hin und her irrten. Friedrich blieb lange an dem Brunnen stehen, der seltsam zwischen den Tönen von oben fortrauschte. Aber ein Polizeidiener, der, in seinen Mantel gehüllt, an der Ecke lauerte, verjagte ihn endlich durch die Aufmerksamkeit, mit der er ihn zu beobachten schien.
Er ging ins Haus hinein, versah sich mit einem Domino und einer Larve, und hoffte seine Rosa noch heute in dem Getümmel herauszufinden. Geblendet trat er aus der stillen Nacht in den plötzlichen Schwall von Tönen, Lichtern und Stimmen, der wie ein Zaubermeer mit rastlos beweglichen, klingenden Wogen über ihm zusammenschlug. Zwei große, hohe Säle, nur leicht voneinander geschieden, eröffneten die unermeßlichste Aussicht. Er stellte sich in das Bogentor zwischen beide, wo die doppelten Musikchöre aus beiden Sälen verworren ineinander klangen. Zu beiden Seiten toste der seltsame, lustige Markt, fröhliche, reizende und ernste Bilder des Lebens zogen wechselnd vorüber, Girlanden von Lampen schmückten die Wände, unzählige Spiegel dazwischen spielten das Leben ins Unendliche, so daß man die Gestalten mit ihrem Widerspiel verwechselte, und das Auge verwirrt in der grenzenlosen Ferne dieser Aussicht sich verlor. Ihn schauderte mitten unter diesen Larven. Er stürzte sich selber mit in das Gewimmel, wo es am dichtesten war.
Gewöhnliches Volk, Charaktermasken ohne Charakter vertraten auch hier, wie draußen im Leben, überall den Weg: gespreizte Spanier, papierne Ritter, Taminos, die über ihre Flöte stolperten, hin und wieder ein behender Harlekin, der sich durch die unbehülflichen Züge hindurchwand und nach allen Seiten peitschte. Eine höchst seltsame Maske zog indes seine Aufmerksamkeit auf sich. Es war ein Ritter in schwarzer, altdeutscher Tracht, die so genau und streng gehalten war, daß man glaubte, irgend ein altes Bild sei aus seinem Rahmen ins Leben hinausgetreten. Die Gestalt war hoch und schlank, sein Wams reich mit Gold, der Hut mit hohen Federn geschmückt, die ganze Pracht doch so uralt, fremd und fast gespenstisch, daß jedem unheimlich zumute ward, an dem er vorüberstreifte. Er war übrigens galant und wußte zu leben. Friedrich sah ihn fast mit allen Schönen buhlen. Doch alle machten sich gleich nach den ersten Worten schnell wieder von ihm los, denn unter den Spitzen der Ritterärmel langten die Knochenhände eines Totengerippes hervor.
Friedrich wollte eben den sonderbaren Gast weiter verfolgen, als sich die Bahn mit einem Janhagel junger Männer verstopfte, die auf einer Jagd begriffen schienen. Bald erblickte er auch das flüchtige Reh. Es war eine kleine, junge Zigeunerin, sehr nachlässig verhüllt, das schöne schwarze Haar mit bunten Bändern in lange Zöpfe geflochten. Sie hatte ein Tamburin, mit dem sie die Zudringlichsten so schalkisch abzuwehren wußte, daß ihr alles nur um desto lieber nachfolgte. Jede ihrer Bewegungen war zierlich, es war das niedlichste Figürchen, das Friedrich jemals gesehen.
In diesem Augenblicke streiften zwei schöne, hohe weibliche Gestalten an ihm vorbei. Zwei männliche Masken drängten sich nach. Es ist ganz sicher die Gräfin Rosa, sagte die eine Maske mit düsterer Stimme. Friedrich traute seinen Ohren kaum. Er drängte sich ihnen schnell nach, aber das Gewimmel war zu groß, und sie blieben ihm immer eine Strecke voraus. Er sah, daß der schwarze Ritter den beiden weiblichen Masken begegnete, und der einen im Vorbeigehen etwas ins Ohr raunte, worüber sie höchst bestürzt schien und ihm eine Weile nachsah, während er längst schon wieder im Gedränge verschwunden war. Mehrere Parteien durchkreuzten sich unterdes von neuem, und Friedrich hatte Rosa aus dem Gesichte verloren.
Ermüdet flüchtete er sich endlich an ein abgelegenes Fenster, um auszuruhen. Er hatte noch nicht lange dort gestanden, als die eine von den weiblichen Masken eiligst ebenfalls auf das Fenster zukam. Er erkannte sogleich seine Rosa an der Gestalt. Die eine männliche Maske folgte ihr auf dem Fuße nach, sie schienen beide den Grafen nicht zu bemerken. Nur einen einzigen Blick! bat die Maske dringend. Rosa zog ihre Larve weg und sah den Bittenden mit den wunderschönen Augen lächelnd an. Sie schien unruhig. Ihre Blicke durchschweiften den ganzen Saal und begegneten schon wieder dem schwarzen Ritter, der wie eine Totenfahne durch die bunten Reihen drang. Ich will nach Hause sagte sie darauf ängstlich bittend, und Friedrich glaubte Tränen in ihren Augen zu bemerken. Sie bedeckte ihr Gesicht schnell wieder mit der Larve. Ihr unbekannter Begleiter bot ihr seinen Arm, drängte Friedrich, der gerade vor ihr stand, stolz aus dem Wege und bald hatten sich beide in dem Gewirre verloren.
Der schwarze Ritter war indes bei dem Fenster angelangt. Er blieb vor Friedrich stehen und sah ihm scharf ins Gesicht. Dem Grafen grauste, so allein mit der wunderbaren Erscheinung zu stehn, denn hinter der Larve des Ritters schien alles hohl und dunkel, man sah keine Augen. Wer bist du? fragte ihn Friedrich. Der Tod von Basel, antwortete der Ritter und wandte sich schnell fort. Die Stimme hatte etwas so Altbekanntes und Anklingendes aus längstvergangener Zeit, daß Friedrich lange sinnend stehen blieb. Er wollte ihm endlich nach, aber er sah ihn schon wieder im dicksten Haufen mit einer Schönen wie toll herumwalzen.
Ein Getümmel von Lichtern draußen unter den Fenstern lenkte seine Aufmerksamkeit ab. Er blickte hinaus und sah bei dem Scheine einer Fackel, wie die männliche Maske Rosa nebst noch einer andern Dame in den Wagen hob. Der Wagen rollte darauf schnell fort, die Lichter verschwanden, und der Platz unten war auf einmal still und finster.
Er warf das Fenster zu und wandte sich in den glänzenden Saal zurück, um sich ebenfalls fortzubegeben. Der schwarze Ritter war nirgends mehr zu sehen. Nach einigem Herumschweifen traf er in der mit Blumen geschmückten Kredenz noch einmal auf die nur allzugefällige Zigeunerin. Sie hatte die Larve abgenommen, trank Wein und blickte mit den muntern Augen reizend über das Glas weg. Friedrich erschrak, denn es war die kleine Marie. Er drückte seine Larve fester ins Gesicht und faßte das niedliche Mädchen bei der Hand. Sie zog sie verwundert zurück und zeichnete mit ihrem Finger ratend eine Menge Buchstaben in seine flache Hand, aber keiner paßte auf seinen Namen.
Er zog sie an ein Tischchen und kaufte ihr Zucker und Naschwerk. Mit ungemeiner Zierlichkeit wußte das liebliche Kind alles mit ihm zu teilen, und blinzelte ihm dazwischen oft neugierig in die Augen. Unbesorgt um die Reize, die sie dabei enthüllte, riß sie einen Blumenstrauß von ihrem Busen und überreichte ihn lächelnd ihrem unbekannten, sonderbaren Wirte, der immerfort so stumm und kalt neben ihr saß. Die Blumen sind ja alle schon verwelkt, sagte Friedrich, zerzupfte den Strauß und warf die Stücke auf die Erde. Marie schlug ihn lachend auf die Hand und riß ihm die noch übrigen Blumen aus. Er bat endlich um die Erlaubnis, sie nach Hause begleiten zu dürfen, und sie willigte mit einem freudigen Händedruck ein.
Als er sie nun durch den Saal fortführte, war unterdes alles leer geworden. Die Lampen waren größtenteils verlöscht und warfen nur noch zuckende, falbe Scheine durch den Qualm und Staub, in welchen das ganze bunte Leben verraucht schien. Die Musikanten spielten wohl fort, aber nur noch einzelne Gestalten wankten auf und ab, demaskiert, nüchtern und übersatt. Mitten in dieser Zerstörung glaubte Friedrich mit einem flüchtigen Blicke Leontin totenblaß und mit verwirrtem Haar in einem fernen Winkel schlafen zu sehen. Er blieb erstaunt stehen, alles kam ihm wie ein Traum vor. Aber Marie drängte ihn schnell und ängstlich fort, als wäre es unheimlich, länger an dem Orte zu hausen.
Als sie unten zusammen im Wagen saßen, sagte Marie zu Friedrich: Ihre Stimme hat eine sonderbare Ähnlichkeit mit der eines Herrn, den ich sonst gekannt habe. Friedrich antwortete nicht darauf. Ach Gott! sagte sie bald nachher, die Nacht ist heut gar so schwül und finster! Sie öffnete das Kutschenfenster, und er sah bei dem matten Schimmer einer Laterne, an der sie vorüberflogen, daß sie ernsthaft und in Gedanken gesunken war. Sie fuhren lange durch eine Menge enger und finsterer Gäßchen, endlich rief Marie dem Kutscher zu, und sie hielten vor einem abgelegenen, kleinen Hause. Sie sprang schnell aus dem Wagen und in das Haus hinein. Ein Mädchen, das in Mariens Diensten zu sein schien, empfing sie an der Haustür. Er ist mein, er ist mein! rief Marie kaum hörbar, aber aus Herzensgrunde, dem Mädchen im Vorübergehen zu und schlüpfte in ein Zimmer.
Das Mädchen führte den Grafen mit prüfenden Blicken über ein kleines Treppchen zu einer andern Tür. Warum, sagte sie, sind Sie gestern abend nicht schon zu uns gekommen, da Sie vorbeiritten und so freundlich heraufgrüßten? Ich sollte wohl nichts sagen, aber seit acht Tagen spricht und träumt die arme Marie von nichts als von Ihnen, und wenn es lange gedauert hätte, wäre sie gewiß bald gestorben. Friedrich wollte fragen, aber sie schob die Tür hinter ihm zu und war verschwunden.
Er trat in eine fortlaufende Reihe schöner, geschmackvoller Zimmer. Ein prächtiges Ruhebett stand im Hintergrunde, der Fußboden war mit reichen Teppichen geschmückt, eine alabasterne Lampe erleuchtete das Ganze nur dämmernd. In dem letzten Zimmer sah er die niedliche Zigeunerin vor einem großen Wandspiegel stehen und ihre Haare flüchtig in Ordnung bringen. Als sie ihn in dem vordern Zimmer erblickte, kam sie sogleich herbeigesprungen und stürzte mit einer Hingebung in seine Arme, die keine Verstellung mit ihren gemeinen Künsten jemals erreicht. Der erstaunte Friedrich riß in diesem Augenblicke seinen Mantel und die Larve von sich. Wie vom Blitze berührt, sprang Marie bei diesem Anblicke auf, stürzte mit einem lauten Schrei auf das Ruhebett und drückte ihr mit beiden Händen bedecktes Gesicht tief in die Kissen.
Was ist das! sagte Friedrich, sind deine Freunde Gespenster geworden? Warum hast du mich geliebt, eh‘ du mich kanntest, und fürchtest dich nun vor mir? Marie blieb in ihrer Stellung und ließ die eine Hand, die er gefaßt hatte, matt in der seinigen; sie schien ganz vernichtet. Mit noch immer vestecktem Gesichte sagte sie leise und gepreßt: Er war auf dem Balle dieselbe Gestalt, dieselbe Maske. Du hast dich in mir geirrt, sagte Friedrich, und setzte sich neben sie auf das Bett, viel schwerer und furchtbarer irrst du dich am Leben, leichtsinniges Mädchen! Wie der schwarze Ritter heute auf dem Balle, tritt überall ein freier, wilder Gast ungeladen in das Fest. Er ist so lustig aufgeschmückt und ein rüstiger Tänzer, aber seine Augen sind leer und hohl, und seine Hände totenkalt, und du mußt sterben, wenn er dich in die Arme nimmt, denn dein Buhle ist der Teufel. Marie, seltsam erschüttert von diesen Worten, die sie nur halb vernahm, richtete sich auf. Er hob sie auf seinen Schoß, wo sie still sitzen blieb, während er sprach. Ihre Augen und Mienen kamen ihm in diesem Augenblicke wieder so unschuldig und kindisch vor, wie ehemals. Was ist aus dir geworden, arme Marie! fuhr er gerührt fort. Als ich das erste Mal auf die schöne grüne Waldeswiese hinunterkam, wo dein stilles Jägerhaus stand, wie du fröhlich auf dem Rehe saßest und sangst, der Himmel war so heiter, der Wald stand frisch und rauschte im Winde, von allen Bergen bliesen die Jäger auf ihren Hörnern, das war eine schöne Zeit! Ich habe einmal an einem kalten, stürmischen Herbsttage ein Frauenzimmer draußen im Felde sitzen gesehen, die war verrückt geworden, weil sie ihr Liebhaber, der sich lange mit ihr herumgeherzt, verlassen hatte. Er hatte ihr versprochen, noch an demselben Tage wiederzkommen. Sie ging nun seit vielen Jahren alle Tage auf das Feld und sah immerfort auf die Landstraße hinaus. Sie hatte noch immer das Kleid an, das sie damals getragen hatte, das war schon zerrissen und seitdem ganz altmodisch geworden. Sie zupfte immer an dem Ärmel und sang ein altes Lied zum Rasendwerden. Marie stand bei diesen Worten schnell auf und ging an den Tisch. Friedrich sah auf einmal Blut über ihre Hand hervorrinnen. Alles dieses geschah in einem Augenblicke.
Was hast du vor? rief Friedrich, der unterdes herbeigesprungen war. Was soll mir das Leben! antwortete sie mit verhaltener, trostloser Stimme. Er sah, daß sie sich mit einem Federmesser gerade am gefährlichsten Flecke unterhalb der Hand verwundet hatte. Pfui, sagte Friedrich, wie bist du seitdem unbändig geworden! Das Mädchen wurde blaß, als sie das Blut erblickte, das häufig über den weißen Arm floß. Er zog sie an das Bett hin und riß schnell ein Band aus ihren Haaren. Sie kniete vor ihm hin und ließ sich gutwillig von ihm das Blut stillen und die Wunde verbinden. Das heftige Mädchen war währenddessen ruhiger geworden. Sie lehnte den Kopf an seine Knie und brach in einen Strom von Tränen aus.
Da wurden sie durch Mariens Kammermädchen unterbrochen, die plötzlich in die Stube stürzte und mit Verwirrung vorbrachte, daß soeben der Herr auf dem Wege hierher sei. O Gott! rief Marie sich aufraffend, wie unglücklich bin ich! Das Mädchen aber schob den Grafen, ohne sich weiter auf Erklärungen einzulassen, eiligst aus dem Zimmer und dem Hause und schloß die Tür hinter ihm ab.
Draußen auf der Straße, die leer und öde war, begegnete er bald zwei männlichen, in dunkle Mäntel dichtverhüllten Gestalten, die durch die neblige Nacht an den Häusern vorbeistrichen. Der eine von ihnen zog einen Schlüssel hervor, eröffnete leise Mariens Haustür und schlüpfte hinein. Desselben Stimme, die er jetzt im Vorbeigehen flüchtig gehört hatte, glaubte er vom heutigen Maskenballe auffallend wiederzuerkennen.
Da hierauf alles auf der Gasse ruhig wurde, eilte er endlich voller Gedanken seiner Wohnung zu. Oben in seiner Stube fand er Erwin, den Kopf auf den Arm gestützt, eingeschlummert. Die Lampe auf dem Tisch war fast ausgebrannt und dämmerte nur noch schwach über das Zimmer. Der gute Junge hatte durchaus seinen Herrn erwarten wollen, und sprang verwirrt auf, als Friedrich hereintrat. Draußen rasselten die Wagen noch immerfort, Läufer schweiften mit ihren Windlichtern an den dunklen Häusern vorüber, im Osten standen schon Morgenstreifen am Himmel. Erwin sagte, daß er sich in der großen Stadt fürchte; das Gerassel der Wagen wäre ihm vorgekommen wie ein unaufhörlicher Sturmwind, die nächtliche Stadt wie ein dunkler eingeschlafener Riese. Er hat wohl recht, es ist manchmal fürchterlich, dachte Friedrich, dann ihm war bei diesen Worten, als hätte dieser Riese Marie und seine Rosa erdrückt, und der Sturmwind ginge über ihre Gräber. Bete, sagte er zu dem Knaben, und leg dich ruhig schlafen! Erwin gehorchte, Friedrich aber blieb noch auf. Seine Seele war von den buntwechselnden Erscheinungen dieser Nacht mit einer unbeschreiblichen Wehmut erfüllt, und er schrieb heute noch folgendes Gedicht auf:
Der armen Schönheit Lebenslauf
Die arme Schönheit irrt auf Erden,
So lieblich Wetter draußen ist,
Möcht gern recht viel gesehen werden,
Weil jeder sie so freundlich grüßt.
Und wer die arme Schönheit schauet,
Sich wie auf großes Glück besinnt,
Die Seele fühlt sich recht erbauet,
Wie wenn der Frühling neu beginnt.Da sieht sie viele schöne Knaben,
Die reiten unten durch den Wind,
Möcht manchen gern im Arme haben,
Hüt dich, hüt dich, du armes Kind!Da ziehn manch redliche Gesellen,
Die sagen: ‚Hast nicht Geld noch Haus,
Wir fürchten deine Augen helle,
Wir haben nichts zum Hochzeitsschmaus.‘Von andern tut sie sich wegdrehen,
Weil keiner ihr so wohl gefällt,
Die müssen traurig weitergehen,
Und zögen gern ans End‘ der Welt.Da sagt sie: ‚Was hilft mir mein Sehen,
Ich wünscht‘, ich wäre lieber blind,
Da alle furchtsam von mir gehen,
Weil gar so schön mein Augen sind.‘Nun sitzt sie hoch auf lichtem Schlosse,
In schöne Kleider putzt sie sich,
Die Fenster glühn, sie winkt vom Schlosse,
Die Sonne blinkt, das blendet dich.Die Augen, die so furchtsam waren,
Die haben jetzt so freien Lauf,
Fort ist das Kränzlein aus den Haaren,
Und hohe Federn stehn darauf.Das Kränzlein ist hinausgerissen,
Ganz ohne Scheu sie mich anlacht;
Geh du vorbei: sie wird dich grüßen,
Winkt dir zu einer schönen Nacht.Da sieht sie die Gesellen wieder,
Die fahren unten auf dem Fluß,
Es singen laut die lust’gen Brüder;
So furchtbar schallt des einen Gruß:‚Was bist du für ’ne schöne Leiche!
So wüste ist mir meine Brust,
Wie bist du nun so arm, du Reiche,
Ich hab an dir nicht weiter Lust!‘Der Wilde hat ihr so gefallen,
Laut schrie sie auf bei seinem Gruß,
Vom Schloß möcht sie hinunterfallen
Und unten ruhn im kühlen Fluß.Sie blieb nicht länger mehr da oben,
Weil alles anders worden war,
Von Schmerz ist ihr das Herz erhoben,
Da ward’s so kalt, doch himmlisch klar;Da legt sie ab die goldnen Spangen,
Den falschen Putz und Ziererei,
Aus dem verstockten Herzen drangen
Die alten Tränen wieder frei.Kein Stern wollt‘ nicht die Nacht erhellen,
Da mußte die Verliebte gehn,
Wie rauscht der Fluß! die Hunde bellen,
Die Fenster fern erleuchtet stehn.Nun bist du frei von deinen Sünden,
Die Lieb zog triumphierend ein,
Du wirst noch hohe Gnade finden,
Die Seele geht in Hafen ein.Der Liebste war ein Jäger worden,
Der Morgen schien so rosenrot,
Da blies er lustig auf dem Horne,
Blies immerfort in seiner Not.
Bilder: via Frank T. Zumbachs Mysterious World: 1.: Horst Janssen, 1975, 12. Mai 2015;
2.: Jacques Callot, 21. November 2013;
3, 4 und 5: Josef Fenneker, 11. November 2016;
6.: Johann Rudolf Feyerabend: Aquarell-Kopie vom Basler Totentanz, 1806.
Soundtrack: Franz Liszt: Totentanz. Paraphrase über „Dies irae“, ebenfalls im Vergleich:
Valentina Lisitsa in der Version für Klavier und Orchester, 1847–1853:
und Marta Czech mit der Bearbeitung für 1 Klavier, 1860–1865 (Entstehungsjahr fraglich):
Als der Vicomte de Chateaubriand einmal nicht Lord Byron traf (denn mich konnte die Welt verlieren, ohne mein Verschwinden überhaupt zu bemerken)
Update zu Seht, Ehrenbreitstein mit gesprengter Mauer,
Hair as red as stockings blue,
Der Sommer ohne Freischütz und
Begräbnis des Glaubens (L’enterrement de la foi):
——— Lord Byron:
Lines written beneath an Elm
In the
Churchyard of Harrow on the Hill
Spot of my youth! whose hoary branches sigh,
Swept by the breeze that fans thy cloudless sky;
Where now alone I muse, who oft have trod,
With those I loved, thy soft and verdant sod;
With those who, scatter’d far, perchance deplore,
Like me, the happy scenes they knew before:
Oh! as I trace again thy winding hill,
Mine eyes admire, my heart adores thee still,
Thou drooping Elm! beneath whose boughs I lay,
And frequent mus’d the twilight hours away;
Where, as they once were wont, my limbs recline,
But, ah! without the thoughts which then were mine:
How do thy branches, moaning to the blast,
Invite the bosom to recall the past,
And seem to whisper, as they gently swell,
„Take, while thou canst, a lingering, last farewell!“When Fate shall chill, at length, this fever’d breast,
And calm its cares and passions into rest,
Oft have I thought, ‚twould soothe my dying hour,—
If aught may soothe, when Life resigns her power,—
To know some humbler grave, some narrow cell,
Would hide my bosom where it lov’d to dwell;
With this fond dream, methinks ‚twere sweet to die—
And here it linger’d, here my heart might lie;
Here might I sleep where all my hopes arose,
Scene of my youth, and couch of my repose;
For ever stretch’d beneath this mantling shade,
Press’d by the turf where once my childhood play’d;
Wrapt by the soil that veils the spot I lov’d,
Mix’d with the earth o’er which my footsteps mov’d;
Blest by the tongues that charm’d my youthful ear,
Mourn’d by the few my soul acknowledged here;
Deplor’d by those in early days allied,
And unremember’d by the world beside.
Das schrieb – der 6. und bekannteste – Lord Byron über die Ulme, unter welcher er als Schüler der Harrow School zu Harrow on the Hill in Greater London gerne verweilt hatte. Schüler war Seine Lordschaft dort 1801 bis 1805, das Gedicht stammt, siehe oben, von 1807. 1817 wurde Byron Vater seiner Tochter Clara Allegra Byron, die 1822 im Alter von fünf Jahren schon wieder starb und (nicht erst) dadurch als tragisches Opfer einer unseligen Verkettung aus missverstandener Vaterschaft und unzeitiger, nämlich erst posthumer Aufmerksamkeit gelten muss; eine düstere Geschichte.
Ebenfalls 1822 erinnerte sich der Franzose Chateaubriand beim Anblick der Harrowschen Schauplätze an seinen englischen Berufskollegen, biochronologisch noch nichts von Klein-Allegras Kindstod ahnend; eine weit weniger düstere Geschichte:
——— François-René de Chateaubriand:
London, April bis September 1822.
Lord Byron.
aus: Erinnerungen von jenseits des Grabes. Meine Jugend. Mein Leben als Soldat und Reisender,
12. Buch, Abschnitt 4. Neu bearbeitet, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Brigitte Sändig,
ars una, München 1994, Seite 311 bis 315:
Während meines englischen Exils lebte Lord Byron in der Schule von Harrow, einem Dorf zehn Meilen von London. Er war noch ein Knabe, ich ein junger Mann und ebenso unbekannt wie er; er war im schottischen Weideland, am Ufer des Meeres aufgewachsen wie ich < href=“https://de.wikipedia.org/wiki/Saint-Malo“ target=“_blank“ title=“Saint-Malo, Wikipedia“>in der bretonischen Heide – und ebenfalls am Ufer des Meeres. Er liebte die Bibel und Ossian über alles, genauso wie ich; er sang in Newstead-Abbey von seinen Kindheitserinnerungen wie ich im Schloß von Combourg.
Auf meinen Ausflügen in die Umgebung von London, als ich so unglücklich war, bin ich wohl zwanzigmal durch das Dorf Harrow gekommen, wußte aber nicht, welch großen Geist es beherbergte. Ich habe mich auf den Friedhof unter die Ulme gesetzt, in deren Schatten Lord Byron 1807, als ich aus Palästina zurückkam, die Verse schrieb:
„Baum meiner Jugend, dessen Zweige klagen,
Wenn in dein Laub sich klare Lüftchen wagen,
Wo ich allein jetzt bin, de oft vor Jahren
Den Raum betrat mit der Genossen Scharen …
Wenn das Geschick des Herzens Glut verkühlt,
Und nicht mehr Gram und Leidenschaft drin wühlt …
Hier möcht ich schlafen, wo mein Hoffen lebte,
Wo Jugendlust und Ruhe mich umschwebte;
Auf ewig von dem Schattendach umschlungen,
Bedeckt vom Rasen, wo ich einst gesprungen …
Beweint von Freunden, die ich früh besessen,
Im übrigen – von aller Welt vergessen.“Und ich werde sagen: Sei gegrüßt, du alte Ulme, zu deren Füßen sich Byron als Kind den Launen seines Alters überließ, während ich in deinem Schatten von René träumte, unter der gleichen Ulme, wo der Dichter später Childe Harold ersann. Byron wünschte sich auf dem Friedhof, der Zeuge seiner Kinderspiele gewesen war, ein namenloses Grab – ein vergeblicher Wunsch, da der Ruhm ihm entgegensteht.
Wenn ich durch Harrow gekommen bin, ohne zu wissen, daß Lord Byron als Kind hier lebte, so sind auch Engländer durch Combourg gereist, ohne zu ahnen, daß ein kleiner Vagabund, der in diesen Wäldern aufwuchs, einige Spuren hinterlassen würde. Der Reisende Arthur Young schrieb, als er durch Combourg fuhr:
„Von Pontorson bis Comburg macht die Gegend einen verwilderten Eindruck. Die Landwirtschaft ist hier nicht weiter entwickelt als bei den Huronen, was im Binnenland unglaublich escheinen mag. Die Bevölkerung ist fast ebenso wild wie das Land, und die Stadt Combourg einer der schmutzigsten und unfreundlichsten Orte weit und breit: Lehmhäuser ohne Fensterscheiben und ein so schlechtes Pflaster, daß man jeden Augenblick fehltritt; keinerlei Kanalisation. – Dennoch gibt es hier ein Schloß, das sogar bewohnt ist. Wer ist dieser Monsieur de Chateaubriand, der Besitzer, der so starke Nerven hat, daß er inmitten all diesen Schmutzes und dieser Armut leben kann? Unterhalb dieses scheußlichen Haufens Elend liegt ein schöner, von Wäldern umgebener See.“
Dieser Monsieur de Chateaubriand war mein Vater: die Stätte , die dem schlechtgelaunten Agronomen so häßlichj erscheint, war nichtsdestoweniger ein edler und schöner, wenngleich düsterer und ernster Wohnsitz. Und hätte Mister Young mich, die schwache Efeupflanze, die sich an diesen unwirtlichen Türmen emporzuranken begann, überhaupt wahrnehmen können, da er nur damit beschäftigt war, unsere Ernte zu sichten?
Es sei mir gestattet, diesen 1822 in England geschriebenen Seiten die nachstehenden, 1834 und 1840 verfaßten anzufügen; sie werden das Kapitel über Lord Byron vervollständigen.
Es wird vielleicht in Zukunft von einigem Interesse sein, das Zusammentreffen der beiden Häupter der neuen französischen und englischen Schule festzustellen, die beide eine gleiche Basis ihrer Vorstellungen, ihrer Bestimmungen, wenn nicht sogar fast gleiche Lebensgewohnheiten besaßen: Der eine ist Pair von England, der andere Pair von Frankreich; beide haben den Orient bereist und waren einander oft ziemlich nahe, ohne sich je zu sehen; nur ist das Leben des engischen Dichters mit weniger großen Ereignissen durchsetzt als das meinige.
Die ersten Übersetzer, Kommentatoren und Bewunderer Lord Byrons haben sich wohl gehütet, darauf aufmerksam zu machen, daß einige Seiten meiner Werke dem Verfasser des Childe Harold einen Moment in Erinnerung bleiben konnten; sie hätte geglaubt, damit seinen Ruhm zu schmälern. Jetzt, da sich der Enthusiasmus etwas gelegt hat, versagt man mir diese Ehre weniger. Unser unsterblicher Sänger hat im letzten Band seiner Lieder gesagt: „In einer der vorhergehenden Strophen spreche ich von den ‚Leiern‘, die Frankreich Monsieur de Chateaubriand verdankt.“ Ich fürchte nicht, daß dieser Vers von der neuen poetischen Schule veleugnet wird, die, unter Adlerflügeln geboren, sich zu Recht oft eines solchen Ursprungs rühmt. Der Einfluß des Autors von Le Génie du Christianisme ist auch im Ausland spürbar geworden, und es ist vielleicht nur recht und billig anzuerkennen, daß der Sänger von Childe Harold zur gleichen Familie wie René gehört.
Was ich hier über die Verwandtschaft der Ideen und der Stimmung zwischen dem Chronisten von René und dem Sänger von Childe Harold gesagt habe, kostet den unsterblichen Barden kein einziges Haar. Wie kann die Muse des schottischen Flusses Dee, die eine Leier und Flügel trägt, durch meine erdverhaftete Muse ohne Laute geschmälert werden? Lord Byron wird leben, da er als Kind seines Jahrhunderts, genau wie ich und Goethe vor uns beiden, die Leidenschaft und das Unglück dieses Jahrhunderts zum Ausdruck gebracht hat; mögen auch meine Irrfahrten und mag das Windlicht meiner gallischen Barke dem Schiff Albions auf unerforschten Meeren als Wegweiser gedient haben.
Überhaupt können zwei Geister von gleicher Beschaffenheit sehr wohl gleiche Vorstellungen entwickeln, ohne daß man ihnen deswegen den Vorwurf machen könnte, daß sie sklavisch dem gleichen Weg gefolgt seien. Es ist erlaubt, in einer fremden Sprache ausgedrückte Ideen und Bilder zu benutzen, um die eigene Sprache damit zu bereichern; das ist in allen Jahrhunderten und zu allen Zeiten so gewesen. Ich gebe gern zu, daß in meiner ersten Jugend Ossian, Werther, die Träumereien eines einsamen Spaziergängers und die Betrachtungen über die Natur meine Ideen beeinflußten; doch habe ich nichts von dem Genuß verheimlicht, den mir die Werke bereiteten, an denen ich mich ergötzte.
Wenn es wahr ist, daß etwas von René in die Substanz der einzigen Person eingegangen ist, die unter verschiedenen Namen als Childe Harold, auftritt – als Conrad, Lara, Manfred, der Giaur, wenn Lord Byron mich zufällig durch sein Leben wiederbelebt hätte, sollte er dann die Schwachheit besessen haben, mich nicht ein einziges Mal zu erwähnen? Ich bin also einer jener Väter, die man verleugnet, wenn man die Macht erlangt hat? Kann ich Lord Byron, der fast alle französischen Schriftsteller seiner Zeit zitiert, völlig unbekannt gebrlieben sein? Hat er nie von mir sprechen hören, als um ihn herum die englischen Zeitungen, genau wie die französischen, zwanzig Jahre lang von dem Streit um meine Werke widerhallten und die New-Times zwischen dem Verfasser von Le Génie du Christianisme und dem von Childe Harold eine Parallele zog?
Es gibt keinen Geist, so glänzend er auch sei, der nicht seine leicht verwundbaren Stellen, seine argwöhnischen Anwandlungen hat; man will das Zepter behalten, fürchtet, es teilen zu müssen, ärgert sich über den Vergleich mit anderen. So hat ein anderes großes Talent meinen Namen in einem Werk über Literatur nicht erwähnt. Gott sei Dank schätze ich mich nach meinem wahren Wert und habe nie nach Herrschaft gestrebt; da ich nur an die religiöse Wahrheit glaube – und eine Form dieser Wahrheit ist die Freiheit – habe ich ebensowenig Glauben in mich al sin irgendetwas anderes hier auf Erden gesetzt. Wenn ich aber bewunderte, so war es immer mein Bedürfnis, nicht zu schweigen; darum erklärte ich meine Begeisterung für Madame de Staël und für Lord Byron. Was gibtr es Schöneres als als Bewunderung? Das ist himmlische Liebe, Hingebung bis zum Kult. Man fühlt sich von Dankbarkeit für die Gottheit durchdrungen, die die Grundlagen unserer Fähigkeiten erweitert, die unserer Seele neue Aussichten eröffnet, die uns ein so großes, so reines, von Furcht und Neid ganz freies Glück gewährt.
Übrigens beweist der kleine Einwand, den ich in diesen Memoiren gegen den größten englischen Dichter seit Milton erhebe, nur eines: den hohen Wert, den ich darauf gelegt hätte, daß sich seine Muse meiner erinnert.
Lord Byron hat auf erbärmliche Weise Schule gemacht. Ich nehme an, er war genauso betroffen von den Childe Harolds, die er ins Leben gerufen hat, wie ich es über die Renés bin, die um mich herum ihren Träumen nachhängen.
Das Leben Lord Byrons ist Gegenstand vieler Nachforschungen und Verleumdungen. Die jungen Männer haben seine magischen Worte für puren Ernst genommen; die Frauen waren geneigt, sich, wenngleich mit Entsetzen, von diesem Ungeheuer verführen zu lassen, wollten diesen einsamen und unglücklichen Satan trösten. Wer weiß? Vielleicht hat er die Frau nicht gefunden, die er suchte, ein Weib, das schön genug, ein Herz, das ebenso weit war wie das seinige. Einer trügerischen Meinung nach ist Byron die alte Schlange der Verführung und der Verderbtheit, nur weil er die Verderbtheit des menschlichen Geschlechts wahrnimmt. Er ist ein unseliger, leidender Genius, der zwischen die Geheimnisse der Materie und des Geistigen gestellt ist, der keine Lösung für das Rätsel des Universums sieht, der das Leben als eine abscheuliche grundlose Ironie, als ausschweifendes Lächeln des Bösen betrachtet. Er ist der Sohn der Verzweiflung, der verachtet und verleugnet und der sich für die unheilbare Wunde, die er in sich trägt, rächt, indem er alles, was sich ihm nähert, durch Wollust zum Schmerz führt. Er ist ein Mann, der das Alter der Unschuld nicht gekannt und nie in die Lage gekommen ist, von Gott verworfen und verflucht zu werden; ein Mann, der bereits verurteilt aus dem Schoße der Natur hervorging und der der Verdammte des Nichts ist.
Dies ist der Byron der überspannten Phantasien, aber wie ich glaube, ist es nicht der wirkliche Byron.
Wie bei den meisten, so sind auch in Lord Byron zwei verschiedene Menschen vereinigt: der Mensch der Natur und der Mensch des Systems. Als der Dichter erkannte, welche Rolle das Publikum ihm zuschrieb, übernahm er sie und begann, die Welt zu verdammen, die er bisher nur träumerisch wahrgenommen hatte. Dieser Prozeß ist aus der chronologischen Ordnung seiner Werke ablesbar.
Sein Genie hat bei weitem nicht das Ausmaß, das man ihm zuschreibt, es ist sogar ziemlich beschränkt. Sein poetisches Denken ist nur ein Seufzer, eine Klage oder eine Verwünschung; als das ist es bewundernswert. Man sollte die Leier nicht danach fragen, was sie denkt, sondern was sie singt.
Sein Geist ist sarkastisch und wandelbar, aber auf eine Art, die aufregt, so daß sein Einfluß unheilvoll ist. Der Schriftsteller hat zweifellos Voltaire gelesen und ahmt ihn nach.
Lord Byron, mit allen Vorzügen ausgestattet, hatte wenig Anlaß, mit seiner Geburt unzufrieden zu sein. Selbst der Vorfall, der ihn unglücklich machte und seine Überlegenheiten mit menschlicher Gebrechlichkeit verband, hätte ihm keinen Kummer verursachen müssen, weil er trotzdem geliebt wurde.
Die Geschwindigkeit, mit der heute der Ruhm vergeht, ist beklagenswert. Nach einigen Jahren – was sage ich? schon nach einigen Monaten hört die Anhimmelei auf und macht dem Verruf Platz. Man sieht schon den Nimbus Byrons verblassen. Wir verstehen seinen Genius besser; in Frankreich wird man ihm länger Altäre errichten als in England. Da Childe Harold sich vor allem durch die Schilderung besonderer, individueller Gefühle auszeichnet, werden die Engländer, die allen gemeinsame Gefühle vorziehen, den Dichter mit seinem tiefenm, traurigen Aufschrei schließlich leugnen. Sie sollten sich damit in Acht nehmen! Wenn sie je das Bild des Mannes zerstören, der sie wieder auleben läßt, was bleibt ihnen dann?
Als ich 1822 während meines Aufenthalts in London meine Ansichten über Lord Byron niederschrieb, hatte er nur noch zwei Jahre auf Erden zu leben; er starb 1824, zu der Zeit, als Enttäuschungen und Widerwärtigkeiten auf ihn zukamen. Ich bin ihm im Leben, er ist mir im Tode vorangegangen. Er wurde vor der Zeit abberufen. Meine Nummer kam vor der seinen, und dennoch wurde die seinige zuerst gezogen. Childe Harold hätte bleiben sollen, denn mich konnte die Welt verlieren, ohne mein Verschwinden überhaupt zu bemerken.
Bilder: Harrow on the Hill Churchyard – Byron’s tomb, crosses and John Leighton,
Churchyard Monuments;
Harrow On The Hill, St Mary’s Church, The Peachey Tomb And The Elm 1906,
The Francis Frith Collection;
10 London hills – 8. Harrow Hill…, Exploring London, 2. Juni 2021;
The Short Tragic Life of Allegra Byron, Darkest London, 19. Oktober 2012.
Soundtrack: François Devienne (1759 bis 1803): Sonate en quatuor pour le clavecin ou le forte piano avec accompagnement de flûte, cors et alto obligés. Il y a une partie de violoncelle pour remplacer celle du cor (Sonate zu vieren) in F-Dur, live im Auditorium de la Maison de la Radio, Paris 31. Januar 2018:
Missing Poe
Update zu Etwas distinkt Metaphysisch-Transzendentales,
Weinfassreiten an der Küste der Nacht (oder geschah es bei Tage),
Die Wonnen des Fuchsjägers: 4 fundamentale Voraussetzungen eines seligen Lebens
und vor allem All I lov’d — I lov’d alone:
Durchgeblättert hab ich dieser Tage den vierten Band Poe, den mit den Gedichten und der ausgewählten Essayistik. Im letzteren Teil fällt auf, dass drei der wichtigsten Stücke über Poetik handeln. Als ob man’s nicht wüsste, aber ich merk mir nie den genauen Namen seiner Bauanleitung für The Raven; The Philosphy of Composition war’s wohl, as opposed to The Rationale of Verse und The Poetic Principle — und dann darf man sich noch dreierlei übersetzte Überschriften dazumerken und kennt sich grad noch soweit aus, dass His Poeness die Poetik alles andere denn wurschtegal war. Und dann steht unter Anmerkungen noch zur Logik des Verses (das mit dem Rationale) gut versteckt, dass es auch noch „eine Arbeit, die er ganz diesem Thema gewidmet hat“ geben soll: Notes on English Verse vom März 1843, im allfälligen Vierbänder ansonsten unterschlagen.
Der Skandal mit Derjenigenwelchen Ausgabe hat schon viel früher angefangen: Bis jetzt komme ich auf 5 oder je nach Zählung 8 Gedichte, die da nicht drin sind. Chronologisch nach der Entstehung:
Und sofort vermisst man schmerzlich deutsche Übersetzungen. Ich könnte mich ja dranwagen, aber auf dem Niveau von Hans Wollschläger sollten sie schon stattfinden. – Was die Schuhmann-Schmidt-Wollschläger’sche Poe-Ausgabe verschweigt:
——— Edgar Allan Poe:
-
Stanzas I–IV
The title “Stanzas” was assigned by E. C. Stedman and G. E. Woodberry in 1894, and has generally been widely accepted.
This is one of the poems in this collection that Poe never reprinted.
Poe’s motto preceeding the poem is from Bryon’s Island, 1823, Canto II, lines 382–285. (Mabbott, in his edition of Poe’s poems, cites the reference as “Canto II, xvi, lines 13-16,” but different editions provide different numbering. In the 1823 edition, printed in London, the lines are numbered within the full canto. An 1824 edition, printed in Philadelphia, and an 1831 edition, also printed in London, give no line numbers. All editions divide the cantos into sections bearing Roman numerals.
In the second line of stanza 2, “ferver” may be “fervor” or more likely “fever.”
How often we forget all time, when lone
Admiring Nature’s universal throne;
Her woods — her wilds — her mountains — the intense
Reply of Hers to Our intelligence!1.
In youth have I known one with whom the Earth
In secret communing held — as he with it,
In day light, and in beauty from his birth:
Whose fervid, flick’ring torch of life was lit
From the sun and stars, whence he had drawn forth
A passionate light-such for his spirit was fit —
And yet that spirit knew — not in the hour
Of its own fervor — what had o’er it power.2.
Perhaps it may be that my mind is wrought
To a ferver [[fever]] by the moon beam that hangs o’er,
But I will half believe that wild light fraught
With more of sov’reignty than ancient lore
Hath ever told — or is it of a thought
The unembodied essence, and no more
That with a quick’ning spell doth o’er us pass
As dew of the night-time, o’er the summer grass.3.
Doth o’er us pass, when, as th‘ expanding eye
To the lov’d object — so the tear to the lid
Will start, which lately slept in apathy?
And yet it need not be — (that object) hid
From us in life — but common — which doth lie
Each hour before us — but then only bid
With a strange sound, as of a harp-string broken
T‘ awake us — ‚Tis a symbol and a token.4.
Of what in other worlds shall be — and giv’n
In beauty by our God, to those alone
Who otherwise would fall from life and Heav’n
Drawn by their heart’s passion, and that tone,
That high tone of the spirit which hath striv’n
Tho‘ not with Faith — with godliness — whose throne
With desp’rate energy ‚t hath beaten down;
Wearing its own deep feeling as a crown. -
Elizabeth
undated manuscript, about 1829. Acrostichon for Poe’s Baltimore cousin, Elizabeth Rebecca Herring (1815–1889).
Some scholars, including T. O. Mabbott, note that the seventh lines reads “in persuing,” with “pursuing” misspelled. Examination of the manuscript, however, shows this to be a misreading.
A photographic facsimile of the manuscript was printed in the auction catalogue for The Library of H. Bradley Martin: Highly Important American and Children’s Literature, New York: Sotheby’s, January 30 and 31, 1990, lot 2218, with notes by Richard Kopley.
Elizabeth — it surely is most fit
(Logic and common usage so commanding)
In thy own book that first thy name be writ,
* Zeno and other sages notwithstanding:
And I have other reasons for so doing
Besides my innate love of contradiction:
Each poet — if a poet — in pursuing
The muses thro‘ their bowers of Truth or Fiction,
Has studied very little of his part,
Read nothing, written less — in short’s a fool
Endued with neither soul, nor sense, nor art,
Being ignorant of one important rule,
Employed in even the theses of the school —
Called —— I forget the heathenish Greek name —
(Called any thing, its meaning is the same)
“Always write first things uppermost in the heart”Edgar
* It was a saying of this philosopher “that one’s own name should never appear in one’s own book”.
-
Original
undated manuscript, about 1829, published 1875:
From childhood’s hour I have not been
As others were — I have not seen
As others saw — I could not bring
My passions from a common spring —
From the same source I have not taken
My sorrow — I could not awaken
My heart to joy at the same tone —
And all I lov’d — I lov’d alone —
Then — in my childhood — in the dawn
Of a most stormy life — was drawn
From ev’ry depth of good and ill
The mystery which binds me still —
From the torrent, or the fountain —
From the red cliff of the mountain —
From the sun that ’round me roll’d
In its autumn tint of gold —
From the lightning in the sky
As it pass’d me flying by —
From the thunder, and the storm —
And the cloud that took the form
(When the rest of Heaven was blue)
Of a demon in my view — -
Serenade
This was printed as “by E. A. Poe” in the Baltimore Saturday Visiter of April 20, 1833, after its receipt from “E. A. P.” had been acknowledged in the issue of April 13. It was completely forgotten until in 1917 Professor John C. French located a file of the paper for 1833 in the hands of Miss Elizabeth Cloud Seip. He reprinted “Serenade” in the Dial for January 31, 1918 (64:121), and again in Modern Language Notes, May 1918 (33:257-258). Killis Campbell inserted a text in the second issue of his Poems at p. 137. In line 12, I change the sure misprint “mountains,” to “mountain’s” but otherwise follow the original printing.
So sweet the hour — so calm the time,
I feel it more than half a crime
When Nature sleeps and stars are mute,
To mar the silence ev’n with lute.
At rest on ocean’s brilliant dies
An image of Elysium lies:
Seven Pleiades entranced in Heaven
Form in the deep another seven:
Endymion nodding from above
Sees in the sea a second love:
Within the valleys dim and brown,
And on the spectral mountain’s crown
The wearied light is lying down:
And earth, and stars, and sea, and sky
Are redolent of sleep, as I
Am redolent of thee and thine
Enthralling love, my Adeline.
But list, O list! — so soft and low
Thy lover’s voice tonight shall flow
That, scarce awake, thy soul shall deem
My words the music of a dream.
Thus, while no single sound too rude,
Upon thy slumber shall intrude,
Our thoughts, our souls — O God above!
In every deed shall mingle, love. -
Lines on Ale
„Believed to have been written in 1848 at a tavern in Lowell, Massachusetts“:
Fill with mingled cream and amber,
I will drain that glass again.
Such hilarious visions clamber
Through the chamber of my brain.
Quaintest thoughts, queerest fancies
Come to life and fade away.
What care I how time advances;
I am drinking ale today.
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Und das sind nur die, so man findet, indem man gar nicht sucht.
Bilder: Illustrationen zu Werken von Poe, gesammelt aus einer Suchanfrage innerhalb tumblr.com nach „Poe Illustration“, die ich für Teile der Public Domain halte. Die erste ist jedenfalls von Arthur Rackham.
Soundtrack: Larkin Poe: Bleach Blonde Bottle Blues, aus: Venom & Faith, 2018:
Dornenstück 0012: So mag der Schreckenstraum sich dann entfalten (Wehe dem Menschenerzeugten!)
Update zu Was ist das? Ich glaub, es hackt! Das ist doch kein Teufelspakt!
Bitchy Lessing und
Das Ungeheuerste, das Entsetzlichste, das Schaudervollste:
Das neue Jahr nimmt Fahrt auf: Eine höhere Instanz, an die wir noch nicht zu glauben verlernt haben, steh uns bei. Die Hoffnung zappelt ja immer bis zuletzt.
Menschen, denen ausreichend Erdenzeit vergönnt war, sich an einer Zivilisation zu beteiligen, ist es gelungen, fünf Beleidigungen in einem einzigen Fragesatz unterzubringen: Beim Anblick meines Bücherregals ist ihnen spontan nichts anderes eingefallen als:
„Habt ihr die ganzen alten Schwarten von euren Eltern geerbt?“
Das wären eine Beleidigung pro Satzteil und eine zusätzliche für den überspannenden Bogen, der sich tiefer und schmerzhafter als die Summe seiner Teile wölbt – also effizienter als die vierfache Herabsetzung für Bier: „Ich krieg ein kleines alkoholfreies Radler.“
Was auf nur dreifache Weise in diese Reihung gehört: Adelbert von Chamisso hat eins seiner ersten poetischen Werke, seinen Faust, 1803 als Versuch aufgefasst – und damit, was in den Besprechungen von Chamissos Frühwerk gerne zu kurz kommt: immerhin fünf Jahre vor der Veröffentlichung von Goethes Tragödie erstem Theil, und konnte sich daher allenfalls, so er das wollte, auf dessen Fragment, in Druck seit 1790, beziehen. In seiner selbst geordneten Sammlung letzter Hand hat Chamisso den Faust–Versuch mit dem späteren Der Tod Napoleons, 1828 als Gedicht in dramatischer Form eingestuft.
Ungekürzt:
——— Adelbert von Chamisso:
Faust.
Ein Versuch.
1803.
1803:
Doch wozu ist des Weisen Thorheit nütz?
Schlegels Shakespeare
(„Was ihr wollt.“ III. 1)Faust. Sein Guter und sein Böser Geist, zwei Stimmen
Faustens Studierzimmer, von einer einzigen Lampe erleuchtet.
Faust.
Der Jugend kurze Jahre sind dahin,
Dahin die Jahre kräft’ger Mannheit, Faust!
Es neigt sich schon die Sonne deines Lebens –
Hast du gelebt? hier, fremd in dieser Welt,
Verträumtest du die karggezählten Stunden,
Nach Wahrheit ringend, die Pygmäenkräfte
Anstrengend in dem Riesenkampf – o Tor!
Du, der in wildem Jungendfeuer schwelgend,
Uneingedenk der Zukunft, deiner selbst,
Des großen Weltalls, das um dich sich kreist,
Genuß nur kennst, Genuß nur kennen willst;
Beglückter Liebling du der Gegenwart,
Dich muß ich weis, so wie du glücklich bist,
Auch preisen. – Weis! – und Tor? – Sinnleere Namen!
Nur Kranke gibt’s, ich kenne keine Toren.
Ein Funke glomm im Busen mir, (ihn legte
Die fremde Hand,) er mußte hoch entlodern,
Und ewig ungelöschten Durst mir flammen; –
Vom Allerschaffer fordr ich alle Schuld,
Wir müssen wollen, ja wir müssen! – müssen?
Nicht frei denn? – also, wollend, nur ein Stein,
Der in die Tiefe fällt, und fühlt – er wolle.Was bist du Mensch denn? gier’ger Allumfasser
Des Universums kühner Freier du,
Der blind, in Nacht, in zwiefach ew’gem Dunkel
Gebannt zu irren, nichts erkennen kannst,
Ein ewig ungelöstes Rätsel dir;
Erschaffer deiner Welt nach ewigen
Gesetzen, selbst von ihr erschaffen,
Was bist du mächt’ger, nicht’ger Erdenwurm?
Ein Gott in Banden, oder nur ein Staub?
Was ist des Denkens, was der Sinnen Welt?
Die Zeit, der Raum, die Allumfassenden,
Und ihre Schöpfungen, durch die sie werden?
Was außer ihnen, das Unendliche?
Was ist die Gottheit, jeder großen Kette
Ein erstes ewig unbegriffnes Glied,
Das, nicht getragen, alle Glieder trägt? –
Erscheinung nur und Wahn ist alles mir.
Es wirft das Licht, das innre, dort hinaus
Auf ausgespannte Nacht die Bilder hin,
Ein leerer Widerschein des eignen Ichs,
Und so entsteht die Welt, die ich erkenne.
So hat – vielleicht der Zufall es geordnet,
Der große Bildner, den sie Gottheit nennen.
Und wenn, nicht bloß gedacht, dort Geist und Körper
Und Gottheit sind, – wie faß ich sie? – umsonst!
Es treten ewig zwischen sie und mich
Der Sinne Lügen, der Vernunft Gesetze.Ihr ew’ge Rätsel, schrecklich grimm’ge Nattern,
Die stets ihr euch erzeugt und euch verzehrt,
Und mir das Herz verzehrt im grausen Spiele
Der stets verschlungnen und erzeugten Kreise;
Ich kann euch nicht verscheuchen, nicht erdrücken,
Ihr stürmet rastlos mir die bange Seele;
Weh dem, den ihr zum ernsten Kampfe reizet!
Es furchet tief des Denkers Stirne sich,
Und Zweifel ist der schwererrungne Preis.Nein! länger soll der Schlangenbiß des Zweifels
Nicht langsam mir am kranken Herzen nagen,
Nicht giftig reizen mehr der Wunden Schmerzen.
Ich will gesunden in der Wahrheit Scheine,
Erschwingen kühn das sternenferne Ziel,
Das eitel strebend nimmer ich erklommen.Er sucht eine magische Rolle hervor, entfaltet sie auf seinem Tische und spricht,
indem er die Hand auf die Zauberschrift legt.Sind’s keine Träume, die du hingezeichnet,
So folg ich, Seher, deiner Riesenspur,
Ich schreite deine Bahn und zage nicht.
Wenn horchend deinem mächt’gen Rufe, Geister,
Dir dienend, ihres Reiches Nacht entstiegen;
Wird mir die Geisterwelt sich auch eröffnen.
Belehrung zollen mir die finstern Mächte.Die Geisterbeschwörung
Die ihr, gehüllt in furchtbar dunklen Schleier,
Die Seele mir umwallt, gehorchet, Geister,
Dem ernsten, festen Willen, der euch ruft.Böser Geist Eine Stimme zur Linken.
Dem ernsten, festen Willen wird gehorchet.
Du Sohn des Staubes, ihm entschwungen kühn
Und ähnlich uns, sprich dein Begehren aus.Guter Geist Eine Stimme zur Rechten.
Faust! Faust!
Faust.
Auch du! Dir hab ich nicht gerufen, fleuch!
Abschütteln will ich deiner Knechtschaft Joch,
Entfleuch! Nicht du, Unmächtiger, vermagst
Den heißen Durst des Lechzenden zu stillen,
Die sturmgeschlagnen Wellen zu besprechen.
Du lähmst den Flug mir, hebe dich von dannen!
Ich will ihn männlich fliegen und nicht zagen.
Ich wende mich von dir, ich folge dem;
Belehrung fordr ich, Wahrheit und Erkenntnis.Böser Geist.
Nicht menschlich sprichst du Worte hohen Sinnes.
Hast du mit Mannes Ernst mich hergebannt.
So schwöre mir den Preis zu – deine Seele;
Und öffnen will ich dir der Wahrheit Schätze,
Und was der Mensch vermag, sollst du erkennen.Guter Geist.
Faust, Faust!
Den seligen Menschen
Gewährte der Vater,
Von allen den Früchten
Des Gartens zu kosten;
Den seligen Menschen
Verwehrte der Vater
Die einzige Frucht.Und listig schmeichelnd hob die Schlange sich:
Ihr würdet Göttern gleich, wenn ihr die Frucht,
Die herrliche, zu kosten euch erkühntet,
Die euch der Vater streng verwehrt zu brechen,
Nicht Vater er, der neidische Tyrann!Faust, Faust!
Dem kindlichen Menschen,
Die Freuden des Lebens,
Sie knospen ihm alle.
Er weilet, wo duftend
Die Rosen ihm blühen,
Die Früchte ihm winken.
Geflügelten Schrittes
Leicht hin über Dornen
Zu schweben, zu eilen,
Gesellt‘ ihm der Vater
Die holden Gefährten,
Den Glauben, die Hoffnung,
Treu ihm in wechselndem Glück.Faust, Faust!
Es gab zu ahnden das Unendliche
Der Vater dir den Geist,
Gab, liebend anzubeten, dir das Herz:
Und, rechtend mit dem Vater, wagest du,
Vom Strahle seiner Liebe mild beschienen,
Zu fordern jene Frucht, des Todes Frucht.
Verschmäh, verschmäh des Lebens Glück und Kronen,
Und ringe nach der Gottheit fernem Ziele;
Des Rächers Rache trifft den schuld’gen Scheitel!Faust.
Erschuf zu ausgesuchten Qualen mich
Ein Gott des Hasses, den der Schmerz erfreut?Guter Geist.
Das Glück umblühte deines Lebens Pfade.
Faust.
Es ist Erkennen mir das einz’ge Glück.
Guter Geist.
Die Hoffnung blüht dem Dulder, lern entbehren.
Faust.
Sie welkte in der schwer erkrankten Brust.
Guter Geist.
Der Tugend Kranz umgrüne deine Locken.
Faust.
Auch diesen Kranz entriß der Zweifel mir.
Guter Geist.
Du willst, du willst, und deine Freuden welken.
Faust.
So wähl ich denn, nicht frei, das eigne Weh.
Guter Geist.
Faust! handle glaubend, wie du frei dich fühlest.
Faust.
Nein, nein! ich bin nicht frei, ich will’s nicht sein.
Guter Geist.
So treffe denn die schwere Schuld den Frevler.
Faust.
Die schwere Schuld wälz ich dem Schöpfer zu,
Der mich zu hoch begabt, zu tief gedrückt,
Der feindlich mir den regen Geist gegeben.Guter Geist.
Und ihn zu bändigen, den Willen dir.
Des Rächers Rache trifft den schuld’gen Scheitel!Faust.
Dich, Geist der frühen Rache, schrecklicher,
Der furchtbar ahndend nicht begangne Sünden,
Gedanken nur des Herzens, angstumzischend
Der Hölle Schlangen furchtbar um mich schlingst,
Erschütternd nicht des Mannes ernsten Willen,
Dich straf ich Lügen; nein, ich bin nicht frei;
Ein ehrnes Schicksal waltet über mir
Und unaufhaltsam reißt es mich dahin,
Und eisern fällt, und trifft das grause Los.Böser Geist Halb laut.
Der Falsche lügt sich deinen guten Geist.
Faust.
Du lügst dich meinen guten Geist, entfleuch!
Ich wende mich von dir, ich folge dem.
Belehrung fordr ich, Wahrheit und Erkenntnis.Böser Geist.
Wohlan! so schwöre mir den Preis zu, Faust;
Und öffnen will ich dir der Wahrheit Schätze,
Und was der Mensch vermag, sollst du erkennen.
Selbst brich den Stab denn über deine Seele.Der Stab des Gerichtes wird Fausten in die Hand gezaubert,
er erschrickt, und faßt sich rasch wieder.Faust.
Du, rascher Sohn des Augenblickes, Wille,
Gebäre rasch die Tat.Guter Geist.
Die ernste Tat.
Die spät fortwirkend in der Zeiten Schoße,
Entfallen dir, ein Raub der fremden Mächte,
Gehöre ewig der Notwendigkeit.
Noch, Faust, gehört des Herzens Willen dir.Böser Geist Halblaut und langsam.
Und öffnen will ich dir der Wahrheit Schätze
Und was der Mensch vermag, sollst du erkennen.Faust.
Gehört noch mir, – gedacht, gewollt, gehandelt!
Guter Geist.
Und wagtest du zu denken ihn, den großen,
Den schrecklichen Gedanken: Ewigkeit?Faust.
Ich dacht ihn, ja! doch der Moment allein
Gehört dem Menschen, im Momente lebt er,
Drum kauft er um der Zukunft teuren Preis
Des Augenblickes rasch entflohne Lust.
Es kann die Zukunft auch ein Traum nur sein.Guter Geist.
Und wenn auf Wahrheit jener Traum hindeutet?
Faust.
So mag der Schreckenstraum sich dann entfalten.
Du wetzest selbst des Zweifels gift’gen Zahn,
Der mich zerfleischt. Nicht Wahrheit kann das Herz
Zermalmend treffen, das für sie nur schlägt,
Nur schrecklich ist die Qual mir, die ich dulde;
Sie muß sich enden. Stählern ist die Brust,
Und jedes Schmerzes Pfeil entprallt unmächtig,
Den nicht des Zweifels Schreckensarm geschnellt.
Ich will der ew’gen Rache männlich harren,Und festen Blickes ihr entgegen sehn.
Ich fluche dir, und deinem Gott, und breche
Entschlossen selber des Gerichtes Stab.Guter Geist.
Wehe dem Menschenerzeugten!
Wehe! zerbrechet die Krone.
Er stürzet, nachhallend
Empfängt ihn die Tiefe
Zerschmettert vom jähligen Fall.Es wandle im Tale
Der Menschenerzeugte,
Und weide die Blicke
An blumigen Auen.
Nicht wag er zu heben
In blendende Höhen
Zur Sonne den Blick.
Vom lieblichen Kleide
Der nährende Erde
Rückstrahlt ihm die Farbe,
Ein sanfteres Licht.
Ihm g’nüge der bunte,
Der liebliche Schein.
Nicht gierigen Herzens
Erheb er die Wünsche
Zur Sonne empor.
Erklimmt er der Berge
Beschneiete Gipfel,
Zu nahen der Sonne
Verzehrendem Licht;
Nicht näher der fernen,
Erblindet das Aug ihm,
Und schwankenden Schrittes
Entgleitet der Fuß.
Der schwindlichten Höhe
Entstürzt er, nachhallend
Empfängt ihn die Tiefe
Zerschmettert vom jähligen Fall.Wehe dem Menschenerzeugten!
Wehe! zerbrechet die Krone.
Entwunden den Armen
Der sorgenden Liebe,
Hin eilt er – und stürzet;
Er stürzet, nachhallend
Empfängt ihn die Tiefe
Zerschmettert vom jähligen Fall.Faust den Stab zerbrechend.
Zerbrochen ist der Stab.
Guter Geist.
Er ist zerbrochen.
Böser Geist.
Er ist zerbrochen.
Lange Stille
Faust.
Nun?
Böser Geist.
Ich lache deiner, leichtes Spielwerk du
Der gier’gen Wünsche deines stolzen Herzens;
Ich lache deiner, Tor, den ich verachte,
Und zolle dir den Preis, den du bedungen.Der Zweifel ist menschlichen Wissens Grenze,
Die nur der blinde Glaube überschreitet.
Dich bann ich, ohne Anker, ohne Segel
Zu irren auf dem feindlich dunklen Meere,
Wo dir kein Grund, wo keine Ufer dir,
Dem ohne Hoffnung Strebenden erscheinen;
Bis vor dir nächtlich sich das Tor eröffnet,
Das furchtbar dir geahndete, des Todes,
Und neue Schauder schrecklich dich ergreifen;
Denn mir gehöret deine Ewigkeit:
Ich zolle dir den Preis, den du bedungen.Des Glaubens Blume blühte kindlich dir,
Du hast sie stolz zertreten, forderst Wahrheit.
Wohl! schreckend ruf ich dir die Wahrheit zu:
Aus deiner Weisen Widersprüchen strahlte
Sie dir entgegen, die geahndete:
Der Zweifel ist menschlichen Wissens Grenze,
Es kann der Staubumhüllte nichts erkennen,
Dem Blindgebornen kann kein Licht erscheinen.So wie die Sprache, wie des Wortes Schall
Dir Mittler des Gedankens ist und Zeichen;
So ist des Sinns Empfinden, der Gedanke selbst
Dir Sprache bloß und eitles leeres Zeichen
Der ewig dir verhüllten Wirklichkeit.
Du kannst nur denken durch den Mittler Sprache,
Nur mit dem Sinne schauen die Natur,
Nur nach Gesetzen der Vernunft sie denken.
Und hättest hundert Sinne du und tausend,
Du kargbegabter, und erhöbe freier
Sich dein Gedanke ins vielseitiger –
Befühlte All; so würdest immer du,
Getrennt, vereint mit ihm durch Körpers Bande,
Nur eigne Schatten schaun und nichts erkennen.
Es strebe, trachte angestemmt der Mensch;
Ihm fiel das Los. Der reine Geist allein,
Der ruhende, erkennt; nicht ihn umfaßt
Die ew’ge Mauer, die sich zwischen dir
Und der ersehnten Wahrheit trennend hebt.
Die Mauer stürzt der Tod; die Rächerin,
Sie harret furchtbar deiner in dem Lande,
Wo nicht gestrebet, nicht getrachtet mehr,
Wo zollen einer wird des Lebens Lohn.Nachhallen muß ich deiner Worte Schall,
Nachspiegeln deines Denkens Schatten dir,
Nachlügen deiner Weisen Traumgebilde,
Dir, einem Menschen, ich, ein Geist, zu nahen;
Gedanken, Worte, Menschenträume fassen
Kein ähnlich Bild der ewig dir Verhüllten.
Doch Wahrheit, Wahrheit hast du dir bedungen;
Nun! was der Mensch vermag, sollst du erkennen:Der Zweifel ist menschlichen Wissens Grenze, –
Ist furchtbar rächend deines Lebens Schlange.
Verzweifle, niedrer Erdenwurm, den tiefer
In seinen Staub zurück ich niedertrete;
Nicht heben darfst du jenen dunklen Schleier,
Es bringt die Zeit dir keine Blume mehr,
Und mir gehöret deine Ewigkeit.
So öffn ich rächend dir der Wahrheit Schätze,
So zoll ich dir den Preis, den du bedungen.Faust im Begriff, sich niederzuwerfen gegen die Seite, woher die Stimme des guten Geistes hallte, erhebt sich rasch wieder und spricht.
Nein! niederknieen nicht vor dir, Verkünder
Des siebenmal erfüllten schweren Fluches,
Der mir das Haupt umflammt, und nicht vor ihm.
Vernichtung heißt der Gott, den ich anrufe.
Ihr seid unmächtig, der Vergangenheit
Ihr leicht erworbnes Eigentum zu rauben.O könnt ich wieder fluchen euch! o könnt ich
In Menschenqualen euch verzagen sehn,
In ew’gen Menschenqualen euch verzweifeln,
Und laut auflachend gräßlich euch verhöhnen!
Fluch selber mir, daß ich ohnmächtig bin,
Daß nur ein leiser, eitler Laut der Lippe
Entbebet, in dem Winde zu verhallen!Ersehnte Spornerin der eitlen Wünsche,
Ich habe, Wahrheit, deine Dunstgestalt
Verfolgt, und unermeßlich weit verfolgt,
Und ihr geopfert jeden Hoffnungsschimmer;
Gestrandet steh ich nun auf schroffer Klippe,
Rings um mich her die dunkle tiefe Flut,
Und um das Haupt mir donnerschwangre Wolken.
Ich werde nimmer, nimmer sie umfangen,
Um die ich hin den teuren Preis geworfen!Böser Geist.
Die Mauer stürzt der Tod; die Rächerin,
Sie harret furchtbar deiner in dem Lande,
Wo nicht gestrebet, nicht getrachtet mehr,
Wo zollen einer wird des Lebens Lohn.Faust.
Die Mauer stürzt der Tod; – sie harret meiner
In jenem Lande… – Schlange meines Lebens!
Wo nur das Aug ich wende, starrest du
Mich gräßlich an. – Verdammnis, – Ewigkeit,
Laßt eure Qualen nicht den Zweifel sein!
Umstürze du, Erfüllung, jene Mauer;
Verhüllte Rächerin, sei Rettung mir,
Ich will in jenem Lande dich verfolgen.Wie er sich gegen den Geist wenden will, den Tod zu erflehen, wird ihm ein Dolch in die Hand gezaubert, er wendet die Spitze gegen sein Herz, und stößt ihn langsam hinein.
Verdammnis, ewige, in deinen Schoß! –
Vielleicht Vernichtung nur, vielleicht Erkenntnis,
Gewißheit doch.Er stürzt, die Lampe erlischt, das Theater ist tief verfinstert. Langsam fällt der Vorhang.
Bild: F. C. Weiß: Adelbert von Chamisso, für Julius Eduard Hitzig: derselbe: Werke, 1839.
Soundtrack eigentlich zum anderen Gedicht in dramatischer Form:
Eliza Carthy & Norma Waterson: Bonaparte’s Lament, aus: Gift, 2010:
Dornenstück 0011: Wir wollen keine Vorwarnungen, wir haben schon genug Ärger
Update zu Pflanzenähnlichkeit der Weiber:
Novalis und die Frau als Königin, Mineral und Nahrungsmittel
und Wer hätte da sich um Blumen bekümmert?:
Gehn Sie mir weg mit historischen Romanen. Sag ich jedes Mal, sooft mir einer unterkommt; die ich auch von vorne bis hinten durchhalte, sind selbstverständlich allesamt Ausnahmen. Die Lese-, gleich Lebenszeit gelohnt hat sich zum Beispiel bei Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens, Jakob Wassermann 1908, Der Name der Rose, Umberto Eco 1980 (zweimal!) oder falls der dazuzählt, Lotte in Weimar, Thomas Mann 1939 (auch zwei- und noch nicht das letzte Mal).
Und natürlich konnte ich kein Buch achtlos im Regen aufweichen lassen, das Die blaue Blume heißt, Penelope Fitzgerald 1995 – eine scharf beobachtende Demontage der Sophie von Kühn, die weder viel dafür noch dagegen konnte, dass sie zwölfjährigerweise dem Novalis anverlobt wurde.
——— Penelope Fitzgerald:
Was ist Schmerz?
aus: Die blaue Blume, 1995,
übs. Christa Krüger, Insel 1999, Seite 145 f.:
Was wäre, wenn es keinen Schmerz gäbe? Als sie alle noch Kinder in Grüningen waren, versammelte Friederike, damals noch nicht die Mandelsloh, aber schon in der Pflicht, die Geschwister nach dem Abendgebet um sich und erzählte ihnen eine Sonntagsgeschichte. „Es war einmal ein ehrlicher Kaufmann“, sagte sie, „dem ging es nicht wie uns: Er spürte nie Schmerzen. Von Geburt an hatte er keine Schmerzen gehabt, und so merkte er als Fünfundvierzigjähriger nicht, daß er sehr krank war, und dachte gar nicht daran, den Arzt zu rufen, bis er eines Nachts hörte, wie sich die Zimmertür öffnete, und als er sich im Bett aufsetzte, sah er im hellen Mondlicht, daß jemand, den er nicht kannte, in sein Zimmer gekommen war, und das war der Tod.“
Sophie hatte damals den Sinn der Geschichte nicht verstanden. „Der hatte aber Glück, Frieke.“
„Nein, gar nicht. Der Schmerz hätte ihn vor der Krankheit gewarnt, aber so war er nicht vorgewarnt.“
„Wir wollen keine Vorwarnungen“, erklärten ihr die Kinder. „Wir haben schon genug Ärger.“
„Aber ihm blieb keine Zeit zum Nachdenken, was er mit seinem Leben angefangen hatte, und er konnte nicht bereuen.“
„Reue ist für alte Weiber und Arschlöcher“, brüllte George.
„George, es ist nicht zum Aushalten mit dir“, sagte Friederike. „Du müßtest in der Schule Prügel bekommen.“
„Ich bekomme ja Prügel“, sagte George.
Eine Logik, die mir, historisch gewandet oder aktuell kolportiert, immer schon sehr zugesagt hat.
Wo wir bei historischen Romanen sind: Ausdrückliche Warnung ergeht an dieser Stelle vor Witiko, Adalbert Stifter 1867, Die Säulen der Erde, Ken Follett 1989, und, falls die dazuzählen, Die Wanderhure, „Iny Lorentz“ 2004 ff.
Fachliteratur zur Prügelstrafe:
- Andi: Recherche über die Körperstrafe, Dauerblog 26. April 2019;
- Susanne Grüter: Vom langen Kampf für die Kinderrechte, Deutschlandfunk 25. August 2019.
Bild: Johann Peter Hasenclever: Der erste Schultag, 1852.
Soundtrack: Mazzy Star: Blue Flower, aus: She Hangs Brightly, 1990, live 9. Juli 1994:
Das phantastische Gepränge der wunderlichen Marionettenbühne
Update zu Zwischenmaschine,
Denkst du denn nicht an den Loup Garou?,
So habt ihr nie den Mond bedacht,
Der Sommer ohne Freischütz,
Vater, verlass mich nicht, wenn das Glöckchen läutet
und So war’s dem Doctor Faust nicht halb zu Muth:
„Wie Hält Er’s eigentlich mit dem Lenau?“ – Das sind im Ernst die Fragen, die atmende, lebensfrohe Menschen mir stellen.
„Och“, sag ich, „Ösi. Die machen eigentlich wenig falsch. Als erstes ist der mir im Schüler Gerber vom Mit-Ösi Torberg unterlaufen, wo ihm ein Gedicht von Lenau das Abitur rettet, was ihn aber dann doch nicht vom Selbstmord abhält. Den Schüler nämlich. Außerdem hat Hannes Wader auf seiner gar nicht genug zu schätzenden Volkslieder-Platte 1990 das von den Drei Zigeunern so eingesungen, wie sich’s gehört. Mit ihm ‚halten‘ wär schon übertrieben.“
„Tu Er das nicht“, sagt man dann, „Nikolaus Lenau ist die Romantik in Person. Genau Sein Ding.“
„Du meinst, die österreichische Romantik.“
„Sag ich doch. Schau Er mal nach seiner Ballade Die Marionetten. Wird Ihm aber wahrscheinlich zu gruselig sein.“
Wer das auf sich sitzen ließe. Auf die Tour findet man sogar noch offensichtliche Druckfehler in einer historisch-kritischen Gesamtausgabe.
——— Nikolaus Lenau:
Die Marionetten
Nachtstück
1834, cit. nach der historisch-kritischen Gesamtausgabe, Deuticke Klett-Cotta, Wien 1995, Seite 288 bis 299:
Erster Gesang
Der Gang zum Eremiten
Grau düst’re Felsen sah ich trotzig ragen
Aus eines Thales stillen Finsternissen,
Als wollten kühn den Himmel sie verjagen,
Dem sie den Schleyer vom Gesicht gerissen.
Abgründe, ihre Riesengräber, lauern
In sicherer Geduld zu ihren Füßen.
Kein Vogelsang, kein Bach, kein Waldesschauern;
Kein Klageton entfährt dem finstern Thale;
Nur stummes, unermeßlich wildes Trauern!
Einsam verkümmert steht der Strauch, der kahle,
Hat Regen nur, und Sturm und Frost erlebt,
Stirbt ungeliebt vom süßen Sonnenstrahle;
An seinen Ästen, windgefächelt, bebt
Die Wolle eines Lamms, wie stumme Klage,
Und des zerriß’nen Blut am Boden klebt.
Dort fliegt mit leisem, satten Flügelschlage
Ein Geyer seinem Felsenhorste zu.
Auf grüner Trift, erquickt vom Sommertage,
Schuldloses Lamm, wie fröhlich irrtest du
Mit deiner Weide friedlichen Genossen,
Indeß auf dich aus heitrer Lüfte Ruh‘
Vormordend Geyerblicke niederschossen!
Der Geyer, stürzend sich in seinen Blick,
Kommt plötzlich auf das Lamm herabgestoßen,
Und reißt es fort aus seinem Jugendglück;
Hoch über Wälder, Thale, Felsenriffe,
Fliegt er damit in seine Nacht zurück.
Es zittert, wimmert; doch mit fest’rem Griffe
Umklammert er’s, ob sich am Angstgeschrey
Die scharfe Gier des Mörders schärfer schliffe. –
Nun drang ich tiefer, an dem Strauch vorbey,
Und wilder immer ward des Thales Grund,
Die dunkle Wiege der Melancholey.
Da bricht aus dornumstarrtem Felsenmund‘
Ein Quell hervor, die lange Ruh‘ zu stören,
Und braus’t hinunter in den off’nen Schlund.
Unheimlich ist, und grausenvoll zu hören
Das hohle Tosen in den Steinverliesen,
Wo murmelnd Nacht und Tod sich Treue schwören.
Wie, trauernd nach verlor’nen Paradiesen,
Des Freundes Haupt an’s Herz des Freundes fällt,
Umarmen sich die ernsten Felsenriesen.
Und weiter drang ich, dämmerlich erhellt
War mir die Schlucht, es fiel ein leiser Regen,
Der Himmel Blitze durch die Fenster schnellt‘,
Und fernher klang’s von dumpfen Donnerschlägen.
Gar seltsam bleich erschien mir das Gesicht
Des Eremiten, der mir trat entgegen.
Es wankt um ihn ein zweifelhaftes Licht,
Der Sturm ist laut und plötzlich aufgefahren,
Wie, wer verschlafen, schnell vom Lager bricht.
Er faßt den Alten an den grauen Haaren;
Der aber schreitet durch des Sturmes Macht,
Uneingedenk der Wetter und Gefahren.
Bald ist er mir begraben von der Nacht,
Bald wieder glüht er auf im Wetterschein,
Als hätt‘ ihn hell der Windstoß angefacht.
Nun schritt er näher, und gewahrte mein,
Und hieß mich froh mit gastlich mildem Worte
In seinen Wildnissen willkommen seyn.
Und durch des Klippenthals geheimste Orte,
Durch des Gewitters wachsendes Gebrause
Führt‘ er mich fort zu einer schmalen Pforte,
Und grüßte mich in seiner öden Klause.
Zweyter Gesang
Lorenzo
Der Sturm verstummte, die Gewitter schwiegen,
Das volle Mondlicht hatte sich ergossen,
Beruhigend sich an das Thal zu schmiegen.
Ich saß mit meinem wirthlichen Genossen
Beym Abendmahl, da hob er seinen Wein,
Mich feyerlich einladend, anzustoßen.
Ein Frauenbild, erhellt von Lampenschein,
Hing an der Wand, umhüllt von schwarzem Flor;
D’rauf wies er hin und sprach: „Ich denke dein!“
Und plötzlich stürzten Thränen ihm hervor.
Auf seinen Zügen lag ein tiefes Leid,
Wie er im theuren Bilde sich verlor.
Ich that auf’s Wohl der Todten ihm Bescheid,
Und als ich anstieß mit dem trüben Zecher,
Da hatte heimlich mir die Ewigkeit
Von ihrem Ernst geträufelt in den Becher.
Der Eremit begann mit scheuem Munde
Von einer schwarzen That und ihrem Rächer
Zu geben mir die schaudervolle Kunde,
Und wie er in’s vergang’ne Leben schied,
Riß er die Zeit von jeder Herzenswunde. –
– O Gott des Schmerzes! rüste du mein Lied,
Und wappne mich auf den verweg’nen Gang
Durch’s ungeheuer nächtliche Gebiet!
Gib mir ein wildes Herz, daß mein Gesang
Auf seiner Bahn vor Schreck nicht sterben dürfe.
Gib mir ein Herz, das lauten Wetterklang
Wie süße Nachtigallenlieder schlürfe;
Und wenn in’s Thal mit grimmigem Frohlocken
Die Stürme werfen ihre Donnerwürfe,
Daß Wald und Fels herunterbricht erschrocken:
Dem Herzen sey’s schwermüthiges Behagen,
Wie Niedersäuseln welker Blüthenflocken! –
„Graf Robert sehnte sich nach stillen Tagen,
Er hatte viel sich durch die Welt getrieben,
Des Lebens manchen heißen Kampf geschlagen.
Im Herbst der Tage schwanden ihm die Lieben;
Da wird die Lebensflur so still, so leer;
Wohl dir, ist dann ein Kind dir noch geblieben,
Denn leiser fallen dir und minder schwer
Des Alters unvermeidlich bitt’re Loose,
Dir weht es milder von den Gräbern her!–
Roberto weint‘ an manchen Hügels Moose,
Trübhadernd mit den räuberischen Jahren,
Nun hing sein Herz an seiner letzten Rose.
Geschieden von der Welt bewegten Schaaren
Hat sich Robert, der nur den Frieden sucht,
Des Glückes letzte Spur sich zu bewahren.
Er zog mit seinem Kind in diese Schlucht;
Maria that in ihrer Morgenblüthe
Der Einsamkeit entsagungsvolle Flucht.
An Schönheit wunderbar, an tiefer Güte,
War selige Genüg‘ ihr stilles Leben,
Daß sie den Abend ihres Vaters hüte.
Auf jenen Felsen, die am höchsten streben,
Stand ihm sein Ahnenschloß, seit lange wüste,
Wehrlos dem Sturz der Zeiten hingegeben;
Von wannen einst in krieg’rischem Gelüste
Der Ritter brausen ließ die blut’gen Fahnen,
Wo man den Freund mit Wein und Sang begrüßte.
Dahin von seinen sturmbewegten Bahnen
Trieb ihn die Sehnsucht, nach den Tannenhainen,
Zur längst verglühten Asche seiner Ahnen.
„Dort will ich meine letzte Thräne weinen
Dem treuen Weib; dort wird dem Tode mild
Des Kindes Lieb‘ in’s finstre Antlitz scheinen!“
So malte sich sein Herz des Schicksals Bild,
Als mit Marien er die alten Mauern
Bezog in diesem einsamen Gefild.“ –
Nun schwieg der Eremit und sank mit Schauern
Zurück in der Erinn’rung dunkle Nächte;
Bis wieder er begann mit tiefem Trauern:
„Ich war ein Jüngling, würdigem Geschlechte
Entsprossen, mit dem tapfern alten Grafen
Zurückgekehrt aus rühmlichem Gefechte,
Als mich die Blicke seiner Tochter trafen
Und mich durchdrangen mit fo heißen Wunden,
Die nur mit meinem letzten Hauch entschlafen.
Hab‘ ich auch Liebe nicht bei ihr gefunden,
Blieb doch seit jenem süßen Augenblick
Der Wunsch, je zu genesen, überwunden.
Roberto, gönnend mir ein froh Geschick,
Erhoffte von der leisen Macht der Tage,
Daß sich ihr Herz noch neige meinem Glück,
Und daß ich nicht dem Waffenfreund versage,
Zu folgen ihm auf seiner Väter Schloß.
Ich folgte trauernd, aber ohne Klage.
Wenn ich die Näh‘ der Himmlischen genoß,
Der Wimper keine Bettlerin entschlich,
Was ich an Thränen einsam auch vergoß.
Ein schnelles Jahr, voll bittrer Wonn‘, entwich,
Umsonst hat sie mein stummer Schmerz beschworen;
Mir sprach kein Hauch, kein Blick: ich liebe dich!
Das Loos hatt‘ einen Andern ihr erkoren,
Der wie ein Sturm ihr junges Herz bezwang,
An den sie Herz und all ihr Glück verloren. –
Einst saßen wir am steilen Felsenhang
Vor dem Ruinenschloß und überließen
Nachsinnend uns dem Sonnenuntergang.
Dort sah ich ganz die Rose sich erschließen:
Maria’s offnes Auge, tief und klar,
Schien Seelen in den Abend auszugießen;
Die leisen Winde küßten ihr das Haar,
Auf ihren Busen kamen, sich zu wiegen,
Die Purpurstrahlen hell und wunderbar;
Der Himmel schien am Halse ihr zu liegen.
Ich aber wünscht‘, es möchte meine Seele
In solchem Anblick sterben und versiegen.
Und ich begann, daß ich mein Leid verhehle,
Zu singen mit Robert, dem Mann der Waffen,
Ein altes Reiterlied aus voller Kehle.
Da stört‘ uns plötzlich lautes Hundeklaffen:
Zwei Doggen kamen schnell heraufgesprungen,
Als wollten sie dem Wind ein Wild entraffen,
Und hinterdrein, von Fels zu Fels geschwungen,
Mit stolzem Wuchs, waidmänmsch angethan,
Die Faust um’s schlanke Feuerrohr geschlungen,
Kam rasch und kühn ein Mann den Berg heran.
Und mich erfaßt‘ ein sonderbar Gefühl,
Als ich ihn sah mit leichtem Gruße nah’n:
Die Stirne brütend und gewitterschwül,
Die Augen zwei gefang’ne Blitze brennen:
Doch lag es um die Lippen ihm so kühl,
Ein Räthsel, unerfreulich zu erkennen.
Die Blässe sprach: dies Herz hat keinen Frieden;
Unheimlich schön war die Gestalt zu nennen.
Ob auch Maria’s Blicke ihn vermieden,
Ich sah des Vaters Hand sie zitternd fassen;
Auf immer war die Ruh‘ von ihr geschieden,
Ich sah ihr wechselnd Glühen und Erblassen,
Und ich empfand in meines Herzens Grunde
Zu jenem Fremden ahnungsvolles Hassen. –
Ich will vollenden dir die trübe Kunde,
Doch vor Maria’s theurem Bilde nicht,
Komm, folge mir in dieser stillen Stunde!“ –
So sprach der Eremit, und nahm ein Licht,
Und ernst verließen wir das kleine Haus.
Er sah mir recht bekümmert in’s Gesicht,
Und wies mir in die dunkle Nacht hinaus.
Dritter Gesang
Antonio
Der Klausner trug die leuchtende Laterne.
Fort war der Mond, aus finstern Wolken glommen
Nur matt und scheu hervor die seltnen Sterne.
Mich aber hatte plötzlich überkommen
Die große Wehmuth der Vergangenheit.
Ich that dem Alten schweigend und beklommen
Durch seinen dunklen Garten das Geleit.
Ich dachte traurig an so manches Grab,
Und allen Todten war mein Herz geweiht.
Auch die Natur, die nächtlich stille, gab
Gedankenvoller Wehmuth sich zu eigen.
Nach dem Gewitter tropft‘ es noch herab
Wie weinendes Erinnern, von den Zweigen.
So mochten wir wohl eine Stunde zieh’n
Durch Fels und Wald mit ungebroch’nem Schweigen.
Wir sah’n die Wolken kommen und entflieh’n,
Den Mond verhüllen bald, und wiedergeben,
D’rauf wies der Alte sinnig deutend hin,
Und endlich sprach er: „Dort am Fels erheben
Die Mauern sich vom alten Grafenschloß!
Dort wollen wir den Rest der Nacht verleben!“
Und schneller schritt mein leitender Genoß
Den Bergpfad mir voran im Mondenscheine,
Der wie versöhnend die Ruin‘ umfloß.
„Hier“ – fuhr der Alte fort – „an diesem Steine,
Hier saß Maria, ich vergess‘ es nimmer,
Die schöne Jungfrau noch, die himmlisch reine,
Umspielt vom linden West, vom Purpurschimmer;
Hier stand vor ihr der falsche Bösewicht,
Der lächelnd sie zerbrach in kalte Trümmer.
O Mayenluft, o helles Abendlicht!
Warum habt ihr das arme Kind verrathen,
Da ihr geschmeichelt ihr um’s Angesicht,
Daß ihre tiefsten Blicke auf sich thaten,
Daß ihre Reize all‘, von euch betrogen,
Unselig siegreich auf die Wange traten?
Wie heiß Lorenzo’s Blicke sie umflogen,
Froh schwelgend in der Blüthe vollem Prangen,
Den holden Reichthum überrascht erwogen!
Wie zauberisch Lorenzo’s Lippen klangen!
Bald süß und weich die weltgeschliffnen Worte,
Bald kühn und kräftig auf den Hörer drangen,
Womit er bald ein junges Herz durchbohrte!
Den Vater auch bezwang der Rede Kraft,
Und brach zu seiner Gunst die letzte Pforte.
Mir ward Roberto’s Schloß zur Kerkerhaft,
Ich stieg zu Roß in selber Nacht und sprengte
Von dannen schnell mit meiner Leidenschaft.
Doch, ob ich auch mich in die Schlachten mengte,
Ich konnte nicht die Glut im Herzen mildern,
Die heimlich und unlöschbar mich versengte.
Lang kämpft‘ ich mit des Zweifels schwanken Bildern,
Bis aus der Heimat mir ein Bothe kam,
Die traurige Gewißheit mir zu schildern:
Wie frevelhaft gar bald und ohne Scham
Lorenzo brach den Eid, den er geschworen –
Der Falsche floh – Maria starb vor Gram –
Wie bitter schwer Roberto sie verloren,
Und wie in ihm der Liebe letzter Funken
An seines Kindes kalter Leich‘ erfroren,
Und wie sein Aug‘, in’s todte Kind versunken,
Schmerzlich ergründet, was man ihm geraubt,
Wie sich’s mit wilder Rache vollgetrunken.
Die Macht des Wahnsinns schlug sich um sein Haupt,
Sie trieb ihn fort und fort nach allen Winden,
Rastlos, wie durch den Wald der Jäger schnaubt.
Doch sah er stets die blut’ge Hoffnung schwinden;
Durch Land und Meer trieb ihn der Rache Qual,
Er konnte nicht die Spur Lorenzo’s finden.
Da fuhr ihm plötzlich, wie ein Wetterstrahl,
Prophetisch durch der Seele Finsterniß
Die Sehnsucht nach dem fernen Felsenthal;
Und was ihn erst in alle Fernen riß,
Nun zwang es ihn zurück in diese Räume,
Als wäre hier sein Opfer ihm gewiß.
Hier träumt‘ er immer wilder feine Träume,
Die rings umher getreue Freunde hatten,
Ruinen, Gräber, finstre Tannenbäume.
Wie auf der Wüste dürr, und ohne Schatten,
Wenn sie den Tag um dunkle Nacht vertauscht,
Der Wandrer sinkt in durstendem Ermatten,
Einschläft, und träumt, daß ihm die Quelle rauscht,
Vom Schlaf empor dann fährt der froh bethörte,
Und in die Nacht, die dunkle, stille, lauscht:
So war’s Robert, wenn’s ihn vom Schlaf empörte,
Als ob er aus Lorenzo’s Busen noch
Die heiß ersehnte Quelle rieseln hörte.
Wenn dann das schwarze Traumbild sich verkroch,
Wie glühend kränkjt‘ es ihn, zu hören nur
Des eignen Herzens einsames Gepoch!
Oft, wenn er so von seinem Lager fuhr,
Erweckt‘ er seine alten, treuen Knechte,
Und schwor mit ihnen seinen Racheschwur.
Auch trieb er oft mit ihnen lange Nächte
Ein närrisch Puppenspiel, worein er trug
Wahrheit und Traum in grausigem Geflechte.
Die Puppen mußten spielen Zug für Zug
Viel längstvergangne traurige Geschichten,
Nachtappen seinem wilden Geistesflug.
Doch immer war das Spiel ein Klagen, Richten.
Unheimlich kindisch war sein heißer Drang,
Auch nur im Bild Lorenzo zu vernichten.
So lebte Robert manche Jahre lang,
Von allen Wandrern, die das Thal betreten,
That keiner nach dem Schlosse mehr den Gang.
Doch kam ein Abend, Mayenlüfte wehten,
Es weilte auf dem alten Schloßgestein
Der Sonnenstrahl mit röthlichem Verspäten,
Roberto saß verlassen, trüb, allein,
Tief senkte sich sein Haupt, das schmerzergraute,
Und hüllte in’s Vergang’ne ganz sich ein.
Wie er nun klar sein Kind Maria schaute,
Und wie sein starrer Blick leibhaft vor sich
Das Bild Lorenzo’s in die Dämm’rung baute:
Da schallten Tritte – und sein Traum entwich,
Ein junger Mann nun plötzlich vor ihm stand,
Der wunderbar genau Lorenzo glich,
Es war Lorenzo’s Sohn. Aus fernem Land
War er gefolgt dem dunklen Trieb zu reisen,
Bis sich sein Pfad in diese Thäler wand,
Und ihn mit Lockungen, mit holden, leisen,
Verführte schlangenhaft in diese Schluchten,
Nach des Verhängnisses geheimen Kreisen.
„Halloh! nun endlich hab‘ ich dich Verfluchten!“
So schrie Robert, sprang auf, und hielt ihn fest.
„Gelüstet dich nach meinem Kind, Verruchter?
Stahlst du nicht frevelnd mir den letzten Rest?
Lorenzo! hab‘ für dich kein Opfer mehr!
Maria ist von deinem Kuß verwest!“
Und riesenkräftig schleift‘ er ihn einher.
Was ihm an Kraft geschwunden mit den Jahren,
Beschwor die Wuth zu schneller Wiederkehr.
Mit Flammenaugen, weißen Flatterhaaren,
Ist er mit ihm zu jenes Thurmes Thüre
Ein Rachedämon brausend hingefahren.
Umsonst betheuerten Antonio’s Schwüre,
Es sey Lorenzo’s vorwurfsloser Sohn,
Um den er seine Eisenkette schnüre;
Und seiner Knechte Wort klang ihm wie Hohn,
Daß welk und alt nun längst Lorenzo sey,
Da dreyßig Jahre schon nach ihm entfloh’n.
Dem Wahnsinn war das Alte nicht vorbey,
Lorenzo’s Züge waren mit den Zeiten
Gealtert nicht in seiner Phantasey.
Und in des Thurmes finstern Einsamkeiten
War nun Antonio’s schrecklich Loos zu schmachten,
Zu hören stets die Todesstunde schreiten.
Roberto säumte noch ihn hinzuschlachten,
„{gestrichen:] Bis seinen Lauf der bleiche Mond vollendet,
Soll dich die feste Kerkerwand umnachten.}
Die Frist sey dir, Verbrecher, noch gespendet,
Auf daß auch dich dein Vater sterben sehe!“
Und in die Ferne ward ein Brief gesendet.
Lorenzo ahnte nicht des Schicksals Nähe.
Schon war verschlummert seine Jugendsünde,
Sein Herz erwärmet in beglückter Ehe;
Da kam das Schreckensblatt von seinem Kinde;
Da brach er auf und flog mit Sturmeseile,
Daß er Antonio noch lebendig finde,
Daß er des Wahnsinns blut’gen Irrthum heile,
Und das schuldlose Opfer schnell erlöse,
Wo nicht, den Tod mit seinem Sohne theile.
Wohl mahnte ihn sein Busen an das Böse
Der Jugendschuld, nun er dem Schloß genaht,
Mit des Gewissens hämmerndem Getöse;
Wohl trieb er seinen Witz nach klugem Rath,
Wie er den Sohn entreiße der Gefahr,
Und selber nicht bezahle seine That.
Ihm folgte schützend eine Waffenschaar
Zum Schlosse, das ihm schon entgegendrohte,
Hoch, wie der Rache thürmender Altar.
Durch Nebel taucht‘ empor das blutigrothe
Antlitz des Mondes am bewegten Himmel,
Der schreckensvollen Nacht ein dunkler Bothe.
Der Wolken trübweissagendes Gewimmel
Flog unstät über’s Thal, die Winde trugen
Des Donners fernverhallendes Getümmel:
Als an das Grafenschloß die Wandrer schlugen,
Und bald darauf das Thor, das langentwöhnte,
Einlaß gewährend knarrt‘ in seinen Fugen.
Ihr scheuer Tritt im öden Burghof tönte,
Wo Alles einsam, still und finster lag,
Durch’s hohe Gras allein der Windhauch stöhnte,
Die Waffenknechte lauschten stumm und zag,
Lorenzo fühlte stärker stets vom Wächter
Im Busen den erinn’rungsvollen Schlag.
Und ihn ergriff, wie die gedungnen Fechter,
Ein Grauen, plötzlich, aus des Schlosses Tiefen
Schnitt durch die Nacht ein höhnisches Gelächter;
Dann todesstill; dann wirre Stimmen riefen.
Schon sah Lorenzo, dem der Muth gebrach,
Die Nacht vom Blute seines Kindes triefen.
Und zaudernd schritten sie dem Laute nach,
Und über Treppen, dunkle Hallengänge,
Betraten sie ein dämmerndes Gemach.
Hier sah’n sie das phantastische Gepränge
Der wunderlichen Marionettenbühne,
Hier lernten sie versteh’n die krausen Klänge.
So eben eifert der wahnwitzig kühne
Poet, daß er auch strafe die Bethörung
An seinem Helden und das Schicksal sühne,
Und mit den Worten innigster Empörung
Empfing den Todesstreich Lorenzo’s Puppe.
Jetzt fuhr der Alte auf, entzückt der Störung:
„Ihr Herren, wie behagt euch diese Gruppe?
Soll wiederholet werden euch zu Ehren
Von meiner tüchtigsten Schauspielertruppe!
Ich kenn‘ euch wohl und euer heiß Begehren,
Doch wollet nur indeß Gedulden tragen,
Und lustig erst den Willkommsbecher leeren!“
Der Vorhang fiel; doch wollte nicht behagen
Der Becher, den Roberto’s Knechte reichten,
Bis wieder ward der Vorhang aufgeschlagen.
Bei einer Dämmerlampe trübem Leuchten
Begannen ihren Tanz die Marionetten,
Doch schrecklich, daß die Gäste dran erbleichten,
Denn plötzlich schauten sie, geschleift an Ketten,
Verhöhnt von Roberts tragischem Sermon,
Mit plumpem Tritt – Antonio’s Leiche treten.
Lorenzo starb vor Schreck an seinem Sohn;
Die Knechte hüllten schreiend ihr Gesicht,
Und mit Entsetzen stürzten sie davon.“ –
So weit des Klausners nächtlicher Bericht.
Und ich erwacht‘ an eines Baches Rand,
Als durch die Felsen drang das Morgenlicht,
Nachsinnend, wo der Eremit verschwand;
Ob Wahrheit, was nun meine Sinne mied,
Ob eines bösen Traumes wilder Tand? –
Und als ich aus dem Klippenthale schied,
Sah wieder ich des Lammes Wolle beben
Am Strauche, den die Sonne ewig flieht,
Im Hintergrund den stillen Geyer schweben.
Bilder: via Frank T. Zumbach: Witold Wojtkiewicz, 12. August 2010;
Maximilian Lenz Revisited, 25. August 2016;
Marionettes, 9. Oktober 2021.
Soundtrack: Mott the Hoople: Marionette, aus: The Hoople, 1974:
Blinde Finken (Vorsicht: Geschlossene Familie!)
Update zu Das ihrer wartende Reich der Unschönheit. Nicht auf Hofburgen und in Zaubergärten,
Die junge Gräfin (erzählt neben einem Paar nachbarlichen Würsten)
und Ein ganz anderer Kerl als der Fuchs oder Wolf (so, gerade so bist du):
You will persist in thinking that my happiness depends on my sight.
Wilkie Collins, a. a. O., 1871 f.
Es ergeht Empfehlung für Wilkie Collins. Wie es den besten ergeht, ist der Mann recht obskur geworden; ohne die eine Übersetzung seitens Arno Schmidt wäre er fürs deutsche Literaturgeschehen eine Fußnote für Dickens-Experten. Da hülfe ihm nicht einmal, dass er als Erfinder des Mystery Thriller oder der Sensation novel gilt, je nachdem wen man fragt oder beide voneinander unterscheidet.
Entfernter Verwandter, persönlicher Kumpel und dermaßen wesensnaher Kollege von Charles Dickens, dass sich einer vom anderen so tiefgreifend ins literarische Schaffen dreinreden ließ, bis sie die Anteile der Autorschaft selber nicht mehr auseinanderhalten konnten, siehe unter The Lazy Tour of Two Idle Apprentices et al. Und von Arno-Schmidt-Der-Alles-Weiß nicht allein hochgeschätzt, sondern auf eigenen Vorschlag hin übersetzt, jedenfalls Die Frau in Weiß 1965, und dann noch unter Der Titel aller Titel! Betrachtungen zu Wilkie Collins & seiner ‹Frau in Weiß› 1966 gewürdigt, das muss einer erst mal hinkriegen.
Lucilla erschien als Fortsetzungsroman Poor Miss Finch von Oktober 1871 bis März 1872 in Cassell’s Magazine. In historisch und obskur gewordenen Übersetzungen hieß der Roman unter anderem Die Blinde. Laut Klappentext der bis auf weiteres aktuellen Ausgabe bei Fischer, auch schon wieder von 1971, stufte ihn Richard Gerber im Hessischen Rundfunk einst als „Schmöker“ ein, „dessen Sätze wie ein dunkler, alter Portwein im Queen’s College in Cambridge nach einem angenehm fülligen Mahle wohltuend durch die Seele strömen.“
Leser, die gleich mir solcher Klappentextpoesie misstrauen, finden zur Bedeutung des „Schmökers“ (der für mich beiläufig gesagt eher nach Oxford denn nach Cambridge schmeckt) in den Wilkie Collins Information Pages von Andrew Gasson weit fundierter: Poor Miss Finch:
Poor Miss Finch was published in 1872 and dedicated to Mrs Elliot (Frances Dickinson). Collins returns to the theme of ‚bodily infirmity‘ with this story of a young girl’s temporary recovery of sight ‚exhibiting blindness as it really is.‘
The heroine, Lucilla, has been blind with cataracts from about the age of one. A significant part of the plot is taken up with the efforts of the eccentric but likeable German doctor, Herr Grosse, to restore her sight and his disagreement with the conservative English oculist, Mr Sebright. The operation, unfortunately, is only briefly successful, with Lucilla once again lapsing into blindness.
Collins’s account of her early attempts at seeing, however, represents his careful research and a remarkable awareness of visual psychology and perception. His descriptions of her disorientation, lack of spatial judgement, dislike of dark colours, and her continuing ability to recognise shape and form only by touch all bear a striking resemblance to a 20th century case history of recovery from blindness. This was documented by Richard Gregory and written in 1966, nearly 100 years later.
Initial elation is frustrated by the difficulties of experiencing the real world through sight without the aid of touch. Depression follows, ending in rejection of the newly acquired sense. More unlikely are the clinical premises for Lucilla’s infant cataracts. Most visual development in children occurs up to the age of five. If this is prevented, then vision is usually lost for ever and cannot be regained at a later age. This condition is called amblyopia (or lazy eye). In any event, after cataract surgery thick, high-powered spectacles are almost always necessary to replace the focusing ability of the eye’s natural lens. The extent to which Lucilla recovers lost vision after twenty years, without even the need for spectacles to write her journal is medically almost impossible.
The reading public, however, were convinced and Collins after several requests for the address of the German oculist, Herr Grosse, was obliged to add a note to the second edition that he had ’no (individual) living prototype‘ and was ‚a caricature instead of a character.‘ In order to create the hero’s ‚blue‘ appearance (dyschromia), horrifying to Lucilla after she regains her sight, Collins was forced to rely on a rare and already outmoded type of treatment for epilepsy.
Other details of the novel seem genuinely autobiographical. Collins stayed in Lewes during March 1870; little Jicks and Mrs Finch’s latest child were the same age as Collins’s daughters, Marian and Harriet Dawson.
Über die 450 Druckseiten, die das angeführte Fischer-Taschenbuch einnimmt, kann das sogar Spaß machen. Nehmen wir Collins‘ in Gewande seiner Ich-Erzählerin Mrs. Pratolungo, einer überzeugten französischen Revolutionärin, launige Charakterisierung ganzer Familien. „Finkenkäfig“ war wohl die immer noch holpernde, aber einzig sinnvolle Übersetzung für „finch cage“, das Gefängnis für eine Familie namens Finch:
——— Wilkie Collins:
6. Der Finkenkäfig
aus: Lucilla, i. e. Poor Miss Finch, 1872,
übs. Eva Schönfeld, Henry Goverts Verlag, Stuttgart 1969,
cit. nach Fischer Taschenbuch Verlag 1971/1988, Seite 40 f.:
Nach meinen bisherigen Erfahrungen lassen sich große Familien in zwei Kategorien einteilen: Die eine brilliert in gegenseitiger Bewunderung und Ruhmredigkeit, die andere in gesundem Abscheu. Ich persönlich ziehe die zweite Kategorie vor. Ihre Streitigkeiten werden wenigstens in den meisten Fällen unter Ausschluß der Öffentlichkeit abgemacht, und die Beteiligten sind noch fähig (im Gegensatz zu den Mitgliedern der ersten Kategorie), zuweilen auch die Verdienste blutsfremder Personen anzuerkennen. Reines Sippenbewußtsein artet stets in unterträgliche Arroganz aus. Reden Sie mal inmitten einer solchen Idealfamilie von, sagen wir, Shakespeare, einem immerhin universellen Geist. Sofort wird Sie ein weibliches Familienmitglied darauf aufmerksam machen, daß Shakespeare gegen ‚Papa‘ ein trauriger Ingorant war. Oder Sie gehen mit einem männlichen Familienmitglied spazieren und sagen angesichts irgendeiner Passantin: ‚Was für eine entzückende Erscheinung!“‚ Ihr sippentreuer Begleiter wird Ihre törichte Begeisterung nur belächeln und Sie fragen, ob Sie schon einmal seine Schwester in großer Ballrobe gesehen haben. Kein Mitglied solcher Familien kann auch nur für einen Tag verreist sein, ohne seinen Lieben daheim lange Erlebnisberichte zu schreiben, die dann bei sämtlichen Bekannten mit dem Kommentar ‚Welcher Berufsschriftsteller könnte sich so ausdrücken?‘ herumgereicht werden. Auch in Ihrer Anwesenheit wird ausschließlich über Privatangelegenheiten geredet, denn natürlich setzt man bei Ihnen glühendes Interesse dafür voraus. Sie lachen sich halbtot über ihre Familienwitze und wundern sich über Ihre Humorlosigkeit, weil Sie nicht so recht mitlachen können. Schwestern und Brüder kosen unausgesetzt miteinander, und Ehemänner erkundigen sich liebevoll besorgt vor fremden Ohren nach den Verdauungs- und anderen Beschwerden ihrer Frauen, als befänden sie sich allein in ihrem ehelichen Schlafgemach. Ich hoffe, daß wir bei fortschreitender Zivilisation solche Leute von Staats wegen in Käfige setzen werden. An den Straßenecken werden dann Warnschilder stehen: ‚Vorsicht bei Nummer zwölf! Geschlossene Familie!‘
Ich erfuhr von Lucilla, daß die Familie Finch nicht zu dieser Kategorie gehörte. Ihre älteren Verwandten waren alle seit Jahren so zerstritten, daß sie nicht mehr miteinander sprachen und das Postministerium Ihrer Majestät nicht einmal mit Weihnachts- oder Geburtstagsglückwünschen behelligten.
Bilder: Illustrationen und Covers 1872, via Andrew Gasson: Wilkie Collins Information Pages: Poor Miss Finch.
Soundtrack: June Tabor von der Oysterband mit Mark Emerson und Giles Lewin
auf dem WDR Folkfestival, Köln 1990:
- Bridget O’Malley,
- While Gamekeepers Lie Sleeping,
- Blind Step Away,
- Love Henry/The Cherokee Shuffle:
Und der Tag will sich erweiten, denn die Sonne stehet still
Update zu Meteorologischer Frühlingsbeginn,
Frühlingsreigen Buranum,
Des Maies Wonneschlingen,
Traume-trunkene feministische Ikonen, der lange Weg zum Eros und ein Stück weiter (oder vierzehn),
Lache, liebez frowelîn,
Rotstrumpf,
Da ist schwäb’scher Dichter Schule, und ihr Meister heißt – Natur!
und Blumenstück 004: Und wohl im armen Herzen auch:
Internetpremiere zum meteorologischen Frühlingsanfang: ein seltenes Frühlingsgedicht von Arnim. Die sieben Zeilen marschieren als eine Art erweiterter Limerick ABABCCX mit wiederholendem X, also der Waise als variiertem Refrain. Aus meiner bibliophilen Sicht ist das ein kostbarer Fund. Das kulturpessimistische Gemoser kommt deshalb, um nicht gleich die Frühlingsstimmung aus dem Dichterstubenfensterchen zu scheuchen, bevor sie aufgekommen ist, ausnahmsweise erst nach dem Primärtext.
——— Achim von Arnim:
Die schönen Ringelraupen
ca. 1806 oder 1814 bis 1831:
Winterwolken schmelzen nieder,
Aus den Augen, aus dem Sinn,
Lässig strecken alle Glieder
Sich auf grünen Rasen hin,
Zögernd sehn sich um die Zeiten,
Und der Tag will sich erweiten,
Denn die Sonne stehet still.Süße Frühlingslangeweile
Füllt mit Wollust, füllt mit Scherz;
Langsam, langsam, keine Eile,
Sey doch folgsam liebes Herz!
Langsam wird, was gut auf Erden,
Langsam ziehn die Lämmerheerden,
Und sie stehen alle still.Nehmt mich auf in eure Weiden
Schäflein bin auch ich wie ihr,
Euer Gras, das will ich meiden
Doch die Blumen schenket mir;
Seht die Blumen auf mich schauen,
Soll sie brechen schönen Frauen,
Und sie halten alle still.Frauen nehmt mir ab die Blüthen
Bin ein Baum, an Blüthen reich,
Wenn als Früchte sie geriethen,
Bräche mir wohl jeder Zweig;
Kommt ihr schlanken Ringelraupen,
Wollet ihr mich nicht entlauben?
Seht ich halte ja so still.
Das Gedicht bleibt bei der bestehenden Forschungslage vor allem für interessierte Laien zeitlich schwer einzuordnen, daher mein weit veranschlagter Rahmen vom entweder biographisch plausiblen zirka 1806 oder zwischen 1814, als Arnim nicht aus Gründen der Romantik, sondern der Sparsamkeit das weder ihm noch seiner Frau entsprechende Landleben aufnahm, wenngleich immer noch auf dem Familienschloss, bis zu seinem Tod 1831. Das passt immerhin thematisch; die vorhandenen Werkausgaben, von denen man sich erforschte und begründete Wahrheit erhoffen dürfte, sind schwer zugänglich.
Von Achim von Arnim wird von Verlagen immer nur die Prosa verbreitet, die dann meistens ein Briefwechsel ist, seine Lyrik existiert auf dem Buchmarkt, der dann auch noch der antiquarische ist, hauptsächlich in Mir ist zu licht zum Schlafen. Gedichte, Prosa, Stücke, Briefe. Dabei müssen Tausende von Seiten mit Gedichten existieren, darunter gern auch formlos über sich selbst hinauswuchernde Reimereien. Arnim hat seine eigenen Gedichte nie gesichtet, verbessert oder zu Sammlungen geordnet. Die letzte eingehende Ordnung seines Nachlasses bemängelte deren Umfang bei schwerer Lesbarkeit – und das war noch seitens Rahel Varnhagen († 1833).
Das hat Gerhard Wolf – heute noch danke an den guten Mann! – in der Reihe Märkischer Dichtergarten herausgegeben, 1983 noch in der und für die DDR (Buchmarktsuche: Hardcover 1983; Taschenbuch 1984).
Selbst Gerhard Wolf konnte auf nicht mehr zurückgreifen als auf dier frühestmögliche Materialsicherung:
Arnims Lyrik ist bisher noch nicht entsprechend wissenschaftlich ediert, so daß wir uns vor allem, bei notwendig beschränkter Auswahl, an die Sammlungen gehalten haben, die als Band 22 von „Ludwig Achim von Arnims sämtlichen Werken“, bearbeitet von Varnhagen von Ense, und an den als Band 23 bezeichneten zweiten Teil, nach den Handschriften des Goethe-Schiller-Archivs Weimar, herausgegeben von Herbert R. Liedke uhnd Alfred Anger, erschienen; wir geben die Gedichte, soweit wir sie dort fanden, in der alten Schreibweise dieser Ausgaben.
– und selbst bei diesem zaghaften Wiederanfang musste er um der Vielfalt der Anthologie willen noch 60 Seiten auf Des Knaben Wunderhorn verwenden, an dessen kommentarloser Verbreitung weder 1983 noch 2022 ein Mangel herrscht. Der oben zitierte Nachweis stand in einem Nachwort von 1983 über den „23.“ Band von 1976 innerhalb einer 1856 (!) von Wilhelm Grimm (ja, dem Wilhelm Grimm, † 1859) abgeschlossenen 22-bändigen Werkausgabe, bisher ist meines Wissens nichts weiter passiert. O Freies Deutsches Hochstift, o Hanser!
Und sie halten alle still: Frédéric:
- L’ubac et l’adret II (la fin d’un jour d’hiver), 19. Februar 2021;
- La leçon de piano, 6. März 2021;
- La fée Clochette en RTT, 5. Mai 2021;
- La paysagiste (elle aimait bien Van Gogh et lire du Saint Exupéry), 19. Juni 2021.
Kommt ihr schlanken Ringelraupen: The Cure: The Caterpillar, aus: The Top, 1984,
im Londoner Syon Park House Estate:
Frankonachten 2/5: Nämlich gar nicht einschlafen zu wollen
Update zu Blumenstück 001: Streckvers bei Nacht,
Weihnachten Fibels,
Weil er bei den Mahlzeiten so entsetzlich isset
und Und vierzehn Gräser formen ein Sonett:
Weihnachten ist ja immer auch was mit Heimat. Bei mir ist das Franken, eine kulturelle und historische Landschaft, die mich nie ganz in Ruhe lassen wird.
Der gebürtige Preuße Jean Paul wird seit der Bundesrepublik Deutschland als fränkisch angesehen, weil er aus Wunsiedel stammt, das im bayerischen Regierungsbezirk Oberfranken liegt. Bei Jean Pauls Geburt 1763 lagen Wunsiedel und seine folgenden Jugendstationen Joditz, Schwarzenbach an der Saale, Rehau und Hof im hohenzollerischen Fürstentum Kulmbach-Bayreuth oder Markgraftum Brandenburg-Bayreuth im Fränkischen Reichskreis. Damit wäre Jean Paul beinhart preußischer Herkunft, was sie in Wunsiedel, wo sie ja sonst nur die Luisenburg-Festspiele und das Grab von Rudolf Heß haben, nicht mehr so gerne hören. Um es ja nicht zu einfach zu machen, fiel das Fürsten- oder Markgraftum nach dem Frieden von Tilsit am Ende des dritten Napoleonischen Krieges ans erste französische Kaiserreich. Jean Paul war also zwischen 1807 und 1810 Franzose, danach zahlte das Königreich Bayern in Gestalt von König Maximilian I. Joseph aufgrund des Pariser Vertrags 15 Millionen Francs, damit Jean Paul für den Rest seines Lebens Franke innerhalb Bayerns sein konnte.
Jean Pauls Einschlafhilfen — die Steilvorlage, dass sein Gesamtwerk eine solche wäre, sei hiermit durch vorwegnehmende Erwähnung entschärft — sind wohl das unmittelbar Anwendbarste, was er geschrieben hat; seine Kochrezepte mussten ja erst in der Postmoderne rekonstruiert werden. In der Zählung sind sie durch die Zweitverwendung für den Roman durcheinander geraten, aber meine liebste ist sowieso die außerhalb der Reihe.
——— Jean Paul:
Die Kunst, einzuschlafen
(Aus der Zeitung für die elegante Welt)
in: Zeitung für die elegante Welt, Nr. 20 und 21, 14. und 16. Februar 1805,
stark erweitert für: Dr. Katzenbergers Badereise, Mohr und Zimmer, Heidelberg 1809,
nachgestelltes I. Werkchen für Zweites Bändchen:
Für die jetzigen langen Nächte und für die elegante Welt zugleich, die sie noch länger macht, ist eine Kunst, einzuschlafen, vielleicht erwünscht, ja für jeden, der nur einigermaßen ausgebildet ist. Es gibt jetzo wenige Personen von Stand und Jahren, die, das Glück ihrer höhern Feinde ausgenommen, irgendein anderes so sehr beneideten als das einer Haselmaus oder auch eines nordischen Bären, dessen Nachtschlummer bekanntlich gerade so lange als seine Nordnacht währt, nämlich fünf Monate. Unsere Zeit bildet uns in Kleidern und Sitten immer mehr den wärmern Zonen an und zu, und folglich auch darin, daß man wenig und nur in Morgen- und Mittagstunden schläft; so daß wir uns von den Negern, welche die Nacht kurzweilig vertanzen, in nichts unterscheiden als in der Länge unserer Weile und unserer Nacht. Hoch oben wird immer mehr die eigne Menschheit – nicht wie von Alexander aus dem Schlafe – umgekehrt aus dem Mangel desselben erraten. Gibt es nicht in allen Residenzen Jünglinge von Welt und Geburt, welche (besonders wenn die Gläubiger erwachen) gern so lange schliefen, bis sie stürben, oder doch bis ihre Väter? Und was hilfts manchem jungen Menschen, daß er Franklins Wink, nachts zum bessern Schlafe die Betten zu wechseln, so gut er weiß, befolgt? Aus dem Gegengift wird in die Länge ein Gift.
Kurz, wer jetzo noch am festesten schläft – die Glücklichen in den Wachstuben auf der Pritsche ausgenommen –, ist einer oder der andere Homer und die sogenannten zehn törichten Jungfrauen, welche in der Bibel den Bräutigam verschlafen.
Wenn ich gleichwohl mehre geistige Mittel, einzuschlafen, freigebig anbiete, noch dazu in einem kurzen Aufsatze – nicht in langen dicken Bänden – : so sind sie in der Tat nicht jenen Wüstlingen gegönnt und geschrieben, welche – durch lauter maîtres de plaisirs zu esclaves de plaisirs gemacht – in der Nachtzeit, in welche sonst die alte Jurisprudenz die Folter verlegte, bloß darum die ihrige ausstehen, weil sie sonst ihre Freuden und Nachtviolen darin pflückten. Sie mögen wachen und leiden, diese Sabbatschänder des täglichen Sabbats der Natur.
Gibt es hingegen einen Minister, der an einem Volke – oder einen Autor, der an einem Werke arbeitet, und beide so feurig, daß sie ebensoviel Schlaf verlieren als versüßen – oder irgendeinen weiblichen Kopf, der das Näh- und Fang-Gewebe seiner oder fremder Zukunft – so wie die Spinnen die ihrigen gern um Betten und immer in der Nacht abweben – ebenso im Finstern ausspinnt, und der folglich kein Auge zutut – oder gibt es irgendeinen andern von Idee zu Idee fortgetriebenen Kopf- z.B. meinen eignen, den bisher der Gedanke, die Kunst, einzuschlafen, für die Zeitung für die elegante Welt zu bearbeiten, an der Kunst selber hinderte – : so sei allen diesen so geplagten und geschätzten Köpfen mit Vergnügen der Schatz von Mitteln, einzuschlafen, mitgeteilt, worunter so manche oft nichts helfen dem einen, doch aber dem andern und den übrigen.
Nicht Einschlafen, sondern Wiedereinschlafen ist schwer. Nach dem ersten schlummernden Ermatten fährt der obige Staatmann wieder auf, und irgendeine Finanz-Idee, die ihm zufliegt, hält er, sich abarbeitend, fest, wie der Habicht eine in der Nacht erpackte Taube bis an den Morgen in den Fängen aufbewahrt; dasselbe gilt ganz vom Bücherschreiber, dessen Innres im Bette, wie nachts ein Fischmarkt in Seestädten, von Schuppen phosphoresziert und nachglänzt, bis es so licht in ihm wird, daß er alle Gegenstände in seinen Gehirnkammern unterscheiden kann und an seinem Tagwerke wieder zu schreiben anfängt unter der Bettdecke. Dies ist ungemein verdrießlich, besonders wenn man keine Mittel dagegen weiß.
Ich weiß und gebe sie aber; sämtlich laufen sie in der Kunst zusammen, sich selber Langweile zu machen, eine Kunst, die bei gedachten logischen Köpfen auf die unlogische Kunst, nicht zu denken, hinauskommt.
Wir wollen indes einen weitern Anlauf zur Sache nehmen. Es wird allgemein von Philosophen und Festungkommandanten angenommen, daß ein Mensch, z.B. eine Schildwache, imstande sei, schläfrig und wach zu bleiben. Ja ein Philosoph kann sich zu Bette legen, Augen und Ohren verschließen und doch die Wette ausbieten und gewinnen, die ganze Nacht zu verwachen bloß durch ein geistiges Mittel, durch Denken; – folglich setzt diese Willkür die andere voraus, einzuschlafen, sobald man das Mittel der Wette nicht anwendet, wie wir abends ja an ganzen Völkern sehen, wenn sie zu Bette gehn.
Der Schlaf ist, wie ich im Hesperus bewiesen, das stärkende Ausruhen nicht sowohl des ganzen Körpers oder der Muskeln u.s.w. als des Denkorgans, des Gehirns, daher durch lange Entziehung desselben nichts am Körper erkrankt als das Gehirn, nämlich zum Wahnwitz. Wird es bei dem Tiere durch kein Empfinden, beim Menschen durch kein Denken mehr gereizt, so zittert dieses willkürliche Bewegorgan endlich aus. Sobald der Mensch sagt: ich will keine einzige Vorstellung, die mir aufstößt, mehr verfolgen, sondern kommen und laufen lassen, was will: so fällt er in Schlaf; nachdem vorher noch einzelne Bilder ohne Band und Reihe, wie aus einer Bilderuhr, vor ihm aufgesprungen waren, bloße Nachzuckungen des gereizten Denkorgans, denen der Muskelfasern eines getöteten Tieres ähnlich. Das Erwachen dagegen beginnt das gestärkte und nun reizende Organ, wie das Einschlafen der nachlassende Geist.
Die göttliche Herrschaft des Menschen über sein inneres Tier- und Pflanzenreich wird zu wenig anerkannt und eingeübt, zumal von Frauen; ohne jene schleppt uns die Kette des ersten besten Einfalls fort. „Tritt aber nicht“, kann eine Frau sagen, „das Leichenbild meines Schmerzes überall ungerufen mitten im Frühling und im Garten desselben wie ein Geist aus der Luft, bald hier, bald da, und kann ich der Geistererscheinung wehren?“
Wende das Auge von ihr, sag‘ ich, so verschwindet sie und kommt zwar wieder, aber immer kleiner; siehst du sie hingegen lange an, so vergrößert sie sich und überdeckt dir Himmel und Erde. – Nicht die Entstehung, sondern die Fortsetzung unserer Ideen unterscheidet das Wachen vom Traume; im Wachen erziehen wir den Fündling eines ersten Gedankens oder lassen ihn liegen; im Traume erzieht der Fündling die Mutter und zügelt sie an seinem Laufzaume.
Um zum nahen Einschlafen wieder zu kommen, so bekenn‘ ich indes, daß jenes gewaltsame Abbestellen und Einstellen alles Denkens ohne philosophische Übung wohl wenigen gelingen wird; nur der Philosoph kann sagen: ich will jetzt bloß mein Gehirn walten lassen ohne Ich. Dieses Vermögen, nicht zu denken, kann also nicht überall bei der eleganten und denkenden Welt vorausgesetzt werden. Die Juden haben unter ihren hundert Danksagungen an jedem Tage auch eine bei dem Krähen des Hahns, worin sie Gott preisen, daß er den Menschen hohl erschaffen, desgleichen löcherig. Jeder elegante Welt-Mensch wird bis zu einem gewissen Grade – bis zum Kopfe – in das Dankgebet einfallen, weil er in der Tat keine Lücken in der Welt lieber auszufüllen sucht als seine eignen.
Allein nicht jeder hat abends das Glück, hohl zu sein und also, da die Leerheit des Magens nicht halb so sehr als die des Kopfes das Einschlafen begünstigt, letztes zu erringen. Es müssen folglich brauchbarere Anleitungen, den Kopf wie einen Barometer luftleer zu machen, damit darin das zarte elektrische Licht der Träume in seinem Äther schimmere, von mir angegeben werden.
Wenn alle Einschlafmittel, nach den vorigen Absätzen, d.h. Grundsätzen, in solchen bestehen müssen, die den Geist vom Gehirne scheiden und dieses seiner eignen Schwere überlassen: so muß man, da doch die wenigsten Menschen verstehen, nicht zu denken, solche Mittel wählen, die zwar etwas, aber immer dasselbe Etwas zu denken zwingen.
Da ich wohl ein guter Einschläfer und Schläfer, aber einer der mittelmäßigsten Wiedereinschläfer bin: so geben mir meine Nacht- und Bett-Lukubrationen vielleicht ein Recht, über die Selbeinschläferkunst hier der Welt nach eignen Diktaten zu lesen.
Ich müßte von mir selber sprechen und mich über mich ausbreiten, wenn ich die Leser an mein Bette führen wollte, um sie von diesem Heidenvorhof aus weiter zu geleiten zum Katheder.
Nur dies kann ich vielleicht sagen, daß ich ganz andere Anstalten als die meisten Leser treffe, um nicht aufzuwachen. Wenn z.B. so mancher Leser bei dem Einschlafen eine Hand aus Unvorsicht auf die Stirn oder an den Leib oder nur ein Bein aufs andere legt: so kann das geringste, dem Schlafe gewöhnliche Zucken der vier Glieder sämtlichen Rumpf aufwecken und aufkratzen; – und dann ist die Nacht ruiniert, und er mag zusehen. Dagegen man sehe mich im Bett! – Nie berühre doch jemand im Schlaf ein lebendiges Wesen, welches ja er selber ist. Der kleinlichern Vorsichtregeln gedenk‘ ich gar nicht, z.B. gegen den Hund, der auf der Stubendiele mit dem Ellenbogen hämmert oder auf einem wankenden Stuhl mit zwei Stuhlbeinen auf- und abklappert, wenn er sich kratzt. Und doch leidet der unvorsichtige Leser so viel im Bette als ich, weil wir beide nie schärfer denken und reicher empfinden als in der Nacht, diese Mutter der Götter und mithin Großmutter der Musen; und ginge am Morgen nicht der Körper mit Nachwehen herum, es gäbe kein besseres Braut- und Kindbett geistiger Sonntaggeburten als das Bette, ordentlich als wenn die Schlaffedern zu Schreibfedern auswüchsen.
Eh‘ ich endlich meine elf Mittel, einzuschlafen, folgen lasse, merk‘ ich ganz kurz an, daß sie sämtlich nichts helfen; – denn man strengt sich sehr dabei an, und mich hat jedes Schlaf genug gekostet; – aber dies gilt nur für das erstemal. – Eben hat mir mein scharfsinniger Freund E. noch ein zwölftes entdeckt, nämlich gar nicht einschlafen zu wollen.
Aber seitdem, d.h. seit anderthalb Jahrzehenden, hab‘ ich noch drei neue Selberwiegen im Bette zur Welt gebracht, so daß es künftig eines jeden eigne Schuld bleibt, wenn er, mit meinen vierzehn Handgriffen zum Einwiegen seines Kopfs in Händen, gleichwohl seine Augen noch so offen behält wie ein Hase, der indessen darüber gar nicht zu tadeln ist, da ers eben im Schlafe tut.
Nach langem Überlegen, wie ich meine drei neuen Schlafmittel in dieser dritten Auflage unter die elf alten einschalten könnte mit Beibehaltung alles Spaßes der frühern Rangordnung, fand ichs endlich als zweckdienlichst, sofort nach dem neunten Einschlafmittel die drei neuen einzuschieben und darauf mit den alten bis zum vierzehnten ordentlich fortzufahren; anders wüßt‘ ich nicht einzuflechten ohne namhaften Verlust meiner und der Leser.
1) Das erste Mittel, das schon Leibniz als ein gutes vorschlug, ist Zählen. Denn die ganze Philosophie, ja die Mathematik hat keine abstrakte Größe, die uns so wenig interessiert als die Zahl; wer nichts zählt als Zahlen, hat nichts Neues und nichts Altes, indessen doch eine geistige Tätigkeit, obwohl die leichte der Gewohnheit, so wie ein Virtuose ohne große geistige Anstrengung nach dem Generalbasse phantasiert, den er doch mit großer erlernte. Buxton, der eine Zahl von 39 Ziffern im Kopfe mit ihr selber multiplizierte, sank nach tiefen Rechnungen in tiefen Schlaf. Die Alten hatten an den Bettstellen das Bildnis Merkurs, dieses Rechners und Kaufmanus, und taten an ihn das letzte Gebet. Es läßt sich wetten, daß niemand leichter einschläft als ein Mathematiker, so wie niemand schlechter als ein Verse- und Staatmann.
Allein dieses Leibnizische Zählen wird an schwachen Schläfern unsers Jahrhunderts nur mittelmäßige Wunder tun, wenn man entweder schnell oder über hundert (wodurch es schwerer wird) oder mit einiger Aufmerksamkeit zählt. Ebenso muß man, wie höhere Rechenkammern, nichts darnach fragen, daß man sich verzählt. Unglaublichen Vorschub tut aber dem Schlafe ein kleiner, meines Wissens noch unbekannter Handgriff, nämlich der, daß man im Kopfe die Zahlen, welche andere Schläfer schon fertig ausgeschrieben anschauen, selber erst groß und langsam hinschreibt, auf was man will. Verfasser dieses nahm dazu häufig eine lange Wetter- oder auch Stöhrstange und zeichnete, indem er sie am kurzen Hebelarme hielt, mit dem langen oben an das Zifferblatt einer Turmuhr (indes ist Schnee ebensogut) die gedachten Zahlen an, so lang und so dick, daß er sie unten lesen konnte. Diese so unendlich einförmige Langsamkeit der Operation ist eben ihr punctum saliens oder Hüpfpunkt und schläfert so sehr ein; und was das Lächerliche dabei anlangt, so geht wohl jeder im Bette darüber hinweg. Einem solchen Langsam- und Stangenschreiber rate man aber unsere arabischen Ziffern ab, deren jede einen neuen Zickzack fodert, sondern er schreibe römische an seinen Turm (wie alle Turmuhrblätter haben), welche bis 99 nichts machen als lauter herrliche, recht herpassende Linien, nämlich gerade. – Will ein Einschläfer Turm und Stange nicht: so kann man ihm raten, recht lange Zahlen, und zwar wie Trochäen auszusprechende, sich vorzuzählen, z.B. einundzwanzig Billionen Seelen Zahl, zweiundzwanzig Billionen Seelen Zahl u.s.w.; nur aber kann man einem Einschläfer nicht genug einschärfen, das Zählen äußerst langsam und schläfrig zu verrichten. Indes diese Beobachtung höchstmöglicher Faultierlangsamkeit ist wohl Kardinalregel aller Einschläfermittel überhaupt.
2) Töne, sagt Bako, schläfern mehr ein als ungegliederte Schälle. Auch Töne zählen und werden gezählt. Da aber hier nicht von fremden, sondern von Selbentladungen – das Einschläfern ist der einzige schöne Selbermord – die Rede ist: so gehören nur Töne her, die man in sich selber hört und macht. Es gibt kein süßres Wiegenlied als dieses innere Hören des Hörens. Wer nicht musikalisch phantasieren kann, der höre sich wenigstens irgendein Lieblinglied oder eine Trauermusik in seinem Kopfe ab; der Schlaf wird kommen und vielleicht den Traum mitbringen, dessen Saiten in keiner Luft mehr zittern, sondern im Äther.
3) Vom zweiten Mittel ist das dritte nicht sehr verschieden, sich nämlich in gleichem Silben-Dreschen leere Schilderungen langsam innen vorzusagen, wie ich z.B. mir: wenn die Wolken fliegen, wenn die Nebel fliehen, wenn die Bäume blühen etc. Darauf lass‘ ich aufs Wenn kein So folgen, sondern nichts, nämlich Entschlafen; denn die kleinste Rücksicht auf Sinn oder Zusammenhang oder Silbenzahl würde, wie ein Nachtwächter-Gesang, alles wieder einreißen, was das poetische Selberwiegenlied aufgebaut.36 Da aber nicht jeder Talent zum Dichten hat – zumal so spät im Bette – : so kommen ja dem Nicht-Dichter zu Tausenden Bett-Lieder mit diesem poetischen faulen Trommelbaß entgegen, wovon er nur eines auswendig zu lernen braucht, um für alle Nächte damit sein Glück zu machen. Unschätzbar ist hier unser Schatz von Sonetten, an denen wie an Raupen-Puppen nichts sich lebendig regt als das Hinterteil, der Reim; man schätzet es nur noch nicht genug, wie sicher das Reim-Glockenspiel uns in einen kürzern Schlaf einläute, als der längste ist. – Ich würde hiezu auch auswendig gelernte Abendsegen vorschlagen, da sich durch sie wahrscheinlich sonst Tausende eingewiegt, wenn ich nicht besorgte, daß sie ungewohnten Betern, z.B. Hofleuten, durch den Reiz der Neuheit mehr Schaden und Wachen brächten als Nutzen.
4) Ein gutes Mittel, einzuschlafen nicht sowohl als wieder einzuschlafen, ist, falls man aus einem Traum erwacht, sich in diesen mit den schläfrigen Augen, indem man ihm unaufhörlich nachschaut, wieder einzusenken; bald wird die Welle eines neuen Traumes wieder anfallen und dich in ihr Meer fortspülen und eintauchen. Der Traum sucht den Traum. Im großen Schatten der Nacht spielt jeder Schatten mit uns Sterblichen und hält uns für seinesgleichen.
5) Hefte dein inneres Nachtauge lange auf einen optischen Gegenstand, z.B. auf eine Morgenaue, auf einen Berggipfel, es wird sich schließen. Überhaupt sind Landschaften – weil sie unserm innern Menschen, der mehr Augen hat als Ohren, leicht zu erschaffen werden, und weil sie uns in keine mit Menschen bevölkerte und erweckende Zukunft ziehen – die beste Schaukel und Wiege des unruhigen Geistes.
6) Das sechste Mittel half mir mehre Nachmitternächte durch, aber es fodert Übung; man schaut nämlich bloß unverrückt in den leeren schwarzen Raum hinein, der sich vor den zugeschloßnen Augen ausstreckt. Nach einigen Minuten, wenn nicht Sekunden, wird sich das Schwarze färben und erleuchten und so den Chaos-Stoff zu den bunten Traum- oder Empfindbildern liefern, welche in den Schlaf hinüberführen.
7) Wer seine Augen schließen will, mache an seinem innern Januskopfe zuerst das Paar, das nach der Zukunft blicket, zu; das zweite, nach der Vorzeit gerichtet, lasse er immer offen. Am Tage vor einer Reise oder Haupttat schläft man so schwer als am Tage nachher so leicht; die Zukunft ergreift uns (so wie den Traum) mehr als die Gegenwart und Vergangenheit. Im Hause eines Toten, aber nicht eines Sterbenden kann man schlafen. Daß Kato in der Nacht vor seinem Entleiben schlief – wie die Seidenraupe vor der Einpuppung –, ja sogar schnarchte, ist schwerer, als was er nachher tat. Daß Papst Klemens XIIII.37 am Morgen vor seiner Krönung geschlafen, merkt die Weltgeschichte mit Recht an; denn am Abende darauf, da er auf dem Stuhle saß, war es ganz leicht; auf dem Wege zum Throne und auf dessen Stufen wird überall weniger geschlafen und das Auge zugemacht als oben in den weichsten Betten der Ehren und lits de justice. Euere Vergangenheit könnt ihr daher – zu große Tiefen und Höhen darin ausgenommen – mit Vorteil vor dem Einschlafen durchlaufen; aber nicht an den kleinsten Plan und Brief und Aufsatz des nächsten Morgens denken.
8) Für manche geübte gewandte Geister im Kopfe mag das wildeste Springen von Gegen- zu Gegenstand – aber ohne Vergleichungzweck –, mit welchem der Verfasser sich sonst einschläferte, von einiger Brauchbarkeit sein. Eigentlich ist dieses Springenlassen nichts anders, wenn es gut sein will, als das obige Gehenlassen des Gehirns; der Geist läßt das Organ auszucken in Bildern.
9) Seelenlehrer und deren Seelenschüler schläfern sich ein – falls sie wollen –, wenn sie geradezu jede Gedankenreihe ganz vorn abbrechen, die neue wieder und so fort, indem sie sich fragen bei jedem Mächtigen, was sie ausdenken und vollenden möchten „Kann ich denn nicht morgen eine Stunde länger wach liegen und meine Kopfarbeit auf dem Kopfkissen verrichten? Und warum denn nicht?“ – Wer aber so wenig Denkkraft hat, daß er sie damit nicht einmal hemmen kann, wo er will, der höre hier wieder ein Ausmittel; nämlich er horche sich innen zu, wie ihm ohne sein Schaffen ein Substantivum nach dem andern zutönt und zufliegt, z.B. mir gestern: „Kaiser – Rotmantel – Purpurschnecke – Stadtrecht – Donnersteine – Hunde – Blutscheu – atque panis – piscis – crinis – Karol magnus – Partebona – et so weiter.“
10) Niemand merkte noch scharf genug darauf, daß er zwei der besten Säemaschinen der Schlummerkörner an seinem eignen Kopfe herumtrage, nämlich seine beiden Gehörgänge, nach außenhin Ohren genannt. Höchstens nahm vielleicht einer und der andere wahr, daß ihm Einschläferndes zufließe durch die Gehörgänge in Hofkirchen, in Redesälen akademischer Mitglieder, in Freimäurerlogen und in Theaterlogen, wiewohl er am hellen Tage wenig Gebrauch davon zu machen wußte; aber ich darf wohl mich als den Erfinder ansehen, welcher die eignen Gehörwerkzeuge, auch ohne alle Unterstützung fremder Sprachwerkzeuge und folglich in der Einsamkeit der Nacht und der Bettstelle, als die besten Schlaftrunkzubringer zuerst beobachtet hat. Wie nämlich Mäzen sich durch Wasserfälle einschläferte, oder wie in den achtziger Jahren der Wunderdoktor Schlippach in der Schweiz ein besonderes Schlafzimmer hatte, worin alle Kranke entschliefen an den um dasselbe niederrauschenden Strömen: so tragen wir alle ja ähnliche Wasserfälle in uns, ich meine die Pulsadern Springbrunnen und Blutadern-Wasserfälle, welche unaufhörlich dicht neben unsern Ohrnerven rauschen, und die jeder – sogar am Tage mit einiger Aufmerksamkeit nach Innen, aber noch lauter in der Nacht auf dem Kopfkissen – vernehmen kann. Nun auf dieses innere Rauschen richte ein Beflißner des Wiedereinschlafens recht bestimmt sein Seelenohr; – und er wird mir danken, wenn er erwacht, und es rühmen, daß er durch mich früher eingeschlafen. Noch trefflicher wirkt dieses zehnte Mittel ein, wenn man ihm noch das sechste als ein adjuvans beimischt, was ich in meiner nächtlichen Praxis selten vergesse.
11) Das eilfte Einschlafmittel ist irgendeine Historie, die man sich metrisch in den freiesten Silbenmaßen vorerzählt. Gewöhnlich nehm‘ ich des biblischen Josephs Geschichte dazu und halte damit gut sieben, ja bis zwölf Nächte Haus; ich weiß jedoch jedesmal – was mich wundert, ich mir aber nächstens völlig erklären werde –, wo ich im Erzählen stehen geblieben. Dabei hat der Schlaflustige nun zum Glück auf Numerus – der ohnehin schon als Zahl im ersten Schlafmittel – oder auf Wohlklang der im zweiten unter den Tönen vorkommt – nicht die geringste Rücksicht zu nehmen nötig, ebensowenig als auf falsches Verkürzen oder Verlängern der Füße – da nur das Aufziehen und Ausstrecken der leiblichen von Wichtigkeit ist –; kurz der Schlaflustige pfeife auf dem Haberstroh sein Haberrohr, wie er nur mag, und zwar je falscher, je besser; ja wenn er sogar mit allen möglichen unpoetischen Freiheiten jetziger Versübersetzer und Vers- und Sonettenschmiede sich handhabt: so wird er immer noch finden, daß man dichtend leichter hundert Menschen einschläfert als einen einzigen, nämlich sich. Um desto mehr ahme er die gedachten Dichter nach, damit er Schönheiten, die im Bett nur Anstöße wären, möglichst vermeide. So sing‘ ich wenigstens meine epische Josephiade ab und fange sie jambisch an „Der träum’r’sche Joseph kame einst zu seinen Brüdern, erzählte voller Stolze ihnen seine folg’nden Träume“ etc. – so daß ich mich um kein Rezensieren kümmere, sondern mich frage „Stecken denn der Doktor Merkel aus Riga und der Hofrat Müllner aus Weißenfels mit dir unter einer Decke und liegen mit ihren Schlafmützen neben deinem Kopfe rechts und links auf einem Kopfkissen? – Mithin, so dichte nur zu!“
12) Kein gemeines Einschlafmittel – sondern vielmehr ein neues und das zwölfte – ist Buchstabieren unendlich langgestreckter Wörter, wie sie die Kanzleien des Reichstags, des Bundtags, die wienerischen sämtlich, ja die meisten deutschen als höhere bureaux des longitudes uns hinlänglich zulangen und schenken. Einen solchen Kanzlei-Molossus-Koloß nun erstlich sich langsam vorzubuchstabieren – ja zweitens vorher sich ihn gliederweise hinzuschreiben, wäre wohl das Höchste, was ein Schlaflustiger von sich fodern könnte zum Denkpausieren, wenn ich es nicht drittens darüber hinaus zu treiben wüßte durch meinen neuern Kunstgriff, daß ich, ob ich gleich das innere Aussprechen des unabsehlichen Lang-Wortes durch Zerstücken in Silben noch mehr verlängere und diese Silben wieder durch Hinschreiben von neuem auseinanderziehe, mich doch nicht damit begnüge, sondern, wie gesagt, drittens gleich anfangs jeden Buchstaben einer Buchstabiersilbe selber vornehme und ihn geduldig fertig mache und deswegen, anstatt wie ein Schriftgießer zu eilen, der einen schon in die Patrize oder Schriftbunze eingeschnittenen Buchstaben in der kupfernen Matrize einschlagend ausprägt, vielmehr meinen Buchstaben, es sei Spaßes halber z.B. das O im Worte Österreichisches, Punkt nach Punkt oder punktatim durch gelbe Messingnägelköpfe ausfertige, die ich, wie man sonst gepflegt, so lange hintereinander auf einen Kutschenschlag einschlage, bis das O als Zirkel dasteht und ich zum E übergehen müßte – wohin es aber eben nie kommt, weil ich über dem O als Zyklus und Zirkel, den ich mit meinen Nägelköpfen, wie ich will, erweitere, längst in Schlaf gefallen bin, – von welchem schon jetzo ich und wohl die Leser selber durch das bloße langweilige Darstellen auf dem Papier angefallen werden. Nein, kein Argus behielt von allen seinen Augen nicht zwei im Bette offen, zumal da er die Flöte zum Einschläfern selber bläst.
13) Das dreizehnte Seelen- und Bett-Laudanum kann jeder gebrauchen, er habe so viele Ideen, als er will, oder so wenige oder gar keine. Ich schäme mich, es aber anzugeben, da es in nichts Geistigerem besteht als darin, daß man die fünf Finger, einen nach dem andern, langsam auf oder unter dem Deckbette auf- und niederbewegt und fortfährt und daran so lange denkt, bis man, ohne daran zu denken, an kein Aufheben oder Achtgeben mehr denkt, sondern schnarcht. Es ist erbärmlich, daß unser Geist so oft der Mitbelehnte des Leibes ist und besonders hier das Faustrecht der toten Hand und deren Fingersetzung hat, und daß sein geistiger oder geistlicher Arm in der Armröhre des weltlichen steckt. Schlafdurstige, also Schlaftrunkene, z.B. Soldaten, Postillione, schlummern im Reiten und Marschieren halb ein, bloß weil gleiche Bewegungen des Körpers dieselben langweilig-geistigen, die das Gehirn wenig mehr reizen, in sich schließen. Läßt man aber den schlafenden Postillion die Pferde abspannen, einziehen, abschirren und füttern: so wird und bleibt der Mann ganz wach; bloß weil seine (körperlichen und geistigen) Bewegungen jetzt immer etwas anderes anzufangen und abzusetzen haben. Der Grund ist: die Einförmigkeit fehlt. Wenn man in Tangotaboo (nach Forster) die Großen dadurch einschläfert, daß man lange und linde auf ihrem Leibe trommelt: so ist der Grund gar nicht von diesem vorletzten Mittel verschieden. Denn das
14) ist das letzte. Da die Kunst, einzuschlafen, nichts ist als die Kunst, sich selber auf die angenehmste Weise Langweile zu machen – denn im Bette oder Leibe findet man doch keinen andern Gesellschafter als sich –, so taugt alles dazu, was nicht aufhört und ohne Absätze wiederkehrt. Der eine stellt sich auf einen Stern und wirft aus einem Korbe voll Blumen eine nach der andern in den Weltabgrund, um ihn (hofft er) zu füllen; er entschläft aber vorher. Ein anderer stellt sich an eine Kirchentüre und zählt und sieht die Menge ohne Ende, die herauszieht. Ein dritter, z.B. ich selber, reitet um die Erde, eigentlich auf der Wolkenbergstraße des Dunstkreises, auf der wahren, um uns hängenden Bergkette von Riesengebirgen, und reitet (indem er unaufhörlich selber das Roß bewegt) von Wolke zu Wolke und zu Pol-Scheinen und Nebelfeldern, und dann schwimmt er durch langes Blau und durch Äquator-Güsse, und endlich sprengt er zum andern Pole wieder zu uns herauf. – Ein vierter Schlaflustiger setzt irgendeinen Genius bis an den halben Leib in eine lichte Wolke und will ihn mit Rosen rund umlegen und überdecken, die aber alle in die weiche Wolke untersinken; der Mann läßt indes nicht ab und umblümet weiter – in die Runde – und immer fort – und die Blumen weichen – und der Genius ragt – wahrhaftig ich schliefe hier, hielte mich nicht das Schreiben munter, unter demselben selber ein. So wird uns nun der Schlaf- dieses schöne Stilleben des Lebens- von allem zugeführt, was einförmig so fortgeht. So schlafen Menschen über dem Leben selber ein, wenn es kaum acht oder neun Jahrzehende gedauert hat. So könnte sogar dieser muntere Aufsatz den Lesern die Kunst, einzuschlafen, mitteilen, wenn er ganz und gar nicht aufhörte.
Die Kunst der Eingeschlafenen: Serge Marshennikov via Remon Fakre, 21. und 22. Juni 2021,
und ein seltenes via Neelakandan S, 10. Dezember 2019.
Mehr Marshennikoviana innerhalb des Weblogs in O komm ein Engel und rette mich!, 24. Mai 2014,
empfohlenes Bildmaterial mit Details in anständiger Auflösung unter
Serge Marshennikov, 1971 | Realistic figurative painter.
Soundtrack: Get Well Soon: Christmas In Adventure Parks,
aus: Rest Now, Weary Head! You Will Get Well Soon, 2008:
Der kluge, wohlunterrichtete philosophische, dichterische Kater Murr
Update zu Kätzische Beiträge zur Konstitution einer Angewandten Poesie,
Der vortreffliche Kater Murr (Gekatzbuckel!),
Murrst,
Moritz war ein Mädchen,
Dass ich ihm doch das Leben schenken möchte (OK) und
4. Katzvent: Was ich gebar in Stunden der Begeisterung:
Der historische Kater Murr, der ab Mitte 1818 mit seinem Leibdiener E. T. A. Hoffmann in Berlin wohnte, hat in der Nacht vom 29. auf den 30. November 2021 seinen 200. Todestag.
Dass der vortreffliche und dabei noch mehr versprechende Jüngling Murr keine vier Jahre alt wurde, ist der Unsitte vergangener Jahrhunderte geschuldet, dass Haustiere weder geimpft noch entwurmt wurden, ja Tierärzte sich überhaupt nur für solche Haustiere zuständig empfanden, unter denen man landwirtschaftliche Nutztiere versteht, seit ein ich-bezogenes Bürgertum in seinen Haustieren individuell begabte Mit-Bürger erkennt und ihnen Persönlichkeit und Seele zuspricht. Darin war der spätromantische Berliner Bürger Hoffmann Vorreiter. Sollte jemand noch frühere prominente Beispiele für Katzenhaltung finden, die nicht vornehmlich der Steuerung von Mäusepopulationen dient, hätte Hoffmann immerhin noch die Katzenliteratur begründet.
Die Katze als Nutztier bleibt weiterhin eins der dünnsten Bücher in der Bibliothek des Lebens, nie aber wird zu ermessen sein, was uns an den nicht stattgefundenen Lebensjahren des Katers Murr verloren ging — und wenn’s nur der geplante dritte Teil seiner Lebensansichten ist.
Am ausführlichsten hat der Mitkater Paul 2011 Murrs Lebenszeugnisse in sechs Kapiteln gesammelt. Der rezente Kater Murr, gebürtig Mitte 2015, der mit uns als seinen Leibdienern geimpft und entwurmt (und kastriert) in München wohnt, ist — Stand März 2021 — wohlauf (und kastriert), hat den historischen mithin bereits um Jahre überlebt und arbeitet mit Sicherheit an irgendwelchen, bis auf weiteres obskuren Werken. Dennoch ergeht für die Folgen 5 und 6 Triggerwarnung für Katzenfreunde:
E.T.A. 1: Wie Hoffmann auf den Kater Murr kam
Als (gefühlter) amtierender Nachfolger des legendären Kater Murr von E.T.A. Hoffmann ist es mir ein großes Anliegen, nach monatelangen Recherchen hier einmal ausführlich und in sechs täglichen Folgen allen Katzenfreunden von der Freundschaft zwischen Hoffmann und dem wirklichen Kater Murr zu erzählen.
Während seines dritten Aufenthaltes in Berlin von 1814 bis zu seinem Tod im Juni 1822 mehrte sich Hoffmanns Ruhm von Jahr zu Jahr. Der 1776 in Königsberg geborene Schriftsteller und Maler, Komponist und Kammergerichtsrat schwamm auf einer immer größer werdenden Welle des Erfolges. »Alle Kindermädchen lesen Hoffmann«, hat der reisende Kunstgelehrte Per Daniel Atterbom aus Schweden Ende August 1817 in seinem Reisetagebuch notiert. Hoffmann hat seine Popularität in einer seiner letzten Erzählungen, Des Vetters Eckfenster, nicht ohne Ironie selbst thematisiert. Darin beschreibt der bereits todkranke Dichter eine junge Marktfrau – ein Blumenmädchen auf dem Gendarmenmarkt – das, »sowie sie der Handel nicht beschäftigt«, eine seiner Erzählungen liest. Aber nicht nur die Kindermädchen und Marktfrauen lesen Hoffmann – er ist einsamer Mittelpunkt und begehrter Gast in den literarischen Salons und eleganten Zirkeln, nimmt geschmeichelt zahllose Einladungen an, sitzt jedoch viel lieber in der Weinstube Lutter & Wegner am Gendarmenmarkt und gießt ständig Wein nach, auch gern allein. Nach dem Besuch der kunstsinnigen Gesellschaften beginnt er gegen Mitternacht seine nächtlichen Weintouren, um erst am frühen Morgen heimzukehren. Hoffmanns exzessiver und alkoholumdunsteter Lebenswandel schockiert die Gesellschaft, macht den erfolgreichen Autor aber andererseits zu einer Berliner Sehenswürdigkeit für durchreisende Fremde, für Künstler und Gelehrte. In seinem Ersten Brief aus Berlin schrieb Heinrich Heine am 26. Januar 1822 über das Café Royal Unter den Linden: »Aber dort am Tisch das kleine bewegliche Männchen mit den ewig vibrierenden Gesichtsmuskeln, mit den possierlichen und doch unheimlichen Gesten? Das ist der Kammergerichtsrat Hoffmann, der den Kater Murr geschrieben…« Vier Jahre vorher, im Sommer 1818, war mein verehrter Vorfahr, der echte Kater Murr, in Hoffmanns Leben getreten. Wir kennen die genauen Umstände nicht, aber in seinem bedeutendsten Roman, eben den Lebensansichten des Katers Murr, hat Hoffmann eine hinreißende Katzen-Findegeschichte geschrieben, die er vermutlich in ähnlicher Form mit dem Kater Murr selbst erlebt hat.
»Mitten auf der großen Brücke vor unserer Stadt blieb ich stehen und schaute noch einmal zurück nach dem Park, der vom magischen Schimmern des Mondes umflossen dastand, wie ein Zaubergarten, in dem das lustige Spiel flinker Elfen begonnen. Da fiel mir ein feines Piepen in die Ohren, ein Quäken, das beinahe dem eines neugebornen Kindes glich. Ich vermutete eine Untat, bückte mich tief über das Geländer und entdeckte im hellen Mondschein ein Kätzchen, das sich mühsam an den Pfosten angeklammert, um dem Tod zu entgehen. Wahrscheinlich hatte man eine Katzenbrut ersäufen wollen, und das Tierchen war wieder hinaufgekrochen. Nun, dacht’ ich, ist’s auch kein Kind, so ist es doch ein armes Tier, das dich um Rettung anquäkt und das du retten mußt… Ich kletterte über das Geländer, griff, nicht ohne Gefahr, herab, faßte das wimmernde Kätzchen, zog es hinaus und steckte es in die Tasche. Nach Hause gekommen, zog ich mich schnell aus und warf mich, ermüdet und erschöpft wie ich war, aufs Bett. Kaum war ich aber eingeschlafen, als mich ein klägliches Piepen und Winseln weckte, das aus meinem Kleiderschrank herzukommen schien. – Ich hatte das Kätzchen vergessen und es in der Rocktasche gelassen. Ich befreite das Tier aus dem Gefängnis, wofür es mich dermaßen kratzte, daß mir alle fünf Finger bluteten. Schon war ich im Begriff, den Kater durchs Fenster zu werfen, ich besann mich aber und … zog mit aller Mühe und Sorgfalt den Kater groß. Es ist das gescheuteste, artigste, ja witzigste Tier der Art, das man sehen kann… ein Kater, der wirklich in seiner Art ein Wunder an Schönheit zu nennen [ist]. Die grauen und schwarzen Streifen des Rückens liefen zusammen auf dem Scheitel zwischen den Ohren und bildeten auf der Stirne die zierlichste Hieroglyphenschrift. Ebenso gestreift und von ganz ungewöhnlicher Länge und Stärke war der stattliche Schweif. Dabei glänzte des Katers buntes Kleid und schimmerte, von der Sonne beleuchtet, so daß man zwischen dem Schwarz und Grau noch schmale goldgelbe Streifen wahrnahm.«
Es wäre denkbar, daß Hoffmann den kleinen Kater Murr nach einer langen Nacht bei Lutter & Wegner in weinseliger Laune aufgelesen hat, nicht auf einer großen Brücke vor der Stadt, sondern eher in der Charlottenstraße am Gendarmenmarkt, durch die ihn sein Heimweg von der Weinstube so oft geführt hat. Wie dem auch gewesen sein mag: die oben beschriebene Begegnung mit dem Kater Murr führte zu einer ungewöhnlichen Freundschaft zwischen einem Menschen und einem Kater und zu mehr…
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E.T.A. 2: Was die Zeitgenossen Hoffmanns über uns Katzen dachten
Um die Beziehung Hoffmanns zum Kater Murr auf dem Hintergrund seiner Zeit richtig würdigen zu können, muß man sich einmal anschauen, was seine Zeitgenossen über uns Katzen dachten. 1786, als E.T.A. Hoffmann zehn Jahre alt war, erschien Band 75 der Oekonomisch-technologischen Encyklopädie von Georg Krünitz. In diesem Monumentalwerk der damaligen Gelehrsamkeit heißt es über die Katze: »Obgleich diese Thiere, besonders solange sie jung sind, viel artiges und schmeichelhaftes an sich haben, so bemerkt man doch an ihnen eine gewisse heimliche Tücke, die falscheste Gemüthsart, und ein sehr verkehrtes Naturell, welches ihnen angeboren ist, welches im Alter noch ärger wird.« Noch fünfzig Jahre später berichten die Lexika der Zeit nicht sehr viel Vorteilhaftes über die Katze. In seinem Universal-Lexikon von 1835 bemerkte Heinrich August Pierer: »Auch verdient die natürliche Antipathie mancher Menschen gegen die Katze Bemerkungen, so daß diese Personen in der Nähe derselben, auch wenn sie von ihnen nicht bemerkt werden, Übelkeiten und Ohnmachten bekommen. Der von ihnen bewirkte Schaden besteht in der Verunreinigung des Hauses durch ihren Harn, im Forttragen glühender Kohlen in ihrem Pelze, wohl auch im Würgen der Kinder und anderer Personen.« Nur drei Jahre später veröffentlichte der deutsche Naturforscher und Philosoph Lorenz Oken seine Allgemeine Naturgeschichte für alle Stände, in der er tief in die Mottenkiste mittelalterlicher Vorurteile und Verleumdungen greift: »So nothwendig die Katzen sind, so gefährlich werden sie doch bisweilen. Man hat Beyspiele, dass sie Säuglinge, auf die sie sich gelegt, erstickt haben, auch die Augen ausgekratzt, ja sogar getödtet … Sie werden auch manchmal toll und verursachen die Wuth durch ihre Biß. Zum Zeitvertreib muß man daher keine Katze halten, am allerwenigsten mehrere, weil sie durch ihren Harn das Haus verstänkern und durch das Wetzen der Krallen die Stühle zerreißen.« Vielen Zeitgenossen galt die Katze noch als das von der mittelalterlichen Kirche verteufelte Hexentier.
Hoffmann war sich der Ablehnung der Katze durch die meisten seiner Zeitgenossen bewußt – er wies in seinem Roman deutlich darauf hin: »Ich rettete einen Kater, ein Tier, vor dem sich viele entsetzen, das allgemein als perfid, keiner sanften, wohlwollenden Gesinnung, keiner offenherzigen Freundschaft fähig ausgeschrien wird, das niemals ganz und gar die feindliche Stellung gegen den Menschen aufgibt, ja, einen Kater rettete ich aus purer uneigennütziger Menschenliebe.« Aber das Urteil seiner Mitmenschen war ihm egal. Die Zuneigung zu seinem Kater Murr wog stärker als die allgemeinen Vorurteile um ihn herum.
Erst lange nach Hoffmanns Tod setzte die Rehabilitation der Katze, ihre Befreiung aus mittelalterlichen Vorstellungswelten ein. 1840 veröffentlichte der Pfarrer und Professor Peter Scheitlin seinen zweibändigen Versuch einer vollständigen Thierseelenkunde. »Stundenlang schrieb er unaufhörlich, oft mit der Hauskatze auf einer Schulter«, heißt es in einer Schilderung seines Sohnes. Daß Scheitlin mit seinem Werk die wissenschaftliche und populäre Rehabilitation der Hauskatze einleiten würde, wußte er bei der Abfassung mit Sicherheit nicht. Er starb acht Jahre nach der Veröffentlichung. »Die Katze ist ein Thier hoher Natur«, beginnt sein 23seitiger Text über die Katze. »Schon ihr Körperbau deutet auf Vortrefflichkeit. Alles an ihr ist harmonisch gebaut, kein Theil an ihr ist zu groß oder zu klein. Kein Thierkopf ist schöner geformt.« Scheitlin beschreibt weiter mit großer Genauigkeit das Aussehen, die Sinne und das Verhalten der Katze, räumt mit allerlei zeitgenössischen Vorurteilen auf und erweist sich in seinem Text einerseits als intimer Kenner der Katzenseele, andererseits als theoretischer Vorreiter der heutigen Tierrechtsbewegung. So gründlich und einfühlsam, genau und vorurteilslos hat kein wissenschaftlicher Autor vor ihm die Katze beschrieben. 1852 erschienen die Naturstudien von Hermann Masius, die ebenfalls ein positives Bild der Katze propagierten. Sie erreichten breite Kreise der Bevölkerung. Masius stellte seinem Text über die Katze dieses programmatische Motto voran: »Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, schwankt ihr Charakterbild in der Geschichte.« Diese historische Unentschiedenheit in der Beurteilung der Katze will Masius beenden, denn »die Katze ist ein Raubthier vollkommenster Art, freilich in winziger Verkleinerung«. Um seine positive Einstellung der Katze zu unterstreichen, beschreibt er sie in geradezu poetischen Bildern. So zeichnet er das Bild eines schwarzen Katers, der »daliegt wie ein Stück Nacht, aus der nur die grünen Augensterne hervorblitzen«. Und das Schnurren der Katze wirkt auf ihn wie »die süße Gewohnheit des Daseins«. Zum Schluß seines Textes erinnert Masius daran, daß bedeutende Geister der Vergangenheit der Katze zugetan waren, wobei er ausdrücklich E.T.A. Hoffmann erwähnt. Nach Scheitlin und Masius schaltete sich schließlich auch Alfred Brehm in die Bemühungen ein, die Katze von ihrem vorurteilsbelasteten Image zu befreien. In seinem Thierleben von 1864 ergreift er eindeutig für die Katze Partei: »Je höher ein Volk steht, je bestimmer es sich seßhaft gemacht hat, um so verbreiteter ist die Katze. Wo man sie in ihrem wahren Werthe erkannt hat, verbreitet man sie mehr und mehr. So hat sie nach und nach Heimrecht fast auf der ganzen Erde sich erworben, und erscheint überall als ein lebendes Zeugnis des menschlichen Fortschrittes, der Seßhaftigkeit, der beginnenden Gesittung.« An anderer Stelle des Thierlebens räumt auch Brehm mit zeitgenössischen Vorurteilen gegen die Katze auf: »Das geistige Wesen der Katze wird gewöhnlich gänzlich verkannt. Man betrachtet sie als ein treuloses, falsches, hinterlistiges Thier, und glaubt, ihr niemals trauen zu dürfen. Viele Leute haben einen unüberwindlichen Abscheu gegen sie und gebärden sich bei ihrem Anblicke wie nervenschwache Weiber oder ungezogene Kinder.« Brehm zitiert anschließend einige abfällige, häufig vorgetragene Bemerkungen aus der zeitgenössischen wissenschaftlichen Literatur, um abschließend zu folgender Bewertung zu kommen: »Eine derartige Charakterzeichnung enthält wohl ein Körnlein Wahrheit, jedoch weit mehr Unrichtiges, und darf eher eine Verlästerung als eine Beschreibung der Katze genannt werden.«
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E.T.A. 3: Wie der Kater Murr Hoffmann zu seinem Roman inspirierte
Der so altruistisch gerettete Kater bedankte sich, indem er Hoffmann zu einem Werk der Weltliteratur inspirierte: Ziemlich genau ein Jahr nach der Aufnahme des Katers in seine Wohnung begann Hoffmann mit der Niederschrift des ersten Teils der Lebensansichten des Katers Murr. Sein Freund und späterer Biograph Julius Eduard Hitzig hat in seinem 1823 erschienenen Erinnerungsbuch E.T.A. Hoffmanns Leben und Nachlaß darauf hingewiesen, welche Rolle der wirkliche Kater Murr – der tatsächlich auch so hieß – dabei gespielt hat. »Zu der äußern Form dieses Buches war Hoffmann durch einen ausgezeichneten schönen Kater veranlaßt worden, den er aufgezogen hatte und der ihm wirklich mehr als gewöhnlichen Tierverstand zu haben schien; wenigstens war er unerschöpflich in Erzählungen von den Klugheiten, welche von diesem Liebling, der in der Regel in dem Schubkasten des Schreibtisches seines Herrn, den er sich mit den Pfoten selbst aufzog, und auf dessen Papieren ruhte, ausgegangen sein sollten.« Hoffmann hat auch die Titelzeichnung für die Lebensansichten des Katers Murr geschaffen. In einem sehr langen und inhaltsreichen Brief an seinen Bamberger Freund Friedrich Speyer vom 1. Mai 1820, den er gemeinsam mit dem fertigen Buch absendet, äußert er sich – nicht ohne Selbstlob – darüber und über die Bedeutung seines wirklichen Katers für das Buch: »Von meinem literarischen Treiben nehmen Sie doch wohl dann und wann Notiz! – Ich empfehle Ihnen den höchst weisen und tiefsinnigen Kater Murr, der in diesem Augenblick neben mir auf einem kleinen Polsterstuhl liegt und sich den außerordentlichsten Gedanken und Fantasien zu überlassen scheint, denn er schnurrt erklecklich! – Ein wirklicher Kater von großer Schönheit (er ist auf dem Umschlage seines Buches frappant getroffen) und noch größerem Verstande, den ich auferzogen, gab mir nämlich Anlaß zu dem skurrilen Scherz, der das eigentlich sehr ernste Buch durchflicht.«
Bei den Anfang 1820 erschienenen Lebensansichten des Katers Murr handelt es sich um den ersten, großen Roman der Literatur, in dem das Weltgeschehen aus der Sicht eines Katers beschrieben und kommentiert wird. Es waren vor allem zwei Eigenschaften seines Katers, die Hoffmann auf die Idee brachten, als literarische Premiere einen denkenden und sprechenden Kater aus der Welt der Fabeln und Märchen in die der »ernsten« Literatur zu überführen. Zwei Eigenschaften, die allerdings zum Repertoire jeder Katze gehören: Faulheit und Neugierde. Die Faulheit seines Katers – man kann, freundlich ausgedrückt, auch von einem ausgeprägten Ruhebedürfnis sprechen – erinnerte Hoffmann an die schöpferischen Phasen seines eigenen Schaffens, und deshalb dichtete er diese Eigenschaften auch seinem fiktiven Kater an: »Der Kater Murr träumt nicht allein sehr lebendig, sondern er gerät auch, wie deutlich zu bemerken, häufig in das träumerische Hinbrüten, in das somnambule Delirieren, kurz, in jenen seltsamen Zustand zwischen Schlafen und Wachen, der poetischen Gemütern für die Zeit des eigentlichen Empfanges genialer Gedanken gilt. In diesem Zustande stöhnt und ächzt er seit kurzer Zeit ganz ungemein, so, daß ich glauben muß, daß er entweder in Liebe ist oder an einer Tragödie arbeitet.«
In seinen Lebensansichten des Katers Murr kombiniert Hoffmann geschickt die andere Eigenschaft seines Katers, dessen spielerische Neugierde, mit der wissenschaftlich motivierten Entdeckungslust des Romankaters: »Nichts zog mich in des Meisters Zimmer mehr an, als der mit Büchern, Schriften und allerlei seltsamen Instrumenten bepackte Schreibtisch. Ich kann sagen, daß dieser Tisch ein Zauberkreis war, in den ich mich gebannt fühlte, und doch empfand ich eine gewisse heilige Scheu, die mich abhielt, meinem Triebe ganz mich hinzugeben. Endlich eines Tages, als eben der Meister abwesend war, überwand ich meine Furcht und sprang herauf auf den Tisch. Welche Wollust, als ich nun mitten unter den Schriften und Büchern saß und darin wühlte. Nicht Mutwille, nein, nur Begier, wissenschaftlicher Heißhunger war es, daß ich mit den Pfoten ein Manuskript erfaßte und so lange hin und her zauste, bis es in kleine Stücke zerrissen vor mir lag.« Diese Schlüsselszene mit destruktivem Ausgang markiert den Beginn einer katzenuntypischen Bildungsreise. Der Romankater lernt erst lesen, dann schreiben. Schließlich wird auch aus ihm ein Schriftsteller, er verfaßt die vergleichende Schrift Gedanke und Ahnung oder Kater und Hund, eine philosophische Abhandlung über die gravierenden Unterschiede beider Arten. Hoffmann hat wohl geahnt, daß die Lebensansichten des Katers Murr sein wichtigstes literarisches Werk werden würden. Wie zur Warnung an die ihm nicht immer wohlgesonnenen Kritiker legt er in einer Vorrede des Autors dem Kater Murr diese selbstbewußten Worte in den Mund: »Sollte jemand verwegen genug sein, gegen den gediegenen Wert des außerordentlichen Buches einige Zweifel erheben zu wollen, so mag er bedenken, daß er es mit einem Kater zu tun hat, der Geist, Verstand besitzt, und scharfe Krallen. Murr, Homme de lettres très renommé.«
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E.T.A. 4: Wie Hoffmann und der Kater Murr miteinander verbunden waren
Nach Erscheinen des ersten Teils der Lebensansichten stürzte sich E.T.A. Hoffmann wieder in die Arbeit. Im Herbst 1820 berichtete er Johann Daniel Symanski, dem Herausgeber einer Theaterzeitschrift, daß er dabei wäre, die Papiere des Katers Murr zu überarbeiten, um den zweiten und dritten Teil seiner Lebensansichten herausgeben zu können. »Der Gute schreibt zwar eine passable leserliche Pfote, indessen kann er von gewissen Gewohnheiten nicht ablassen, die auf manche Stelle in seinen Manuskripten ein schwer zu durchdringendes Dunkel werfen. …Doch – ich bemerke, daß ich, ohne es zu wollen, Ihnen verrate, wie sich der vortreffliche Kater Murr eben bei mir befindet. – Es ist dem so; eben sitzt er am Ofen mit dicht zugekniffenen Augen und schnurrt. Gott weiß, über welchem neuen Werk er brütet. – Ich bitte, Verehrtester! sagen Sie von Murrs gegenwärtigem Aufenthalt nichts weiter. Literatoren, Ästhetiker und wohl auch Naturhistoriker könnten auf die Bekanntschaft des lieben Viehs begierig werden und würden es nur in seinen tiefsinnigen Meditationen stören.« Es gehört zum Stilinventar Hoffmanns, daß in viele seiner Erzählungen Orte, Erlebnisse und Einsichten des eigenen Lebens einfließen. In den Lebensansichten des Katers Murr ist es nicht anders. So lebt der Romankater im zweiten Stock eines Stadthauses (wie Hoffmann und der wirkliche Murr), und nach einem Stadtspaziergang findet der Romankater bei der Heimkehr das Haus seines Herrn von einem Brand bedroht. In dieser Szene spielt Hoffmann auf den Brand des Königlichen Schauspielhauses am 15. Dezember 1817 an, dem auch sein Wohnhaus in der Taubenstraße 31 Ecke Charlottenstraße fast zum Opfer gefallen wäre. Die völlige Zerstörung des Schauspielhauses durch den Brand, den er aus dem Zimmer seiner Wohnung beobachtete, hatte für Hoffmann schwerwiegende Folgen. Seine Oper Undine, die bis dahin eine für diese Zeit sensationelle Anzahl von 17 Aufführungen erlebt hatte, wurde Zeit seines Lebens nie mehr aufgeführt. Die Titelrolle der Oper sang übrigens die zum Zeitpunkt der Uraufführung gerade 18-jährige Johanna Eunike, die vom Berliner Publikum wie keine andere Sängerin verehrt und gefeiert wurde. Hoffmann erlag nicht nur ihrem Gesang, er verliebte sich auch in die junge Frau. In einem Sonett vom 2. März 1820, Kater Murr an Johanna, die Sängerin, äußert er die Bitte: »Verschleuß dein Ohr nicht bangem Sehnsuchtswüten, / Denn Kater Murr klagt auch romant’sche Schmerzen.« Hoffmann unterschreibt das Sonett mit »Murr, étudiant en belles lettres et chanteur très renommé« – der Liebhaber schlüpft in die Rolle des Katers, oder umgekehrt; ein Verwechslungsspiel, das Hoffmann besonders zu lieben schien.
Aber auch Zeitgenossen Hoffmanns gehen mit Sinn für Ironie auf Hoffmanns Inszenierung einer phantastischen Doppelexistenz von Dichter und Kater ein. Ludwig Robert, der Bruder von Rahel Varnhagen, schreibt ihm nach der Lektüre der Lebensansichten Ende Januar 1820: »Was den Kater Murr betrifft, so muß ich zu meiner Schande gestehen, daß ich die Bekanntschaft dieses vortrefflichen Mannes bis jetzt noch nicht gemacht habe. Ich werde mich aber in den nächsten Tagen ihm vorstellen lassen. Zwar habe ich es verschworen, neue interessante Leute kennen zu lernen; aber ein genialer Kater macht eine Ausnahme von den gewöhnlichen berühmten Menschen.«
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E.T.A. 5: Wie der Kater Murr erkrankte und starb
Im zweiten Stock dieses Hauses am Gens’darmenmarkt, in der Charlottenstraße 56, lebten Hoffmann und sein Kater Murr von Mitte 1818 bis zur Nacht des 29. November 1821. Das Haus war um 1782 errichtet worden und wurde 1874 wieder abgerissen. Hoffmann selbst hat in seinem letzten großen Prosawerk Des Vetters Eckfenster eine sehr anschauliche Schilderung der Wohnung gegeben: »Es ist nötig zu sagen, daß mein Vetter ziemlich hoch in niedrigen Zimmern wohnt. Das ist nun Schriftsteller- und Dichtersitte. Was tut die niedrige Stubendecke? Die Phantasie fliegt empor und baut sich ein hohes, lustiges Gewölbe bis in den blauen glänzenden Himmel … Dabei liegt aber meines Vetters Logis in dem schönsten Teile der Hauptstadt, nämlich auf dem großen Markte, der von Prachtbauten umschlossen ist, und in dessen Mitte das kolossal und genial erdachte Theatergebäude prangt. Es ist ein Eckhaus, das mein Vetter bewohnt, und aus dem Fenster eines kleinen Kabinetts übersieht er mit einem Blick das ganze Panorama des grandiosen Platzes.«
Am deutlichsten wird die Intensität der Beziehung von Hoffmann zu seinem Kater Murr in dem Moment, wo sich ihre Wege für immer trennen. Im November 1821 erkrankt der Kater Murr im Alter von nur dreieinhalb Jahren schwer. Er hat diese Krankheit nicht überlebt, obwohl Hoffmann die Hilfe mehrerer Ärzte in Anspruch nimmt – eine für diese Zeit sehr ungewöhnliche Maßnahme. Dem Braunschweiger Dramatiker und Theaterdirektor Ernst August Friedrich Klingemann verdanken wir eine anschauliche und gleichermaßen erstaunte Schilderung der Beziehung Hoffmanns zu seinem Kater kurz vor dessen Tod. In seinem dreibändigen Werk Kunst und Natur. Blätter aus meinem Reisetagebuche berichtet Klingemann von seiner ersten persönlichen Begegnung mit Hoffmann in dessen Berliner Wohnung. Der berühmte Schauspieler Ludwig Devrient, einer der engsten Freunde des Dichters, hatte es übernommen, die beiden miteinander bekannt zu machen. Dieser Besuch fand an einem nicht näher bezeichneten Vormittag im November 1821 statt. Die beiden trafen Hoffmann in seinem Arbeitszimmer mit Blick auf den Gendarmenmarkt. »Als ich mich übrigens nach einer Weile wieder zu jenem selbst [Hoffmann] kehrte, fand ich ihn im angelegentlichsten Gespräch mit Devrient und, wie es schien, über einen Gegenstand begriffen, der ihm sehr teuer sein, ja recht am Herzen liegen mußte, denn Hoffmanns ganze Miene hatte sich verändert und das kurz vorher noch scharf blitzende Auge schaute grau und trübe in sich hinein und schien besorgt, wie über ein bevorstehendes, bitteres Schicksal. Es betraf, wie ich gleich darauf bemerkte, einen sehr schwer Kranken, an dessen Herstellung die herzugerufenen Ärzte zweifelten, indes sie ihm, wie Hoffmann bemerkte, noch zum letzten Versuche Pulver und Einreibungen verordnet hätten. Nach einer eingetretenen tiefen Pause fragte ich mit berücksichtigender Teilnahme: ob der in Gefahr schwebende Patient zur Familie oder nähern Freundschaft gehöre. Worauf Hoffmann, ein Seitenzimmer öffnend, gerührt nach einem Lager hindeutete, auf welchem ein ansehnlicher – – Kater zu schlummern schien. – Von Staunen ergriffen stand ich da, und der grelle Kontrast zwischen der eingetretenen tragischen Stimmung und ihrem unerwarteten veranlassenden Gegenstande ließen mich zu keiner Überzeugung kommen, indes der Zweifel in mir aufstieg, ob nicht Hoffmanns durchtriebener Satyr es noch beim Abschiede mit mir auf eine Mystifikation abgesehen habe. – Beim Heimgange beteuerte mir indes Devrient, daß die Sache auf Hoffmanns Seite sehr ernst genommen werde, indem das leidende Tier, zu welchem er gleichsam in einem magnetischen Rapport stehe, niemand anders als der der Lesewelt bekannte und zum poetischen Charakter erhobene – Kater Murr sei! – Bald nach meinem Besuche und noch am Ende desselben Monats starb jenes seltsam an Hoffmann attachierte Tier.«
Genauer gesagt starb der Kater Murr in der Nacht vom 29. auf den 30. November. In dem schon erwähnten Buch des Freundes Julius Eduard Hitzig ist überliefert, wie Hoffmann die letzten Stunden seines Katers erlebt hat. Hitzig traf Hoffmann am Abend des 30. November zufällig vor dem Café Stehely an der Charlottenstraße Ecke Jägerstraße. Auf Hoffmanns Bitte besuchten sie das Caféhaus. Dort berichtete Hoffmann dem Freund folgendes: »In der Nacht… winselte der Murr gar zu erbärmlich, meine Frau schlief fest; ich stand sachte von ihrer Seite auf, schlich in die Kammer, wo er lag, hob die Decke auf, die über ihn gebreitet war, und nun sah er mich an, mit ordentlich menschlichen Blicken, wie bittend, daß ich ihm doch das Leben schenken möchte, und hörte für einen Augenblick auf zu jammern, als ob er Trost in meinen Mienen läse. Da konnte ich es nun nicht länger ertragen, ließ das Tuch wieder über ihn hinfallen, und kroch ins Bett zurück. Gegen Morgen starb er, und nun ist mir das Haus so leer und auch meiner Frau. Ich wollte heute früh gleich zu Fiocati, und ihr einen sprechenden Papagei kaufen; aber sie will keinen Ersatz, und ich auch nicht. Nicht wahr, Freund, Sie halten auch nichts von Surrogaten für geliebte Gegenstände?«
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E.T.A. 6: Wie Hoffmann auf den Tod des Kater Murr reagierte
Hoffmann war nach dem Tod seines Katers außer sich vor Trauer und erteilte einen ungewöhnlichen Auftrag, der in der gesamten Berliner Gesellschaft für Gesprächsstoff sorgte. Nur einen Tag nach dem Tod des Katers Murr ließ der Dichter seinen besten Freunden eine lithographierte Traueranzeige zustellen: »In der Nacht vom 29. bis zum 30. November d.J. entschlief, um zu einem beßern Dasein zu erwachen, mein theurer geliebter Zögling der Kater Murr im vierten Jahre seines hoffnungsvollen Lebens. Wer den verewigten Jüngling kannte, wer ihn wandeln sah auf der Bahn der Tugend und des Rechts, mißt meinen Schmerz und ehrt ihn durch Schweigen. Berlin d. 1. Decbr. 1821 – Hoffmann«
Zu dieser Zeit vollendete E.T.A. Hoffmann gerade den zweiten Band der Lebensansichten des Katers Murr. Darin setzte er in einer Nachschrift des Herausgebers dem wirklichen Kater Murr ein weiteres literarisches Denkmal: »Am Schluß des zweiten Bandes ist der Herausgeber genötigt, dem geneigten Leser eine sehr betrübliche Nachricht mitzuteilen. – Den klugen, wohlunterrichteten philosophischen, dichterischen Kater Murr hat der bittre Tod dahingerafft mitten in seiner schönen Laufbahn. Er schied in der Nacht vom neunundzwanzigsten bis zum dreißigsten November nach kurzen, aber schweren Leiden mit der Ruhe und der Fassung eines Weisen dahin … Armer Murr! … ich habe dich lieb gehabt und lieber als manchen – Nun! – schlafe wohl! – Friede deiner Asche! –« Diese Nachbemerkung hat manchen Zeitgenossen zum Kopfschütteln veranlaßt. Sogar in einer kurzen Bemerkung des engen Freundes Julius Eduard Hitzig blitzt das zeitgenössische Erstaunen über das Verhältnis von Hoffmann zu seinem Kater auf: »Der erste Vorbote der Leiden, die ihm bevorstanden, war – man lache nicht! – der Tod seines Katers.« Tatsächlich verschlechterte sich der Gesundheitszustand Hoffmanns nach dem Tod des Katers Murr drastisch. Er folgte ihm kaum sechs Monate später.
Hoffmann war ein sehr verschlossener Mensch und hat in seinem Leben nur wenige enge Freunde gehabt. Der Hoffmann-Biograf Klaus Günzel hat darauf hingewiesen und zum ungewöhnlichen Verhältnis des Schriftstellers zu seinem Kater folgendes festgestellt: »Nur an ganz wenigen Stellen seines Œuvres hat dieser spröde, jeglicher Sentimentalität abholde Mensch sein Herz weit geöffnet. Was er aber beim Tode des Kater Murr empfand, das hat er in einer solchen seltenen Partie gegen Schluß des Romans, und zwar ganz ohne Ironie, ausgesprochen: ›Denn ich habe dich lieb gehabt und lieber als manchen …‹« Wenn man seinen Biographen Glauben schenken darf, ist diese Bemerkung Hoffmanns eher ein Understatement und gesellschaftlichen Konventionen geschuldet. Er hat wohl selten einem Menschen so nachgetrauert, wie seinem Kater Murr.
Bilder: Titelkupfer 1819, via Volkmar Rummel: Werkillustrationen, E.T.A.-Hoffmann-Portal;
alle anderen via Kater Paul, a. a. O., 13. bis 18. Januar 2011.
Soundtrack: E.T.A. Hoffmann: Miserere b-Moll für Soli, Chor und Orchester, 1809, unter Roland Bader 1978:
Bonus Track: Katzenjammer: Ain’t No Thang, aus: Le Pop, 2008, live auf der Nidelva in Trondheim:
Nachtstück 0029: Hat es hier auf Erden nicht genug Lärm und Wirrnis gegeben?
Update zu Und waiß nit, wann,
Stiefpilzin,
Ein Kreuzchen oder Stein,
Break in college sick bay,
Du Uhu du und
Etwas distinkt Metaphysisch-Transzendentales:
Das scheint ein Original von Frank T. Zumbach zu sein, jedenfalls war es nirgends anderwärts nachzuweisen. Zuzeiten überliefert er auch wärmende Gedanken — und löscht sie wieder. Wie gut, dass wir da sind, um dem Vergessen in den Arm zu fallen.
——— Frank T. Zumbach:
Kommentar zu Hank Nagler:
Licht im Treppenhaus 2021
in: Balan Street Suicide Pictures, 16. August 2021:
Eine uralte irische Sicht lautet:
Wer fürchtet sich vor dem Tode? Ich denke, nur Narren. Denn es ist ja nicht so, daß er nur einem widerführe, sondern allen. Die Reise, auf die sich mein Freund begibt, kann ich ebenso unternehmen. Wenn ich auch sonst nichts weiß, so weiß ich doch, daß ich dorthin gehe, wohin er gegangen ist. Oh, daß ihr zurückschreckt vor jener kleinen Tür, durch die so viele freundliche und liebenswerte Seelen vor euch geschritten sind! Wollt ihr da zurückstehen? Ist es in eurem Falle schwerer und unzumutbarer als für irgend jemand sonst? Gewiß nicht. Zu viel Stille, glaubt ihr? Hat es hier auf Erden nicht genug Lärm und Wirrnis gegeben? Wenn es an der Zeit ist, geht nur guten Mutes. Wohin so viel an Größe und Sanftmut hinüberwechselte, könnt ihr freudig nachfolgen.
Freundliche und liebenswerte Seelen: First Aid Kit: Ghost Town, aus: The Big Black and the Blue, 2010:
If you’ve got visions of the past,
let them follow you down
and they’ll come back to you someday.
And I found myself attached
to this railroad track,
but I’ll come back to you someday.
Schau in den Mond, wie er so glänzend schifft
Update zu Verreißi zerreißi und
So habt ihr nie den Mond bedacht:
Der Fürst Pückler war noch einer verträglichsten unter den Adligen. Gebürtig 1785, musste der Graf im Großraum Europa ab 1789 ganz und gar nicht bildlich gesprochen um seinen Kopf fürchten, bekam aber auf die eine oder andere Weise einen romanhaft bunten Lebenslauf hin und wurde 1822 gar noch zum Fürsten nobilitiert.
Der Mann hat mehr Nachhaltiges geleistet denn eine Speiseeismischung, an der immer eine von den drei Sorten stört: Sein literarisches Treiben, auf das wir Heutigen mit einigem Suchen noch zugreifen können, wird zu seinem Überleben der Französischen Revolution wohl nicht den letzten Ausschlag gegeben haben, macht ihn aber bis heute höchst lebendig und zugänglich. Seine vier Bände Briefe eines Verstorbenen 1830–1831, ursprünglich privat an seine Frau gerichtet, wurden völlig zurecht Bestseller ihrer Zeit und haben nichts von ihrer Brillanz — Wikipedia beschreibt sie als „scharfäugiger Zugriff auf sprechende Situationen, uneinschüchterbare Scharfzüngigkeit zumal auch seinem eignen Stand gegenüber, fehlende Prüderie, unangestrengte Ironie“ — eingebüßt; seine mindestens sieben Anlagen von Landschaftsgärten sind wegweisend für die Kunst — ja, es ist eine — des Gartenbaus, vorneweg steht sein Fürst-Pückler-Park Bad Muskau im Rang eines UNESCO-Weltkulturerbes.
Als „Verstorbener“ seiner Reiseschriften gab er sich den Namen Semilasso; siehe u. a. Ferdinand Gustav Kühne: Hermann von Pückler- Muskau, Semilasso, 1843:
Der „Verstorbene“ hat sich in ein neues Reise-Incognito geworfen. Er nennt diesen seinen neuen Milchbruder, dessen Fahrten durch die Welt er beschreibt, Semilasso, und schildert ihn als einen Mann von hoher Statur, bei der Hälfte seiner Lebensjahre angelangt, von schlanker, wohlgeformter Gestalt, die jedoch physisch mehr Zartheit als Stärke, mehr Lebhaftigkeit und Gewandtheit als Festigkeit verräth. Bei näherer Betrachtung zeigt sich an diesem Manne das Cerebralsystem besser ausgebildet, als das Gangliensystem, und einem Phrenologen wird es klar, daß diesem Sterblichen vom Schöpfer etwas mehr Kopf als Herz, mehr Rationalismus als Schwärmerei zugetheilt, und er folglich nicht zum Glück des Lebens vom Schicksale bestimmt worden sein möchte. […]
Mit dem Namen Semilasso treibt der Verfasser in dem Vorworte seine gewohnten Späßchen, womit er den Leser und sich selbst mystificirt. Er weiß selbst nicht recht, was er mit dem Worte Semilasso machen soll. Es scheint ihm ein aus dem Lateinischen germanisirter Name zu sein, wie vor hundert Jahren die Gelehrten ihre Namen latinisirten; „oder,“ sagt er, „vielleicht ist es auch eine Anspielung auf das Wort Lasso, welches in Südamerika die Schlinge bedeutet, mit der man Pferde und Rindvieh, auch Menschen und wilde Thiere zu fangen pflegt.“
Unter „Semilassos“ Reisen in alle Welt findet sich eine ins — was ein weites Feld für sich ist — „bayerische“ Franken. Sie setzt ein im böhmischen Kaiserbad Karlsbad, aus dem unser Bildmaterial stammt. An den englischen Kurgästen übt er seine „uneinschüchterbare Scharfzüngigkeit“ anhand eines Gedichts über den Mond.
——— Hermann von Pückler-Muskau:
Semilasso’s vorletzter Weltgang
Zweiter Brief. An den Herrn Grafen von S…….
aus: Fürst Pückler reist in Franken. Vorletzter Weltgang von Semilasso,
Teil 1 Abt. 1: Enthaltend das Tagebuch seiner Reise in Franken aus dem Jahr 1834
Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1835,
in: Hans Baier, Hrsg.: Bibliotheca Franconica. Faksimilenachdrucke seltener fränkischer Bücher und Texte,
Palm & Enke, Erlangen 1982, Seite 39 bis 45:
Den 8ten [Juni 1834]
[…] Du weißt aber nun schon, daß sich eine wunderschöne Engländerin hier befindet, die eine Spanierin zu seyn scheint, die mit gleicher Geläufigkeitsieben verschiedene Sprachen spricht, die Clavier spielt wie Moscheles, von der Welt Ländern so viel gesehen hat wie Lady Morgan, obgleich sie kaum siebzehn Jahre zählt, dichtet wie Lord Byron, schön ist wie ein Engel, und — ja also mit dieser möchte ich gern auf dem ersten Reunions=Ball tanzen, wenn ich soviel Ehre damit einzulegen hoffen dürfte, als Du. Jetzt muß ich mich schon glücklich schätzen, wenn ich ihr nur einmal in Gesellschaft ihrer Eltern auf der Promenade begegne, oder die liebenswürdige Familie Abends beim Thee zu Hause finde. Diese lebt hier noch ziemlich isolirt, sieht und besucht, einige Königinnen, Souveraine und Prinzessinnen ausgenommen, wenig Leute, was mir um so angenehmer ist, da der kleine Cirkel desto mehr Raum zur Bewunderung der lieblichen Töchter bietet. Auch eine schöne und geistreiche Landsmännin, die sich mit der Familie früher in Italien liirt hat, bringt gewöhnlich mit ihrem kunsterfahrnen Gemahl, einem Sprößling unsres Herrscherhauses, ihre Abende hier zu. Musik spielt meistens die Hauptrolle, denn alle drei junge Damen, so wie Graf J….m sind Virtuosen auf dem Fortepiano, eine wahrhaft seltne Vereinigung in einem so kleinen Cirkel. Heute spielte jedoch der Bräutigam der ältesten Tochter mit dieser Patience, und die Jüngere las uns aus ihren Gedichten vor. Ich schrieb die Uebersetzung des einen, in schlichte Prosa schnell in meine Schreibtafel. Hier ist sie, abermals ins poetische Gewand gehüllt, denn die Gefühle eines so schönen jungen Mädchens sind immer interessant zu verfolgen. Der Gegenstand ist wahrlich oft genug besungen worden, und desto mehr Verdienst liegt darin, ihm eine neue Seite abgewonnen zu haben. — Da aber meine eignen Knittelverse so hölzern sind, daß selbst der ehrliche, gute, leider nun auch selige Neumann sie nicht vertragen konnte, so benutzte ich die Anwesenheit eines berühmten Dichters, um sie mir von ihm machen zu lassen. *)
[Fußnote:] *) Wir bitten daher die Herren Recensenten sehr, gehörigen Respect vor dieser hohen Autorität zu zeigen.
Anmerk. d. geh. Titul. Gesellschaft.
Phantasie an den Mond.
Schau in den Mond, wie er so glänzend schifft
Im blauen Himmelsmeer, so frisch bethaut ;
O sage mir, erweckt er Dir nicht laut —
Lautredend wie im Traum : vergangner Tage
Holdselig Flüstern und holdsel’ge Klage,
So leise auch sein stilles Licht Dich trifft !
Bringt er Dir zaudernd nicht zurück
Die Geister all‘ der süßen Stunden,
Wo froher Sinn und Jugendglück,
Die Genien, segnend Dich umwunden ;
Wo Dich der treue Freund beglückte,
Dir der Geliebt‘ am Herzen lag,
Wo Freude lächelnd Dir den Tag
Vom Morgen bis zum Abend schmückte —
Ach damals, da auch glänzte Dir
Des Mondes heitres Angesicht,
Doch sein Gestrahl nur that es nicht —
Es war der Abglanz auch von Dir!Und bringt er Dir, und jetzt zum Glück,
Nicht auch Gedanken klar zurück
Aus Zeiten, die Dir längst verflossen,
Wo Deine Seele — wie ein Sarg —
Ein schwarzer Trauerschleier barg,
Wo heiße Thränen — eine Fluth ! —
Aus Deinen Augen sich ergossen,
Vom lautlos Dir vergangnen Muth …
Von der Verzweiflung bittrem Schweigen,
Vom tiefsten Schmerz die tiefsten Zeugen !
Ach, dann, dann schien er Dir ein Freund,
Der treu und redlich mit Dir weint‘
Und mitleidsvoll von Deinem Gram
Auf sich die schwerste Hälfte nahm.
Ja dieses Zaubers Heimlichkeit,
Birgt die Natur, hält ihn bereit :
Den Glücklichen umglänzt sie froh,
Und mit dem Bangen weint sie so!
Und ob in Freude nun Dein Herz sich hülle,
Ob sich die Welt für Dich mit Lieden fülle,
So zieht doch die Natur aus Deinen Schranken
Dir immerdar den wechselnden Gedanken
Zu sich empor in ihre höhern Sphären,
Um ihn im reinsten Lichte zu verklären ;
Und bleibt Dir keine Freud‘ auf Erden mehr,
Schau‘ in den Mond ! — Schau‘ in der Sterne Heer !
Sie zieh’n gen Himmel Dich mit Geisterhand
Ins selige, in’s stets Dir offne Land !Ist es nicht zu bedauern, daß Badebekanntschaften so flüchtig sind! In wenig Tagen geht die holde Dichterin mit den Ihrigen dahin, ich einsamer Wanderer dorthin, und nie vielleicht hören wir wieder von einander. Demohngeachtet werde ich mich dieser interessanten und wahrhaft liebenswürdigen Engländer, (deren Zahl eben nicht allzu reichlich ist,) wahrscheinlich länger erinnern als sie sich meiner.
Bilder:
- Hotel Imperial: Anti-Stress-Programm Imperial;
- Hanyl: Karlsbad, 2017;
- Harald Bulling: Karlsbad, 10. April 2017;
- Tschechien Tourismus Portal: Region Karlsbad: Karlovy Vary, Eger und die Burg Loket;
- Whisper of Your Heart: Karlovy Vary, 24. Juli 2017
- und mein Liebling: Kaugummi-Automaten: Karlsbad // Hauptstraße, 2019.
Soundtrack: Audrey Hepburn für Henry Mancini: Moon River,
aus: Breakfast at Tiffany’s, 1961, via Everything Audrey:
Filetstück 0003, 3 von 3: Sei nur vor allen Dingen jung! Denn ohne Blüte keine Frucht (Halle und Heidelberg)
Update zu Damit du siehst, wie leicht sich’s leben läßt,
Filetstück 0003, 1 von 3: Europamüde vor Langerweile (Vorwort)
und Filetstück 0003, 2 von 3: Der Adel überhaupt aber zerfiel damals in drei sehr verschiedene Hauptrichtungen (Der Adel und die Revolution):
Der geplante erste Teil von Eichendorffs Memoiren Der Adel und die Revolution wurde von seinem Sohn, zugleich Herausgeber politisch unverfänglicher zu Deutsches Adelsleben am Schlusse des vorigen Jahrhunderts verglimpft. Zur sonstigen Motivation und Anordnung des Fragments siehe den ersten Teil des dreiteiligen „Filetstücks“.
Formale und inhaltliche Anlage sowie Eichendorffs besondere Absicht seiner Memoiren schließen unter anderem ein, dass er bei unserem ungeliebten Schulstoff live dabeigewesen ist. Zum Beispiel mit Arnim & Brentano in der Kneipe gesessen.
——— Joseph von Eichendorff:
Erlebtes
1857, gedruckt posthum in Hermann von Eichendorff, Hrsg.:
Aus dem literarischen Nachlasse Joseph Freiherrn von Eichendorffs, Paderborn 1866,
als Erlebtes. Deutsches Adelsleben am Schlusse des vorigen Jahrhunderts; Halle und Heidelberg:
II. Halle und Heidelberg
Das vorige Jahrhundert wird mit Recht als das Zeitalter der Geisterrevolution bezeichnet. Allein damals wurden nur erst Parole und Feldgeschrei ausgeteilt, es war nur der erste Ausbruch des großen Kampfes, der sich unter wechselnden Evolutionen an das neunzehnte Jahrhundert vererbt hat, und noch bis heute nicht ausgefochten ist. Die deutschen Universitäten aber sind die Werbeplätze und Übungslager dieses von Generation zu Generation sich erneuernden Kriegsheeres. Von Wittenberg ging einst die Reformation aus, von Halle Wolffsche Lehre, von Königsberg die Kantsche, von Jena die die Fichtesche und Schellingsche Philosophie; lauter unsichtbare Gedankenkatastrophen, die einen wesentlichen und entscheidenderen Einfluß auf das Gesamtleben ausgeübt haben, als sich die Staatskünstler träumen ließen.
Bekanntlich ist unser Jahrhundert unter dem Gestirn der Aufklärung geboren. Kant hatte soeben die philosophische Arbeit seiner Vorgänger streng geordnet und, da er dieselbe in seiner großartigen Wahrheitsliebe für das Ganze als unzureichend erkannte, die Welt lieber sogleich in zwei Provinzen geteilt: in die durch menschliche Erfahrung wahrnehmbare, die er sich glorreich erobert, und in die terra incognita des Unsichtbaren, die er mit der nur dem Genie eigenen heiligen Scheu auf sich beruhen ließ. Seine Schüler aber wollten klüger sein als der Meister und alles aufklären; eine Art chinesischer Schönmalerei ohne allen Schatten, der doch das Bild erst wahrhaft lebendig macht. Sie setzten daher nun ihren lichtseligen Verstand ganz allgemein als alleinigen Weltbeherrscher ein; es sollte fortan nur noch einen Vernunftstaat, nur Vernunftreligion, Vernunftpoesie usw. geben. Da jedoch jene zweite dunkle Provinz höchst unvernünftig mit ihrer Phantasie, mit ihrem Glauben, ihren Volksgefühlen und Traditionen gegen dieses unerhörte Regiment zu rebellieren unternahm, so machten sie sich’s bequem, indem sie das Geheimnisvolle und Unerforschliche, das sich durch das ganze menschliche Dasein hindurchzieht, ohne weiteres als störend und überflüssig negierten. Kein Wunder demnach, daß das deutsche Leben und das deutsche Reich, das grade auf diesen unsichtbaren Fundamenten vorzugsweise geruht, sich nun nach allen Seiten hin bedenklich senkte und zuletzt so lebensgefährliche Risse bekam, daß es von Polizei wegen abgetragen werden mußte. Und so war denn in der Tat der ganze alte Bau schon im Anfange unseres Jahrhunderts in sich zusammengebrochen; der Sturm der Französischen Revolution und der nachfolgenden Fremdherrschaft hat nur den unnützen Schutt auseinandergefegt.
Allein auf freiem Felde können dauernd nur Wilde wohnen, über die man sich bei aller Naturvergötterung doch so unendlich erhaben fühlte. Das begriffen alle, und so entstand damals sofort ein unerhörtes Treiben, Klopfen, Hämmern und Richten, als wäre alle Welt plötzlich Freimaurer geworden. Aber der Neubau förderte nicht, weil sie über Fundament, Grund- und Aufriß fortwährend untereinander zankten. Am geschäftigsten und vergnügtesten nämlich zeigten sich zunächst die alten zähen Enzyklopädisten, die jetzt auf dem völlig kahlgefegten Bauplatze endlich ganz freie Hand hatten. Diese wußten wirklich nicht, daß seit Erschaffung der Erde schon mancherlei Bemerkenswertes darauf sich zugetragen; sie wollten daher schlechterdings die Welt ganz von neuem anfangen und abstrakt konstruieren. Als Material hierzu trockneten sie vorerst alle Seelenkräfte auf, um sie in ihren philosophischen Herbarien gehörig zu klassifizieren, und daraus gingen damals die zahllosen neuen Gesetzbücher mit ihren Urrechten und Menschenveredelungen hervor. Sie waren, was sie freilich am wenigsten sein wollten, eigentlich gutmütige Phantasten, wie ja jederzeit grade bei den Nüchternsten das bißchen defekte Phantasie am häufigsten überschnappt, welches der gesunden nicht leicht begegnet. Es ist hiernach auch sehr begreiflich, daß in dieser alles verwischenden Gleichmacherei ohne Nationalität und Geschichte ein kühner Geist, wie Napoleon, den Gedanken einer ganz gleichförmigen europäischen Universalmonarchie fassen konnte.
Aber diesen Transzendentalen gegenüber oder vielmehr direkt entgegen arbeiteten gleichzeitig ganz andere Bauleute: die Freischar der Romantiker, die in Religion, Haus und Staat auf die Vergangenheit wieder zurückgingen; also eigentlich die historische Schule. Das deutsche Leben sollte aus seinen verschütteten geheimnisvollen Wurzeln wieder frisch ausschlagen, das ewig Alte und Neue wieder zu Bewußtsein und Ehren kommen. – Da jedoch beide Parteien einander keineswegs hinreichend gewachsen waren, so nahm bei solchem Stoß und Gegenstoß späterhin die ganze Sache eine diagonale Richtung. Es entstand die aus beiden widerstrebenden Elementen wunderlich komponierte moderne Vaterländerei; ein imaginäres Deutschland, das weder recht vernünftig, noch recht historisch war.
Alle diese verschiedenen Richtungen waren natürlich vorzugsweise und in möglichster Konzentration auch auf den deutschen Universitäten repräsentiert. Namentlich in dem ersten Dezennium unseres Jahrhunderts bildeten dort die obenerwähnten Abstrakten, meist halbverkommene Kantianer, durchaus noch die tonangebende Majorität. Die Philosophen setzten in ihrer Logik, wie wenn man beim Lesen erst wieder buchstabieren sollte, umständlich auseinander, was sich ganz von selbst verstand; die Theologen lehrten eine elegante Aufklärungsreligion; die Juristen ein sogenanntes Naturrecht, das nirgends galt und niemals gelten konnte. Nur etwa die Lehrer des römischen Rechts machten hie und da eine auffallende Ausnahme, weil der Gegenstand sie zwang, sich in das Positive einer großartigen Vergangenheit zu vertiefen. Es ist bekannt, wie Bedeutendes Thibaut auf diesem Felde geleistet und wie der mild-ernste Savigny, der überdies niemals in dieser Reihe gestanden, grade damals sich überall neue Bahnen gebrochen hat. Jene halbinvaliden und philosophischen Handwerker dagegen, da sie an sich so wenig Anziehungskraft besaßen, suchten nun mit allerlei schlauen Kunststücken zu werben; die Derbsten unter ihnen durch zum Teil sehr schmutzige Witze und Späße, die alljährlich bei demselben Paragraphen wiederkehrten; die vornehmeren, zumal wenn sie heiratslustige Töchter hatten, durch intime Soireen und Plaudertees, um die bärtigen Burschen zu zivilisieren. Und das gelang auch ganz vortrefflich, denn zu ihnen hielt in der Tat bei weitem die Mehrzahl der jungen Leute, nämlich alle die unsterblichen Bettelstudenten, wie man sie billigerweise nennen sollte, da sie bloß auf Brot studieren. Es war wahrhaft rührend anzusehen, wie da in den überfüllten Auditorien in der schwülen Atmosphäre der entsetzlichsten Langenweile Lehrer und Schüler um die Wette verzweiflungsvoll mit dem Schlummer rangen, und dennoch überall die Federn unermüdlich fortschwirrten, um die verschlafene Wissenschaft zu Papier zu bringen und in sauberen Heften gewissenhaft heimzutragen.
Allein nebenher ging auch noch ein anderer geharnischter Geist durch diese Universitäten. Sie hatten vom Mittelalter noch ein gut Stück Romantik ererbt, was freilich in der veränderten Welt wunderlich und seltsam genug, fast wie Don Quijote, sich ausnahm. Der durchgreifende Grundgedanke war dennoch ein kerngesunder: der Gegensatz von Ritter und Philister. Stets schlagfertige Tapferkeit war die Kardinaltugend des Studenten, die Muse, die er oft gar nicht kannte, war seine Dame, der Philister der tausendköpfige Drache, der sie schmählich gebunden hielt, und gegen den er daher, wie der Malteser gegen die Ungläubigen, mit Faust, List und Spott beständig zu Felde lag; denn die Jugend kapituliert nicht und kennt noch keine Konzessionen. Und gleichwie überall grade unter Verwandten – weil sie durch gleichartige Gewohnheiten und Prätensionen einander wechselseitig in den Weg treten – oft die grimmigste Feindschaft ausbricht, so wurde auch hier aller Philisterhaß ganz besonders auf die Handwerksburschen (Knoten) gerichtet. Wo diese etwa auf dem sogenannten breiten Steine (dem bescheidenen Vorläufer des jetzigen Trottoirs) sich betreten ließen, oder gar Studentenlieder anzustimmen wagten, wurden sie sofort in die Flucht geschlagen. Waren sie aber vielleicht in allzu bedeutender Mehrzahl, so erscholl das allgemeine Feldgeschrei: „Burschen heraus!“ Da stürzten, ohne nach Grund und Veranlassung zu fragen, halbentkleidete Studenten mit Rapieren und Knütteln aus allen Türen, durch den herbeieilenden Sukkurs des nicht minder rauflustigen Gegenparts wuchs das improvisierte Handgemenge von Schritt zu Schritt, dichte Staubwirbel verhüllten Freund und Feind, die Hunde bellten, die Häscher warfen ihre Bleistifte (mit Fangeisen versehene Stangen) in den verwickelten Knäuel; so wälzte sich der Kampf oft mitten in der Nacht durch Straßen und Gäßchen fort, daß überall Schlafmützen erschrocken aus den Fenstern fuhren und hie und da wohl auch ein gelocktes Mädchenköpfchen in scheuer Neugier hinter den Scheiben sichtbar wurde.
Die damaligen Universitäten hatten überhaupt noch ein durchaus fremdes Aussehen, als lägen sie außer der Welt. Man konnte kaum etwas Malerischeres sehen, als diese phantastischen Studententrachten, ihre sangreichen Wanderzüge in der Umgebung, die nächtlichen Ständchen unter den Fenstern imaginärer Liebchen; dazu das beständige Klirren von Sporen und Rapieren auf allen Straßen, die schönen jugendlichen Gestalten zu Roß, und alles bewaffnet und kampfbereit wie ein lustiges Kriegslager oder ein permanenter Mummenschanz. Alles dies aber kam erst zu rechter Blüte und Bedeutsamkeit, wo die Natur, die ewig jung, auch am getreusten zu der Jugend hält, selber mitdichtend studieren half. Wo, wie z.B. in Heidelberg, der Waldhauch von den Bergen erfrischend durch die Straßen ging und nachts die Brunnen auf den stillen Plätzen rauschten, und in dem Blütenmeer der Gärten rings die Nachtigallen schlugen, mitten zwischen Burgen und Erinnerungen einer großen Vergangenheit; da atmete auch der Student freier auf und schämte vor der ernsten Sagenwelt sich der kleinlichen Brotjägerei und der kindischen Brutalität. Wie großartig im Vergleich mit anderen Studentengelagen war namentlich der Heidelberger Kommers, hoch über der Stadt auf der Altane des halbverfallenen Burgschlosses, wenn rings die Täler abendlich versunken, und von dem Schlosse nun der Widerschein der Fackeln die Stadt, den Neckar und die drauf hingleitenden Nachen beleuchtete, die freudigen Burschenlieder dann wie ein Frühlingsgruß durch die träumerische Stille hinzogen und Wald und Neckar wunderbar mitsangen. – So war das ganze Studentenwesen eigentlich ein wildschönes Märchen, dem gegenüber die übrige Menschheit, die altklug den Maßstab des gewöhnlichen Lebens daran legte, notwendig, wie Sancho Pansa neben Don Quijote, philisterhaft und lächerlich erscheinen mußte.
In jener Zeit brütete äußerlich noch ein unheimlicher Frieden über Deutschland, aber die prophetischen Gedanken, die den Krieg bedeuten, arbeiteten gebunden in jeder Brust, und suchten sich überall in wunderlichen Geheimbünden Luft zu machen. Auch auf den Universitäten bestanden dergleichen Ordensverbindungen, noch ohne speziell politischen Beischmack, bloß auf allgemeine humanistische Zwecke gerichtet, mit allerlei abenteuerlichen Symbolen, furchtbaren Eiden und rasselndem Heldenschmuck, wie man es damals in den vielen Ritterromanen fand. Bestand auch ihr Hauptreiz eben nur in ihrer Heimlichkeit, die Sache war doch ehrlich, bitterernst und für die ganze Lebenszeit gemeint. Als aber jene humanistischen Ideen nach und nach abgenutzt, und alle Lebensverhältnisse immer matter wurden, da trat auch hier an die Stelle der strengen Orden die laxere Observanz der Landsmannschaften. Wie man draußen in der Philisterwelt nun mit dem Anstand statt der Tugend sich begnügte, so gingen auch diese Landsmannschaften eigentlich nur auf den Schein des Seins, auf den bloßen „Komment“. Gegen eine nähere Verbrüderung der speziellen Landsleute, obgleich im allgemeinen beengend und einseitig, ließ sich im Grunde nicht viel einwenden. Allein dies war nicht einmal der Fall bei ihnen, sie warben eifersüchtig auch aus anderen Provinzen und verfolgten die eigenen Landsleute, wenn sie sich ihrem Zwange nicht unterwerfen mochten. Und da mithin hier die rechte sittliche Grundlage fehlte, dieses Treiben vielmehr, wie schon der selbstgewählte fade Name „Kränzchen“ andeutet, sich lediglich auf der Oberfläche geselliger Verhältnisse bewegte; so artete das Ganze sehr bald in bloßes Dekorationswesen, in ein pedantisches Systematisieren der Jugendlust aus; Mut, Fröhlichkeit, Tracht, Trinken, Singen, alles hatte seine handwerksmäßige Tabulatur, das unwürdige Prellen und Pressen der „Füchse“ war ein löbliches Geschäft, Sittenlosigkeit und affektierte Roheit eine besondere Auszeichnung, und es ist hiernach leicht erklärlich, daß grade ihre Matadore im späteren Leben oft die stattlichsten Philister wurden. Mit der inneren Hohlheit aber wuchs die Prätension, sie knechteten die akademische Freiheit, indem jeder nur auf ihre Weise frei sein sollte, und so währte noch langehin ein gewaltiges Ringen zwischen ihnen und den alternden Orden; ein Kampf, der in einzelnen Fällen mit einer heroischen Aufopferung geführt wurde, die wohl eines größeren Zieles würdig gewesen wäre. So faßte z.B. einst ein hervorragendes Ordensmitglied den kühnen Gedanken sich unerkannt mitten in das feindliche Lager zu begeben, um durch Überredung, Rat und Tat die Gegenpartei zu den Seinigen herüberzuführen. Er hatte sich auch wirklich bereits zum Senior einer Landsmannschaft heraufgeschwungen, und der abenteuerliche Plan wäre fast geglückt, als feiger Verrat alles zu früh aufdeckte, und er nun in zahllosen Zweikämpfen sich durch sämtliche Landsmannschaften wieder herausschlagen mußte, was allerdings ein Kampf auf Tod und Leben war. Das mag uns in gesetzteren Jahren jetzt unnütz und kindisch erscheinen; es war aber immerhin eine Vorschule bedeutender Charaktere, die, wie wir wissen, zur Zeit der Not und als es höhere Dinge galt, sich als tüchtig bewährt haben.
So war in der Tat auf den Universitäten eine gewisse mittelalterliche Ritterlichkeit niemals völlig ausgegangen und selbst in jener Verzerrung und Profanation noch erkennbar. Unter allen diesen Jünglingen aber bildeten die eigentlichen, die literarischen Romantiker wiederum eine ganz besondere Sekte. – Die allgemeine Stimmung oder vielmehr Verstimmung war schon seit langer Zeit so prosaisch geworden, daß jeder romantische Anflug für ein Sakrilegium gegen den gesunden Menschenverstand gehalten und höchstens als ein barocker Jugendstreich noch toleriert wurde. Der schwere Proviantwagen der Brotwissenschaften bewegte sich langsam in dem hergebrachten Geleise eines hölzernen Schematismus, die Religion mußte Vernunft annehmen und beim Rationalismus in die Schule gehn, die Natur wurde atomistisch wie ein toter Leichnam zerlegt, die Philologie vergnügte sich gleich einem kindisch gewordenen Greise mit Silbenstechen und endlosen Variationen über ein Thema, das sie längst vergessen, die bildende Kunst endlich brüstete sich mit einer sklavischen Nachahmung der sogenannten Natur. Die Kraftgenies in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hatten durch ihre Übertreibung und lärmende Renommisterei das Übel eigentlich nur noch schlimmer und unheilbarer gemacht, indem sie in vollem Burschenwichs ohne weiteres aus der Universität in die Welt hinaussprengten und Leben und Literatur burschikos einrichten wollten, was natürlicherweise einen allgemeinen Landsturm der Gelehrten gegen die Freibeuter auf die Beine brachte. Zwar hatten Lessing, Hamann und Herder nach den verschiedensten Richtungen hin schon Blitze und Leuchtkugeln dazwischengeschleudert. Allein Lessings kritische Blitze waren nur kalte Schläge, und da sie nicht zündeten, meinte jeder, es gelte den Nachbar, und hielt ihn getrost für den Seinigen. Herder dagegen trug aus aller Welt herrliche Bausteine zusammen, als es aber ans Bauen kam, war er inzwischen alt und müde geworden, sein Leben und Wirken blieb ein großartiges Fragment; und Hamanns Geisterstimme verklang unverstanden in den Wolken. Auch in der Poesie hatten Goethe und Schiller bereits den neuen Tag angebrochen, aber sie hatten noch keine Gemeinde. Das Wetterleuchten dieser Genien, obgleich den Frühling andeutend und vorbereitend, blendete und erschreckte vielmehr im ersten Augenblick die Menge; man hörte überall die Sturmglocken gehn, niemand aber wußte, ob und wo es brennt, die einen wollten löschen, die anderen schüren, und so entstand die allgemeine Konfusion, womit das neunzehnte Jahrhundert debütierte.
Da standen unerwartet und fast gleichzeitig mehrere gewaltige Geister in bisher ganz unerhörter Rüstung auf: Schelling, Novalis, die Schlegels, Görres, Steffens und Tieck. Schelling mit seiner kleinen Schrift über das akademische Studium, worin er den geheimnisvollen Zusammenhang in den Erscheinungen der Natur sowie in den Wissenschaften andeutete, warf den ersten Feuerbrand in die Jugend; gleich darauf suchten andere diese pulsierende Weltseele in den einzelnen Doktrinen nachzuweisen: Werner in der Geologie, Creuzer im Altertum und dessen Götterlehre, Novalis in der Poesie. Es war, als sei überall, ohne Verabredung und sichtbaren Verein, eine Verschwörung der Gelehrten ausgebrochen, die auf einmal eine ganz neue wunderbare Welt aufdeckte.
Am auffallendsten wohl zeigte sich die Verwirrung, welche diese plötzliche Revolution anrichtete, auf der damals frequentesten Universität: in Halle, weil dort das heterogenste Material auch den entschiedensten Kampf provozierte. Hier trennte sich alles in zwei Hauptlager: in das stabile der Halbinvaliden, und das bewegliche des neuen Freikorps, während das letztere wieder in mehrere verschiedenartige Gruppen zerfiel, welche aber von der Jugend, die noch nicht so ängstlich sondert, unter den Begriff der Romantik zusammengefaßt wurden. An der Spitze der Romantiker stand Steffens. Jung, schlank, von edler Gesichtsbildung und feurigem Auge, in begeisterter Rede kühn und wunderbar mit der ihm noch fremden Sprache ringend, so war seine Persönlichkeit selbst schon eine romantische Erscheinung, und zum Führer einer begeisterungsfähigen Jugend vorzüglich geeignet. Sein freier Vortrag hatte durchaus etwas Hinreißendes durch die dichterische Improvisation, womit er in allen Erscheinungen des Lebens die verhüllte Poesie mehr divinierte, als wirklich nachwies. Am unmittelbarsten mußte diese Naturphilosophie begreiflicherweise die Mediziner berühren, unter denen die besseren Köpfe sich jetzt von der bisherigen Empirie zu dem ritterlichen Reil und zu Froriep wandten, die überall auf das geheimnisvolle Walten höherer Naturkräfte hindeuteten. – Eine andere Gruppe wieder bildeten die jungen Theologen, welche sich um Schleiermacher scharten. Dieser merkwürdig komponierte Geist schien, seiner ursprünglichen stachelichten Anlage nach zum Antipoden der Romantik geeignet; und doch hielt er wacker zu ihr, und hat auf demselben platonischen Wege der Theologie, die damals zum Teil in toten Formeln, zum Teil in fader Erfahrungsseelenlehre sich erging, wieder Gemüt erobert; eine Art von geharnischtem Pietismus, der mit scharfer Dialektik alle Sentimentalität männlich zurückwies. – Am entferntesten wären vielleicht die Philologen geblieben, hätte nicht Wolf, obgleich persönlich nichts weniger als Romantiker, hier wider Wissen und Willen die Vermittelung übernommen durch den divinatorischen Geist, womit er das ganze Altertum wieder lebendig zu machen wußte, sowie durch eine geniale Humoristik und den schneidenden Witz, mit dem der stets Streitlustige gegen Schütz und andere, welche die Alten noch immer mumienhaft einzubalsamieren fortfuhren, fast in dramatischer Weise beständig zu Felde lag. – Zwischen diese Gruppen klemmte sich endlich noch eine ganz besondere Spezies von Philosophen herein, die den unmöglichen Versuch machte, die Kantsche Lehre ins Romantische zu übersetzen. Hierher gehörte Professor Kayßler, ein ehemaliger katholischer Priester, der geheiratet, und nun, gleichsam zur Rechtfertigung dieses abenteuerlichen Schrittes, sich eine noch abenteuerlichere Philosophie erfunden hatte. Er hatte es indes als doppelter Renegat mit den Kantianern wie mit den Romantikern verdorben; seine trockenen, abstrusen Vorträge fanden fast nur unter seinen schlesischen Landsleuten geringen Anklang, und wir wollten ihn hier bloß nennen, um das Bild der damaligen elementarischen Gärung möglichst zu vervollständigen. – Gegenüber allen diesen neuen Bestrebungen lag aber die breite schwere Masse der Kantschen Orthodoxen und der Stockjuristen, sämtlich von dem wohlfeilen Kunststück vor nehmen Ignorierens fleißig Gebrauch machend; unter den letzteren einerseits Schmaltz, der nachherige Geheimrat der Demagogenjäger, der die Kantsche Philosophie, die er vor kurzem sich in Königsberg geholt, auf seine faselige Weise elegant zu machen suchte; andrerseits Dabelow, König, Woltaer u.a., die von der Philosophie überhaupt nichts wußten.
Übrigens stand Halle, so unfreundlich auch die Stadt und ein großer Teil ihrer Umgebung ist, in jener Zeit noch in mancherlei lokalem Rapport mit der romantischen Stimmung. Der nahe Giebichenstein mit seiner Burgruine, an die sich die Sage von Ludwig dem Springer knüpft, war damals noch nicht modern englisiert und eingehegt, wie jetzt, und bot in seiner verwilderten Einsamkeit eine ganz artige Werkstatt für ein junges Dichterherz. Wer als Jüngling von dieser Höhe hinabgeblickt, und sie im Alter nach vielen Jahren wiedersieht, dem wird vielleicht dabei ungefähr zumute sein, wie dem Autor nachstehenden Liedchens:
Da steht eine Burg überm Tale
Und schaut in den Strom hinein,
Das ist die fröhliche Saale,
Das ist der Giebichenstein.Da hab ich so oft gestanden,
Es blühten Täler und Höhn,
Und seitdem in allen Landen
Sah ich nimmer die Welt so schön!Durchs Grün da Gesänge schallten,
Von Rossen, zu Lust und Streit,
Schauten viel schlanke Gestalten
Gleichwie in der Ritterzeit.Wir waren die fahrenden Ritter,
Eine Burg war noch jedes Haus,
Es schaute durchs Blumengitter
Manch schönes Fräulein heraus.Das Fräulein ist alt geworden,
Und unter Philistern umher
Zerstreut ist der Ritterorden,
Kennt keiner den andern mehr.Auf dem verfallenen Schlosse,
Wie der Burggeist, halb im Traum,
Steh ich jetzt ohne Genossen
Und kenne die Gegend kaum.Und Lieder und Lust und Schmerzen,
Wie liegen sie nun so weit –
Jugend, wie tut im Herzen
Mir deine Schönheit so leid.Völlig mystisch dagegen erschien gar vielen der am Giebichenstein belegene Reichhardsche Garten mit seinen geistreichen und schönen Töchtern, von denen die eine Goethesche Lieder komponierte, die andere sogar Steffens‘ Braut war. Dort aus den geheimnisvollen Bosketts schallten oft in lauen Sommernächten, wie von einer unnahbaren Zauberinsel, Gesang und Gitarrenklänge herüber; und wie mancher junge Poet blickte da vergeblich durch das Gittertor, oder saß auf der Gartenmauer zwischen den blühenden Zweigen die halbe Nacht, künftige Romane vorausträumend. – Nicht allzu fern davon aber, um auch in dieser Beziehung die Gegensätze zu vervollständigen, bewohnte Lafontaine ein idyllisches Landhaus. Man erzählte von ihm, daß er selbst an seinen schlechten Romanen eigentlich am wenigsten schuld sei, daß ihn vielmehr seine Verleger von Zeit zu Zeit nach Berlin verlockten und dort so lange gleichsam eingesperrt hielten, bis er einen neuen dicken Roman fertig gemacht; was er denn, um nur wieder freizukommen, jedesmal mit unglaublicher Geschwindigkeit besorgt habe. Und hiemit stimmte in der Tat auch seine ganze äußere Erscheinung. Es war ein bequemer, freundlicher, lebensfroher Mann, der jetzt, da die Zeit seine Sentimentalität quiesziert hatte, sich getrost auf das Übersetzen alter Klassiker verlegte, und wie ein harmloser Revenant unter der verwandelten Generation umherging.
Von nicht geringer Bedeutsamkeit war auch die Nähe von Lauchstädt, wo die Weimarschen Schauspieler während der Badesaison Vorstellungen gaben. Diese Truppe war damals in der Tat ein merkwürdiges Phänomen, und hatte unter Goethes und Schillers persönlicher Leitung wirklich erreicht, was späterhin andere, z.B. Immermann in Düsseldorf, vergeblich anstrebten, nämlich das Theater zu einer höheren Kunstanstalt und poetischen Schule des Publikums emporzuheben. Sie hatten allerdings, und wir möchten fast hinzufügen: glücklicherweise, keine eminent hervorragenden Talente, die durch das Hervortreten einer übermächtigen Persönlichkeit so oft die Harmonie des Ganzen mehr stören als fördern, gleichwie die sogenannten schönen Stellen noch lange kein Gedicht machen. Aber sie hatten, was damals überall fehlte, ein künstlerisches Zusammenspiel. Denn eben jener höhere Aufschwung der waltenden Intentionen hob alle gleichmäßig über das Gewöhnliche und schloß das Gemeine oder Mittelmäßige von selbst aus; jeder hatte ein intimeres Verständnis seiner Kunst und seiner jedesmaligen Aufgabe, und ging daher mit Lust und Begeisterung ans Werk. Und so durften sie wagen, was den berühmtesten Hoftheatern bei unverhältmäßig größeren Kräften damals noch gar nicht in den Sinn kam. Mitten in der allgemeinen Misere der Kotzebueaden und Iffländerei eroberten sie sich kühn ganz neue Provinzen; gleichsam die Tragweite der Kunstwerke und des Publikums nach allen Seiten hin prüfend, brachten sie Calderon auf die Bühne, gaben den „Alarcos“ und den „Jon“ der Schlegel, Brentanos „Ponce de Leon“ usw. – Man kann leicht denken, wie sehr dieses Verfahren grade das empfänglichste und dankbarste Publikum der Studenten enthusiasmieren mußte. Die Komödienzettel kamen des Morgens schon, gleich Götterboten, nach Halle herüber, und wurden, wie später etwa die politischen Zeitungen und Kriegsbulletins, beim „Kuchenprofessor“ eifrigst studiert. War nun eines jener literarischen Meteore oder ein Stück von Goethe oder Schiller angekündigt, so begann sofort eine wahre Völkerwanderung zu Pferde, zu Fuß, oder in einspännigen Kabrioletts, nicht selten einer großen Retirade mit lahmen Gäulen und umgeworfenen Wägen vergleichbar; niemand wollte zurückbleiben, die Reicheren griffen den Unbemittelten mit Entree und sonstiger Ausrüstung willig unter die Arme, denn die Sache wurde ganz richtig als eine Nationalangelegenheit betrachtet. In Lauchstädt selbst aber konnte man, wenn es sich glücklich fügte, Goethe und Schiller oft leibhaftig erblicken, als ob die olympischen Götter wieder unter den Sterblichen umherwandelten. Und außerdem gab es dort auch vor und nach der Theatervorstellung, in der großen Promenade noch eine kleine Weltkomödie, in welcher, wenigstens in den Augen der jüngeren Damen, die Studenten selbst die Heldenrollen spielten. Diese fühlten sich hier überhaupt wahrhaft als Musensöhne, es war ihnen zumute, als sei dies alles eigentlich nur ihretwegen veranstaltet, und sie hatten im Grunde recht, da sie vor allen andern das rechte Herz dazu mitbrachten.
Dieses althallesche Leben aber wurde im Jahre 1806 beim Zusammensturz der preußischen Monarchie unter ihren Trümmern mit begraben. Die Studenten hatten unzweideutig Miene gemacht, sich in ein bewaffnetes Freikorps zusammenzutun. Napoleon, dem hier zum ersten Male ein Symptom ernsteren Volkswillens gleichsam prophetisch warnend entgegentrat, hob daher zornentbrannt die Universität auf, die Studenten wurden mit unerhörtem Vandalismus plötzlich und unter großem Wehgeschrei der Bürger nach allen Weltgegenden auseinandergetrieben und mußten, ausgeplündert und zum Teil selbst der nötigen Kleidungsstücke beraubt, sich einzeln nach Hause betteln. – Wunderbarer Gang der Weltgerichte! Dieselben vom übermütigen Sieger in den Staub getretenen Jünglinge sollten einst siegreich in Paris einziehen.
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Der Geist einer bestimmten Bildungsphase läßt sich nicht aufheben, wie eine Universität. Was wir vorhin als das Charakteristische jener Periode bezeichnet: die Opposition der jungen Romantik gegen die alte Prosa war keineswegs auf Halle beschränkt, sondern ging wie ein unsichtbarer Frühlingssturm allmählich wachsend durch ganz Deutschland. Insbesondere aber gab es dazumal in Heidelberg einen tiefen, nachhaltenden Klang. Heidelberg ist selbst eine prächtige Romantik; da umschlingt der Frühling Haus und Hof und alles Gewöhnliche mit Reben und Blumen, und erzählen Burgen und Wälder ein wunderbares Märchen der Vorzeit, als gäb es nichts Gemeines auf der Welt. Solch gewaltige Szenerie konnte zu allen Zeiten nicht verfehlen, die Stimmung der Jugend zu erhöhen und von den Fesseln eines pedantischen Komments zu befrein; die Studenten tranken leichten Wein anstatt des schweren Bieres, und waren fröhlicher und gesitteter zugleich als in Halle. Aber es trat grade damals in Heidelberg noch eine ganz besondere Macht hinzu, um jene glückliche Stimmung zu vertiefen. Es hauste dort ein einsiedlerischer Zauberer, Himmel und Erde, Vergangenheit und Zukunft mit seinen magischen Kreisen umschreibend – das war Görres.
Es ist unglaublich, welche Gewalt dieser Mann, damals selbst noch jung und unberühmt, über alle Jugend, die irgend geistig mit ihm in Berührung kam, nach allen Richtungen hin ausübte. Und diese geheimnisvolle Gewalt lag lediglich in der Großartigkeit seines Charakters, in der wahrhaft brennenden Liebe zur Wahrheit und einem unverwüstlichen Freiheitsgefühl, womit er die einmal erkannte Wahrheit gegen offene und verkappte Feinde und falsche Freunde rücksichtslos auf Tod und Leben verteidigte; denn alles Halbe war ihm tödlich verhaßt, ja unmöglich, er wollte die ganze Wahrheit. Wenn Gott noch in unserer Zeit einzelne mit prophetischer Gabe begnadigt, so war Görres ein Prophet, in Bildern denkend und überall auf den höchsten Zinnen der wildbewegten Zeit weissagend, mahnend und züchtigend, auch darin den Propheten vergleichbar, daß das „Steiniget ihn!“ häufig genug über ihm ausgerufen wurde. Drüben in Frankreich hatte er bei den Banketten der bluttriefenden Revolution, hier in den Kongreßsälen der politischen Weltweisen las Menetekel kühn an die Wand geschrieben, und konnte sich nur durch rasche Flucht vor Kerker und Banden retten, oft monatelang arm und heimatlos umherirrend. – Seine äußere Erscheinung erinnerte einigermaßen an Steffens und war doch wieder grundverschieden. Steffens hatte bei aller Tüchtigkeit, etwas Theatralisches, während Görres, ohne es zu wollen oder auch nur zu wissen schlicht und bis zum Extrem selbst die unschuldigsten Mittel des Effekts verschmähte. Sein durchaus freier Vortrag war monoton, fast wie fernes Meeresrauschen schwellend und sinkend, aber durch dieses einförmige Gemurmel leuchteten zwei wunderbare Augen und zuckten Gedankenblitze beständig hin und wider; es war wie ein prächtiges nächtliches Gewitter, hier verhüllte Abgründe, dort neue ungeahnte Landschaften plötzlich aufdeckend, und überall gewaltig, weckend und zündend fürs ganze Leben.
Neben ihm standen zwei Freunde und Kampfgenossen: Achim von Arnim und Clemens Brentano, welche sich zur selben Zeit nach mancherlei Wanderzügen in Heidelberg niedergelassen hatten. Sie bewohnten im „Faulpelz“, einer ehrbaren aber obskuren Kneipe am Schloßberg, einen großen luftigen Saal, dessen sechs Fenster mit der Aussicht über Stadt und Land die herrlichsten Wandgemälde, das herüberfunkelnde Zifferblatt des Kirchturms ihre Stockuhr vorstellte; sonst war wenig von Pracht oder Hausgerät darin zu bemerken. Beide verhielten sich zu Görres eigentlich wie fahrende Schüler zum Meister, untereinander aber wie ein seltsames Ehepaar, wovon der ruhige mild-ernste Arnim den Mann, der ewig bewegliche Brentano den weiblichen Part machte. Arnim gehörte zu den seltenen Dichternaturen, die, wie Goethe, ihre poetische Weltansicht jederzeit von der Wirklichkeit zu sondern wissen, und daher besonnen über dem Leben stehen und dieses frei als ein Kunstwerk behandeln. Den lebhafteren Brentano dagegen riß eine übermächtige Phantasie beständig hin, die Poesie ins Leben zu mischen, was denn häufig eine Konfusion und Verwickelungen gab, aus welchen Arnim den unruhigen Freund durch Rat und Tat zu lösen hatte. Auch äußerlich zeigte sich der große Unterschied. Achim von Arnim war von hohem Wuchs und so auffallender männlicher Schönheit, daß eine geistreiche Dame einst bei seinem Anblick und Namen in das begeisterte Wortspiel: „Ach im Arm ihm“ ausbrach; während Bettina, welcher, wie sie selber sagt, eigentlich alle Menschen närrisch vorkamen, damals an ihren Bruder Clemens schrieb: „Der Arnim sieht doch königlich aus, er ist nicht in der Welt zum zweitenmal.“ – Das letztere konnte man zwar auch von Brentano, nur in ganz anderer Beziehung sagen. Während Arnims Wesen etwas wohltuend Beschwichtigendes hatte, war Brentano durchaus aufregend; jener erschien im vollsten Sinne des Worts wie ein Dichter, Brentano dagegen selber wie ein Gedicht, das, nach Art der Volkslieder, oft unbeschreiblich rührend, plötzlich und ohne sichtbaren Übergang in sein Gegenteil umschlug und sich beständig in überraschenden Sprüngen bewegte. Der Grundton war eigentlich eine tiefe, fast weiche Sentimentalität, die er aber gründlich verachtete, eine eingeborene Genialität, die er selbst keineswegs respektierte und auch von andern nicht respektiert wissen wollte. Und dieser unversöhnliche Kampf mit dem eigenen Dämon war die eigentliche Geschichte seines Lebens und Dichtens, und erzeugte in ihm jenen unbändigen Witz, der jede verborgene Narrheit der Welt instinktartig aufspürte und niemals unterlassen konnte, jedem Toren, der sich weise dünkte, die ihm gebührende Schellenkappe aufzustülpen, und sich somit überall ingrimmige Feinde zu erwecken. Klein, gewandt und südlichen Ausdrucks, mit wunderbar schönen, fast geisterhaften Augen, war er wahrhaft zauberisch, wenn er selbstkomponierte Lieder oft aus dem Stegreif zur Gitarre sang. Dies tat er am liebsten in Görres‘ einsamer Klause, wo die Freunde allabendlich einzusprechen pflegten; und man könnte schwerlich einen ergötzlicheren Gegensatz der damals florierenden ästhetischen Tees ersinnen, als diese Abendunterhaltungen, häufig ohne Licht und brauchbare Stühle, bis tief in die Nacht hinein: wie da die dreie alles Große und Bedeutende, das je die Welt bewegt hat, in ihre belebenden Kreise zogen, und mitten in dem Wetterleuchten tiefsinniger Gespräche Brentano mit seinem witzsprühenden Feuerwerk dazwischenfuhr, das dann gewöhnlich in ein schallendes Gelächter zerplatzte.
Das nächste Resultat dieser Abende war die „Einsiedlerzeitung„, welche damals Arnim und Brentano in Heidelberg herausgaben. Das selten gewordene Blatt war eigentlich ein Programm der Romantik; einerseits die Kriegserklärung an das philisterhafte Publikum, dem es feierlich gewidmet und mit dessen wohlgetroffenen Poträt es verziert war; andrerseits eine Probe- und Musterkarte der neuen Bestrebungen: Beleuchtung des vergessenen Mittelalters und seiner poetischen Meisterwerke, sowie die ersten Lieder von Uhland, Justinus Kerner u.a. Die merkwürdige Zeitung hat nicht lange gelebt, aber ihren Zweck als Leuchtkugel und Feuersignal vollkommen erfüllt. Übrigens standen ihre Verfasser in der Tat einsiedlerisch genug über dem großen Treiben und Arnim und Brentano, obgleich sie neben Tieck, die einzigen Produzenten der Romantiker waren, wurden doch von der Schule niemals als vollkommen zünftig anerkannt. Sie strebten vielmehr, die Schule, die schon damals in überkünstlichen Formen üppig zu luxurieren anfing, auf die ursprüngliche Reinheit und Einfachheit des Naturlauts zurückzuweisen. In diesem Sinne sammelten sie selbst auf ihren Fahrten und durch gleichgestimmte Studenten überall die halbverschollenen Volkslieder für „Des Knaben Wunderhorn“, das, wie einst Herders „Stimmen der Völker“, durch ganz Deutschland einen erfrischenden Klang gab.
Auch Creuzer lebte damals in Heidelberg und gehörte, wiewohl dem genannten Triumvirat persönlich ziemlich fernstehend, durch seine Bestrebungen diesem Kreise an. Seine mystische Lehre hat, z.B. später in Lobeck, sehr tüchtige Gegner gefunden, und wir wollen keineswegs in Abrede stellen, daß die phantastische Weise, womit er die alte Götterlehre als ein bloßes Symbolum christlich umzudeuten sucht, gar oft an den mittelalterlichen Neuplatonismus erinnert und am Ende zu einer gänzlichen Auflösung des Altertums führt. Allein in Kriegszeiten bedarf ein grober Feind auch eines gewaltsamen Gegenstoßes. Erwägt man, wie geistlos dazumal die Mythologie als ein bloßes Schulpensum getrieben wurde, so wird man Creuzers Tat billigerweise wenigstens als eine sehr zeitgemäße und heilsame Aufregung anerkennen müssen. – Noch zwei andere, höchst verschiedene Heidelberger Zeitgenossen dürfen hier nicht unerwähnt bleiben; wir meinen: Thibaut und Gries. In solchen Übergangsperioden ist die sanguinische Jugend gern bereit, den Spruch: „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns“ gelegentlich auch umzukehren und jeden für den Ihrigen zu nehmen, der nicht zum Gegenpart hält; und in dieser Lage befand sich Thibaut. Schon seine äußere Erscheinung mit den lang herabwallenden, damals noch dunkelen Locken, was ihm ein gewisses apostolisches Ansehen gab, noch mehr der eingeborene Widerwillen gegen alles Kleinliche und Gemeine unterschied ihn sehr fühlbar von dem Troß seiner eigentlichen Zunftgenossen, und mit seiner propagandistischen Liebe und Kenntnis von der Musik der alten tiefsinnigen Meister berührte er in der Tat den Kreis der Romantiker. – Bei weitem unmittelbarer indes wirkte Gries. Wilhelm Schlegel hatte soeben durch das dicke Gewölk verjährter Vorurteile auf das Zauberland der südlichen Poesie hingewiesen. Gries hat es uns wirklich erobert. Seine meisterhaften Übersetzungen von Ariost, Tasso und Calderons Schauspielen treffen, ohne philologische Pedanterie und Wortängstlichkeit, überall den eigentümlichen Sinn und Klang dieser Wunderwelt; sie haben den poetischen Gesichtskreis unendlich erweitert und jene glückliche Formfertigkeit erzeugt, deren sich unsere jüngeren Poeten noch bis heut erfreuen. Auch war Gries sehr geeignet, für den Ritt in das alte romantische Land Proselyten zu machen. Er verkehrte gern und viel mit den Studenten, die Abendtafel im Gasthofe „Zum Prinzen Karl“ war sein Katheder, und es war, da er sehr schwerhörig, oft wahrhaft komisch, wie da die leichten Scherze und Witze gleichsam aus der Trompete gestoßen wurden, so daß die heitere Konversation sich nicht selten wie ein heftiges Gezänke ausnahm.
Man sieht, die Romantik war dort reich vertreten. Allein sie hatte auch damals schon ihren sehr bedenklichen Afterkultus. Graf von Löben war in Heidelberg der Hohepriester dieser Winkelkirche. Der alte Goethe soll ihn einst den vorzüglichsten Dichter jener Zeit genannt haben. Und in der Tat er besaß eine ganz unglaubliche Formengewandtheit und alles äußere Rüstzeug des Dichters, aber nicht die Kraft, es gehörig zu brauchen und zu schwingen. Er hatte ein durchaus weibliches Gemüt mit unendlich feinem Gefühl für den salonmäßigen Anstand der Poesie, eine überzarte empfängliche Weichheit, die nichts Schönes selbständig gestaltete, sondern von allem Schönen wechselnd umgestaltet wurde. So durchwandelte er in seiner kurzen Lebenszeit ziemlich fast alle Zonen und Regionen der Romantik; – bald erschien er als begeisterungswütiger Seher, bald als arkadischer Schäfer, dann plötzlich wieder als aszetischer Mönch, ohne sich jemals ein eigentümliches Revier schaffen zu können. In Heidelberg war er gerade „Isidorus Orientalis“ und novalisierte, nur leider ohne den Tiefsinn und den dichterischen Verstand von Novalis. In dieser Periode entstand sein frühester Roman „Guido“, sowie die „Blätter aus dem Reisebüchlein eines andächtigen Pilgrims“; jener durch seine mystische Überschwenglichkeit, diese durch ein unkatholisches Katholisieren, ganz wider Wissen und Willen, die erstaunlichste Karikatur der Romantik darstellend. Er hatte in Heidelberg nur wenige sehr junge Jünger, die ihn gehörig bewunderten; aber die Gemeinde dieser Gleichgestimmten war damals sehr zahlreich durch ganz Deutschland verbreitet. Es wäre eine schwierige, ja fast unmögliche Aufgabe, jenes wunderliche Gewirr von Talent und Zopf, Lüge und Wahrheit mit wenigen Worten in einen Begriff zusammenzufassen; und doch ist dieses Treiben insofern von literarhistorischer Wichtigkeit, als dasselbe den schmählichen Verfall der Romantik vorzüglich verschuldet hat. Es sei uns daher lieber vergönnt, aus unserer frühesten Schrift („Ahnung und Gegenwart“) die aus dem Leben gegriffene Darstellung der damaligen Salonwirtschaft hier einzuschalten, da sie, obgleich erfunden, und doch vielleicht unmittelbarer, als eine Definition, in den Zirkel einführen dürfte.
Es ist nämlich dort von einer Soiree in der Residenz die Rede, wobei die Gesellschaft über die soeben beendigte Darstellung eines lebenden Bildes in große Bewegung geraten. „Mitten in dieser Entzückung fiel der Vorhang plötzlich wieder, das Ganze verdeckend, herab, der Kronleuchter wurde heruntergelassen und ein schnatterndes Gewühl und Lachen erfüllte auf einmal wieder den Saal. Der größte Teil der Gesellschaft brach nun von allen Sitzen auf und zerstreute sich. Nur ein kleiner Teil von Auserwählten blieb im Saale zurück. Graf Friedrich“ (der Held des Romans) „wurde währenddessen vom Minister, der auch zugegen war, bemerkt und sogleich der Frau vom Hause vorgestellt. Es war eine fast durchsichtig schlanke, schmächtige Gestalt, gleichsam im Nachsommer ihrer Blüte und Schönheit. Sie bat ihn mit so überaus sanften, leisen, lispelnden Worten, daß er Mühe hatte, sie zu verstehen, ihre künstlerische ‚Abendandachten‘, wie sie sich ausdrückte, mit seiner Gegenwart zu beehren, und sah ihn dabei mit blinzelnden, fast zugedrückten Augen an, von denen es zweifelhaft war, ob sie ausforschend, gelehrt, sanft, verliebt, oder nur interessant sein sollten.
Die Gesellschaft zog sich nun in eine kleinere Stube zusammen. Die Zimmer waren durchaus prachtvoll und im neuesten Geschmacke dekoriert, nur hin und wieder bemerkte man einige auffallende Besonderheiten und Nachlässigkeiten, unsymmetrische Spiegel, Gitarren, aufgeschlagene Musikalien und Bücher, die auf den Ottomanen zerstreut umherlagen.
Friedrich kam es vor, als hätte es der Frau von Hause vorher einige Stunden mühsamen Studiums gekostet, um in das Ganze eine gewisse unordentliche Genialität hineinzubringen.
Es hatte sich unterdes ein niedliches, etwa zehnjähriges Mädchen eingefunden, die in einer reizenden Kleidung mit langen Beinkleidern und kurzem schleiernen Röckchen darüber, keck im Zimmer herumsprang. Es war die Tochter von Hause. Ein Herr aus der Gesellschaft reichte ihr ein Tamburin, das in einer Ecke auf dem Fußboden gelegen hatte. Alle schlossen bald einen Kreis um sie, und das zierliche Mädchen tanzte mit einer wirklich bewunderungswürdigen Anmut und Geschicklichkeit, während sie das Tamburin auf mannigfache Weise schwang und berührte und ein niedliches italienisches Liedchen dazu sang. Jeder war begeistert, erschöpfte sich in Lobsprüchen und wünschte der Mutter Glück, die sehr zufrieden lächelte. Nur Friedrich schwieg still. Denn einmal war ihm schon die moderne Knabentracht bei Mädchen zuwider, ganz abscheulich aber war ihm diese gottlose Art, unschuldige Kinder durch Eitelkeit zu dressieren. Er fühlte vielmehr ein tiefes Mitleid mit der schönen kleinen Bajadere. Sein Ärger und das Lobpreisen der anderen stieg, als nachher das Wunderkind sich unter die Gesellschaft mischte, nach allen Seiten hin in fertigem Französisch schnippische Antworten erteilte, die eine Klugheit weit über ihr Alter zeigten, und überhaupt jede Unart als genial genommen wurde.
Die Damen, welche sämtlich sehr ästhetische Mienen machten, setzten sich darauf nebst mehreren Herren unter dem Vorsitz der Frau vom Hause, die mit vieler Grazie den Tee einzuschenken wußte, förmlich in Schlachtordnung und fingen an, von Ohrenschmäusen zu reden. Der Minister entfernte sich in die Nebenstube, um zu spielen. – Friedrich erstaunte, wie diese Weiber geläufig mit den neuesten Erscheinungen der Literatur umzuspringen wußten, von denen er selber manche kaum dem Namen nach kannte; wie leicht sie mit Namen herumwarfen, die er nie ohne heilige tiefe Ehrfurcht auszusprechen gewohnt war. Unter ihnen schien besonders ein junger Mann mit einer verachtenden Miene in einem gewissen Glauben und Ansehen zu stehen. Die Frauenzimmer sahen ihn beständig an, wenn es darauf ankam, ein Urteil zu sagen, und suchten in seinem Gesichte seinen Beifall oder Tadel im voraus herauszulesen, um sich nicht etwa mit etwas Abgeschmacktem zu prostituieren.
Er hatte viele genialische Reisen gemacht, in den meisten Hauptstädten auf seine eigene Faust Ball gespielt, Kotzebue einmal in einer Gesellschaft in den Sack gesprochen, fast mit allen berühmten Schriftstellern zu Mittag gegessen oder kleine Fußreisen gemacht. Übrigens gehörte er eigentlich zu keiner Partei, er übersah alle weit und belächelte die entgegengesetzten Gesinnungen und Bestrebungen, den eifrigen Streit unter den Philosophen oder Dichtern: Er war sich der Lichtpunkt dieser verschiedenen Reflexe. Seine Urteile waren alle nur wie zum Spiele flüchtig hingeworfen mit einem nachlässig mystischen Anstrich, und die Frauenzimmer erstaunten nicht über das, was er sagte, sondern was er, in der Überzeugung nicht verstanden zu werden, zu verschweigen schien.
Wenn dieser heimlich die Meinung zu regieren schien, so führte dagegen ein anderer fast einzig das hohe Wort. Es war ein junger voller Mensch mit strotzender Gesundheit, ein Antlitz, das vor wohlbehaglicher Selbstgefälligkeit glänzte und strahlte. Er wußte für jedes Ding ein hohes Schwungwort, lobte und tadelte ohne Maß und sprach hastig mit einer durch dringenden gellenden Stimme. Er schien ein wütend Begeisterter von Profession und ließ sich von den Frauenzimmern, denen er sehr gewogen schien, gern den heiligen Thyrsusschwinger nennen. Es fehlte ihm dabei nicht an einer gewissen schlauen Miene, womit er niedrere, nicht so saftige Naturen seiner Ironie preiszugeben pflegte. Friedrich wußte gar nicht, wohin dieser während seiner Deklamationen so viel Liebesblicke verschwende, bis er endlich ihm gerade gegenüber einen großen Wandspiegel entdeckte. Der Begeisterte ließ sich übrigens nicht lange bitten, etwas von seinen Poesien mitzuteilen. Er las eine lange Dithyrambe von Gott, Himmel, Hölle, Erde und dem Karfunkelstein mit angestrengtester Heftigkeit vor, und schloß mit solchem Schrei und Nachdruck, daß er ganz blau im Gesicht wurde. Die Damen waren ganz außer sich über die heroische Kraft des Gedichts, sowie des Vortrags.
Ein anderer junger Dichter von mehr schmachtendem Ansehen, der neben der Frau vom Hause seinen Wohnsitz aufgeschlagen hatte, lobte zwar auch mit, warf aber dabei einige durchbohrende neidische Blicke auf den vom Lesen erschöpften Begeisterten. Überhaupt war dieser Friedrich schon vom Anfang an durch seinen großen Unterschied von jenen beiden Flausenmachern aufgefallen. Er hatte sich während der ganzen Zeit, ohne sich um die Verhandlungen der andern zu bekümmern, ausschließlich mit der Frau vom Hause unterhalten, mit der er eine Seele zu sein schien, wie man von dem süßen zugespitzten Munde beider abnehmen konnte, und Friedrich hörte nur manchmal einzelne Laute, wie: ‚Mein ganzes Leben wird zum Roman‘ – ‚überschwengliches Gemüt‘ – ‚Priesterleben‘ – herüberschallen. Endlich zog auch dieser ein ungeheures Paket aus der Tasche, und begann vorzulesen, unter andern folgendes Assonanzenlied:
‚Hat nun Lenz die silbern’n Bronnen
Losgebunden:
Knie ich nieder, süßbeklommen,
In die Wunder.Himmelreich, so kommt geschwommen
Auf die Wunden
Hast du einzig mich erkoren
Zu den Wundern?In die Ferne süß verloren
Lieder fluten,
Daß sie, rückwärts sanft erschollen,
Bringen Kunde.Was die andern sorgen, wollen,
Ist mir dunkel,
Mir will ew’ger Durst nur frommen
Nach dem Durste.Was ich liebte und vernommen,
Was geklungen,
Ist den eignen tiefen Wonnen
Selig Wunder!‘Er las noch einen Haufen Sonette mit einer Art von priesterlicher Feierlichkeit. Keinem derselben fehlte es an irgendeinem wirklich aufrichtigen kleinen Gefühlchen, an großen Ausdrücken und lieblichen Bildern. Alle hatten einen einzigen, bis ins Unendliche breit auseinandergeschlagenen Gedanken, sie bezogen sich alle auf den Beruf des Dichters und die Göttlichkeit der Poesie, aber die Poesie selber, das ursprüngliche, freie, tüchtige Leben, das uns ergreift ehe wir darüber sprechen, kam nicht zum Vorschein vor lauter Komplimenten davor und Anstalten dazu. Friedrich kamen diese Poesien in ihrer durchaus polierten, glänzenden, wohlerzogenen Weichlichkeit wie der fade unerquickliche Teedampf, die zierliche Teekanne mit ihrem lodernden Spiritus auf dem Tische wie der Opferaltar dieser Musen vor. – Es ist aber eigentlich nichts künstlicher und lustiger, als die Unterhaltung einer solchen Gesellschaft. Was das Ganze noch so leidlich zusammenhält, sind tausend feine, fast unsichtbare Fäden von Eitelkeit, Lob und Gegenlob usw., und sie nennen es dann gar zu gern ein Liebesnetz. Arbeitet aber unverhofft einmal einer, der davon nichts weiß, tüchtig darin herum, so geht die ganze Spinnewebe von ewiger Freundschaft und heiligem Bunde auseinander.
So hatte auch heute Friedrich den ganzen Tee versalzen. Keiner konnte das künstlerische Weberschiffchen, das sonst fein im Takte so zarte ästhetische Abende wob, wieder recht in Gang bringen. Die meisten wurden mißlaunisch, keiner konnte oder mochte, wie beim babylonischen Baue, des anderen Wortgepräng verstehen, und so beleidigte einer den andern in der gänzlichen Verwirrung. Mehrere Herren nahmen endlich unwillig Abschied, die Gesellschaft wurde kleiner und vereinzelter. Die Damen gruppierten sich hin und wieder auf den Ottomanen in malerischen und ziemlich unanständigen Stellungen. Friedrich bemerkte bald ein heimliches Verständnis zwischen der Frau vom Hause und dem Schmachtenden. Doch glaubte er zugleich an ihr ein feines Liebäugeln zu entdecken, das ihm selber zu gelten schien. Er fand sie überhaupt viel schlauer, als man anfänglich ihrer lispelnden Sanftmut hätte zutrauen mögen; sie schien ihren schmachtenden Liebhaber bei weitem zu übersehen und selber nicht so viel von ihm zu halten, als sie vorgab und er aus ganzer Seele glaubte.“
Als aber Friedrich späterhin, noch ganz entrüstet, dieses Abenteuer einem Freunde erzählt, erwidert dieser: „Ich kann dir im Gegenteil versichern, daß ich nicht bald so lustig war, als an jenem Abende, da ich zum ersten Male in diese Teetaufe oder Traufe geriet. Aller Augen waren prüfend und in erwartungsvoller Stille auf mich neuen Jünger gerichtet. Da ich die ganze heilige Synode, gleich den Freimaurern mit Schurz und Kelle, so feierlich im poetischen Ornate dasitzen sah, konnt ich mich nicht enthalten, despektierlich von der Poesie zu sprechen und mit unermüdlichem Eifer ein Gespräch von der Landwirtschaft, von Runkelrüben usw. anzuspinnen, so daß die Damen wie über den Dampf von Kuhmist die Nasen rümpften und mich bald für verloren hielten. Mit dem Schmachtenden unterhielt ich mich besonders viel. Er ist ein guter Kerl, aber er hat keine Mannesmuskel im Leibe. Ich weiß nicht, was er gerade damals für eine fixe Idee von der Dichtkunst im Kopfe hatte, aber er las ein Gedicht vor, wovon ich trotz der größten Anstrengung nichts verstand und wobei mir unaufhörlich des simplizianisch – deutschen Michels verstümmeltes Sprachgepränge im Sinne lag. Denn es waren deutsche Worte, spanische Konstruktionen, welsche Bilder, altteutsche Redensarten, doch alles mit überaus feinem Firnis von Sanftmut verschmiert. Ich gab ihm ernsthaft den Rat, alle Morgen gepfefferten Schnaps zu nehmen, denn der ewige Nektar erschlaffe nur den Magen, worüber er sich entrüstet von mir wandte. – Mit dem vom Hochmutsteufel besessenen Dithyrambisten aber bestand ich den schönsten Strauß. Er hatte mit pfiffiger Miene alle Segel seines Witzes aufgespannt und kam mit vollem Winde der Eitelkeit auf mich losgefahren, um mich Unpoetischen vor den Augen der Damen in den Grund zu bugsieren. Um mich zu retten, fing ich zum Beweise meiner poetischen Belesenheit an, aus Shakespeares ‚Was ihr wollt‘ wo Junker Tobias den Malvolio peinigt, zu rezitieren ‚Und besäße ihn eine Legion selbst, so will ich ihn doch anreden.‘ Er stutzte und fragte mich mit herablassender Genügsamkeit und kniffigem Gesichte, ob vielleicht gar Shakespeare mein Lieblingsautor sei? Ich ließ mich aber nicht stören, sondern fuhr mit Junker Tobias fort ‚Ei Freund, leistet dem Teufel Widerstand, er ist der Erbfeind der Menschenkinder.‘ Er fing nun an, sehr salbungsvolle, genialische Worte über Shakespeare ergehen zu lassen, ich aber, da ich ihn sich so aufblasen sah, sagte weiter ‚Sanftmütig, sanftmütig! Ei, was machst du, mein Täubchen? Wie geht’s, mein Puthühnchen? Ei, sieh doch, komm, tuck tuck!‘ – Er schien nun mit Malvolio zu bemerken, daß er nicht in meine Sphäre gehöre, und kehrte sich mit einem unsäglich stolzen Blicke, wie von einem unerhört Tollen, von mir. Das Schlimmste war aber nun, daß ich dadurch demaskiert war, ich konnte nicht länger für einen Ignoranten gelten; und die Frauenzimmer merkten dies nicht so bald, als sie mit allerhand Phrasen, die sie da und dort ernascht, über mich herfielen. In der Angst fing ich daher nun an, wütend mit gelehrten Redensarten und poetischen Paradoxen nach allen Seiten um mich herumzuwerfen, bis sie mich, ich sie, und ich mich selber nicht mehr verstand und alles verwirrt wurde. Seit dieser Zeit haßt mich der ganze Zirkel und hat mich als eine Pest der Poesie förmlich exkommuniziert.“ – –
Es ist sehr begreiflich, daß dieses prätentiöse Unwesen von den Gedankenlosen und Schwachmütigen für die wirkliche Romantik gehalten, von den Hämischen aber gern benutzt wurde, den neuen Aufschwung überhaupt zu verketzern. Vergebens verspottete Tieck selbst in den wenigen Nummern seines „Poetischen Journals“ jene falsche Romantik, vergebens zogen Arnim und Görres mitten durch den Lärm neue leuchtende Bahnen; das Gekläff der Wächter des guten Geschmacks, die den Mond anbellen und bei Musik heulen, war einmal unaufhaltsam erwacht. Es erschien ein „Klingkling-Almanach“, der die Lyrik der Romantiker parodisch lächerlich machen sollte, aber durch ein stupides Mißverständnis des Parodierten nur sich selbst blamierte. Der Däne Baggesen schrieb einen „Faust“, eine Komödie, worin Fichte, Schelling, Schlegel und Tieck die lächerlichen Personen spielen; an Witzlosigkeit, Bosheit und Langweiligkeit, etwa Nicolais „Werthers Leiden“ vergleichbar. Garlieb Merkel endlich trommelte in seinem „Freimütigen“ ein wahres Falstaffsheer zusammen, allerdings freimütig genug, denn die armutselige Gemeinheit lag ganz offen zutage. In Heidelberg selbst aber saß der alte Voß, der sich bereits überlebt hatte, und darüber ganz grämlich geworden war. Mitten in dem staubigen Gewebe seiner Gelehrsamkeit lauerte er wie eine ungesellige Spinne, tückisch auf alles Junge und Neue zufahrend, das sich unvorsichtig dem Gespinste zu nähern unterfing. Besonders waren ihm, nebst dem Katholizismus, die Sonette verhaßt. Daher konnte Arnim, obgleich er anfangs aus großmütiger Pietät mit dem vereinsamten Greise friedlich zu verkehren suchte, dennoch zuletzt nicht umhin, ihm zu Ehren in der „Einsiedlerzeitung“ in hundert Sonetten den Kampf des Sonetts mit dem alten Drachen zu beschreiben.
Und auf ähnliche Weise hatte sich die Romantik überhaupt ihren Gegnern gegenübergestellt, indem sie – wie in Tiecks „Verkehrter Welt“, im „Zerbino“ und „Gestiefelten Kater“, in Schlegels „Triumphpforte für den Theaterpräsidenten Kotzebue„, in Mahlmanns „Hussiten vor Naumburg“ – jenes hämische Treiben heiter als bloßes Material nahm und humoristisch der Poesie selbst dienstbar zu machen wußte.
Aber die Romantik war keine bloß literarische Erscheinung, sie unternahm vielmehr eine innere Regeneration des Gesamtlebens, wie sie Novalis angekündigt hat; und was man später die romantische Schule nannte, war eben nur ein literarisch abgesonderter Zweig des schon kränkelnden Baumes. Ihre ursprüngliche Intentionen, alles Irdische auf ein Höheres, das Diesseits auf ein größeres Jenseits zu beziehen, mußten daher insbesondere auch das ganze Gebiet der Kunst gleichmäßig umfassen und durchdringen. Die Revolution, die sie in der Poesie bewirkt, ist schon zu vielfach besprochen, um hier noch besonders erörtert zu werden. Der Malerei vindizierte sie die Schönheit der Religion als höchste Aufgabe, und begründete durch deutsche Jünglinge in Rom die bekannte Malerschule, deren Führer Overbeck, Philipp Veit und Cornelius waren. Derselbe ernstere Sinn führte die Tonkunst vom frivolen Sinnenkitzel zur Kirche, zu den altitalienischen Meistern, zu Sebastian Bach, Gluck und Händel zurück; er weckte auch in der Profanmusik das geheimnisvolle wunderbare Lied, das verborgen in allen Dingen schlummert, und Mozart, Beethoven und Karl Maria von Weber sind echte Romantiker. Die Baukunst endlich, diese hieroglyphische Lapidarschrift der wechselnden Nationalbildung, war grade in das allgemeine Stadium der damaligen Literatur mit eingerückt: kaserniertes Bürgerwohl mit heidnischen Substruktionen, die Antike im Schlafrock des häuslichen Familienglücks. Da erfaßte plötzlich die erstaunten Deutschen wieder eine Ahnung von der Schönheit und symbolischen Bedeutung ihrer alten Bauwerke, an denen sie so lange gleichgültig vorübergegangen. Der junge Goethe hatte zuerst vom Straßburger Münster den neuen Tag ausgerufen, sich aber leider dabei so bedeutend überschrien, daß er seitdem ziemlich heiser blieb. Besonnener und gründlicher wies Sulpice Boisserée auf den Riesengeist des Kölner Domes hin, der bekanntlich noch bis heut sein mühseliges Auferstehungsfest feiert. – Das augenfälligste Bild dieser Umwandlung aber gibt die Geschichte der Marienburg, des Haupthauses des deutschen Ritterordens in Preußen. Dieser merkwürdige Bau hatte nicht einmal die Genugtuung, in malerische Trümmer zerfallen zu dürfen, er wurde methodisch für den neuen Orden der Industrieritter verstümmelt und zugerichtet. Die kühnen Gewölbe wurden mit unsäglicher Mühe eingeschlagen, in den hohen luftigen Sälen drei niedrige Stockwerke schmutziger Weberwerkstätten eingeklebt; ja um den letzten Prachtgiebel des Schlosses waren bereits die Stricke geschlungen, um ihn niederzureißen, als ein Romantiker, Max von Schenkendorf, ganz unerwartet in einer vielgelesenen Zeitschrift Protest einlegte gegen diesen modernen Vandalismus, den der damalige Minister von Schrötter, ein sonst geistvoller und für alles Große empfänglicher Mann, im Namen der Aufklärung als ein löblich Unternehmen trieb. Jetzt veränderte sich plötzlich die Szene. Schrötter, da er seinen wohlgemeinten Mißverstand begriff, hieß, fast erschrocken darüber, sofort alle weitere Zerstörung einstellen, die Weber wurden ausgetrieben, Künstler, Altertumsfreunde und Techniker stiegen verwundert in den rätselhaft gewordenen Bau hinab, wie in einem Bergwerke dort ein Fenster, hier einen verborgnen Gang oder Remter entdeckend, und je mehr allmählich von der alten Pracht zutage kam, je mehr wuchs, erst in der Provinz dann in immer weiteren Kreisen der Enthusiasmus, und erweckte, soviel davon noch zu retten war, das wunderbare Bauwerk aus seinem jahrhundertelangen Zauberschlaf.
Ein ähnliches Bewandtnis beinah hatte es mit dem Einfluß der Romantik auf die religiöse Stimmung der Jugend, indem sie gleichfalls den halbvergessenen Wunderbau der alten Kirche aus seinem Schutte wieder emporzuheben strebte. Allein was dort genügte, konnte hier unmöglich ausreichen, denn die Romantiker, wenn wir Novalis, Görres und Friedrich Schlegel ausnehmen, taten es nicht um der Religion, sondern um der Kunst willen, für die ihnen der Protestantismus allzu geringe Ausbeute bot; ein Grundthema, das in „Sternbalds Wanderungen“, in Tiecks „Phantasien“ und in den „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ durch die ganze Klaviatur der Künste hindurch auf das anmutigste variiert ist. Wir wollen daher auf die Konversion einiger, durch die Musik, die Pracht des äußeren Gottesdienstes u.dgl.m. bekehrter protestantischer Jünglinge keineswegs ein besonderes Gewicht legen. Der ganze Hergang aber erinnert lebhaft an Schillers Grundsatz von der ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts; wir meinen die indirekte Macht, welche diese katholisierende Ästhetik auf die katholische Jugend selber ausgeübt.
Es ist nicht zu leugnen, ein großer Teil dieser, fast überall protestantisch geschulten Jugend ist in der Tat durch die Vorhalle der Romantik zur Kirche zurückgekehrt. Die katholischen Studenten, die überhaupt etwas wollten und konnten, erstaunten nicht wenig, als sie in jenen Schriften auf einmal die Schönheit ihrer Religion erkannten, die sie bisher nur geschmäht oder mitleidig belächelt gesehen. Der Widerspruch, in den sie durch diese Entdeckung mit der gemeinen Menge gerieten, entzündete ihren Eifer, voll Begeisterung brachten sie die alt-neue Lehre von der Universität mit nach Hause, ja sie kokettierten zum Teil damit in der Philisterwelt, wo man über die jungen Zeloten verwundert den Kopf schüttelte, mit einem Wort: Das Katholische wurde förmlich Mode. Die Mode ging nach Art aller Mode bald vorüber, aber der einmal angeschlagene Ton blieb und hallte in immer weiteren Kreisen nach, und daraus entstand im Verlauf der immer ernster werdenden Zeiten endlich wieder eine starke katholische Gesinnung, die der Romantik nicht mehr bedarf.
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So war die Romantik bei ihrem Aufgange ein Frühlingshauch, der alle verborgenen Keime belebte, eine schöne Zeit des Erwachens, der Erwartung und Verheißung. Allein sie hat die Verheißung nicht erfüllt, und weil sie sie nicht erfüllte, ging sie unter, und wie und warum dies geschehen mußte, haben wir bereits an einem anderen Orte ausführlich nachzuweisen versucht. Als jedoch auf solche Weise die Ebbe kam und jene Springfluten zurücktobten, wurde auch der alte Boden wieder trockengelegt, den man für neuentdecktes Land hielt. Der zähe Rationalismus, die altkluge Verachtung des Mittelalters, die Lehre von der alleinseligmachenden Nützlichkeit, wozu die sublime Wissenschaft nicht sonderlich nötig sei; all das vorromantische Ungeziefer, das sich unterdes im Sande eingewühlt, kam jetzt wieder zum Vorschein und heckte erstaunlich. Dennoch war aber der bloßgelegte Boden nicht mehr ganz derselbe. Die Romantik hatte einige unvertilgbare Spuren darauf hinterlassen; sie hatte durch ihr beständiges Hinweisen auf die nationale Vergangenheit die Vaterlandsliebe, durch ihren Experimental – Katholizismus ein religiöses Bedürfnis erweckt. Allein diese Vaterlandsliebe war durch die abermalige Trennung vom Mittelalter ihres historischen Bodens und aller nationalen Färbung beraubt, und so entstand aus dem alten abstrakten Weltbürgertum die ebenso abstrakte Deutschtümelei. Andrerseits konnte das wiederangeregte religiöse Gefühl natürlicherweise weder von dem romantischen Katholisieren, noch von dem wiedererstandenen Rationalismus befriediget werden, und flüchtete sich daher bei den Protestanten zu dem neuesten Pietismus.
Von diesen veränderten Zuständen mußten denn auch zunächst die Universitäten wieder berührt werden; sie verloren allmählich ihr mittelalterliches Kostüm und suchten sich der modernen Gegenwart möglichst zu akkommodieren. Das deutsche Universitätsleben war bis dahin im Grunde ein lustiger Mummenschanz, in exzeptioneller Maskenfreiheit die übrige Welt neckend, herausfordernd und parodierend; eine Art harmloser Humoristik, die der Jugend, weil sie ihr natürlich ist, großenteils gar wohl anstand. Jetzt dagegen, durch die halbe Schulweisheit und Vielwisserei aufgeblasen, und von der epidemischen neuen Altklugheit mit fortgerissen, begnügten sie sich nicht mehr, sich an den dünkelhaften Torheiten der Philisterwelt lachend zu ergötzen; sie wollten sich über die Welt stellen, sie meistern und vernünftiger einrichten. Dazu kam, daß sie in den Befreiungskriegen wirklich auf dem Welttheater rühmlich mitagiert hatten, und nun auch das Recht beanspruchten, die übrigen Akte des großen Weltdramas mit fortzuspielen, mit einem Worte: Politik zu machen. Das war aber höchst unpolitisch, denn auf dieser komplizierten Bühne fehlte es glücklicherweise der Jugend durchaus an der unerläßlichen Kenntnis, Erfahrung und Routine. Die Burschenschaften, die zunächst aus jener inneren Umwandlung der Universitäten hervorgingen, waren ohne allen Zweifel ursprünglich gut und ernst gemeint und mit einem nicht genug zu würdigenden moralischen Stoizismus gegen die alte Roheit und Sittenlosigkeit gerichtet. Anstatt aber nur erst sich selbst gehörig zu befestigen, wollten sie sehr bald im leicht erklärlichen Eifer des guten Gewissens auch die kranken Staaten durch utopische Weltverbesserungspläne regenerieren, die man am füglichsten als unschädliche Donquijotiaden hätte übersehen sollen, wenn sich nicht, wie es scheint, nun die wirklichen Politiker mit dareingemischt, und die jugendliche Unbefangenheit für ihre ehrgeizigen und unlauteren Zwecke gemißbraucht hätten. Und so wurden die Studenten, die so lange heiter die Welt düpiert hatten, nun selber von der undankbaren Welt düpiert.
Als ein anderes Symptom der neuesten Zeit haben wir vorhin den bei den Protestanten wiedererwachten Pietismus bezeichnet. Man könnte ihn, da er wesentlich auf der subjektiven Gefühlsauffassung beruht, füglich die Sentimentalität der Religion nennen. Daher der absonderliche Haß der Pietisten gegen das strenge positive Prinzip der Kirche, die von einem subjektiven Dafürhalten und Umdeuten der Glaubenswahrheiten nichts weiß. Dieser moderne Pietismus ist jetzt auf den deutschen Universitäten sehr zahlreich vertreten, nicht eben zum sonderlichen Heile der Jugend. Denn der nackte Rationalismus war an sich so arm, trocken und trostlos, daß er ein tüchtiges Gemüt von selbst zur resoluten Umkehr trieb. Der weichliche, sanft einschmeichelnde Pietismus dagegen, zumal wenn er Mode wird und zeitliche Vorteile in Aussicht stellt, erzeugt gar leicht heuchlerische Tartüffe, oder, wo er tiefer gegriffen, einen geistlichen Dünkel und Fanatismus, der das ganze folgende Leben vergiftet. Eine Sekte dieser Pietisten gefällt sich darin, grundsätzlich allen Zweikampf abzulehnen, und sich dies als einen Akt besonderen Mutes anzurechnen. Allein dieser passive Mut, die gemeine Meinung zu verachten und gelassen über sich ergehen zu lassen, ist noch sehr verschieden von der persönlichen Tapferkeit, die jeden Jüngling ziert. Es ist ganz löblich, aber noch lange nicht genug, das Unrechte hinter dem breiten Schilde der vortrefflichsten Grundsätze von sich selber abzuwehren; das Böse soll direkt bekämpft werden. Überhaupt aber darf hierbei nicht übersehen werden, daß dem Zweikampf ein an sich sehr ehrenwertes Motiv zum Grunde liegt: das der gesunden Jugend eigentümliche, spartanische Gerechtigkeitsgefühl, das sich ohne innere Einbuße nicht unterdrücken läßt. Es gibt fast unsichtbare Kränkungen, infam, perfid und boshaft, die bis in das innerste Mark verwunden, und doch, eben weil sie juridisch ungreifbar sind, vom Gesetz nicht vorgesehen werden können. Dies ist der eigentliche Sitz des Übels, der Kampfplatz, wo der Zweikampf, wie früher die Gottesgerichte, ausgleichend eintritt. Dasselbe gilt im großen auch von den Kriegen, diesen barbarischen Völkerduellen um Güter, die das materielle Staatsrecht nicht zu würdigen und zu schützen vermag, und zu denen wir namentlich die Nationalehre rechnen. – Demungeachtet sind wir weit entfernt, die ganz unchristliche Selbsthilfe des Zweikampfs irgendwie verteidigen zu wollen, wünschen vielmehr vorerst nur eine genügende Vermittelung und Beseitigung seines tieferen Grundes, ohne welche, nach menschlichem Ermessen, alle Verbotsgesetze dagegen stets illusorisch bleiben werden.
Mit der neuen Umwandelung des Zeitgeistes hängt auch der Grundsatz wesentlich zusammen, die Universitäten möglichst in die großen Residenzstädte zu verlegen. Wir wollen keineswegs in Abrede stellen, daß die großen Städte mit ihrem geselligen Verkehr, mit ihren Kunstschätzen, Bibliotheken, Museen und industriellen Anstalten eine sehr bequeme Umschau, eine wahre Universitas alles Wissenswürdigen bieten. Allein es frägt sich nur, ob dieser Vorteil nicht etwa durch Nachteile anderer Art wieder neutralisiert, ja überwogen wird? Uns wenigstens scheint das alles mehr für die Professoren, als für die Studenten geeignet zu sein. Es kommt für die letzteren auf der Universität doch vorzüglich nur auf eine Orientierung in dem Labyrinth der neuen Bildung an. Auf jenen großen Stapelplätzen der Kunst und Wissenschaft aber erdrückt und verwirrt die überwältigende Masse des Verschiedenartigsten, gleichwie schon jeder Reisende, wenn er eine reiche Bildergalerie hastig durchlaufen hat, zuletzt selbst nicht mehr weiß, was er gesehen; und namentlich die großen Bibliotheken kann nur der Gelehrte, der sich bereits für ein bestimmtes Studium entschieden und gehörig vorbereitet hat, mit Nutzen gebrauchen. Wie aber soll der, für alles gleich empfängliche Jüngling mitten zwischen den nach allen Seiten auslaufenden Bahnen sich wahrhaft entscheiden, wo jedes natürliche Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler, wie es in kleinen Universitätsstädten stattfindet, durch den betäubenden Lärm und die allgemeine Zerfahrenheit der Residenz ganz unmöglich wird? Auch hier also droht abermals ein vager Dilettantismus und der lähmende Dünkel der Vielwisserei. Bei der Jugend ist eine kecke Wanderlust, sie ahnt hinter dem Morgenduft die wunderbare Schönheit der Welt; sie sich selbsttätig zu erobern ist ihre Freude. In den großen Städten aber fängt die Jugend gleich mit dem Ende an: aller Reichtum der Welt liegt in der staubigen Mittagschwüle schon wohlgeordnet um sie her, sie braucht ihren Fauteuil nur gähnend da oder dorthin zu wenden, sie hat nichts mehr zu wünschen und zu ahnen – und ist blasiert. Und auch in sittlicher Hinsicht ist der Gewinn nur illusorisch. In den kleinen Universitätsstädten herrscht allerdings oft eine arge Verwilderung, und die Studenten werden in den großen Städten gewiß ruhiger und manierlicher sein. Allein dort erscheint die Liederlichkeit in der Regel so handgreiflich, bestialisch roh und abschreckend, daß jedes gesunde Gemüt von selbst ein Ekel davor überkommt, während hier die schön übertünchten und ästhetisierten Pestgruben wohl auch die Besseren mit ihrem Gifthauch betäuben. – Unsere Universitäten sind endlich bisher eine Art von Republik gewesen, die einzigen noch übriggebliebenen Trümmer deutscher Einheit, ein brüderlicher Verein ohne Rücksicht auf die Unterschiede der Provinz, des Ranges oder Reichtums, wo den Niedriggeborenen die Überlegenheit des Geistes und Charakters zum Senior über Fürsten und Grafen erhob. Diese uralte Bedeutung der Universitäten wird von der in ganz andern Bahnen kreisenden Großstädterei notwendig verwischt, die Studenten werden immer mehr in das allgemeine Philisterium eingefangen und frühzeitig gewöhnt, die Welt diplomatisch mit Glacéhandschuhen anzufassen.
Dies halten wir aber, zumal in unserer materialistischen Zeit, für ein bedeutendes Unglück. Denn was ist denn eigentlich die Jugend? Doch im Grunde nichts anderes, als das noch gesunde und unzerknitterte, vom kleinlichen Treiben der Welt noch unberührte Gefühl der ursprünglichen Freiheit und der Unendlichkeit der Lebensaufgabe. Daher ist die Jugend jederzeit fähiger zu entscheidenden Entschlüssen und Aufopferungen, und steht in der Tat dem Himmel näher, als das müde und abgenutzte Alter; daher legt sie so gern den ungeheuersten Maßstab großer Gedanken und Taten an ihre Zukunft. Ganz recht! denn die geschäftige Welt wird schon dafür sorgen, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen und ihnen die kleine Krämerelle aufdrängen. Die Jugend ist die Poesie des Lebens, und die äußerlich ungebundene und sorgenlose Freiheit der Studenten auf der Universität die bedeutendste Schule dieser Poesie, und man möchte ihr beständig zurufen: sei nur vor allen Dingen jung! Denn ohne Blüte keine Frucht.
Bilder: via Frank T. Zumbach: Long Gone, Teil 1, 2, 3, 4, 5, 6, alle 4. August 2021.
Soundtrack: Robert Schumann: Quintett Es-Dur für 2 Violinen, Viola, Violoncello und Klavier opus 44, 1842;
Carmina Quartet mit Konstanze Eickhorst, Klavier: Martha Argerich,
live auf dem KlavierFestival Ruhr 2016:
Filetstück 0003, 2 von 3: Der Adel überhaupt aber zerfiel damals in drei sehr verschiedene Hauptrichtungen (Der Adel und die Revolution)
Update zu Filetstück 0003, 1 von 3: Europamüde vor Langerweile (Vorwort):
Der geplante erste Teil von Eichendorffs Memoiren Der Adel und die Revolution wurde von seinem Sohn, zugleich Herausgeber politisch unverfänglicher zu Deutsches Adelsleben am Schlusse des vorigen Jahrhunderts verglimpft. Zur sonstigen Motivation und Anordnung des Fragments siehe den ersten Teil des dreiteiligen „Filetstücks“.
——— Joseph von Eichendorff:
Erlebtes
1857, gedruckt posthum in Hermann von Eichendorff, Hrsg.:
Aus dem literarischen Nachlasse Joseph Freiherrn von Eichendorffs, Paderborn 1866,
als Erlebtes. Deutsches Adelsleben am Schlusse des vorigen Jahrhunderts; Halle und Heidelberg:
I. Der Adel und die Revolution
Sehr alte Leute wissen sich wohl noch einigermaßen der sogenannten guten alten Zeit zu erinnern. Sie war aber eigentlich weder gut noch alt, sondern nur noch eine Karikatur des alten Guten. Das Schwert war zum Galanteriedegen, der Helm zur Zipfelperücke, aus dem Burgherrn ein pensionierter Husarenoberst geworden, der auf seinem öden Landsitz, von welchem seine Vorfahren einst die vorüberziehenden Kaufleute gebrandschatzt hatten, nun seinerseits von den Industriellen belagert und immer enger eingeschlossen wurde. Es war mit einem Wort die mürb und müde gewordene Ritterzeit, die sich puderte, um den bedeutenden Schimmel der Haare zu verkleiden; einem alten Gecken vergleichbar, der noch immer selbstzufrieden die Schönen umtänzelt, und nicht begreifen kann und höchst empfindlich darüber ist, daß ihn die Welt nicht mehr für jung halten will.
Der Adel in seiner bisherigen Gestalt war ganz und gar ein mittelalterliches Institut. Er stand durchaus auf der Lehenseinrichtung, wo, wie ein Planetensystem, die Zentralsonne des Kaisertums von den Fürsten und Grafen und diese wiederum von ihren Monden und Trabanten umkreist wurden. Die wechselseitige religiöse Treue zwischen Vasall und Lehnsherrn war die bewegende Seele aller damaligen Weltbegebenheiten und folglich die welthistorische Macht und Bedeutung des Adels. Aber der Dreißigjährige Krieg, diese große Tragödie des Mittelalters, hatte den letzteren, der ohnedem schon längst an menschlicher Altersschwäche litt, völlig gebrochen und beschlossen. Indem er die Idee des Kaisers, wenigstens faktisch, aus der Mitte nahm oder doch wesentlich verschob, mußte notwendig der ganze strenggegliederte Bau aus seinen Fugen geraten. Die Stelle der idealen Treue wurde sofort von der materiellen Geldkraft eingenommen; die mächtigeren Vasallen kauften Landsknechte und wurden Raubritter im großen, die kleinern, die in der allgemeinen Verwirrung oft selbst nicht mehr wußten, wem sie verpflichtet, folgten dem größeren Glücke oder besserem Solde. Und als endlich die Wogen sich wieder verlaufen, bemerkte der erstaunte Adel zu spät, daß er sich selbst aus dem großen Staatsverbande heraus, auf den ewig beweglichen Triebsand gesetzt hatte: aus dem freien Lehensadel war unversehens ein Dienstadel geworden, der zu Hofe ging oder bei den stehenden Heeren sich einschreiben ließ.
So war denn namentlich auch die Ritterlichkeit zuletzt fast ausschließlich an die modernen Offizierkorps gekommen. Auf diese warf nun der Siebenjährige Krieg noch einmal einen wunderbaren Glanz, Ruhmbegier, kecke Lust am Abenteuer, Tapferkeit, aufopfernde Treue und manche der anderen Tugenden, die das Mittelalter groß gemacht, schienen von neuem aufzuleben. Allein es war kein in sich geschlossenes Rittertum im alten Sinne mehr, sondern nur das Aufleuchten einzelner bedeutender Persönlichkeiten, die eben deshalb wohl ihre Namen, nicht aber den Geist des Ganzen unsterblich machen konnten. Auch hier gibt schon das Kostüm, das niemals willkürlich oder zufällig ist, ein charakteristisches Signalement dieses neuen Ritters. Die Eisenrüstung war ihm allmählich zum Küraß, der Küraß zum bloßen Brustharnisch und dieser endlich gar zu einem handbreiten Blechschildchen zusammengeschrumpft, das er gleichsam zum Andenken an die entschwundene Rüstung wie etwa jetzt der Orden zweiter Klasse, dicht unter dem Halse trug, die Rechte, der die Manschette nicht fehlen durfte, ruhte auf einem stattlichen spanischen Rohr, das gepuderte Haupt umschwebten zu beiden Seiten, anstatt der alten Geierflügel, zwei wurfähnlich aufgerollte Locken und „der Zopf der hing ihm hinten“. Ein Ritter mit dem Zopf ist aber durchaus eine undenkbare Mißgeburt, was die armen Bildhauer, welche die Helden des Siebenjährigen Krieges darstellen sollen, am schmerzlichsten empfinden. Und dieser fatale Zopf war in der Tat das mystische Symbol der verwandelten Zeit: alles Naturwüchsige, als störend und abgemacht, hinter sich geworfen und mumienhaft zusammengewickelt, bedeutete er zugleich den Stock, die damalige Zentripetalkraft der Heere.
Die jungen Kavaliere jener Zeit dienten in der Regel nicht um einen Krieg, sondern um einen galanten Feldzug gegen die Damen so lange mitzumachen, bis sie die Verwaltung ihrer Güter antreten konnten, oder, wenn sie keine hatten, bis sie mit der glänzenden Uniform eine Schöne oder auch Häßliche erobert, die ihre vielen Schulden zu bezahlen bereit und imstande war. Vom Ritterwesen hatten sie einige verworrene Reminiszenzen ererbt und auf ihre Weise sich zurechtgemacht: vom ehemaligen Frauendienst die fade Liebelei, von der altdeutschen Ehre einen französischen, höchst kapriziösen point d’honneur, vom strengen Lehnsverbande einen kapriziösen Esprit de corps, der nur selten über den ordinärsten Standesegoismus hinauslangte. Es war die hohe Schule des Junkertums, an die selbst Fouqués Recken mit ihren Gardereiterpositionen und ausbündig galanten Redensarten noch zuweilen erinnern.
Der Adel überhaupt aber zerfiel damals in drei sehr verschiedene Hauptrichtungen. Die zahlreichste, gesündeste und bei weitem ergötzlichste Gruppe bildeten die, von den großen Städten abgelegenen kleineren Gutsbesitzer in ihrer fast insularischen Abgeschiedenheit, von der man sich heutzutage, wo Chausseen und Eisenbahnen Menschen und Länder zusammengerückt haben und zahllose Journale wie Schmetterlinge, den Blütenstaub der Zivilisation in alle Welt vertragen, kaum mehr eine deutliche Vorstellung machen kann. Die fernen blauen Berge über den Waldesgipfeln waren damals wirklich noch ein unerreichbarer Gegenstand der Sehnsucht und Neugier, das Leben der großen Welt, von der wohl zuweilen die Zeitungen Nachricht brachten, erschien wie ein wunderbares Märchen. Die große Einförmigkeit wurde nur durch häufige Jagden, die gewöhnlich mit ungeheurem Lärm, Freudenschüssen und abenteuerlichen Jägerlügen endigten, sowie durch die unvermeidlichen Fahrten zum Jahrmarkt der nächsten Landstadt unterbrochen. Die letzteren insbesondere waren seltsam genug und könnten sich jetzt wohl in einem Karnevalszuge mit Glück sehen lassen. Vorauf fuhren die Damen im besten Sonntagsstaate, bei den schlechten Wegen nicht ohne Lebensgefahr, unter beständigem Peitschenknall in einer mit vier dicken Rappen bespannten altmodischen Karosse, die über dem unförmlichen Balkengestell in ledernen Riemen hängend, bedenklich hin und her schwankte. – Die Herren dagegen folgten auf einer sogenannten „Wurst“, einem langen gepolsterten Koffer, auf welchem diese Haimonskinder dicht hintereinander und einer dem andern auf den Zopf sehend, rittlings balancierten. – Am liebenswürdigsten aber waren sie unstreitig auf ihren Winterbällen, die die Nachbarn auf ihren verschneiten Landsitzen wechselweise einander ausrichteten. Hier zeigte es sich, wie wenig Apparat zur Lust gehört, die überall am liebsten improvisiert sein will und jetzt so häufig von lauter Anstalten dazu erdrückt wird. Das größte, schnell ausgeräumte Wohnzimmer mit oft bedrohlich elastischem Fußboden stellte den Saal vor, der Schulmeister mit seiner Bande das Orchester, wenige Lichter in den verschiedenartigsten Leuchtern warfen eine ungewisse Dämmerung in die entfernteren Winkel umher, und über die Gruppe von Verwalter- und Jägerfrauen, die in der offenen Nebentüre Kopf an Kopf dem Tanze der Herrschaften ehrerbietig zusahen. Desto strahlender aber leuchteten die frischen Augen der vergnügten Landfräulein, die beständig untereinander etwas zu flüstern, zu kichern und zu necken hatten. Ihre unschuldige Koketterie wußte noch nichts von jener fatalen Prüderie, die immer nur ein Symptom von sittlicher Befangenheit ist. Man konnte sie füglich mit jungen Kätzchen vergleichen, die sorglos in wilden und doch graziös-anmutigen Sprüngen und Windungen im Frühlingssonnenscheine spielen. Denn hübsch waren sie meist, bis auf wenige dunkelrote Exemplare, die in ihrem knappen Festkleide, wie Päonien, von allzu massiver Gesundheit strotzten. – Der Ball wurde jederzeit noch mit dem herkömmlichen Initialschnörkel einer ziemlich ungeschickt aus geführten Menuett eröffnet, und gleichsam parodisch mit dem graden Gegenteil, dem tollen „Kehraus“ beschlossen. Ein besonders gutgeschultes Paar gab wohl auch, von einem Kreise bewundernder Zuschauer umringt, den „Kosakischen“ zum besten, wo nur ein Herr und eine Dame ohne alle Touren, sie in heiter zierlichen Bewegungen, er mit grotesker Kühnheit wie ein am Schnürchen gezogener Hampelmann abwechselnd gegeneinander tanzten. Überhaupt wurde damals, weil mit Leib und Seele, noch mit einer aufopfernden Todesverachtung und Kunstbeflissenheit getanzt, gegen die das heutige vornehm nachlässige Schlendern ein ermüdendes Bild allgemeiner Blasiertheit darbietet. Dabei schwirrten die Geigen und schmetterten die Trompeten und klirrten unaufhörlich die Gläser im Nebengemach, ja zuweilen, wenn der Punsch stark genug gewesen, stürzten selbst die alten Herren, zum sichtbaren Verdruß ihrer Ehefrauen, sich mit den ungeheuerlichsten Kapriolen mit in den Tanz; es war eine wahrhaft ansteckende Lustigkeit. Und zuletzt dann noch auf der nächtlichen Heimfahrt durch die gespensterhafte Stille der Winterlandschaft unter dem klaren Sternenhimmel das selige Nachträumen der schönen Kinder.
Die Glücklichen hausten mit genügsamem Behagen großenteils in ganz unansehnlichen Häusern (unvermeidlich „Schlösser“ geheißen), die selbst in der reizendsten Gegend nicht etwa nach ästhetischem Bedürfnis schöner Fernsichten angelegt waren, sondern um aus allen Fenstern Ställe und Scheunen bequem überschauen zu können. Denn ein guter Ökonom war das Ideal der Herren, der Ruf einer „Kernwirtin“ der Stolz der Dame. Sie hatten weder Zeit noch Sinn für die Schönheit der Natur, sie waren selbst noch Naturprodukte. Das bißchen Poesie des Lebens war als nutzloser Luxus lediglich den jungen Töchtern überlassen, die denn auch nicht verfehlten, in den wenigen müßigen Stunden längst veraltete Arien und Sonaten auf einem schlechten Klaviere zu klimpern und den hinter dem Hause gelegenen Obst- und Gemüsegarten mit auserlesenen Blumenbeeten zu schmücken. Gleich mit Tagesanbruch entstand ein gewaltiges Rumoren in Haus und Hof, vor dem der erschrockene Fremde, um nicht etwa umgerannt zu werden, eilig in den Garten zu flüchten suchte. Da flogen überall die Türen krachend auf und zu, da wurde unter vielem Gezänk und vergeblichem Rufen gefegt, gemolken, und gebuttert, und die Schwalben, als ob sie bei der Wirtschaft mit beteiligt wären, kreuzten jubelnd über dem Gewirr, und durch die offenen Fenster schien die Morgensonne so heiter durchs ganze Haus über die vergilbten Familienbilder und die Messingbeschläge der alten Möbel, die jetzt als Rokoko wieder für jung gelten würden. An schönen Sommernachmittagen aber kam häufig Besuch aus der Nachbarschaft. Nach den geräuschvollen Empfangskomplimenten und höflichen Fragen nach dem werten Befinden, ließ man sich dann gewöhnlich in der desolaten Gartenlaube nieder, auf deren Schindeldache der buntübermalte hölzerne Cupido bereits Pfeil und Bogen eingebüßt hatte. Hier wurde mit hergebrachten Späßen und Neckereien gegen die Damen scharmütziert, hier wurde viel Kaffee getrunken, sehr viel Tabak verraucht, und dabei von den Getreidepreisen, von dem zu verhoffenden Erntewetter, von Prozessen und schweren Abgaben verhandelt; während die ungezogenen kleinen Schloßjunker auf dem Kirschbaum saßen und mit den Kernen nach ihren gelangweilten Schwestern feuerten, die über den Gartenzaun ins Land schauten, ob nicht der Federbusch eines insgeheim erwarteten Reiteroffiziers der nahen Garnison aus dem fernen Grün emportauche. Und dazwischen tönte vom Hofe herüber immerfort der Lärm der Sperlinge, die sich in der Linde tummelten, das Gollern der Truthähne, der einförmige Takt der Drescher und all jene wunderliche Musik des ländlichen Stillebens, die den Landbürtigen in der Fremde, wie das Alphorn den Schweizer oft unversehens in Heimweh versenkt. In den Tälern unten aber schlugen die Kornfelder leise Wellen, überall eine fast unheimlich schwüle Gewitterstille, und niemand merkte oder beachtete es, daß das Wetter von Westen bereits aufstieg und einzelne Blitze schon über dem dunklen Waldeskranze prophetisch hin und her zuckten.
Man sieht, das Ganze war ein etwas ins Derbe gefertigtes Idyll, nicht von Geßner, sondern etwa wie das „Nußkernen“ vom Maler Müller. Da fehlte es nicht an manchem höchst ergötzlichen Junker Tobias oder Junker Christoph von Bleichenwang, aber ebensowenig auch an tüchtigen Charakteren und patriarchalischen Zügen. Denn diese Edelleute standen in der Bildung nur wenig über ihren „Untertanen“, sie verstanden daher noch das Volk und wurden vom Volke wieder begriffen. Es war zugleich der eigentliche Tummelplatz der jetzt völlig ausgestorbenen Originale, jener halb eigensinnigen, halb humoristischen Ausnahmenaturen, die den stagnierenden Strom des alltäglichen Philisteriums mit großem Geräusch in Bewegung setzten, indem sie, gleich wilden Hummeln, das konventionelle Spinnengewebe beständig durchbrachen. Unter ihnen sah man noch häufig bramarbasierende Haudegen des Siebenjährigen Krieges und wieder andre, die mit einer unnachahmlich lächerlichen Manneswürde von einer gewissen Biederbigkeit Profession machten. Die fruchtbarsten in diesem Genre aber waren die sogenannten „Krippenreiter„, ganz verarmte und verkommene Edelleute, die, wie die alten Schalksnarren, von Schloß zu Schloß ritten und, als Erholung von dem ewigen Einerlei, überall willkommen waren. Sie waren zugleich Urheber und Zielscheibe der tollsten Schwänke, Maskeraden und Mystifikationen, denn sie hatten, wie Falstaff, die Gabe, nicht nur selbst witzig zu sein, sondern auch bei anderen Witz zu erzeugen.
Unser deutscher Lafontaine ist, bei aller sentimentalen Abschwächung, nicht ohne einige historische Bedeutung, indem er uns oft einen recht anschaulichen Prospekt in jene gute alte Zeit eröffnet, deren adeliger Zopf sich noch fühlbar durch alle seine Romane hindurchzieht.
In der zweiten Reihe des Adels dagegen standen die Exklusiven, Prätentiösen, die sich und andere mit übermäßigem Anstande langweilten. Sie verachteten die erstere Gruppe und wurden von dieser ebenso gründlich verachtet; beides sehr natürlich, denn diese hatten die frischere Lebenskraft, die jene als plebejisches Krautjunkertum bemitleideten, die Exklusiven aber eine zeitgemäßere Bildung voraus, welche von ersteren nicht verstanden oder als affektierte Vornehmtuerei zurückgewiesen wurde. Bei diesen Vornehmen war nun die ganze Szenerie eine andere. Sie bewohnten wirkliche Schlösser, der Wirtschaftshof, dessen gemeine Atmosphäre besonders den Damen ganz unerträglich schien, war in möglichste Ferne zurückgeschoben, der Garten trat unmittelbar in den Vordergrund. Und diese Gärten müssen wir uns hier notwendig etwas genauer ansehen. Denn diese Adelsklasse, wie bereits erwähnt, ambitionierte sich durchaus, mit der Zeitbildung fortzuschreiten; und obgleich sie in der Regel nichts weniger als Literaten waren, so konnten sie doch nicht umhin, den Geist der jedesmaligen Literatur wenigstens äußerlich, als Mode, in ihrem Luxus abzuspiegeln. Die Gartenkunst aber, wie alle Künste untereinander, hängt mit den wechselnden Phasen namentlich der eben herrschenden poetischen Literatur jederzeit wesentlich zusammen.
Es ist leider hinreichend bekannt, daß wir einst das große poetische Pensum, das uns der Himmel aufgegeben, ungeschickterweise vergessen hatten und daher zu gerechter Strafe lange Zeit in der französischen Schule nachsitzen mußten, wo die Muse, sie mochte nun mutwillig oder tragisch sein, nur in Schnürleib und Reifrock erscheinen durfte. Und der abgemessenen Architektonik dieser Schule entspricht denn auch zunächst der feierliche Kurialstil unserer damaligen geradlinigen Ziergärten:
Es glänzt der Tulpenflor, durchschnitten von Alleen,
Wo zwischen Taxus still die weißen Statuen stehen,
Mit goldnen Kugeln spielt die Wasserkunst im Becken,
Im Laube lauert Sphinx, anmutig zu erschrecken.Die schöne Chloe da spazieret in dem Garten,
Zur Seit ein Kavalier, ihr höflich aufzuwarten,
Und hinter ihnen leis Cupido kommt gezogen,
Bald duckend sich im Grün, bald zielend mit dem Bogen.Es neigt der Kavalier sich in galantem Kosen,
Mit ihrem Fächer schlägt sie manchmal nach dem Losen,
Es rauscht der taftne Rock, es blitzen seine Schnallen,
Dazwischen hört man oft ein art’ges Lachen schallen.Jetzt aber hebt vom Schloß, da sich’s im West will röten
Die Spieluhr schmachtend an, ein Menuett zu flöten.
Die Laube ist so still, er wirft sein Tuch zur Erde
Und stürzet auf ein Knie mit zärtlicher Gebärde.„Wie wird mir, ach, ach, ach, es fängt schon an zu dunkeln –“
„So angenehmer nur seh ich zwei Sterne funkeln – –“
„Verwegner Kavalier!“ – „Ha, Chloe, darf ich hoffen? –“
Da schießt Cupido los und hat sie gut getroffen.So ungefähr sind uns diese, ganz bezeichnend französisch benannten, Lust- und Ziergärten jederzeit vorgekommen. Wir konnten uns dieselben niemals ohne solche Staffage, diese Chloes und galanten Kavaliere nicht ohne solchen Garten denken; und insofern hatten diese Paradegärten allerdings ihre vollkommene Berechtigung und Bedeutung: Sie sollten eben nur eine Fortsetzung und Erweiterung des Konversationssalons vorstellen. Daher mußte die zudringlich störende Natur durch hohe Laubwände und Bogengänge in einer gewissen ehrerbietigen Form gehalten werden, daher mußten Götterbilder in Allongeperücken überall an den Salon und die französierte Antike erinnern; und es ist nicht zu leugnen, daß in dieser exklusiven Einsamkeit, wo anstatt der gemeinen Waldvögel nur der Pfau courfähig war, die einzigen Naturlaute: die Tag und Nacht einförmig fortrauschenden Wasserkünste, einen um so gewaltigeren, fast tragischen Eindruck machten. Allein solche wesentlich architektonische Effekte sind immer nur durch große würdige Dimensionen erreichbar, wozu es bei den deutschen Landschlössern gewöhnlich an Raum und Mitteln fehlte. Überdies war das Ganze im Grunde nichts weniger als national, sondern nur eine Nachahmung der Versailler Gartenpracht; jede Nachahmung aber, weil sie denn doch immer etwas Neues und Apartes aufweisen will, gerät unfehlbar in das Übertreiben und Überbieten des Vorbildes. Und so erblicken wir denn auch hier, besonders von Holland her, sehr bald und nicht ohne Entsetzen die Mosaikbeete von bunten Scherben, die Pyramiden und abgeschmackten Tiergestalten von Buxbaum, die vielen schlechten, zum Teil hölzernen Götterbilder, mit einem Wort: die Karikatur; und auf diesen Plätzen promenierte der alte Gottsched als Prinz Rokoko mit seinem Gefolge.
Aber dem feierlichen Professor trat fast schon auf die Ferse die bekannte literarische Rebellion gegen das französische Regime, zum Teil durch Franzosen selbst. Rousseau, Diderot, Lessing, jeder in seiner Art, vindizierten der Natur wieder ihr angeborenes Recht. Da brach auf einmal auch das Prachtgerüste jener alten Gärten zusammen, die lang abgesperrte Wildnis kletterte hurtig von allen Seiten über die Buxwände und Scherbenbeete herein, die Natur selbst war ihnen noch nicht natürlich genug, man wollte womöglich bis in den Urwald zurück, und ein wüstes Gehölz mit wenigen Blumen und vielen ärgerlichen Schlangenpfaden, auf denen man nicht vom Fleck und zum Ziele gelangen konnte, mußte den neuen Park bedeuten. Dazu kam noch die in Deutschland unsterbliche Sentimentalität, in beständigem Handgemenge mit dem Terrorismus einer groben Vaterländerei, Lafontaine und Iffland gegen Spieß und Cramer, und über alle hinweg schritt der stolze, kein Vaterland anerkennende Kosmopolitismus. Und sofort finden wir denn dieselbe Anarchie auch in dem neuen Garten wieder: idyllische Hütten und Tränenurnen für imaginäre Tote neben schauerlichen Burgruinen, Heiligenkapellen neben japanischen Tempeln und chinesischen Kiosks; und damit in der totalen Konfusion doch jeder wisse, wie und was er eigentlich zu empfinden habe, wurden an den Bäumen als gefühlvolle Wegweiser, Tafeln mit Sprüchen und sogenannten schönen Stellen aus Dichtern und Philosophen ausgehängt. – Jeder wahre Garten aber, sagt Tieck irgendwo ganz richtig, ist von seiner eigentümlichen Lage und Umgebung bedingt, er muß ein schönes Individuum sein, und kann also nur einmal existieren.
Und eben dies war auch das Geschick oder vielmehr Ungeschick der damaligen Bewohner jener Schlösser. Sie waren, wie ihre Gärten, nicht eigentümlich ausgeprägte Individuen, hatten auch keine Nationalgesichter, sondern nur eine ganz allgemeine Standesphysiognomie; überall bis zur tödlichsten Langweiligkeit, dieselbe Courtoisie, dieselben banalen Redensarten, Liebhabereien und Abneigungen. Sie waren die Akteurs der großen Weltbühne, die nicht den Zeitgeist machten, sondern den Zeitgeist spielten; das Dekorationswesen der Repräsentation war daher ihr eigentliches Fach und Studium, und bühnengerecht zu sein ihr Stolz. Die alten Kavaliere nebst Haarbeutel und Stahldegen waren nun freilich von der Bühne verschwunden, die neuen hatten aber von ihnen die pedantische Kultur des Anstandes als heiligstes Familienerbstück überkommen. Allein der an sich löbliche Anstand ist doch nur der Schein dessen, was er eigentlich bedeuten soll, und so ging ihnen denn auch ihr Dasein lediglich in einer traditionellen Ästhetik des Lebens auf. Ihre Ställe verwandelten sich in Prachttempel, wo mit schönen Pferden und glänzenden Schweizerkühen ein fast abgöttischer Kultus getrieben wurde, im Innern des Schlosses schillerte ein blendender Dilettantismus in allen Künsten und Farben, die Fräuleins musizierten, malten oder spielten mit theatralischer Grazie Federball, die Hausfrau fütterte seltene Hühner und Tauben oder zupfte Goldborten, und alle taten eigentlich gar nichts. Sie hatten sich gleichsam die Prosa des Lebensdramas in ein prächtiges Metrum transferiert, und das ist ihre große negative Bedeutsamkeit, daß sie dadurch allerdings langehin das absolut Gemeine und Rohe unterdrückten und abwehrten. Aber Metrik ist noch keine Poesie, und den Gehalt des Lebens konnten sie dadurch nicht veredeln.
Die dritte und bei weitem brillanteste Gruppe endlich war die extreme. Hier figurierten die ganz gedankenlosen Verschwender, jene „im Irrgarten der Liebe herumtaumelnden Kavaliere„, welche ziemlich den Zug frivoler Libertinage repräsentierten, der sich wie eine narkotische Liane durch die damalige Literatur schlang. Zu diesem Berufe wurden die jungen Herren schon frühzeitig mit der sogenannten „guten Konduite“ ausgerüstet, d.h. sie mußten bei meist sehr zweideutigen und abenteuernden Strolchen tanzen, fechten, reiten und Französisch sprechen lernen. Die Eltern hatten vor lauter feiner Lebensart und gesellschaftlichen Pflichten weder Zeit noch Lust, sich um die langweilige Pädagogik zu kümmern, die eigentliche Erziehung war vielmehr gewöhnlich gewissenlosen oder unwissenden Ausländern von armer und geringer „Extraktion“ überlassen; die natürlich von ihren vornehmen Zöglingen in aller Weise düpiert wurden. Eine Anekdote aus dem Leben mag vielleicht am anschaulichsten andeuten, wie cavalièrement sich dieses Verhältnis oft gestaltete. Einer dieser Jünglinge hatte einen zwar gewissenhaften, aber sehr pedantischen Mentor, der wohl nicht ohne Grund nächtliche Ausflüge argwöhnen mochte und daher, wenn er, nachts im Garten eine ungewöhnliche Bewegung wahrnahm, jedesmal sich vorsichtig zum Fenster hinauszulehnen pflegte, um seinen Zögling zu belauern. Das war dem letztern schon längst störend und verdrießlich gewesen; er machte daher einmal in seinem nächtlichen Versteck absichtlich ein verdächtiges Geräusch. Kaum aber hatte der Mentor den Kopf wieder aus dem Fenster gestreckt, als zwei unten bereitstehende, als Spukgeister vermummte Lakaien ihm ihrer Instruktion gemäß einen hölzernen Bogen über den Nacken warfen und den Erschrockenen damit am Fensterbrett festklemmten, während ein dritter ihm, zum großen Ergötzen der Schalke, mit einem langen Pinsel das ganze Gesicht einseifte.
Nach dergleichen Studien wurden dann die „jungen Herrschaften“ mit ihrem autonomen Hofmeister auf Reisen geschickt, um insbesondere auf der hohen Schule zu Paris sich in der Praxis der Galanterie zu vervollkommnen. Da sie jedoch, bei Strafe der sozialen Exkommunikation, nirgends mit dem Volke, sondern wieder nur in den Kreisen von ihresgleichen verkehren durften, die sich damals überall zum Erschrecken ähnlich sahen, so ist es leicht begreiflich, daß sie auf allen ihren Fahrten nichts erfuhren und lernten, und regelmäßig ziemlich blasiert zurückkehrten. Und ebenso natürlich machten sie nun zu Hause, um nur die unerträgliche Langeweile loszuwerden, die verzweifeltsten Anstrengungen, fuhren mit Heiducken, Laufern und Kammerhusaren zum Besuch, rissen ihre alten Schlösser ein und bauten sich lustig moderne Trianons. Allein das forcierte Lustspiel nahm gewöhnlich ein tragisches Ende, dem kurzen Rausche folgte der moralische und finanzielle Katzenjammer. So ein Lebenslauf verpuffte rasch wie ein prächtiges Feuerwerk mit Geprassel, leuchtenden Raketen und sprühenden Feuerrädern, bis zuletzt plötzlich nur noch die halbverbrannten dunklen Gerüste dastanden; und das verblüffte Volk rieb sich die Blendung aus den Augen und lachte auseinanderlaufend über den närrischen Spaß. – Der Spaß hatte jedoch auch seine ernste Kehrseite, und grade diese Gruppe hat dem Adel am empfindlichsten geschadet, wie denn überall liebenswürdiger Leichtsinn und Unverstand gefährlicher ist als abstoßende Bosheit. Denn sie waren es vorzüglich, die nicht nur ihren eigenen Stand in schlimmen Ruf brachten, sondern auch in den unteren Schichten der Gesellschaft, die damals noch gläubig und bewundernd zum Adel aufblickten, die Seuche der Glanz und Genußsucht verbreiteten. Sie haben zuerst die schöne Pietät des von Generation zu Generation fortgeerbten Grundbesitzes untergraben, indem sie denselben in ihrer beständigen Geldnot durch verzweifelte Güterspekulationen zur gemeinen Ware machten. Und so legten sie unwillkürlich mit ihrem eigenen Erbe den Goldgrund zu der von ihnen höchst verachteten Geldaristokratie, die sie verschlang und ihre Trianons in Fabriken verwandelte.
Glücklicherweise aber läßt sich das menschliche Walten nicht in einzelne Kapitel und Paragraphen einfangen. Es versteht sich daher von selbst, daß die Grenzen aller jener Gruppen, die hier nur des klareren Überblicks wegen so konzentriert und scharf gesondert wurden, im Leben häufig ineinanderliefen. Am isoliertesten standen wohl die Prätentiösen durch ihre außerordentliche Langweiligkeit, die sie aller Welt als guten Geschmack aufdringen wollten. Am leichtesten dagegen sympathisierten die erste und dritte Gruppe miteinander, denn die unbefangenen Landjunker besaßen eben noch hinreichenden Humor, um sich an dem Mutwillen und den tollen Luftsprüngen ihrer extremen Standesgenossen zu ergötzen, während die letzteren beständig das Bedürfnis immer neuer und frappanterer Amüsements verspürten, und sich von dem ewigen Nektar nach derberer Hausmannskost sehnten; es bestand zwischen beiden ein stillschweigender Pakt wechselseitiger Erfrischung. In allen Klassen aber gab es noch Familien genug, die gleichsam mit einem traditionellen Instinkt, den alten Stammbaum frommer Zucht und Ehrenhaftigkeit in den Stürmen und Staubwirbeln der neuen Überbildung, wenn auch nicht zu regenerieren, doch wacker aufrechtzuhalten wußten; sowie einzelne merkwürdige und alle Standesschranken hoch überragende Charaktere, auf die wir weiterhin noch besonders zurückkommen wollen.
So ungefähr standen die Sachen in den letzten Dezennien des vorigen Jahrhunderts. Es brütete, wie schon gesagt, eine unheimliche Gewitterluft über dem ganzen Lande, jeder fühlte, daß irgend etwas Großes im Anzuge sei, ein unausgesprochenes, banges Erwarten, man wußte nicht von was, hatte mehr oder minder alle Gemüter beschlichen. In dieser Schwüle erschienen, wie immer vor nahenden Katastrophen, seltsame Gestalten und unerhörte Abenteurer, wie der Graf St. Germain, Cagliostro u.a., gleichsam als Emissäre der Zukunft. Die ungewisse Unruhe, da sie nach außen nichts zu tun und zu bilden fand, fraß immer weiter und tiefer nach innen; es kamen die Rosenkreuzer, die Illuminaten, man improvisierte allerlei private Geheimbünde für Beglückung und Erziehung der Menschheit, wie wir sie z.B. in Goethes „Wilhelm Meister“ auf Lotharios Schlosse sehen; albern und kindisch, aber als Symptome der Zeit von prophetischer Vorbedeutung. Denn der Boden war längst von heimlichen Minen, welche die Vergangenheit und Gegenwart in die Luft sprengen sollten, gründlich unterwühlt, man hörte überall ein spukhaftes unterirdisches Hämmern und Klopfen, darüber aber wuchs noch lustig der Rasen, auf dem die fetten Herden ruhig weideten. Vorsichtige Grübler wollten zwar schon manchmal gelinde Erdstöße verspürt haben, ja die Kirchen bekamen hin und wieder bedenkliche Risse, allein die Nachbarn, da ihre Häuser und Krämerbuden noch ganz unversehrt standen, lachten darüber, den guten Leuten im „Faust“ vergleichbar, die beim Glase Bier vom fernen Kriege, weit draußen in der Türkei behaglich diskurrieren.
Man kann sich daher heutzutage schwer noch einen Begriff machen von dem Schreck und der ungeheueren Verwirrung, die der plötzliche Knalleffekt durch das ganze Philisterium verbreitete, als nun die Mine in Frankreich wirklich explodierte. Die Landjunker wollten gleich aus der Haut fahren und den Pariser Drachen ohne Barmherzigkeit spießen und hängen. Die Prätentiösen lächelten vornehm und ungläubig und ignorierten den impertinenten Pöbelversuch, Weltgeschichte machen zu wollen; ja es galt eine geraume Zeit unter ihnen für plebejisch, nur davon zu sprechen. Die Extremen dagegen, die ohnedem zu Hause damals nicht viel mehr zu verlieren hatten, erfaßten die Revolution als ein ganz neues und höchst pikantes Amüsement und stürzten sich häufig kopfüber in den flammenden Krater. – Es ist überhaupt ein Irrtum, wenn man den Adel jener Zeit als die ausschließlich konservative Partei bezeichnen will. Er hatte, wie wir gesehen, damals nur noch ein schwaches Gefühl und Bewußtsein seiner ursprünglichen Bedeutung und Bestimmung, eigentlich nur noch eine vage Tradition zufälliger Äußerlichkeiten und folglich selbst keinen rechten Glauben mehr daran. Überdies war das Neue in Deutschland noch keineswegs bis zum Volke gedrungen, es war lediglich eine Geheimwissenschaft der sogenannten gebildeten Klassen, und daher häufig von Adeligen vertreten. Unter ihnen befanden sich viele ernste und hochgestimmte Naturen, die überall zuletzt den Ausschlag geben; aber grade diese, da sie die Unrettbarkeit des Alten einsahen, waren dem Neuen zugewandt. Und diese hatten den schlimmsten Stand. Den Landjunkern waren sie zu gelehrt und durchaus unverständlich, den Prätentiösen zu bürgerlich, den Extremen zu schulmeisterlich; sie wurden von allen ihren Standesgenossen als Renegaten desavouiert, was sie denn freilich in gewissem Sinne auch wirklich waren. Aus diesen Sonderbündlern sind später, als die Revolution zur Tat geworden, einige höchst denkwürdige Charaktere hervorgegangen. So der rastlos unruhige Freiheitsfanatiker Baron Grimm, unablässig wie der Sturmwind die Flammen schürend und wendend, bis sie über ihm zusammenschlugen und ihn selbst verzehrten. So auch der berühmte Pariser Einsiedler Graf Schlabrendorf, der in seiner Klause die ganze soziale Umwälzung wie eine große Welttragödie unangefochten, betrachtend, richtend und häufig lenkend, an sich vorübergehen ließ. Denn er stand so hoch über allen Parteien, daß er Sinn und Gang der Geisterschlacht jederzeit klar überschauen konnte, ohne von ihrem wirren Lärm erreicht zu werden. Dieser prophetische Magier trat noch jugendlich vor die große Bühne, und als kaum die Katastrophe abgelaufen, war ihm der greise Bart bis an den Gürtel gewachsen.
Wenn auf den unwirtbaren Eisgipfeln der Theorie die Lawine fertig und gehörig unterwaschen ist, so reicht der Flug eines Vogels, der Schall eines Wortes hin, um, Felsen und Wälder entwurzelnd, das Land zu verschütten; und dieses Wort hieß: Freiheit und Gleichheit. Das Alte war in der allgemeinen Meinung auf einmal zertrümmert, der goldene Faden aus der Vergangenheit gewaltsam abgerissen. Aber unter Trümmern kann niemand wohnen, es mußte notwendig auf anderen Fundamenten neu gebaut werden, und von da ab begann das verzweifelte Experimentieren der vermeintlichen Staatskünstler, das noch bis heut die Gesellschaft in beständiger fieberhafter Bewegung erhält. Es wiederholte sich abermals der uralte Bau des Babylonischen Turmes mit seiner ungeheueren Sprachenverwirrung, und die Menschheit ging fortan in die verschiedenen Stämme der Konservativen, Liberalen und Radikalen auseinander. Es waren aber vorerst eigentlich nur die Leidenschaften, die unter der Maske der Philosophie, Humanität oder sogenannten Untertanentreue, wie Drachen mit Lindwürmen auf Tod und Leben gegeneinander kämpften; denn die Ideen waren plötzlich Fleisch geworden und wußten sich in dem ungeschlachten Leibe durchaus noch nicht zurechtzufinden.
Fassen wir jedoch diesen Kampf der entfesselten und gärenden Elemente schärfer ins Auge, so bemerken wir den der Religion gegen die Freigeisterei, als das eigentlich bewegende Grundprinzip, offenbar im Vordertreffen, denn die Veränderungen der religiösen Weltansicht machen überall die Geschichte. Hier aber war der Kampf zunächst ein sehr ungleicher. Der kleine Landadel trieb großenteils die Religion nur noch wie ein löbliches Handwerk, und blamierte sich damit nicht wenig vor den weit ausgreifenden Fortschrittsmännern. Die vermeintlich gebildeteren Adelsklassen dagegen, denen die Lächerlichkeit jederzeit als die unverzeihlichste Todsünde erschien, hatten, schon längst mit den freigeisterischen französischen Autoren heimlich fraternisierend, die neue Aufklärung als notwendige Mode- und Anstandssache, gleichsam als moderne Gasbeleuchtung ihrer Salons stillschweigend bei sich aufgenommen, und erschraken jetzt zu spät vor den ganz unanständigen Konsequenzen, da ihre Franzosen plötzlich Gott abschafften und die nackte Vernunft leibhaftig auf den Altar stellten. Wie aber sollten sie so halbherzig und nachdem sie die rechte Waffe selbst aus der Hand gegeben, sich nun den ungestümen Drängern entgegenstemmen? Es konnte nicht anders sein: die neue Welt schritt über ihre ganz verblüfften Köpfe hinweg, ohne nach ihnen zu fragen. Christus galt fortan für einen ganz guten, nur leider etwas überspannten Mann, dem sich jeder Gebildete wenigstens vollkommen ebenbürtig dünkte. Es war eine allgemeine Seligsprechung der Menschheit, die durch ihre eigene Kraft und Geistreichigkeit kurzweg sich selbst zu erlösen unternahm; mit einem Wort: der vor lauter Hochmut endlich toll gewordene Rationalismus, welcher in seiner praktischen Anwendung eine Religion des Egoismus proklamierte.
Hatte man aber hiermit alles auf die subjektive Eigenmacht gestellt, so kam es natürlich nun darauf an, diese Eigenmacht auch wirklich zu einer Weltkraft zu entwickeln; und daraus folgte von selbst der gewaltige Stoß der neuen Pädagogik gegen die alte Edukation. Diese war bisher wesentlich eine partikuläre Standeserziehung gewesen, das Individuum ging in seinem bestimmten Stande, alle Stände aber in der allgemeinen Idee des Christentums auf. Jetzt dagegen sollte auch hier die bloße Natur frei walten, jeder Knabe sollte seine subjektive Art oder Unart ungeniert herausbilden, gleichsam spielend sich selbst erziehn, man wollte lauter Rousseausche Emile, das Endziel war der „starke Mensch“. Diese Emanzipation der Jugend vom alten Schulzwange hatte zunächst Basedow in die derbe Faust genommen, von dessen Dessauer Philantropie Herder sagte: „Mir kommt alles schrecklich vor; man erzählte mir neulich von einer Methode, Eichwälder in zehn Jahren zu machen; wenn man den jungen Eichen unter der Erde die Herzwurzeln nähme, so schieße alles über der Erde in Stamm und Äste. Das ganze Arkanum Basedows liegt, glaub ich, darin, und ihm möchte ich keine Kälber zu erziehen geben, geschweige Menschen.“ – Basedow war ein revolutionärer Renommist, sein Nachfolger Campe ein zahmer Philister; jener hat diesen Realismus aufgebracht, Campe hat ihn für die Gebildeten zurechtgemacht und Goethe das ganze Treiben in seinen „Wanderjahren“ köstlich parodiert.
Allein solcher Umschwung macht sich nirgend so plötzlich, als die sich überstürzenden Pädagogen es wollten und erwarteten. Namentlich die Gymnasien waren noch keineswegs nach der neuen Schablone zugeschnitten, und es dauerte eine geraume Zeit, ehe hier der moderne Realismus, neben dem alten Klassizismus freundnachbarlich Platz nehmen konnte. Sie waren noch weit davon entfernt, jene Musterkarte von Vielwisserei zu bieten, die nur das eingebildete Halbwissen erzeugt, indem sie das fröhliche Argonautenschiff der Jugend über seine natürliche Tragfähigkeit, mit einer ganz disparaten Ausrüstung belastet, von der dann gewöhnlich die Hälfte als unnützer Ballast wieder über Bord geworfen wird. Die protestantischen Gymnasien jener Zeit basierten noch wesentlich auf der Reformation, welche die Philologie als eine Weltmacht hingestellt hatte. Sie litten daher allerdings an einer, fast nur für künftige Professoren oder Theologen berechneten philologischen Starrheit; haben aber in dieser einseitigen Gründlichkeit Außerordentliches geleistet und eine Menge namhafter Gelehrten in die Welt gesandt. – Dasselbe kann man von den damaligen katholischen Gymnasien nicht rühmen. Diese befanden sich früher größtenteils in den Händen der Jesuiten, die eine mehr allgemeine Bildung mit einer gewissen klösterlichen Zucht und Strenge gar wohl zu vereinigen wußten. Jetzt aber, nach Aufhebung des Ordens, sahen sie sich plötzlich von allen Seiten den Anfechtungen des tumultuarischen Zeitgeistes, und zwar wehrlos, ausgesetzt. Denn die übriggebliebenen Exjesuiten und mit ihnen ihre alten Erziehungstraditionen waren allmählich ausgestorben, und die neuen Lehrkräfte, wie sie die veränderte Zeit durchaus erforderte, noch keineswegs herangebildet. Es entstand aber, bevor man sich nur erst einigermaßen orientiert hatte, notwendig ein augenblicklicher Stillstand, eine sehr fühlbare hin und her schwankende Unsicherheit und schüchterne Nachahmung des protestantischen Wesens, die natürlich anfangs ziemlich ungeschickt ausfallen mußte. Nur das fortdauernde Bedürfnis eines feierlichen Gottesdienstes erhielt hier noch lange Zeit eine ernste und gründliche musikalische Schule, aus der mancher berühmte Künstler hervorgegangen ist. Die Schüler veranstalteten zwar noch immer zur Weihnachtszeit theatralische Vorstellungen, aber statt der früheren, mit aller würdigen Pracht ausgestatteten Aufführung geistlicher Schauspiele, wo man nicht selten kühn auf die Meisterwerke Calderons zurückgegriffen hatte, wurden jetzt alberne Stücke aus dem „Kinderfreund“, ja sogar Kotzebueaden gegeben. Auch ihre sogenannten Konvikte bestanden noch, wirkten jedoch häufig störend durch den aristokratischen Unterschied zwischen den armen Freischülern (Fundatisten) und den reichen Pensionärs, die fast ausschließlich dem Adel angehörten. Denn auch der Adel mußte nun, wenn er nicht von der Zukunft exkludiert sein wollte, dem allgemeinen Zuge folgen. Das nach dem neuen Maßstabe durchaus unzureichende Hauslehrerunwesen, sowie die Pariser Reisestudien hatten fast ganz aufgehört, der Offiziersdienst reduzierte sich immer mehr erblich von Generation zu Generation auf bestimmte unbegüterte Militärfamilien, die jungen Kavaliere gingen auf die Gymnasien wie die andern. Ihre Erziehung war also keine spezifisch adelige mehr, sondern mehr oder minder in die Volksschule aufgegangen.
Fast noch unmittelbarer berührte jedoch den Adel der gleichzeitig zur Herrschaft gelangte Kosmopolitismus, jener seltsame „Überall und Nirgends„, der in aller Welt und also recht eigentlich nirgend zu Hause war. Aus allen möglichen und unmöglichen Tugenden hatte man für das gesamte Menschengeschlecht eine prächtige Bürgerkrone verfertiget, die auf alle Köpfe passen sollte, als sei die Menschheit ein bloßes Abstraktum und nicht vielmehr ein lebendiger Föderativstaat der verschiedensten Völkerindividuen. Alle Geschichte, alles Nationale und Eigentümliche wurde sorgfältigst verwischt, die Schulbücher, die Romane und Schauspiele predigten davon; was Wunder, daß die Welt es endlich glaubte! Der Adel aber war durchaus historisch, seine Stammbäume wurzelten grade in dem Boden ihres speziellen Vaterlandes, der ihnen nun plötzlich unter den Füßen hinwegphilosophiert wurde. Diese barbarische Gleichmacherei, dieses Verschneiden des frischen Lebensbaumes nach einem eingebildeten Maße war die größte Sklaverei; denn was wäre denn die Freiheit anderes, als eben die möglichst ungehinderte Entwickelung der geistigen Eigentümlichkeit?
Hiermit hing wesentlich auch das politische Dogma zusammen, wonach alle Laster, wie etwa jetzt den Jesuiten, dem Adel, alle Tugenden den niederen Ständen zugewiesen wurden. Wer erinnert sich nicht noch aus den damaligen Leihbibliotheken und Theatern der falschen Minister, der abgefeimten Kammerherren, der Scharen unglücklicher Liebender, die vom Ahnenstolz unbarmherzig unter die Füße getreten werden, sowie andrerseits der edelmütigen Essighändler, biederen Förster usw., wovon z.B. Schillers „Kabale und Liebe“ ein geistreiches Resumee gibt. Allein in der Wirklichkeit verhielt es sich anders als in den Leihbibliotheken; es war, nur unter verschiedenen Formen und Richtungen, der eine eben nicht besser und nicht schlimmer als der andre. Der Bauernstolz ist sprichwörtlich geworden, und die Bauern sind noch heutzutage die letzten Aristokraten vom alten Stil. Der Bürgerstand aber hatte längst dieselbe retrograde Bewegung gemacht, wie der Adel. Seine ursprüngliche Bedeutung und Aufgabe war die Wiederbelebung der allmählich stagnierenden Gesellschaft durch neue bewegende Elemente, mit einem Wort: die Opposition gegen den verknöcherten Aristokratismus. In seiner frischen Jugend daher, da er noch mit dem Rittertum um die Weltherrschaft gerungen, atmete er wesentlich einen republikanischen Geist. Die Städte regierten und verteidigten sich selbst, ihre streng gegliederten Handwerkerinnungen waren zugleich eine kriegerische Verbrüderung zu Schutz und Trutz, und die Handelsfahrten in die ferne Fremde erweiterten ihr geistiges Gebiet weit über den beschränkten Gesichtskreis der einsam lebenden Ritter hinaus. Da war überall ein rüstiges Treiben, Erfinden, Wagen, Bauen und Bilden, wovon ihre Münster, sowie ihre welthistorische Hansa ein ewig denkwürdiges Zeugnis geben. Nachdem aber draußen die Burgen gebrochen und somit die bewegenden Ideen der zu erobernden Reichsfreiheit abgenutzt und verbraucht waren, fingen sie nach menschlicher Weise an, die materiellen Mittel, womit ihre jugendliche Begeisterung so Großes geleistet, als Selbstzweck zu betrachten; gleichwie sie ja auch in der Kunst nun die handwerksmäßigen Reimtabulaturen ihres Meistergesanges für Poesie nahmen. Und mit dieser gemeinen Herabstimmung hatten sie auch sich selbst schon aufgegeben, denn ihre Stärke war die Korporation, die Korporation aber ist nur stark durch den beseelenden Geist, der alle dem Ganzen unterordnet und keinen Egoismus duldet. Da aber, wie gesagt, dieser strenge Geist ihnen im Siegesrausch abhanden gekommen, so mußten nun wohl ihre großartigen Vereine in ihre einzelnen Bestandteile auseinanderfallen und jeder Teil in seinen bloßen Schein umschlagen; von ihrer lebendigen Gliederung blieb nur die pedantische Schablone, von ihrem fröhlichen Volksliede nur die Reimtabulatur übrig, ihre Stadtwehr wurde zur geputzten Schützengilde, die nach gemalten Feinden schoß, der alte Welthandel zur Kleinkrämerei. In ihrer schönen Jugendzeit hatten sie die Buchdruckerkunst um der Wissenschaft willen ersonnen und um Gottes willen Kirchen gebaut, an deren kühnen Pfeilern und Türmen die heutigen Geschlechter schwindelnd emporschauen. Jetzt bauten sie Fabriken und Arbeiterkasernen, erfanden klappernde Maschinen zum Spinnen und Weben, und es ist offenbar, die Industrie wuchs zusehends weit und breit. Aber wir dürfen uns keine Illusionen machen. Die Industrie an sich ist eine ganz gleichgültige Sache, sie erhält nur durch die Art ihrer Verwendung und Beziehung auf höhere Lebenszwecke Wert und Bedeutung.
So hatte also der Bürgerstand – dessen Seele die geistige Bewegung, oder wie wir es jetzt nennen würden: das Prinzip des beständigen Fortschritts war – sich kampfesmüde auf den goldenen Boden des Handwerks gelegt, und die Städte waren allmählich aus einer Weltmacht eine Geldmacht geworden. Allein hierin war ihnen der Adel im allgemeinen durch seinen großen Landbesitz noch immer bedeutend überlegen; sie hatten sich mit ihm auf denselben materiellen Boden gestellt, auf dem sie ihn unmöglich innerlich bewältigen konnten. Sie suchten daher nun äußerlich mit ihm zu rivalisieren, sie wollten nicht bloß frei und reich, sondern auch vornehm sein. Das ist aber jederzeit ein höchst mißliches Unternehmen, denn um vornehm zu erscheinen, muß man, wie Goethe irgendwo sagt, wirklich vornehm, d.h. durch die allgemeine Meinung irgendwie bereits geadelt sein. Das forcierte Vornehmtun macht gerade den entgegengesetzten Effekt: „man merkt die Absicht und ist verstimmt„; wogegen das wirklich Vornehme sich durchaus bequem und passiv zeigt, als ein natürliches bloßes Ablehnen des Gemeinen bei völliger Unbekümmertheit um eine höhere Geltung, die sich ja schon ganz von selbst versteht. Es ist demnach sehr begreiflich, daß jene kleinliche Rivalität der Bürgerlichen, da sie auf der neuen Bühne die ihnen noch mangelnde Routine durch feierlichen Pathos zu ersetzen strebten, anfangs noch ziemlich ungeschickt ausfallen mußte, und daß der Adel seinerseits diese gewaltsamen und pompösen Anstrengungen der „Ellenreiter“ mit einer gewissen Schadenfreude belächelte.
Beides indes, dieses Lächeln sowie jenes Großtun, nahm plötzlich ein Ende mit Schrecken, als gegen Schluß des vorigen Jahrhunderts auf einmal die ganze Aufklärung, die echte und die falsche, aus den Bücherschränken in alle Welt ausgefahren. Es handelte sich nun nicht mehr um dies und jenes, sondern um die gesamte Existenz, Satan sollte durch Beelzebub ausgetrieben werden, es war ein Krieg aller gegen alle. Der grobe Materialismus rang mit körperlosen Abstrakten, die zärtliche Humanität fraternisierte mit der Bestialität des Freiheitspöbels, die dickköpfige Menschheit wurde mit Bluthunden zu ihrer neuen Glückseligkeit gehetzt, und Philosophie und Aberglauben und Atheismus rannten wild gegeneinander, so daß zuletzt in dem rasenden Getümmel niemand mehr wußte, wer Freund oder Feind. – Und in dieser ungeheueren Konfusion tat der Adel grade das Allerungeschickteste. Anstatt die im Sturm umher flatternden Zügel kraft höherer Intelligenz kühn zu erfassen, isolierte er sich stolz grollend und meinte durch Haß und Verachtung die eilfertige Zeit zu bezwingen, die ihn natürlich in seinem Schmollwinkel sitzenließ. Aber nur die völlige Barbarei kann ohne Adel bestehen. In jedem Stadium der Zivilisation wird es, gleichviel unter welchen Namen und Formen, immer wieder Aristokraten geben, d.h. eine bevorzugte Klasse, die sich über die Massen erhebt, um sie zu lenken. Denn der Adel (um ihn bei dem einmal traditionell gewordenen Namen zu nennen) ist seiner unvergänglichen Natur nach das ideale Element der Gesellschaft; er hat die Aufgabe, alles Große, Edle und Schöne, wie und wo es auch im Volke auftauchen mag, ritterlich zu wahren, das ewig wandelbare Neue mit dem ewig Bestehenden zu vermitteln und somit erst wirklich lebensfähig zu machen. Mit romantischen Illusionen und dem bloßen eigensinnigen Festhalten des längst Verjährten ist also hierbei gar nichts getan. Dahin aber scheint der heutige Aristokratismus allerdings zu ziehen, dem wir daher zum Valet wohl meinend zurufen möchten:
Prinz Rokoko, hast dir Gassen
Abgezirkelt fein von Bäumen
Und die Bäume scheren lassen,
Daß sie nicht vom Wald mehr träumen.Wo sonst nur gemein Gefieder
Ließ sein bäurisch Lied erschallen,
Muß ein Papagei jetzt bieder:
„Vivat Prinz Rokoko!“ lallen.Quellen, die sich unterfingen,
Durch die Waldesnacht zu tosen,
Läßt du als Fontänen springen
Und mit goldnen Bällen kosen.Und bei ihrem sanften Rauschen
Geht Damöt bebändert flöten
Und in Rosenhecken lauschen
Daphnen fromm entzückt Damöten.Prinz Rokoko, Prinz Rokoko,
Laß dir raten, sei nicht dumm!
In den Bäumen, wie in Träumen,
Gehen Frühlingsstimmen um.Springbrunn in dem Marmorbecken
Singt ein wunderbares Lied,
Deine Taxusbäume recken
Sehnend sich aus Reih und Glied.Daphne will nicht weiter schweifen
Und Damöt erschrocken schmält,
Können beide nicht begreifen,
Was sich da der Wald erzählt.Laß die Wälder ungeschoren,
Anders rauscht’s, als du gedacht
Sie sind mit dem Lenz verschworen,
Und der Lenz kommt über Nacht.
Bilder: via Frank T. Zumbach: Long Gone, Teil 1, 2, 3, 4, 5, 6, alle 4. August 2021.
Soundtrack: François-Adrien Boieldieu: Concerto für Klavier in F-Dur, 1792;
Innsbrucker Symphonieorchester unter Robert Wagner, Klavier: Martin Galling, 1994:
Filetstück 0003, 1 von 3: Europamüde vor Langerweile (Vorwort)
Update zu Des eigenen Herzens süße Melodie,
Alle wurden bei diesem Anblicke still und atmeten tief über dem Wellenrauschen: Regensburg bis Grein,
Ahnung und Gegenwart. Jeune femme assise. Wie sie ist
und Eichendorffs Märchen:
Freunde hatten mich längst aufgefordert, meine Memoiren zu schreiben, ohne daß ich mich dazu bisher zu entschließen vermochte. Nun der Abend meines Lebens aber immer tiefer hereindunkelt, fühle ich selbst ein Bedürfniß, im scharfen Abendroth noch einmal mein Leben zu überschauen, bevor die Sonne ganz versunken. Ich will jedoch weniger meinen Lebenslauf schildern, als die Zeit, in der ich gelebt, mit einem Wort: Erlebtes im weitesten Sinne. Wenn dennoch meine Person vorkommt, so soll sie eben nur der Reverbère sein, um die Bilder und Ereignisse schärfer zu beleuchten. Man tadelt an den Memoiren häufig, daß sie entweder die Sentimentalität oder die Reflexion zu sehr vorwalten lassen. Mir scheint, wer die eine oder die andere absichtlich sucht, fehlt ebenso, als wer sie ängstlich vermeidet. Sie wechseln beide nothwendig im Leben, und so will ich denn schreiben, wie sich’s eben schicken und fügen will. Und wenn auch immerhin weder meine Persönlichkeit noch meine Schicksale ein allgemeineres Interesse ansprechen, so dürften doch vielleicht manche Streiflichter dabei auch eine Zeit erhellen, die uns so fremd geworden ist.
Soweit Eichendorff in seinem Todesjahr 1857, überliefert von seinem Sohn Hermann, zugleich Herausgeber seiner ersten Sämmtlichen Werke, 1864 in der Biographischen Einleitung zum 1. Band mit den Gedichten, Seite 212. Leider schaffte er nur noch die ersten beiden Kapitel zu seinen Memoiren auszuführen, die hier als dreiteiliges „Filetstück“ erscheinen.
Das Vorwort dazu druckt Ansgar Hillach noch 1970 in der Gesamtausgabe bei Winkler eben als Vorwort dazu ab — ausdrücklich
trotz erheblicher Bedenken an dieser Stelle belassen, nicht um Koschs kaum begründete Plazierung zu rechtfertigen, sondern um Erlebtes, als ein Fragment, sichtbar in den Zusammenhang der E’schen Bemühungen um eine autobiographische Dichtung zu stellen.
1980 im vierten Band mit Nachlese der Gedichte, Erzählerische und dramatische Fragmente, Tagebücher 1798–1815) wird die Stelle als Vorwort zu den Memoiren als „irrtümlich“ eingestuft und als Entwurf einer Rahmenhandlung zur Einsiedler-Novelle. Tröst-Einsamkeit berichtigt und nach zehn Jahren innerhalb derselben Ausgabe zum zweiten Mal abgedruckt.
Soll noch einer behaupten, Literatur-Wissenschaft wäre keine Wissenschaft.
——— Joseph von Eichendorff:
Erlebtes
1857, gedruckt posthum in Hermann von Eichendorff, Hrsg.:
Aus dem literarischen Nachlasse Joseph Freiherrn von Eichendorffs, Paderborn 1866,
als Erlebtes. Deutsches Adelsleben am Schlusse des vorigen Jahrhunderts; Halle und Heidelberg:
Vorwort
An einem schönen warmen Herbstmorgen kam ich auf der Eisenbahn vom andern Ende Deutschlands mit einer Vehemenz dahergefahren, als käme es bei Lebensstrafe darauf an, dem Reisen, das doch mein alleiniger Zweck war, auf das allerschleunigste ein Ende zu machen. Diese Dampffahrten rütteln die Welt, die eigentlich nur noch aus Bahnhöfen besteht, unermüdlich durcheinander wie ein Kaleidoskop, wo die vorüberjagenden Landschaften, ehe man noch irgendeine Physiognomie gefaßt, immer neue Gesichter schneiden, der fliegende Salon immer andere Sozietäten bildet, bevor man noch die alten recht überwunden. Diesmal blieb indessen eine Ruine rechts überm Walde ganz ungewöhnlich lange in Sicht. Europamüde vor Langerweile fragte ich, ohne daß es mir grade um eine Antwort sonderlich zu tun gewesen wäre, nach Namen, Herkunft und Bedeutung des alten Baues; erfuhr aber zu meiner größten Verwunderung weiter nichts als gerade das Unerwartetste, daß nämlich dort oben ein Einsiedler hause. – „Was! so ein wirklicher Eremit mit langem Bart, Rosenkranz, Kutte und Sandalen?“ – Keiner von der Gesellschaft im fliegenden Kasten konnte mir jedoch über diesen impertinenten Rückschritt genügende Auskunft erteilen, niemand hatte den Einsiedel selbst gesehen. Einer der Herren erklärte ihn schlechtweg für einen hochmütigen Sonderling, da er, wie er erfahren, bei der gebildeten Nachbarschaft nirgends Besuch gemacht, ja nicht einmal Visitenkarten umhergeschickt habe. Ein zweiter meinte, da stecke wohl etwas ganz anderes, eine dunkle Tat, ein großes politisches Verbrechen dahinter. – „Ja, diese heimlichen Jesuiten!“ fiel ihm da ein dritter mit einem wichtigen Augenzwick in die Rede, und sprach nichts weiter. Eine Berliner Dame dagegen, die eben ihre Zigarre angeraucht, versicherte lachend, das sei ohne Zweifel der letzte Romantiker, der sich vor dem Fortschritt der wachsenden Bildung in den mittelalterlichen Urwald geflüchtet. Alle stimmten endlich darin überein, daß besagter Einsiedler etwas verdreht im Kopfe sein müsse.
Diese Notwendigkeit wollte mir zwar keineswegs so unbedingt einleuchten, doch war das wenige, das ich gehört, abenteuerlich genug, um mich neugierig zu machen. Ich beschloß daher, auf der nächsten Station zurückzubleiben, und den seltsamen Kauz womöglich in seinem eignen Neste aufzusuchen.
Das war aber nicht so leicht, wie ich’s mir vorgestellt hatte. In den Bahnhöfen ist eine so große Eilfertigkeit, daß man vor lauter Eile mit nichts fertig werden kann. Die Leute wußten genau, in welcher Stunde und Minute ich in Paris oder Triest oder Königsberg, wohin ich nicht wollte, sein könne, über Zugang und Entfernung des geheimnisvollen Waldes aber, wohin ich eben wollte, konnte ich nichts Gewisses erfahren; ja der Befragte blickte verwundert nach der bezeichneten Richtung hin, ich glaube, er hatte die Ruine bisher noch gar nicht bemerkt. Desto besser! dachte ich, schnürte mein Ränzel und schritt wieder einmal mit lang entbehrter Reiselust in die unbestimmte Abenteuerlichkeit des altmodischen Wanderlebens hinein.
Schon war die Rauchschlange des Bahnzuges weit hinter mir in den versinkenden Tälern verschlüpft, statt der Lokomotive pfiffen die Waldvögel grade ebenso wie vor vielen, vielen Jahren, da ich mir als Student zum erstenmal die Welt besehen, als wollten sie fragen, wo ich denn so lange gewesen? So kletterte ich unter dem feierlichen Waldesrauschen auf dem steilen Fußsteig, den mir die Hirten verraten, an einsamen Wiesen vorüber, wo die weidenden Kühe scheu und neugierig nach mir aufsahen, zwischen Weißdorn und Berberitzen, die im vollen Blütenstaat jugendlichen Übermuts auf meine grauen Haare und abgetragene Wandertasche stichelten, siegreich immer höher und höher hinan, bis ich mich endlich durch das Dickicht auf die letzte Höhe herausgearbeitet hatte.
Da lag plötzlich, wie in einem Nest von hohem Gras und Unkraut und die Tatzen weit nach mir vorgestreckt, eine riesenhafte Sphinx neben mir, die mich mit ihren steinernen Augen fragend anglotzte. Und in der Tat, das unverhoffte Ungeheuer gab mir ein Rätsel auf, das mich ganz verwirrte. Denn statt der erwarteten Klüfte, wilden Quellen und Felsenklausen nebst Zubehör erblickte ich einen, freilich arg verwilderten, altfranzösischen Garten: hohe Alleen und gradlinige Kiesgänge; rechts und links einzelne Päonien und Kaiserkronen, über denen bunte Schmetterlinge wie verwehte Blüten dahinschwebten, und in der Mitte eine Fontäne, die einförmig fortplätscherte in der großen Stille; nur ein Pfau spazierte stolz zwischen den Kaiserkronen. Es war aber eben Mittagszeit und eine fast gespenstische Beleuchtung ohne Schatten, die Sonne brannte, die Vögel schwiegen, der Wald rauschte kaum noch wie im Traume. Mir war’s, als ginge ich durch irgendeine Verzauberung mitten in die gute alte Zeit, ich schüttelte mehrmal mit dem Kopf, ob mir nicht etwa unversehens ein Haarbeutel im Nacken gewachsen.
So kam ich an die Ruine, oder vielmehr an ein Schloß, das allerdings ruiniert genug war, aber offenbar weniger durch sein Alter, als durch einen gewaltsamen Brand. Der eine Teil lag malerisch verfallen, und fraternisierte längst mit dem Frühling, der mit seinen blühenden Ranken überall an Pfeilern und Wänden lustig hinaufkletterte. Nur der nach dem Garten hin gelegene Flügel, alle Fenster künstlich umschnörkelt und durch steinerne Blumengirlanden miteinander verbunden, sah noch sehr vornehm aus, wie eine Residenz des Prinzen Rokoko. Ein Fenster unten stand offen. Ich blickte hinein und übersah eine lange Reihe großer und hoher Gemächer mit reichen Tapeten, parkettierten Fußböden und prächtigen Stuckverzierungen an den Decken, überall samtene Kanapees und Sessel, die Lehnen weißlackiert mit goldenen Leisten, große Spiegel und Marmortische darunter. Es war so kühl da drinnen in der feierlichen Einsamkeit, aus einem der entfernteren Gemächer flötete soeben eine unsichtbare Spieluhr eine Menuett herüber, die ich noch aus meiner Kindheit zu kennen glaubte.
Jetzt hörte ich kleine, feine Stimmen hinter mir: es war ein Knabe und ein Mädchen, die einander gejagt hatten und stutzig stillstanden, da sie mich erblickten. „Wo ist der Zauberer – der Herr Einsiedler?“ fragte ich, mich selbst verbessernd. Der erhitzte Knabe schüttelte die Locken aus dem hübschen Gesichtchen und sah mich schweigend und fast trotzig an. Das etwas ältere Mädchen aber wies nach einer Laube hin und sagte mit einem zierlichen Knicks: „Er betet.“ – Also am Ende doch wirklich ein Eremit im alten Stil, dachte ich und eilte der bezeichneten Geißblattlaube zu. Dort saß ein Mann, den Rücken nach mir gekehrt und, wie es schien, eifrig in einen schweinsledernen Quartanten vertieft, der auf dem steinernen Tische vor ihm lag. Auf einmal aber, als ich schon ziemlich nahe war, fuhr ein zahmer Storch, den ich bisher gar nicht bemerkt hatte, erschrocken neben mir aus seinen Gedanken, legte den Hals hintenüber, sperrte den langen Schnabel weit auf und klapperte aus Leibeskräften. Da wandte sich der Einsiedler. – „Arthur!“ rief ich ganz erstaunt – es war mein liebster Kriegskamerad vom Lützowschen Korps!
„Um des Himmels willen, was machst denn du hier?“ – „Ich lese Calderons Autos“ – „Aber just in dieser seltsamen Abgeschiedenheit!“ – „Das sind die Trümmer meiner Heimat“, entgegnete er ruhig, „und das dort die Enkel meiner Spielgesellen aus der Kinderzeit“, fügte er lächelnd hinzu, auf die beiden Kinder weisend, die unterdes neugierig mir gefolgt waren.
Er hatte sich inzwischen hoch aufgerichtet. Er trug nichts weniger als eine korrekte Einsiedleruniform, sondern einen grünen kurzen Jagdrock und nur einen schönen vollen Bart, wie ihn unsere modernen Einsiedler in den Kaffeehäusern und Lesekabinetten tragen. Wir hatten uns seit den Kriegsjahren nicht mehr gesehen; nun beschauten wir einander eine Zeitlang stillschweigend, bis wir zuletzt beide in ein lautes Lachen ausbrachen: so uralt und ehrwürdig waren wir beide seitdem geworden; nur seine Augen waren noch immer die alten, treuen, ich hatte ihn sogleich an dem ganz eigentümlichen Blicke wiedererkannt.
Bilder: via Frank T. Zumbach: Long Gone, Teil 1, 2, 3, 4, 5, 6, alle 4. August 2021.
Fachfilm: Landsmannschaft der Oberschlesier e.V.: Schläft ein Lied in allen Dingen …,
Aladin-Filmproduktion im Auftrag des Bayerischen Rundfunks, 1981:
Soundtrack: Carl Maria von Weber: Klavierkonzert Nr. 1 C-Dur opus 11, 1810;
Klavier: Eduard Erdmann, live 16. November 1952:
Puschkins Faust 2 von 2: Sag mir, durch welche Zaubersprüche bekomme ich Macht über dich?
Update zu Doktor Faust thu dich bekehren
und natürlich zu allen aus dem ersten Teil:
Zweimal hat der Vater der russischen Literatur — Puschkin — sich 1825 am urdeutschen Faust-Stoff versucht: einmal in Form einer ausgearbeiteten Szene, einmal in Form dreier kurzer dramatischer Fragmente. Beenden wir unsere zweiteilige Serie mit letzteren. Das Bildmaterial sei uns wenig faustisch, vielmehr Petersburgisch.
Es verlautet das Erreichbare: Vorläufiges zu Gerhard Dudeks eigener Studie Metamorphosen von Mephistopheles und Faust bei Puschkin 1991, seiner Akademie jahrs zuvor als Plenarvortrag unter gleicher Überschrift umrissen und in Aussicht gestellt — gefolgt von Puschkins Primärmaterial, vormals Fausts Höllenfahrt oder Höllenpoem, nach der DDR-Ausgabe von 1973:
——— Gerhard Dudek:
Metamorphosen von Mephistopheles und Faust bei Puschkin
Plenarvortrag an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, 12. Oktober 1990:
Die Beziehungen Puschkins zu Goethe sowie zu dessen „Faust“ sind seit H. Koenigs „Litterarischen Bildern aus Rußland“ (1837) und K. A. Varnhagen von Enses Puschkin-Aufsatz (1938) Gegenstand zahlreicher Untersuchungen von Literaturkritikern, Slawisten und Germanisten. Dennoch weist dieses Forschungsfeld immer noch Lücken auf. Dazu gehört eine das Gesamtschaffen Puschkins berücksichtigende Darstellung der Rezeption und schöpferischen Umsetzung der Faustsage durch den Autor des „Eugen Onegin“.
In unserer Studie gehen wir davon aus, daß Puschkin Kenntnis vom Volksbuch über Faust, von Fr. M. Klingers Roman „Fausts Leben, Taten und Höllenfahrt“ sowie Goethes „Faust“ (Erster Teil) erhalten hat, sei es aus mündlichen Berichten bzw. französischen Übersetzungen und deutschen Originalen. Unter dem Eindruck des Faust-Kapitels in Mme. de Staëls „De l’Allemagne“ gewann Goethes Mephistopheles für Puschkin besondere Bedeutung, da diese Gestalt seiner geistigen Haltung um 1820 entgegenkam und ihn auch später immer wieder zur Darstellung reizte. Dies belegen wir zunächst damit, daß Puschkin wahrscheinlich bereits 1821 Mephistopheles – allerdings noch in der Figur des Teufels der christlichen Dämonologie – reflektiert hat. Dafür spricht, daß der Dichter auf dem Blatt mit dem Plan für das Poem „Gabrieliade“ ein Porträt zeichnete, das von M. A. Zjawlowski als das Goethes angesehen wird. Das zeigt sich ferner an den Fragmenten des Poems „Der verliebte Teufel“ (1821) sowie den zu diesem Sujet entworfenen „Höllenzeichnungen“, zu denen Puschkin offenbar durch Szenen aus Klingers Faust-Roman angeregt worden ist.
Die Metamorphose des religiösen Teufels zu einer weltlichen Gestalt philosophischpolitischen Inhalts postulieren wir – Beobachtungen D. Gerhardts folgend – für einen Zyklus von sieben Gedichten und Versfragmenten, die vornehmlich Ende 1823 in Odessa entstanden sind. Mit der Figur des Dämon in dem gleichnamigen Gedicht vom Oktober/November 1823 schuf Puschkin eine eigenständige Variante zu Goethes Mephistopheles, die für die russische Literatur ebenso bedeutsam werden sollte wie Goethes Schöpfung für die deutsche. In Puschkins eigener Deutung seines „Dämon“ als „Geist der Verneinung“ sehen wir allerdings aus chronologischen Gründen einen nachträglich hergestellten Bezug zu Goethes Mephisto.
Den Schwerpunkt unserer Untersuchung bilden Puschkins „Szene aus dem Faust“ sowie die fragmentarischen „Skizzen zu einem ,Faust‘“, die 1825/26 in Michailowskoje verfaßt worden sind. Das Versfragment „Sag mir, durch welche Zaubersprüche“ wird von uns als selbständiger Entwurf und als Vorstufe zur „Szene aus dem Faust“ betrachtet. Mit der Analyse dieser „Szene“ erhellen wir die Wandlungen von Mephistopheles, der tragenden Gestalt des Werkes, vom Philosophen der Langeweile über den Psychologen und Moralisten zum Tatmenschen, der Fausts Befehl vollstreckt. In Puschkins Faust sehen wir dagegen mehr eine Folie für Mephistos Metamorphosen, von der sich die Phänomene der existentiellen Langeweile und eines für die russische Literatur charakteristischen ethischen Maximalismus deutlicher abheben. Das Schlußbild der „Szene“ wird von uns als Ansatz zu einem historischen Verständnis der Faustgestalt durch Puschkin gedeutet. Puschkins „Szene aus dem Faust“ als Ganzes genommen wird insofern als eigenständige Variante des Faust-Stoffes gewertet, als Faust darin anders als sonst motiviert erscheint – nicht durch Wissensdurst und Lebenshunger, sondern durch ständiges Unbefriedigtsein mit allen Verlockungen und Genüssen des Lebens, das in der menschlichen ratio seine tiefste Wurzel besitzt.
In einem Exkurs erörtern wir die Frage, ob Goethe von Puschkins „Szene aus dem Faust“ gewußt hat und ob ein Zusammenhang zwischen dem Schluß dieser „Szene“ und dem V. Akt von Goethes „Faust II“ besteht. Die „Skizzen zu einem ,Faust‘“ werden von uns als extravertierter, im Ansatz gesellschaftsbezogener Gegenentwurf zur introvertierten „Szene aus dem Faust“ interpretiert. Ihre möglichen Bezüge zu Goethes „Walpurgisnacht“, Dantes „Hölle“ und zum Volksbuch über Faust werden kritisch beleuchtet. Nach 1826, so zeigen wir, reflektierte Puschkin Goethes Tragödie in seinen literaturkritischen Äußerungen vor allem als literaturhistorische, maßstabsetzende Erscheinung. Faust und Mephistopheles erhielten in seinem dichterischen Schaffen nur noch Zeichenfunktion, sei es unter psychologischem („Pique Dame“) oder sozialhistorischem Aspekt („Szenen aus der Ritterzeit“).
Puschkins Darstellungen von Mephistopheles und Faust werden als eigenständiger Beitrag zur philosophisch-existentiellen bzw. volkstümlich-gesellschaftskritischen Linie in der europäischen Faust-Literatur gewertet. Mit ihnen eröffnete er die Reihe der russischen Fausts bei W. Odojewski, Turgenjew, Dostojewski, Gorki, Lunatscharski, Lewada u.a. sowie andererseits die Hypostasierungen des „philosophischen Teufels“ – sei es als Dämon oder Mephistopheles – bei Lermontow, Dostojewski, F. Sologub, Bulgakow u.a.
——— Alexander Sergejewitsch Puschkin:
Skizzen zu einem „Faust“
1825, übs. Lieselotte Remané 1968:
1
„Sag mir, durch welche Zaubersprüche
Bekomme ich Macht über dich?“
„’s ist gleich! Ich laß dich nicht im Stiche!
Prompt wie vom Himmel falle ich.
Dein Wunsch genügt, ich kann ihn ahnen,
Pfeif, läute, alles ist mir recht,
Klatsch in die Hände wie Osmanan,
Schon steht vor dir dein treuer Knecht.
Ich dien euch nur — was soll ich machen!
Muß stets — es ist ein hartes Joch —
Wie eine Amme euch bewachen,
Belauschen selbst durchs Schlüsselloch.“2
„Hier ist der Kozytos und dort der Acheron,
Und da der Flammefluß, der Phlegeton.
Mut, Doktor Faust, vorangeschritten,
Dort wird es lustig! Darf ich bitten!“
„Wo ist die Brücke?“ — „Auf meinen Schwanz!
Los geht’s zum Tanz!“Wer kommt denn da?“ — „In Reih und Glied
Soldaten im Paradeschritt.
Dies ist der Oberkorporal
Und der — der Unter-General.“
„Was brodelt dort?
Was braut man da?“
„Fischsuppe, Doktor.
Ha, ha, ha!
Schau, Könige dort!
Ja, kocht und schmort!“3
Ein Ball ist heut beim Satanas,
Wir sind zum Namenstag geladen.
Schau, die zwei Teufelchen … ein Spaß
Zu sehn, wie sie das Ferkel braten!
Wie artig hat der andre dort
Den Besen jetzt zur Hand genommen,
Fegt Knochen, Staub und Späne fort …“
„Müßten nicht bald die Gäste kommen?“So treibt man aus die Erdenkinder?
Kein Durcheinander, Lärmen, Schrein!
Welch imposante Säulenreihn!
Wo aber röstet man die Sünder?“
„Da müssen wir noch weiter gehn.
Von hier aus kann man das nicht sehn!“„Cœur ist jetzt Trumpf!“ — „Ich spiele aus!“
„Ich steche!“ — „Könnt ihr denn nicht warten!“
„Ich nehme!“ — „Na, dann bin ich raus!“
„He, Tod, du spielst mit falschen Karten,
Du mogelst ja!“ — „Schweig, du bist dumm!
Mich kriegst du nicht! Hör auf zu singen!
Geht dir’s ums Geld? Mir geht’s darum,
Die Ewigkeit nur zu verbringen!“„Wer kommt denn da?“ — „Gegrüßt, ihr Herrn!
Der neue Gast an meiner Seite
Ist Doktor Faust vom Erdenstern.“
„Ein Lebender?“ — „Ganz gleich, ob heute,
Ob er erst morgen unser ist.“
„Ob einer tot ist, ob am Leben,
Entscheide ich, wie ihr wohl wißt.
Doch will ich Einspruch nicht erheben.
Bei Freunden bin ich jederzeit
Zu Zugeständnissen bereit.“
„Ich spiel die Dame aus …“ — „Und ich
Stech mit dem As und sage: ‚Stich!'“
„Das ist ja Trumpf!“ — „Läßt du ihn mir?“
„Na, meinetwegen, gehen wir!“
Bilder: Наташа Бузина:
- Александр Сергеевич, Mai 2016;
- Вечерний вид на Петропавловскую крепость, November 2016;
- März 2017,
aus: Санкт-Петербург, ab 2016.
Soundtrack: Отава Ё: Яблочко, aus: Что за песни, 2013:
Puschkins Faust 1 von 2: Es gähnt das Grab, das man euch gräbt
Update zu Ein Nichts, ein Zwischenraum (Jedenfalls sie hattens nicht),
Indessen Pasternak und
Gefühl kann man zu Markt nicht bringen, doch Manuskripte jederzeit:
Zweimal hat der Vater der russischen Literatur — Puschkin — sich 1825 am urdeutschen Faust-Stoff versucht: einmal in Form einer ausgearbeiteten Szene, einmal in Form dreier kurzer dramatischer Fragmente. Fangen wir unsere zweiteilige Serie an mit ersterer. Das Bildmaterial sei uns wenig faustisch, vielmehr Petersburgisch.
Wir treffen Faust und Mephisto am Strand — schon recht vertraut mitsammen.
——— Александр Сергеевич Пушкин:
Сцена из Фауста1825,
|
——— Alexander Sergejewitsch Puschkin:
Szene aus dem „Faust“1825, gedruckt 1828,
|
Bilder: Наташа Бузина:
- Стихи, August 2019;
- Павловск, September 2016;
- Львиный мостик ночью, 2016,
aus: Санкт-Петербург, ab 2016.
Soundtrack: Julia Vorontsova: Pushkin, aus: From St. Petersburg With Love, 2014:
Die Wonnen des Fuchsjägers: 4 fundamentale Voraussetzungen eines seligen Lebens
Update zu Weil er ihn für einen völligen Toren hielt,
Irgendwelche Lümmel oder Gesellschaften von zechenden Strolchen und
Menschenhaß! Ein Haß über ein ganzes Menschengeschlecht! O Gott! Ist es möglich, daß ein Menschenherz weit genug für so viel Haß ist!:
Das Krächzen der Raben
ist auch ein Stück –
dumm sein und Arbeit haben:
das ist das Glück.Gottfried Benn: Eure Etüden, 1955.
So einfach könnt’s sein. Auf welchen verschlungenen Wegen der Mensch jedoch zu seinem persönlichen irdischen Glück gelangen kann, drängt sich durch alle Epochen immer wieder als Gegenstand der Philosophie für Fortgeschrittene auf. Schopenhauer darf man nicht ausgerechnet dazu befragen, der meint:
Es gibt nur einen angeborenen Fehler, und das ist die Vorstellung, dass wir existieren, um glücklich zu sein.
Edgar Allan Poe, diametral entgegengesetzt, meint:
Es ist aber doch eine Binsenweisheit, daß wir existieren, um glücklich zu sein.
Im Zusammenhang aus Poes Kritik über Henry Cockton 1842:
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Nach den Rezepten zur Glückseligkeit von Solon via Herodot (beide nach ruhmreichen Karrieren unbekannt verstorben) und Heinrich von Kleist (erweiterter Selbstmord) hören wir heute auf die Handreichung aus The Domain of Arnheim in verschiedenen Fassungen zwischen 1842 und 1847 von Edgar Allan Poe (im Delirium tremens in einem Baltimorer Rinnstein aufgefunden, den Folgen der Trunksucht erlegen):
———- Edgar Allan Poe:
The Domain of ArnheimThe Columbian Lady’s and Gentleman’s Magazine, March 1847:
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———- Edgar Allan Poe:
Der Park von ArnheimMärz 1847, Übersetzung Arno Schmidt, Werke II, Walter-Verlag 1967, Seite 598 f.:
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Bilder: René Magritte: Le domaine d’Arnheim, 1938, via Amy’s Art Gallery,
und 1962 via Rene Magritte. Biography, Paintings, and Quotes.
Soundtrack: Hurray for the Riff Raff: Pa’lante, aus: The Navigator, 2017:
Oh I just wanna go to work,
And get back home, and be something.
I just wanna fall and lie,
And do my time, and be something.
The Widow of the Cross
Update for Seht, Ehrenbreitstein mit gesprengter Mauer,
Archegonus aus der Unterwelt: Tiefer verankert als derzeit absehbar,
and Filetstück 0001: Vielleicht bis zum Meer:
So forget Isle of the Cross, the „lost“ work that Melville wrote after Pierre (1852). Better yet, consider it found and read it in „Norfolk Isle and the Chola Widow„, the eighth sketch of The Encantadas. Melville’s tale of a grief-struck lady named Hunilla has „Island“ and „Cross“ stamped all over it.
Melvilliana: Dragooned!: Ten Traces of Herman Melville
in „Scenes Beyond the Western Border“ (1851–1853)
The following text first appeared in — and is copyrighted by — the most inspiring Melvilliana site by Stephen Scott Norsworthy. With his explicit and friendly permission, we recovered this utterly enlightening and entertaining piece of science from the Google cache for Moby-Dick™. Now that the Melvilliana site seems defunct, it might not be a fault to save the same text to this supplementary place, this time with decent illsutrations.
Emphases, spellings and (lacking) links appear as given in the primary text.
A German translation will be most welcome!
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——— Stephen Scott Norsworthy:
A Note on „Isle of the Cross“
from: Melvilliana, before 2006:
Following the publication of Pierre in August 1852, Herman Melville worked slavishly on one or more writing projects for the rest of 1852 and the early months of 1853. On 20 April 1853, Melville’s mother Maria alluded to a „new work, now nearly ready for the press“ (Letter to Peter Gansevoort; quoted in Parker, V2.154). Other letters from family members and a late biographical note by his wife describe a period of intense activity ending nearly in mental breakdown. Elizabeth Melville never forgot that the whole family „felt anxious about the strain on his health in Spring of 1853“ (quoted in Parker, V2.161).
Surviving letters from Melville to Hawthorne in 1852 document Melville’s interest in what has come to be known as the „story of Agatha.“ The true tale of a woman deceived and abandoned by her unfaithful sailor-lover came to Melville’s attention in July 1852, while visiting Nantucket. In August 1852, Melville passed the account on to his friend and former neighbor, urging Nathaniel Hawthorne to make a fiction of the dramatic details. Hawthorne demurred, and after a visit to Concord, Melville decided in December 1852 to write the thing himself. The last surviving „Agatha“ letter to Hawthorne, written from Boston between 3 and 13 December, identifies Melville’s working title for the project, „Isle of Shoals,“ a title suggested by Hawthorne (Correspondence, 242).
Hershel Parker discovered references to „Isle of the Cross“ in two 1853 letters from Melville’s cousin Priscilla to his sister Augusta. We do not have Augusta’s letters, but from the replies of Priscilla Melvill it is clear that Augusta informed their cousin of a forthcoming work by Herman called „Isle of the Cross.“ On 22 May 1853, Priscilla wondered: „When will the ‚Isle of the Cross‘ make its appearance? I am constantly looking in the journals & magazines that come in my way, for notices of it.“ In reply, Augusta told Priscilla that Herman had finished „Isle of the Cross“ and that Lizzie had given birth to the couple’s third child (first daughter) on 22 May 1853. Priscilla wrote back on 12 June: „the ‚Isle of the Cross‘ is almost a twin sister of the little one & I think she should be nam’d for the heroine—if there is such a personage—the advent of the two are singularly near together“ (Parker, V2.155).
Parker logically and persuasively connects the working title of the „Agatha“ project in December 1852, „Isle of Shoals,“ with the new title mentioned in Priscilla’s 1853 letters to Augusta, „Isle of the Cross.“ Around the time of the birth of Elizabeth (Bessie) on 22 May 1853, Melville completed work on a tale almost certainly inspired by the account of Agatha Hatch that he first heard about in Nantucket the previous summer.
In the second volume of his masterful biography (and before that, in a 1990 article in American Literature), Parker unhesitatingly equates „Isle of the Cross“ with the unnamed „work“ that Melville brought to New York in June 1853 and was inexplicably „prevented from printing.“ Other distinguished Melville scholars before Parker, notably Harrison Hayford, Merton Sealts, and Walter Bezanson, had likewise suspected that the work Melville tried and failed to publish in 1853 was probably a version of the Agatha story. Parker’s discovery of Priscilla’s references to a completed work entitled „Isle of the Cross“ seemed to clinch the argument, which hangs nonetheless on a tempting yet unproved and rarely examined assumption.
The logical flaw behind any unqualified identification of „Isle of the Cross“ with the book Melville „was prevented from printing“ is the ancient one known as post hoc, ergo propter hoc (‚after this, therefore because of this‘). Melville’s New York trip in June chronologically followed his completion of „Isle of the Cross“ in May, but it does not follow necessarily that the publication he meant to „superintend“ was „Isle of the Cross.“
The month of Melville’s trip to New York is confirmed by newspaper reports of 11 June 1853 (in the Springfield Daily Republican) and 14 June (Boston Daily Evening Transcript): „Herman Melville has gone to New York to superintend the issue of a new work.“ The rejection of the work by a New York publisher—a provisional rejection, evidently—is known from Melville’s letter of 24 November 1853 to Harper & Brothers:
In addition to the work which I took to New York last Spring, but which I was prevented from printing at that time; I have now in hand, and pretty well on towards completion, another book—300 pages, say—partly of nautical adventure, and partly—or, rather, chiefly, of Tortoise Hunting Adventure.
(Correspondence 250)
The fact is, Melville does not say the name of the work declined by the Harpers. Nor does he explain why he „was prevented from printing“ the unidentified book „at that time.“ We can be reasonably certain that it was a book-length work, since Melville refers immediately to „another book“ (emphasis mine), and since he would not have made the journey merely to, in the words of the contemporary newspaper reports, „superintend the issue“ of a single magazine piece.
Basem L. Ra’ad has called attention to good textual evidence suggesting that Melville’s reworking of the Agatha story, in some version or other, may eventually have been published as the story of Hunilla in the eighth sketch of „The Encantadas.“ If „Isle of the Cross“ contains Melville’s artistic transformation of the „story of Agatha,“ and the Agatha story became the Hunilla story, then „Isle of the Cross“ is simply an earlier incarnation of the Hunilla story as we have it in „Norfolk Isle and the Chola Widow.“ In the 1960’s, decades before the discovery of Priscilla’s correspondence in which Parker located two „Isle of the Cross“ allusions, Reidar Eknar and Charles N. Watson, Jr. independently adduced textual links between the Hunilla and Agatha stories. Then in 1978, Robert Sattelmeyer and James Barbour identified a newspaper sketch about a „Female Robinson Crusoe“ as another likely source for Melville’s tale of Hunilla. Sattelmeyer and Barbour found two printings of the sketch in November 1853, but it had been around for years. In March 1847, a Boston magazine that Melville knew, and apparently interested himself in during that very month and year (see Sealts 327 in Melville’s Reading), Littell’s Living Age (27 March 1847: 594-595), reprinted the story of „A Female Crusoe“ from the Boston Atlas.
The impressive textual parallels between the Agatha and Hunilla stories, independently noticed by careful readers, along with the undeniable influence of the „Female Crusoe“ article on „Norfolk Isle and the Chola Widow,“ allow for a reasonable alternative to the over-easy equation of „Isle of the Cross“ and the „work“ that Melville „was prevented from printing“ in June 1853. The alternative embraces all the evidence, textual as well as archival and biographical, and thus allows for the organic, artistic development of a basic premise or idea during the writing process.
The existence of an earlier printing of the „Female Crusoe“ sketch in March 1847 means that the version of the Agatha story completed in May 1853 under the title „Isle of the Cross“ may already have fused the story of Agatha and that of the female Robinson Crusoe in imaginative and unpredictable ways. Given the numerous and frequently observed parallels between the stories of Agatha and Hunilla, it is very possible that at some point, early or late, Melville dramatically set „Isle of the Cross“ on one of the Galápagos islands, the setting of the Hunilla sketch. Hunilla goes to Norfolk Isle in the first place to hunt tortoises. Further possibilities, suggested by the idea of tortoise hunting on lonely, otherworldly islands, might then have prompted Melville either to make a book of his shorter fiction, or make a different book of the one he had. Melville’s November 1853 letter to the Harpers characterizes the „Tortoise Hunting Adventure“ as „another book“; in other words, not the one he had unsuccessfully tried to publish in June. Perhaps „Isle of the Cross“ did not get published in 1853 because Melville elected to revise and expand it into something like what we find in „The Encantadas,“ serially published in Putnam’s Monthly Magazine in 1854. The simplest and most satisfying reading of all the available evidence is that „Isle of the Cross,“ „Tortoise Hunting Adventure,“ and „The Encantadas“ are creative permutations of one and the same work.
Melville’s probable involvement in the writing or „ghostwriting“ of Scenes and Adventures in the Army supplies a new candidate for the unnamed work that Melville unsuccessfully tried to publish in June 1853. The army memoir of Philip St. George Cooke comprises two different series, published a decade apart (1842-1843; and 1851-1853) in the Southern Literary Messenger. Although the last installment of the second series, „Scenes Beyond the Western Border“ appeared in August 1853, the manuscript of that installment must have been finished by June, or early July at the latest. Everything but the last number was in print by May 1853. The cryptic phrases in Melville’s letter of 24 November 1853, „prevented from printing“ and „at that time,“ are more obviously applicable to the work that became Scenes and Adventures in the Army than to „Isle of the Cross.“
Possibly, then, Melville went to New York in June 1853 with the modest idea of „superintending“ the re-publication of the two Southern Literary Messenger series in one volume. In those days a previously serialized rip-off of somebody else’s narrative might be counted a „new work,“ as 1855 advertisements for Israel Potter as „Melville’s New Work“ demonstrate. Nevertheless, publishers and their lawyers invariably want to settle questions of authorship and copyright. Such vexed questions as „Whose book is this, anyway?“ might have been anticipated as a potential stumbling block, but Melville was not well and financially desperate, by all accounts. Suggestive evidence of a lesson learned the hard way appears in February 1854, when Herman’s brother Allan instructed Augusta (in connection with the planned serialization of „The Encantadas“ in Putnam’s Monthly) to „Say to Herman that he ought to reserve to himself the right to publish his magazine matter in book form. It might be desirable & could probably be secured by agreement made at the beginning“ (quoted in Parker, V2.211).
Perhaps John R. Thompson, editor of the Southern Literary Messenger, intervened to assert a claim of copyright, or perhaps Cooke himself claimed authorship and thereby „prevented“ the Harpers from printing the volume as originally planned. Alternatively, the Harpers may simply have advised Melville in June 1853 not to proceed further without first obtaining written consent from Cooke and the Southern Literary Messenger, or other proofs of legal copyright. At any rate, five months later, Melville plainly believed his unnamed project was only delayed, temporarily („at that time“), rather than crushed, forever.
In May 1854, Cooke or his silent partner finished a major effort of revision, incorporating changes to both the 1842-1843 and 1851-1853 series (Letter dated 11 February 1856 to John Esten Cooke in the Cooke papers, Duke University Rare Book, Manuscript, and Special Collections Library, Durham, North Carolina). In January 1855, Cooke himself was still trying (vainly) to interest New York publishers, including the Harpers, in the proposed volume, then called „Fragments of a Military Life“ (Letter to John Pendleton Kennedy, 14 March 1855; Microfilm of the John Pendleton Kennedy Papers, ed. John B. Boles, Maryland Historical Society, 1972). In time, possibly with the aid of a literary nephew (the prolific Virginia novelist John Esten Cooke, a correspondent of Evert Duyckinck’s before and after the Civil War), the Melvillean memoir of Philip St. George Cooke finally was published by Lindsay & Blakiston as Scenes and Adventures in the Army: Or, Romance of Military Life (Philadelphia, 1857).
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Works Cited
- Ekner, Reidar. „The Encantadas and Benito Cereno—On Sources and Imagination in Melville.“ Moderna Språk 60 (1966): 258–273.
- Hayford, Harrison. „The Significance of Melville’s ‚Agatha‘ Letters.“ ELH, A Journal of English Literary History 13 (December 1946): 299–310.
- Melville, Herman. Correspondence. Ed. Lynn Horth. Evanston and Chicago: Northwestern University Press and The Newberry Library, 1993.
- Parker, Hershel. Herman Melville’s The Isle of the Cross: A Survey and a Chronology. American Literature 62 (March 1990): 1–16.
- __________. Herman Melville: A Biography. Volume 2, 1851–1891. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2002.
- Ra’ad, Basem L. „‚The Encantadas‘ and ‚The Isle of the Cross‘: Melvillean Dubieties, 1853-54.“ American Literature 63 (June 1991): 316–323.
- Sattelmeyer, Robert, and James Barbour. „The Sources and Genesis of Melville’s ‚Norfolk Isle and the Chola Widow.'“ American Literature 50 (November 1978): 398–417.
- Sealts, Merton M., Jr. „The Chronology of Melville’s Short Fiction, 1853–1856.“ Harvard Library Bulletin 28 (1980): 391–403. Rpt. Pursuing Melville 1940–1980. Madison: University of Wisconsin Press, 1982, pp. 221–31.
- __________. Melville’s Reading. Columbia: University of South Carolina Press, 1988.
- Watson, Charles N., Jr. „Melville’s Agatha and Hunilla: A Literary Reincarnation.“ English Language Notes 6 (December 1968): 114–118.
Images: all by Alberich Matthews (who used to illuminate
our Laß mich die Aschengruttel sein in deinem Märchen); featuring models:
- Miranda: And at Her Feet She Found a Trampled Rose, July 27th, 2019;
- Penelope: Pyrate Penelope Sometimes Wondered …, August 19th, 2018;
- Den lille havfrue, June 21st, 2014;
- Lily: Precision Milling, July 28th, 2014;
- 妖怪: Salamander’s Repose, July 3rd, 2016.
Soundtrack: Sierra Ferrell: The Sea: from: Long Time Coming, released on August 20th, 2021:
Bonus Track: same, same, preliminary practice for her debut album 2019:
Fruchtstück 0004: Der heil’ge Rhythmus in Verselein und Rimelein
Update zu Der unverzichtbare Buchstabe e
und The Metrum is the Message:
Über Sinn oder Unsinn der Poesie, Literatur und/oder gar Kunst lässt sich in den Zeiten des gerade erst zu seinen optimierten Vernichtungsschlägen ausholenden Neoliberalismus nicht mehr sinnvoll diskutieren. Über den Sinn von Formgebung in der Lyrik offenbar schon.
——— August von Platen:
1825:
Was stets und aller Orten
Sich ewig jung erweist,
Ist in gebundnen Worten
Ein ungebundner Geist.
I
Entled’ge dich von jenen Ketten allen,
Die gutgemutet du bisher getragen,
Und wolle nicht, mit kindischem Verzagen,
Der schnöden Mittelmäßigkeit gefallen!Und mag die Bosheit auch die Fäuste ballen,
Noch atmen Seelen, welche keck es wagen,
Lebendig, wie die deinige, zu schlagen,
Drum laß die frischen Lieder nur erschallen!Geschwätz’gen Krittlern gönne du die Kleinheit,
Bald dies und das zu tadeln und zu loben,
Und nie zu fassen eines Geistes Einheit.Ihr kurzer Groll wird allgemach vertoben,
Du aber schüttelst ab des Tags Gemeinheit,
Wenn dich der heil’ge Rhythmus trägt nach oben.
——— Thomas Mann:
Der Erwählte
1951, 1. Kapitel: Wer läutet?, Schluss,
Rolle Mönch Clemens der Ire, vormals Morhold, im Kloster Sankt Gallen als Der Geist der Erzählung:
Eines ist gewiß, nämlich, daß ich Prosa schreibe und nicht Verselein, für die ich im ganzen keine übertriebene Achtung hege. Vielmehr stehe ich diesbezüglich in der Überlieferung Kaisers Caroli, der nicht nur ein großer Gesetzgeber und Richter der Völker, sondern auch der Schutzherr der Grammatik und der beflissene Gönner richtiger und reiner Prosa war. Ich höre zwar sagen, daß erst Metrum und Reim eine strenge Form abgeben, aber ich möchte wohl wissen, warum das Gehüpf auf drei, vier jambischen Füßen, wobei es obendrein alle Augenblicke zu allerlei daktylischem und anapästischem Gestolper kommt, und ein bißchen spaßige Assonanz der Endwörter die strengere Form darstellen sollten gegen eine wohlgefügte Prosa mit ihren so viel feineren und geheimeren rhythmischen Verpflichtungen, und wenn ich anheben wollte:
Es war ein Fürst, nommé Grimald,
Der Tannewetzel macht‘ ihn kalt.
Der ließ zurück zween Kinder klar,
Ahî, war das ein Sünderpaar!oder in dieser Art, – ob das eine strengere Form wäre als die grammatisch gediegene Prosa, in der ich jetzt sogleich meine Gnadenmär vortragen und sie so musterhaft ausgestalten und gültig darstellen werde, daß viele Spätere noch, Franzosen, Angeln und Deutsche, daraus schöpfen und ihre Rimelein darauf machen mögen.
——— König Friedrich Wilhelm III:
September 1811, zu August Neidhardt von Gneisenaus Hinweis auf die „tapferen österreichischen Milizen im letzten Kriege, die, fest zusammengeschlossen, dem Anfall der französischen Reiterei muthvoll widerstanden“:
Als Poesie gut.
——— August Neidhardt von Gneisenau:
September 1811:
Ew. Majestät werden mir, indem ich dieses sage, abermals Poesie Schuld geben, und ich will mich gern hiezu bekennen. Religion, Gebet, Liebe zum Regenten, zum Vaterland sind nichts anderes als Poesie, keine Herzenserhebung ohne poetischen Schwung. Wer nur nach kalter Berechnung handelt, wird ein starrer Egoist. Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet. Wie so mancher von uns, die wir mit Bekümmernis auf den wankenden Thron blicken, würde eine ruhige, glückliche Lage in stiller Eingezogenheit finden können, wie mancher selbst eine glänzende erwarten dürfen, wenn er statt zu fühlen nur berechnen wollte. Jeder Herrscher ist ihm dann gleichgültig. Aber die Bande der Geburt, der Zuneigung, der Dankbarkeit, des Hasses gegen die Fremdlinge fesseln ihn an seinen alten Herrn, mit ihm will er leben und fallen, für ihn entsagt er den Familienfreuden, für ihn gibt er Leben und Gut ungewisser Zukunft preis. Dies ist Poesie, und zwar der edelsten Art. An ihr will ich mich aufrichten mein lebelang, und zur Ehre will ich mir es rechnen, der Schar jener Begeisterten anzugehören, die alles daran setzen, um Ew. Majestät alles zu retten, denn wahrlich, zu einem solchen Entschluss gehört Begeisterung, die jede selbstsüchtige Berechnung verschmäht. Viel sind der Männer, die so denken, und weit siehe ich ihnen an Adel der Gesinnungen nach, aber ich will mich bestreben, ihnen ähnlich zu werden.
——— Joseph von Eichendorff:
Ahnung und Gegenwart
1815, Zweites Buch, Sechszehntes Kapitel:
„Warum fürchten Sie sich?“ sagte Friedrich hastig, denn ihm war, als sähe ihn das stille, weiße Bild wie in der Kirche wieder an, „wenn Sie den Mut hatten, das hinzuschreiben, warum erschrecken Sie, wenn es auf einmal Ernst wird und die Worte sich rühren und lebendig werden? Ich möchte nicht dichten, wenn es nur Spaß wäre, denn wo dürfen wir jetzt noch redlich und wahrhaft sein, wenn es nicht im Gedichte ist? Haben Sie den rechten Mut, besser zu werden, so geh’n Sie in die Kirche und bitten Sie Gott inbrünstig um seine Kraft und Gnade. Ist aber das Beten und alle unsere schönen Gedanken um des Reimes willen auf dem Papiere, so hol‘ der Teufel auf ewig den Reim samt den Gedanken!“ –
Hier fiel der Prinz Friedrich’n ungestüm um den Hals.
Bilder: Abbie Cornish featuring Topper, in: Bright Star, 2009.
Soundtrack von hohem metrischen Gestaltungswillen in the merry month of June mit dem luziden Kommentar des YouTübners smokelet’sgo von 2017:
Shane sings 503 words in this song in 2 miutes 13 seconds (lyrics start at 1:00 in the song). 226 words per minute, 3.77 words per second. All from a man who abused his body beyond the comprehension of most human beings, basically he shouldn’t be alive today. Simply amazing.
The Pogues: Rocky Road to Dublin:
La feuille s’émeut comme l’aile dans les noirs taillis frémissants
Mise à jour à Paris Faustiens,
Nachtstück 0009: Dieselben Finger,
et Eichendorffs Märchen:
Photograph argentique Jean-Marc utilisait le poème Danger d’aller dans les bois par Victor Hugo même deux fois pour illustrer ses propres photos.
Quand Victor Hugo a écrit ça reste incertain, ses Œuvres complètes n’indiquent que la date de 2 juin sans un an, même pas sur le fac-similé à leur page 521. Le poème inédit se retrouve soudainement dans Toute la lyre, publié à titre posthume en 1888 et suivants. Marva A. Barnett dans Victor Hugo on Things That Matter: A Reader de 2010 le décrit comme ludique. C’est vrai.
——— Victor Hugo:
Danger d’aller dans les bois
2 juin, uncertain an:
Ne te figure pas, ma belle,
Que les bois soient pleins d’innocents.
La feuille s’émeut comme l’aile
Dans les noirs taillis frémissants ;L’innocence que tu supposes
Aux chers petits oiseaux bénis
N’empêche pas les douces choses
Que Dieu veut et que font les nids.Les imiter serait mon rêve ;
Je baise en songe ton bras blanc ;
Commence ! dit l’Aurore. — Achève !
Dit l’étoile. Et je suis tremblant.Toutes les mauvaises pensées,
Les oiseaux les ont, je les ai,
Et par les forêts insensées
Notre coeur n’est point apaisé.Quand je dis mauvaises pensées
Tu souris… – L’ombre est pleine d’yeux,
Vois, les fleurs semblent caressées
Par quelqu’un dans les bois joyeux. –Viens ! l’heure passe. Aimons-nous vite !
Ton coeur, à qui l’amour fait peur,
Ne sait s’il cherche ou s’il évite
Ce démon dupe, ange trompeur.En attendant, viens au bois sombre.
Soit. N’accorde aucune faveur.
Derrière toi, marchant dans l’ombre,
Le poëte sera rêveur ;Et le faune, qui se dérobe,
Regardera du fond des eaux
Quand tu relèveras ta robe
Pour enjamber les clairs ruisseaux.
Images: Jean-Marc de Nice, par son Hasselblad:
Ne te figure pas, ma belle, que les bois soient pleins d’innocents, Novembre 7ème, 2013;
La feuille s’émeut comme l’aile dans les noirs taillis frémissants, October 26ème, 2014,
de Changing of the Seasons.
Bande sonore: le mème, mise en musique par André, juin 11ème, 2020:
Titre bonus: Bénabar: La forêt, dans: Inspiré de faits réels, 2014:
Hesses alter Novalis
Update zu Des Wallens willen wallen:
Sagen wir’s mal so: Hermann Hesse war ein sehr ordentlicher, dem Expressionismus nahestehender Maler. Leider hat er alle schriftstellerische Schaffenskraft daran verschwendet, Thomas Mann sein zu wollen, der seinerseits alle Schaffens- und Lebenskraft daran verschwendet hat, Goethe sein zu wollen. 17 Jahre nach Thomas Mann hat Hesse dann doch noch seinen Literatur-Nobelpreis eingefahren, und wir wissen, was von Literatur-Nobelpreisträgern zu halten ist.
Nun mag an dieser Stelle schon öfter die eine oder andere Missbilligung an Inhalt und Form bei Hesse und Weltanschauung bei Novalis oder umgekehrt durchgeschimmert sein. Solche Kleinlichkeiten schimmern mit Recht sehr gedeckt, in Wirklichkeit sind ja beide Herren literaturhistorisch recht schätzbar, und besser hab ich’s selber nie geschafft. Ausnahmsweise werden wir also mit gut überwindlichen Schmerzen von einer Wiedergabe des primärliterarischen Volltextes absehen; er ist leicht in dem Band Hermann Hesse: Sämtliche Werke in 20 Bänden und einem Registerband: Band 6: Die Erzählungen 1. 1900–1906 im Suhrkamp-Verlag einsehbar. In dem Link steht er auf Seite 18 bis 36; einfach downloaden und hinscrollen oder noch einfacher: mit Strg+F nach „Bücherliebhabers“ suchen.
In meiner eigenen Ausgabe, dem erst 2009 in dieser Backsteinform gesammelten Suhrkamp Quarto mit den Erzählungen und Märchen, nimmt Der Novalis 20 von den 1840 Druckseiten ein. Und man muss zugeben, dass es eine der Geschichten von Hesse ist, die ungefiltert Spaß machen: kein Populärbuddhismus, kein esoterisches Geraune, keine uneingelösten Vorausweisungen, sondern eben: eine Geschichte im Sinne von Handlung mit Geschichte im Sinne von Historie, und dann über unser aller Lieblingsnischenthema: ein altes Buch. Unsere Hauptaussage ist: Das beschriebene Buch hat es wirklich gegeben:
——— Hermann Hesse:
Der Novalis. Aus den Papieren eines Bücherliebhabers
um 1900, in: März – Halbmonatsschrift für deutsche Kultur, München, März 1907.
Buchform: Ein altes Buch. Aus den Papieren eines Altmodischen, in: Sieben Schwaben. Ein neues Dichterbuch. Eingeleitet von Theodor Heuss.
Separatausgabe: als 6. Veröffentlichung der Oltener Bücherfreunde in 1221 numerierten Exemplaren, 1940:
Unter den verschiedenen Ausgaben des Novalis, die ich allmählich zusammengebracht habe, ist auch eine „vierte, vermehrte“ vom Jahre 1837, ein Stuttgarter Nachdruck auf Löschpapier in zwei Bänden.
Unaufgelöst lässt Hesse, wonach die Ausgabe im — soviel ist herauszufinden — Stuttgarter Hausmann Verlag nachgedruckt sein soll. Laut einem Angebot des Antiquariats Ehbrecht umfassen die zwei betitelten Original-Halbledereinbände 339 und 315 Seiten mit Goldprägung. Es deutet also alles auf einen Nachdruck der ersten umfassenden Werkausgabe durch Novalis‘ persönliche Freunde Ludwig Tieck und Friedrich Schlegel, begonnen 1802 kurz nach Novalis‘ frühem Tod, und fortgeführt eben 1837, was die beschriebene, zweibändig „vermehrte“ Ausgabe ergeben hätte. Ein dritter Band erschien erst 1846 in Berlin durch Tieck und Eduard von Bülow, liegt also nach Hesses handlungsstiftendem „Stuttgarter Nachdruck“. Seine neue Information, die in keiner der üblichen Beschreibungen erwähnt wird, ist das „Löschpapier“, also wahrscheinlich eher minderwertiges, auf den schnellen optischen Eindruck von Fülle im Buchhandel berechnetes Volumenpapier: ein herstellerischer Trick, der mit der marktwirtschaftlichen Orientierung des Buchhandels nie gealtert ist, und auf den 1837 längst verstorbenen Novalis als Erfolgsautor hinweist.
Weil wir damit nicht über Ramschreste des Modernen Antiquariats, sondern bibliophile Wertanlagen reden, lohnt sich das Kennenlernen von Hesses Jugendwerk anhand des Nachworts von Volker Michels im besagten Suhrkamp Quarto. Meinen sehr gelegentlichen Stichproben nach ist nicht einmal in der Gesamtausgabe mehr über den Novalis zu erfahren:
Erzählungen wie Der Novalis und Eine Rarität wenden sich literarischen Themen zu. Der Novalis, die Geschichte eines Büchersammlers, ist wohl um die Jahrhundertwende in Basel entstanden und enthält gleichfalls autobiographische Elemente. Im Nachwort zu einer Einzelausgabe schrieb Hesse im Frühling 1940: „Ich habe mich [im ersten Kapitel] dieser Erzählung als einen Bibliophilen bezeichnet, der ich damals und noch lange nachher wirklich war, und habe mir damals … meine alten Tage als die eines einsamen Hagestolzes vorgestellt, dessen einzige Liebe und einziger Umgang die Bücher sind. Dies nun hat das Leben anders gefügt, und von den seltenen alten Büchern, von denen in der Einleitung meiner Erzählung die Rede ist, etwa von den Italienern der Renaissance in Aldus-Drucken, ist heute nichts mehr in meinem Besitz; ja, ich muß sogar bekennen, daß der zweibändige Novalis, den ich in Tübingen erwarb und von dem meine Erzählung handelt, längst nicht mehr mir gehört … mein Leben sieht nun ziemlich anders aus, als ich mir es damals phantasierend ausmalte. Wenn ich aber auch heute mich nicht mehr als einen eigentlichen Bibliophilen und in seine Bücher verliebten Sammler nennen darf, so kann ich doch meine jugendliche Bücherliebhaberei nicht belächeln, sie gehört unter den Leidenschaften, die ich im Leben kennen lernte, nicht nur zu den harmlosen und hübschen, sondern auch zu den fruchtbaren.“ In sechs Kapiteln wird der Weg, den diese Novalis-Ausgabe von 1837 bis zur Jahrhundertwende genommen hat, anhand der Lebensgeschichte ihrer sechs Besitzer geschildert, wobei jener Käufer der Ausgabe, der sich „seit kurzem teils durch Rezensionen, teils durch kleinere Zeitschriftenartikel am literarischen Leben beteiligt“, an den Verfasser erinnert. Denn zur Zeit der Niederschrift begann mit ersten Buchbesprechungen für die Basler „Allgemeine Zeitung“ Hesses lebenslange Rezensententätigkeit. Seine früheste, einem einzelnen Dichter gewidmete Würdigung vom 21.1.1900 galt tatsächlich Novalis und der ersten Gesamtausgabe dieses Dichters, die 1898 (herausgegeben von Carl Meißner) bei Eugen Diederichs in Leipzig erschienen war. Doch was das Autobiographische in dieser wie in den meisten von Hesses Erzählungen betrifft, ist zu bedenken, was der Dichter im September 1948 an seinen Sohn Heiner schrieb: „Übrigens wäre es natürlich unvorsichtig, das Ich des Erzählers mit meiner Person gleichzusetzen. Auch [Peter] Camenzind erzählt ja seine Geschichte selbst und [Josef] Knecht seine Lebensläufe, und an jedem bin ich beteiligt, aber keiner ist Ich“. Der Novalis ist einer der Texte, die Hesse in keinen seiner Erzählbände aufgenommen hat. Erst 1952 wurde diese Geschichte gemeinsam mit Eine Stunde hinter Mitternacht und Hermann Lauscher von ihm unter der Rubrik „Frühe Prosa“ in die geschlossene Ausgabe seiner Gesammelten Dichtungen und deren erweiterte Nachauflage Gesammelte Schriften (1957) einbezogen.
Nach Hesses zitiertem Nachwort 1940 hat seine Geschichte ein potenzielles siebtes Kapitel erhalten: Theoretisch, nein, viel besser: Praktisch muss es heute möglich sein, Hermann Hesses Exemplar antiquarisch zu erwerben. Die Frage ist, ob es zu erkennen wäre. Das achte Kapitel handelt dann davon, wie lange das siebte schon zurückliegt pp.
Fassen wir zusammen: Nach einer als milde Jugendsünde empfundenen Phase der Bibliophilie und dem feuilletonistischen Debut mit seinem Lieblingsdichter kann man immer noch seiner Bücher — freiwillig oder nicht — verlustig gehen, die eigene literarische Aufarbeitung davon halbherzig verwerfen und den Nobelpreis einfahren. Das muss das zeitlos Moderne an Hermann Hesse sein.
Bilder: Der Novalis. Aus den Papieren eines Altmodischen, Veröffentlichung der Vereinigung Oltner Bücherfreunde, 6., via avelibro Dinkelscherben, 13. Oktober 2019;
Hermann Hesse: Der Novalis, signiert und numeriert, Nr 140 von 250 signiert von Ernst Engel Presse Walter Stähle Handpressendruck, 1983, via Buchparadies Lonsee, 17. Juli 2019;
Antiquariat Ehbrecht, Ilsede.
Das 19. im 20. Jahrhundert: Schroeder spielt Beethoven: Klaviersonate 8 in c-Moll, opus 13,
„Grande Sonate Pathétique“, 2. Satz: Adagio cantabile As-Dur, 1798,
aus: A Boy Named Charlie Brown, 1969:
Dornenstück 0006: Lyrik im Liegen
Update zum Nachtstück 0022: Zu schweigen beginnen
und Frohnleichnamsfahnen wehen:
Für einen Philosophen mittlerschwerer, in seinem Hauptwerk sehr schwerer Verständlichkeit hat Schopenhauer etliche Fans, und zwar die richtigen. Leider ist seine komplette Lyrik unter aller Sau.
Das Beste an Schopenhauers Gedichten ist, dass es auf eine Lebenszeit von 72 Jahren verteilt nur 39 geworden sind. Da sind die Stammbuchverse schon mitgerechnet. Einer von denen war ohne Reim und Rhythmus, aber im Alter von 70 Jahren doch noch sein lyrisches Highlight:
——— Arthur Schopenhauer: Stammbucheintrag,
8. April 1858, gesammelt in: Parerga und Paralimpomena, Band II,
cit. nach Arthur Hübscher, Hrsg.: Gedichte von an über Arthur Schopenhauer, Haffmans Verlag, Zürich 1994:
Sitzen ist besser, als stehen, u. liegen ist besser, als sitzen:
Besser, als liegen, ist schlafen, und besser, als schlafen, ist todt seyn.Frankfurt a. M. d. 8ten April 1858
Arthur Schopenhauer.
Das Poesiealbum mit dem Original ist verloren. Schopenhauers Quelle ist wahrscheinlich Nicolas Chamfort: Maximes et pensées, caractères et anecdotes II, 1795:
Wenn behauptet wird, daß die Menschen, die am wenigsten empfinden, am glücklichsten sind, so muß ich immer an das indische Sprichwort denken: Sitzen ist besser als stehen, liegen besser als sitzen, aber das Beste ist tot sein.
Lebenslustige Franzosen: Chamfort sagt das noch, als ob’s was Befremdliches wäre.
Bild: Alexandre Séon: La Pensée, ohne Jahr.
Soundtrack: The Be Good Tanyas: The Littlest Birds (Sing the Prettiest Songs), aus: Blue Horse, 2000:
All I lov’d — I lov’d alone
Update for And all I got’s a pocketful of flowers on my grave
and Etwas distinkt Metaphysisch-Transzendentales:
A friend of mine (yes, I have a few) recently quoted me a line by Poe: „And all I loved I love alone“, allegedly from a poem named Alone. Looking it up, I neither found it in my English nor my German edition of Poe’s „complete“ works, the latter even bilingual, translated by Hans Wollschläger.
There is a reason for Alone, originally Original, remaining uncollected: it is a true bootleg.
Poe wrote this poem in the autograph album of Lucy Holmes, later Lucy Holmes Balderston. The poem was never printed during Poe’s lifetime. It was first published by E. L. Didier in Scribner’s Monthly for September of 1875, in the form of a facsimile. The facsimile, however, included the addition of a title and date not on the original manuscript. That title was “Alone,” which has remained. Doubts about its authenticity, in part inspired by this manipulation, have since been calmed. The poem is now seen as one of Poe’s most revealing works. The same album also contains a poem by Poe’s brother Henry.
The original manuscript bears the number 55 in the upper right hand corner, as a page number within the album.
The website of the Maryland Historical Society includes a photograph of the original manuscript.
Going there:
Though we don’t have a great deal of Edgar Allan Poe materials in our library, we do have a poem entitled “Original,” which was handwritten into a volume of poetry owned by a Baltimorean named Lucy Holmes. The poem was not published in Poe’s lifetime, but finally appeared under the title “Alone” in an 1875 issue of Scribner’s Monthly. Though the poem was penned by a 20-year-old Poe, it seemed to reveal some of the inner turmoil that was always within the author, as well as foreshadow his shortened life. Though the provenance is a little unclear, it was donated by a woman named Emma Welbourn in 1969, who was most likely a descendant of Ms. Holmes. Not a lot is known of Lucy Holmes, except that she was known to be active in the literary circles of Baltimore. She most likely had Poe write the poem in her ledger sometime in 1829. This was a time period in Poe’s life shortly after he left West Point and returned to Baltimore. The fact that he wrote this poem in the ledger of a wealthy socialite provides fairly strong evidence that he was not a homeless wanderer at this point in his life as some have suggested.
——— Edgar Allan Poe:
Original
undated manuscript, about 1829, published 1875:
Further:
Though Poe’s poem is what truly makes this book unique, there are also approximately 100 other poems by Baltimore poets contained in its pages. The great majority of the poems seem to be written with the goal of pursuing courtship with Ms. Holmes. Poe’s poem stands out from the crowd by being autobiographical, dark, and depressing—pretty much the opposite tone of every other poem in the volume. It is not, however, the only poem in Edgar Allan Poe’s handwriting in the small book. At his brother W.H. Poe’s request, Edgar Allan copied one if his poems on the very next page. Once again it seems like another piece of literary sleaze with the purpose of impressing Lucy. The assumption that Lucy’s favor could be won with flattery was not completely baseless. One of the poets, „Isaiah“ (or „I… B….N“) who appears frequently in the ledger is most likely Isaiah Balderston, whom Lucy ended up marrying in 1830. If heavy handed love poems tickle your fancy then by all means come visit us at the H. Furlong Baldwin Library—we’d be happy to make this volume available for your perusal! (Eben Dennis)
This poem from I.. B…N may have been the very one that titillated young Lucy. I guess she wasn’t impressed by Edgar’s demons. MS 1796, MdHS
Sources and further reading:
Scribners Monthly „An Early Poem by Edgar Allan Poe“ September 1875
Ingram, John Henry. The complete poetical works of Edgar Allen Poe (New York : A. L. Burt Co., 1907) MP3.P743 1907, MdHS
Reilly, John E. The image of Poe in American poetry (Baltimore: Edgar Allan Poe Society, 1976) MP3.P743.R36, MdHS
Another source and even further reading: Edgar Allan Poe Society of Baltimore: Edgar Allan Poe — „Alone“ („From childhood’s hour . . .“), Reading and Reference Texts.
Special thanks to Frank T. Zumbach!
Images: Maryland Center for History and Culture: Poe and Alone.
Soundtrack: Lindi Ortega: Lived And Died Alone, from: Tin Star, 2013:
I guess I thought it couldn’t really hurt
To search for sweethearts underneath the dirt
Sure, they may be made of dust and bone
But I will take them home
from their lonely tombstone
To be with me
In the Dead Sea
Weh, gingst mir verloren, bliebst mein eigen nicht
Update zu Alle wurden bei diesem Anblicke still und atmeten tief über dem Wellenrauschen:
Regensburg bis Grein
und Der Arzt von Münster in Salzkotten:
Die alte Frage: Wie ist eigentlich der idealtypische Roman der deutschen Romantik gebaut? Herder meint 1796 im 99. Brief zur Beförderung der Humanität, zitiert nach Monika Schmitz-Emans in der Revue internationale de philosophie 2009:
Keine Gattung der Poesie ist von weiterem Umfange, als der Roman; unter allen ist er auch der verschiedensten Bearbeitung fähig: denn er enthält oder kann enthalten nicht etwa nur Geschichte und Geographie, Philosophie und die Theorie fast aller Künste, sondern auch die Poesie aller Gattungen und Arten – in Prose. Was irgend den menschlichen Verstand und das Herz intereßiret, Leidenschaft und Charakter, Gestalt und Gegenstand, Kunst und Weisheit, was möglich und denkbar ist, ja das Unmögliche kann und darf in einen Roman gebracht werden […].
Herder, in seinem eigenen Wirken noch kein Angehöriger der Romantik, vielmehr ein Viertel des „Weimarer Viergestirns“ der Hochklassik, äußert sich da zur Zeit der einsetzeden Romantik recht optimistisch darüber, was die Form des Romans leisten könnte oder sollte. In der schöpferischen Praxis stellt es sich so dar:
Handlungsort ist eins der nicht im Detail nachvollziehbaren Duodez-Fürstentümer im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (bis 1806) um das Wartburgfest (1817) herum, Handlungszeit ist vor unvordenklichen Zeiten in einem zumindest nicht widerlegbaren Hoch- bis Spätmittelalter um Albrecht Dürer (1471 bis 1528). Am Anfang von Theil 1, Buch 1, Capitel 1 erscheint bei Sonnenaufgang ein Reiter auf einem Hügel, reitet in das idyllische Dorf aus Fachwerkhäusern im Tale und besucht seinen alten Freund aus Studienzeiten, die etwa zwei Jahre zurückliegen. Der Freund hat inzwischen eine ungefähr siebenjährige Tochter und einen so viel jüngeren lebenslustigen Knaben, dass die große Schwester schon an ihm herummutteln muss. Seine Frau war einst seine Jugendliebe und bewirtet den eingetroffenen Reiter mit Brot und Wein; der Gang der Handlung steht am frühen Vormittag.
Die Studienkameraden geraten ohne Umschweife in eine Diskussion über die rechte Art zu leben: sesshaft auf einem eigenen Gut mit Weib und Kindern oder obdachlos mit einem Säckchen Dukaten ausgerüstet. In einem Nebensatz erfährt man, dass der einsame Reiter die ganze Zeit seines freien Umherchweifens ein Gefolge von der Stärke zwischen einem Knappen und vier „Berittenen“ mit sich herumschleppt, die sich offenbar von den Resten des Brotkantens ernähren und draußen auf ihren Gäulen schlafen. Abschließend nennt der sesshafte Freund die Grundsatzdiskussion einen Streit, wovon man ansonsten nichts bemerkt hätte, und umarmt den gutsituierten Vagabunden zum Abschied. Im weiteren Verlauf fährt er wahlweise auf dem Rhein oder der Donau ein paar landschaftlich reizvolle Duodez-Fürstentümer weiter, verirrt sich im Wald und verliebt sich an einem Schloss auf einer Waldlichtung in eine Vierzehnjährige, die zufällig aus dem Fenster schaut. Offensichtlich kann jeder, der zufällig vorbeigeritten kommt, in dem Schloss nach Belieben ein- und ausgehen. Der Reiter wird bewirtet, fragt nach der Tochter des Hauses, die kommt und züchtig die Augen niederschlägt, woraufhin auch sie als unsterblich in den Reiter verliebt gilt. Inzwischen ist es Abend, und der Reiter muss in die böse Stadt, an deren Stadtmauer er die Wächter wecken muss. Zielstrebig reitet er zu einem Palast, in dem unfehlbar ein Fest stattfindet, mischt sich unbehelligt unter die Gäste und säuft mit. Die Tochter aus dem Waldschloss ist schon da, erkennt ihn, redet aber nur mit den städtisch verkommenen niederen Adligen. Inzwischen dämmert der Morgen und noch hat niemand geschlafen.
Geschlafen wird vermutlich erst innerhalb der beiläufig fallengelassenen Adverbiale „nach mehreren Tagen“, die ungefähr nach dem schöpferischen Wochenpensum eines durchschnittlichen Originalgenies der deutschen Romantik auftritt, und in denen weitere Schlösser betreten, Feste gefeiert, Flüsse beschifft und Grundsatzdiskussionen geführt wurden. Danach gehen die Schilderungen wieder dermaßen ins Detail, dass keine Zeit für Nachtschlaf und Ernährung bleibt, nur für beziehungsreiche Landschaftsschilderungen, die an die große Liebe gemahnen — die Tochter aus dem Schloss, falls sich jemand erinnert. Unterwegs gewinnt der Reiter beim Frühstück unter einem Baum (Eiche oder Linde; es gibt wieder frühmorgens Wein) oder einer ausgesucht einsamen Waldhütte einen neuen Busenfreund, der seine Ansichten teilt, aber ihm etwas Neues darüber erzählen kann, worauf er selber hätte kommen können, wenn er Albertus Magnus oder Johann Gottlieb Fichte gelesen hätte, am besten beide. Wenn alles zu durcheinander geht und das Originalgenie nach seiner vereinbarten Anzahl Druckbogen zu einem Schluss gelangen will, ist der neue Busenfreund sein seit der Kindheit verschollener Bruder. Nachdem sie sich noch einmal in einer felsigen Gegend verlaufen haben, kommen sie wieder bei dem Studienkumpel vom Anfang an, die Schlosstochter kommt mit ihrem Vater, dem Großgrundbesitzer der Gegend, vorbei und heiratet den Reiter, die Tochter des Studienkumpels wird dem Busenbruder versprochen.
Wenn ein Lied zwischengeschaltet werden nuss, das dem Gedanken des Gesamtkunstwerks dient, hüpft ein Zehnjähriger nicht erklärbarer Herkunft herum, der vor allem nachts engelgleich singen und virtuos die Laute schlagen kann. Wenn gerade kein Lied anliegt, erschrickt er vor einem Schatten, der zu einem Räuber gehören könnte, und schwimmt panisch durchs Schilf davon. Auf einem Fest in einem Stadtpalais wird er unversehens als Page angetroffen und kann weiter durch die sprechenden Landschaften herumgezerrt werden. Am Schluss stellt sich heraus, dass er ein Mädchen ist.
Die knorrigen Sonderlinge in altdeutscher Tracht (schwarz, ohne Halstuch, lange Haare, ab 1819 wegen Demagogentums verboten) sind die Guten.
Das ist die Handlung beim Großteil von Eichendorff; Brentano war im Lauf seiner Schreiberkarriere sowieso immer offensichtlicher verrückt und ist in seinem erklärt „verwilderten Roman“ Godwi 1801 auf mehreren Ebenen darüber hinausgegangen; E.T.A. Hoffmann hat alles unternommen, um psychedelisch wirksam zu sein, und musste sich deswegen ständig etwas Neues einfallen lassen; Bestsellerlieferant Fouqué schlägt am ehesten diese Richtung ein.
Arno-Schmidt-Der-Alles-Weiß versäumt selten, Fouqué das Eptitheton „der Sänger der unsterblichen ‚Undine‚“ — die ist auch wirklich gut — hinterherzuschießen; noch deutlicher wird das beschriebene roman-romantische Vorgehen in seinem Alethes. Sein eigenes dort eingeflochtenes Gedicht Sollt‘ ich doch Dich missen fand Fouqué offenbar so gelungen, dass er es im selben Roman erst anzitieren, dann im Ersten Theil, Erstes Buch, Sechstes Kapitel vollständig wiedergeben wollte — und im unten angeführten Textbeispiel gleich noch einmal. Wie er in seinem Vorwort verrät, liegt zwischen diesen beiden Romanabschnitten eine neunjährige Schaffenspause, nach der er im letzten der vier Bücher „einen andern Geist“ eingeführt hatte — siehe den Volltext.
Das Bildmaterial beschreibt die Haidnischen Alterthümer, in denen die Einzelausgabe noch am ehesten erreichbar bleibt.
——— Friedrich Heinrich Karl Baron de la Motte Fouqué:
Die wunderbaren Begebenheiten des Grafen ALETHES von LINDENSTEIN
bei Gerhard Fleischer dem Jüngern, Leipzig 1817,
Zweiter Theil, Zweites Buch, Achtes Kapitel
ungekürzt cit. nach dem „Haidnischen Alterthum“, Oktober 1980, Seite 330 bis 333:
Auf Lindenstein angekommen, hub Alethes in der feierlichen Herbstesabendstille wieder einmal in dem alten Büchlein zu blättern an, das ihm mit seinen einfachen Sprüchen nun schon so manchesmal Trost und Freude in die Seele geredet hatte. Er schlug folgende Worte auf:
„Wenn Gott Nein spricht zu irgend einem Wunsche, der Dir sehr lieb ist, so glaube nur, daß er noch tausendmal lieber Ja gesagt hätte, dafern es Dir irgend hätte taugen wollen. Und es kann auch wohl gar seyn, das er Dir Dein Geschenk nur blos aufhebt, um es Dir ein andermal zu geben, wenn es Dir noch viel, viel mehr Freude macht. Aber fußen mußt Du Dich darauf nicht etwa im Voraus; sonst thust Du eine Sünde, und es wird auch dann ganz gewiß nichts draus.“
Sehr hell und getröstet ging er zur Ruhe, und begann mit dem nächsten Morgen ein recht wirksames, frisches Leben. Schon früher pflegte er den Angelegenheiten seiner Unterthanen und seinen eignen mit ehrbarer Thätigkeit vorzustehn, aber es war ihm dabei zu Muth, wie etwa einem vertriebnen Heldenfürsten, der in Verkleidung und Unerkanntheit Schafe hütet. Die Träume künftiger großer Thaten und Tage redeten und weheten dazwischen, und mühsam verhaltne Seufzer der Ungeduld und Sehnsucht schwellten ihm den stolzen Busen. Jetzt fand er sich schon besser darin. Er hielt sich so ruhig im Innern, als es irgend anging, und wenn gar nichts mehr helfen wollte, half doch wohl jenes alte einfältige Buch. Dann mußte er oft lachen in Erinnerung des ehemaligen Hochmuthes, womit er vordem einen solchen unscheinbaren Helfer über die Seite geworfen haben würde.
Er hatte auf diese Weise schon einige Wochen verlebt, und die Stürme begannen wilder und schneidender durch die fast laublose Waldung zu heulen; da saß er eines Abends, von einem thätigen, mühevollen Tage anmuthig erschöpft, an der Flamme des hellen Kamines. Mit stiller, unbesiegbarer Gewalt stieg Emiliens Bild in seiner Seele auf. – „Wäre nun sie Deine Hausfrau geworden, dachte er, und säße in frommer Lieblichkeit an Deiner Seiten, und kredenzte Dir den Wein, oder rührte die Zither und sänge anmuthig dazu, so anmuthig wie letzthin im Gemäuer der Abtei –“
Die getrennten Strophen ihres Liedes umtönten ihn. Unwillkürlich nahm er seine längst schon ungebrauchte Laute von der Wand, stimmte, und phantasirte dann nach Emiliens Klängen umher. Da fügte sich ihm nach und nach auf eine seltsame Weise das Ganze wieder zusammen. Er wußte nun bestimmt, es war das Lied, das Erwin einst bei nächtlicher Weile dem argen Using vorsang in Paris, und das bisher in Alethes geschlafen zu haben schien, um jetzt in tiefer Wehmuth zu erwachen. Auch jedes Wortes, das damals von den Zweien gesprochen ward, erinnerte er sich wieder, und voll verwundender Süßigkeit ging es aus Allem hervor: seit dem ersten Erblicken auf dem Weiher hatte ihn Emiliens ganze Seele geliebt in holder Reinheit und schmerzlicher Entsagung. Mit fast überströmenden Thränen sang er zu der Laute:
„Sollt‘ ich doch Dich missen,
Ach, warum Dich schau’n?
Ach, warum zerrissen
Mir mein Dämm’rungsgrau’n?
Leis‘ und träumend lebt‘ ich
In der Still‘ Umfang,
Manchmal nur erbebt‘ ich,
Wenn Dein Name klang.Doch auf Wassers Spiegel,
Tief in stiller Nacht,
Brach der Ferne Riegel
Vor geheimer Macht.
Wiegend schwamm auf Wogen
Mir Dein Bild heran,
Abwärts bald gezogen,
Königlicher Schwan!Weh, gingst mir verloren,
Bliebst mein eigen nicht,
Hast Dir Gluth erkoren
Für das stille Licht!
Und mein Sinn, zerrissen,
Kann sich selbst nicht trau’n.
Sollt‘ ich doch Dich missen,
Ach, warum Dich schau’n!“Die Thüre ging rasch auf, und herein trat, beinahe othemlos, der bei Emilien gebliebne Diener, ein gesiegeltes Blatt in der Hand. Fast eben so othemlos riß es der Graf zu sich, und las folgende Worte:
„Der Freiherr von Thurn weint nach seinem Organtin. Vergeblich ist mein Bemühen gewesen, all diese Zeit über, ihm seinen Traum auszureden. Wenn er sich auch für Augenblicke zur Ruhe gab, wachte ihm doch das heiße, schmerzliche Sehnen immer zerreißender wieder auf. Jetzt grade weint er so recht herzinnig. Mir ist, als könne ihm sein edles, krankes Herz darüber brechen. Eilt denn, Graf Alethes, eilt! Es kann und soll ja nun einmal nicht anders seyn.“
„Emilie.“
Und eilig rief Alethes nach seinem Rosse, und ungesäumt sprengte er in die sturmestosende Nacht hinaus.
Bliebst mein eigen nicht: Regine aus Fürth: Haidnische Alterthümer, unbenutzt, 30 €, Versand ausschließlich gegen Kostenübernahme. Die Bücher wurden lediglich zum Fotografieren heraus genommen,
Ebay-Kleinanzeigen, 1. Dezember 2020.
Soundtrack: Paul Hörbiger/Heinz Rühmann/Hans Holt: Wozu ist die Straße da?,
aus: Lumpacivagabundus, 1936:
Coronadvent 4: Und wirklich, wenn man die 11000 Zeilen überstanden hat, ist es des Oktavenklanges genug (Das Interessanteste am Epos ist die Gestalt der Heldin)
Update zu Gräflein Du bist verrathen
und Drei Rosen, sang er, drei Rosen:
Corona hat schon besser ausgesehen als in seiner 2019er Erscheinung. 1814 war es eine charismatische Zauberin, das ist: Hexe, protagonistisch tätig in: Corona. Ein Rittergedicht in drei Büchern. Von Friedrich Baron de la Motte Fouqué. Stuttgart und Tübingen, in der J. W. Cotta’schen Buchhandlung, 1814. Und kaum hat Arno Schmidt kein Radioprogramm darüber ausformuliert, das es heute als CD — es ist nie ein Streaming — zu erwerben gibt, schon weiß man nichts mehr davon.
Nicht erschlossen, nicht einmal erschließbar scheint das Hexenbild, von dem Fouqué ausgeht, nicht einmal die Berliner Ausstellung im Kriegsjahr 1813, wo er es vorfand. Schmidt referiert ihn in seinen unveröffentlichten Essays zu wiederholten Malen. In seinem „Biographischen Versuch“ von 1958 Fouqué und einige seiner Zeitgenossen, besonders Bargfelder Ausgabe III,1, Seite 274, bezieht er sich auf Fouqués Autobiographie. Bei ihm selbst manifestiert sich die Zauberin Corona weiterhin ohne bildliche Darstellung, aber durchaus bildhaft:
——— Friedrich de la Motte Fouqué:
Lebensgeschichte des Baron Friedrich de La Motte Fouqué
Aufgezeichnet durch ihn selbst
E. A. Schwetschke und Sohn, Halle 1840:
Die Waffenruhe brachte mir einen Urlaub in die Heimath. –
Goldne Tage! Seelige Tage fast! – Solch ein Wiedersehn! Und eben der ernste Hintergrund, nach einigen Wochen mich wiederum hinaus in’s Feld des Kampfes und der Ehre winkend, hob die blumige Oasis der Gegenwart nur um so lieblicher hervor. Ist es ja doch mit dem ganzen Erdenleben just eben so. Was wär’s es darum, stände nicht an seinem Ziele der ernsteste aller Engel! Wir hienieden heißen ihn: Tod. –
Während jenes raschen Maifeldzuges hatte mir die Muse, zwischen den mir keck entklingenden, mannigfach von den Kameraden nachgesung’nen Kriegsliedern, auch noch ein gar wundersamliches Bild aufbewahrt. Zuerst war es mir in einer, kurz vor des Kampfes Beginn zu Berlin aufgestellten Gemäldegalerie erschienen: das Oelgemälde einer schönen, seltsam aussehenden Frau, ihre Tracht zwischen dem Europischen und Orientalischem mitten inne, ihr Blick anziehend und abstoßend, herb und mild. Aus der Altitalischen Schule schien das kleine Bild herzustammen, aber Niemand konnte den Meister nennen, oder überhaupt Näheres davon berichten. Auf mich machte es einen fast magischen Eindruck, so daß es die Freunde nur: »die Here« zu benennen pflegten, weil immer und immer wiederum davor sie mich antrafen, wie einen Gebannten, wie ich denn in der That von den andern vielgepriesnen Bildern dieser Ausstellung – bei meinem sonst eigenthümlich scharfem Gedächtniß, namentlich für Gegenstände der bildenden Kunst, – mich auch keines Einzigen mehr zu erinnern weiß. Die: »Here« dagegen, obgleich ich das Gemälde nie wiedersah, nicht einmal wissend, wohin es geschwunden ist, lebt noch jetzt vor meinem geistigen Auge, und hat sich nach und nach zur Corona gestaltet, der magischen Heldin meines unter diesem Namen bekannten Rittergedichtes. In der heimatlichen Ruhe begann ich an die Darstellung meiner Zauberin zu gehen. Stehe hier der Anfang des Liedes:
»Der ernste Krieg, der Fürst von Deutschlands Kriegen,
Der über Tod und Leben trägt Gewalt,
Nicht fragend nur, ob Fürst und Volk erliegen,
Nein, ob noch fürder Deutsche Zunge schallt,
Ob Nacht, ob Klarheit soll auf Erden siegen, –
Er macht für Wochen, still erwägend, Halt.
Und mild, als wie befriedet, hält umwunden
De Heimath mich in seegenreichen Stunden.Da kommt die Muse grüßend hergegangen,
Und spricht zu mir von manch erhabnen Bildern,
Die, wenn Geschütze brüllten, Schwerdter klangen,
Mir ahnend wußten kühnen Trotz zu mildern.
Sie will, ich soll noch Dichterkränz‘ erlangen,
Soll, was sie ahnend haucht, in Worten schildern,
Und, wie zum Trotz den wild empörten Zeiten,
Erzählend greifen in die goldnen Saiten.So sei es denn. Und ruhe jetzt, mein Schwerdt,
Bis Dich Trompetenklänge neu erwecken.
Die Muse winkt. Es scheint, als sei ihr werth,
Wer zu ihr aus der Schlachten blut’gen Schrecken [*]
Nicht ohne Sieg, nicht ohne Ruhm auch, kehrt.
Schwellt, meines Liedes Seegel! Wir entdecken
In kühner Fahrt durch manch ein zaubrisch Land
Wohl hoh’re Lust, als wir noch je gekannt.« –[* Anm. Variante: „Wer zu ihr aus der Schlacht Begeistrungs-Schrecken“ u. s. w.]
Die Gesänge begannen und schlossen auf diese Weise stets mit irgend einem Gebilde der ernst bedeutungsvollen Gegenwart, so daß die phantastischen Erscheinungen gleichsam davon umwoben und umhegt wurden, wie von eben so vielen Rahmen. Für Jener eigentliches Thema und Centrum mogte die absichtlich wie derkehrende Schilderung der Zauberin Corona gelten:
»Schau‘ diese dunklen Brauen, finstren Locken,
Und dieser Augen mondlich trüben Schein,
Wie jeder Zug, als tönten Grabesglocken,
Sich hüllt in tiefe Todesnebel ein,
Daß bang‘ davor des Lebens Pulse stocken,
Und jedem Hoffen sich’s entgegnet: Nein!
Und doch, ein leises lindes Liebesthauen
Bebt ahnend nieder durch das strenge Grauen.«Die Tage der freudigen Ruhe vergingen. Frischfreudig wiederum ging es in’s Feld. –
Wie aus den vom Dichter höchstselbst angeführten Textproben erhellt, ist seine Corona laut unserer Bildquelle 2 „in ‚ottave rime‚, dem epischen Versmaß der Italiener“ ein
„‚[großes] Stanzen-Epos, das einen Ausflug in das alte romantische Land des Kampfes zwischen Christen und Heiden, jedoch auf dem Hintergrund des Krieges 1813 gegen Napoleon und der persönlichen Verwicklung des Autors darin (darstellt)‘ (De Boor/Newald VII, 2, S. 418).“
Schmidts hauptsächliche Stelle lautet, gegenüber dem „elektronischen Findmittel“ der Bargfelder Ausgabe um die Fußnote ergänzt:
——— Arno Schmidt:
Fouqué und einige seiner Zeitgenossen
§ 37
Bläschke 1958; 2., verbesserte und beträchtlich vermehrte Auflage 1960,
Bargfelder Ausgabe III/1, Seite 293 bis 296:
Da ist zunächst die Arbeit an der »Corona«.
Die Anregung durch das Bild der »Hexe« ist bereits geschildert worden; (an Miltitz gibt er einmal Leonardo da Vinci als Meister an); Plan und Erfindung werden noch während des Waffenstillstandes rasch angelegt : 3 Bücher, jedes zu 12 Gesängen; der südlich=romantische Stoff fordert das alte italienische Versmaaß, die Oktave – für einen Schüler Schlegels keine Schwierigkeit. Es sei aber ausdrücklich bemerkt, daß Fouqué das anspruchsvolle Maaß frei und schon ganz souverän behandelt. Gewidmet ist es der Prinzessin Marianne.
Der Stoff ist in seiner gewohnten bunten Art erfunden :
Corona und Blanka, die Schwarze und die Weiße, von uralter Westgotenzeit her schuldhaft aneinandergekettet, und, immer wiedergeboren, sich immer wieder befehdend, jede mit ihrem farbigen Gefolge von Rittern und Anhängern. Auch die Schauplätze liegen sämtlich im »alten romantischen Land« : Italien, Norwegen, die Schluchten des Libanon und der persischen Gebirge oder der rhätischen Alpen; Meer, Wüste und Wald. Die Staffage bilden seine üblichen Ritter, Mohren, Zauberer, Priester, Assassinen, Geister – die ganze »Maschinerie« Ariostos und Tassos ist gekonnt beisammen. Schwebend gehen die Gestalten aus Shakespeares »Sturm« durch das Werk hin : Claribella von Tunis und Ascanio, Alonso und der Luftgeist Ariel – kurz, es ist ein versifizierter Ritterroman, nichts weiter, und Ziesemers Ansicht, daß es sich hier um eine sorgfältig ausgeführte Allegorie des Jahres 13 handele, ist völlig verfehlt : das ist die »Sängerliebe« nachher, nicht die »Corona«; und Keiner der vielen Zeitgenossen Fouqués, die sich, begeistert oder tadelnd, über das Werk ausgelassen haben, ist auch jemals auf den durchaus abwegigen Einfall gekommen, mehr darin zu sehen, als eben ein Rittergedicht. Fouqué hat auch selbst einmal dazu Stellung genommen; am 24.5.26 gibt er einem begeisterten Leser, dem Privatbibliothekar der beiden hannöverschen Könige, L. C. Nolte, (etwa 1790 bis 1870; auch ein Freiwilliger von 1813; später Oberrevisor beim Finanzministerium in Hannover, und Redakteur des dortigen »Intelligenz=Comtoirs« – leider ist über den interessanten Mann noch gar nichts bekannt*), diese Auskunft :
{Fußnote:] * Ich hatte seinerzeit meine Angaben lediglich aus den Hannoverschen Staatshandbüchern zusammengetragen; inzwischen habe ich die Familie im Bürgerlichen Geschlechterbuch II, S. 284 ff. gefunden. Danach ist Louis Carl Nolte am 13. 3. 1797 als Sohn eines Arztes in Hannover geboren; und dort auch als königlicher Oberbibliothekar am 12. 1. 1879 gestorben; mit seiner Frau, Charlotte Belleville (1796–1869) hatte er 6 Kinder.}
»Der Philostrat in der Corona ist mir beinahe so rätselhaft als Ihnen. In der Geschichte hat er keinen Platz, oder doch nur höchstens insofern, als Seinesgleichen : ein ritterlicher Priester, oder priesterlicher Ritter – wie schon Ihr Schreiben sehr richtig bemerkt – eben in jenen Tagen nicht zu den ungewöhnlichsten Dingen gehörte. Bilden ja die schönen geistlichen Ritterorden in ihrem ursprünglichen reinen Zustande ganze Blumengärten dieser Gattung …… Dies Alles aber ist mir in Bezug auf den Philostrat erst nach der Darstellung des Bildes aufgegangen, und ging mir zum Teil erst in diesem Augenblicke zutraulicher Mitteilung auf. Zuerst war mir Philostrat eben nur ein rätselhaft feierliches, aber irdisch existierendes Wesen, keineswegs etwa ein allegorisches ….. oder auch ebensowenig ein verhüllter Schutzengel, oder dergleichen sonst. Mir lebte und lebt eine Ahnung von den früheren Helden- und Pilgerbahnen dieses Philostrat in der Seele, die ihn eben zu diesem Standpunkte geführt hätten, und wohl dereinst durch mich oder einen Anderen in einem eigentümlichen Epos dargestellt werden könnten.« – Noch deutlicher kann er es ja nicht sagen, daß es sich hierbei um ein krauses absichtloses Produkt seiner Phantasie handelt. Gewiß, zu Beginn und am Ende jedes Gesanges, erwähnt der Dichter kurz die Zeitereignisse oder Erinnerungen, die sich im Augenblick der Niederschrift gerade darbieten; aber ohne jede Beziehung zum Inhalt, so daß diese »Einlagen« Manchem sogar störend vorkamen.
Uns sind sie aber biographisch durchaus von Wert; denn er setzt vielen der Freunde, den Lebenden und Gefallenen, ihre Denksteine, Zimietzki und Wilhelm von Massenbach, die Schlachten von Lützen und Haynau werden erwähnt, die Englandreise des Königs, und auch der »treue Gelbe«, sein Roß, das bei Lützen fiel, fehlt nicht im Erinnerungsreigen; so daß wir Schritt für Schritt die Entstehung verfolgen können – wozu nebenbei auch die Briefe schon ausreichen.
Das Urteil der Freunde ist überschwänglich günstig. Apel in Leipzig nennt es »ein geniales und glänzendes Werk, dem jeder Vorzug Ariosts und Tassos eigen ist«; Rückert, Truchseß, die Stolberge, und natürlich Franz Horn, der Wassermann, sind entzückt wie die Chézy und die Helvig; Friedrich Schlegel allerdings weiß schon, daß die »Corona« den »Zauberring« bei weitem nicht erreicht; und Jakob Grimms Abneigung ist so groß, daß er das Buch nicht einmal »anlesen« mag.
Und wirklich, wenn man die 11000 Zeilen überstanden hat, ist es des Oktavenklanges genug; wie ich denn überhaupt oft gefunden habe, daß gerade dieses Maaß Ohr und inneren Sinn ermüdet, wie kaum ein anderes. Ja, es ist mit großer Kunst und viel rhythmischem Geschick gehandhabt, und Fleiß und Feile von fast anderthalb Jahren sind unverkennbar; aber es ist letzten Endes doch weiter nichts geworden, als ein großer Haufen bunter Bilderkacheln, und gezierter Bilder noch dazu; erst nach mehrmaligem angespanntem Lesen findet man den ursprünglichen Plan, der aber in der Ausführung wieder mehrfach zerbröckelt ist, heraus. Friedrich Schlegel hat Recht : es ist gar kein Vergleich mit dem gewachsenen Chaos des »Zauberrings«, und wenn man die beiden, zeitlich einander doch so nahen, Werke zusammen hält, empfindet man recht eigentlich, um wieviel gute Prosa doch bester Verskunst überlegen ist. –
Das Interessanteste am Epos ist die Gestalt der Heldin. Mit aller Macht versucht er, auch die Gegenspielerin, die blonde Blanka, zu erhöhen; aber die bleibt stets im Schatten der Anderen, bleibt stets, – obwohl von Fouqué verzweifelt komplett mit all dem ausgestattet, was er als Kennzeichen »feiner weiblicher Bildung« sich abstrahiert hat – die blasse zweidimensionale Gestalt, zu der ihm leider allzuoft seine Heroinen entartet sind, und die auch, wie ebenfalls immer wieder bei ihm vorkommt, im Kloster endet. Corona dagegen, die temperamentvolle Dunkle – »Schau diese dunklen Brauen, finstern Locken« – ist ihm decouvrierend gut gelungen (soweit seine von Natur aus geringe Fähigkeit der Charakterschilderung dies überhaupt zuläßt); der Vamp war ihm doch wohl einmal eine angenehme Abwechslung zwischen all der ewigen höheren Weiblichkeit; leider schlägt zum Schluß wieder die Orthodoxie durch : sie (wie auch die ähnliche, obgleich blonde, Gerda des »Zauberrings«) wird zum Schluß mitleidslos »gerettet«, bekehrt : »Mein Freund, mein Romuald – kannst Du mich taufen?« – Schade.
Für die Freunde korrekter Texte sei noch hinzugefügt, daß auf S. 385 hinter Zeile 18 (»… Heilend jede Wunde,«) diese einzufügen ist : »Kommt die letzte Stunde,«; in seinem Briefe an Cotta beklagt sich Fouqué bitter über die entstellende Auslassung.
Denn bei Cotta ist die »Corona« erschienen; Fouqué hat jetzt auch den renommiertesten Verlag jener Zeit, bei dem die ganzen »Klassiker« herauskommen, gewonnen; der wird noch allerlei von ihm bringen.
Moritz Retzsch hat eine ganze Reihe von Zeichnungen zum Epos entworfen und gestochen; aber Cotta, dem Fouqué sie in einem Briefe vom 27.11. anbietet, hat sie nicht gebracht.
BIlder: Uwe Turszynski, Visual Storyteller: „Von wegen chinesische Wildtiermärkte oder Laboratorien. Die deutsche Romantik hat es eingeschleppt. Das weiß nur keiner. Wird von den Eliten verschwiegen. Jawoll!“, via Antiquariate + antiquarische Bücher, 6. Mai 2020;
J. Voerster, Antiquariat für Musik und Deutsche Literatur, Stuttgart: FOUQUÉ, Fr. de la Motte: Corona. Ein Rittergedicht in drei Büchern. Stuttgart und Tübingen J. G. Cotta 1814. XIV, 386 S., winziger Wurmgang, sonst schönes, frisches Exemplar. Lederband der Zeit mit Goldgirlanden auf den Deckeln, Ecken leicht bestoßen, 650,00 Euro.
Soundtrack: Steeleye Span: Some Rival, Traditional um 1656, aus: Storm Force Ten, 1977:
Here’s a health to all lovers that are loyal and just
Here’s confusion to the rival that lives in distrust
For it’s I’ll be as constant as a true turtle dove
And it’s never will I prove false to my love
Coronadvent 2: In den blutbetauten Hallen ihres Schwelggelags
Update zu Die unnachsichtige Logik, zu der ich mich erzogen hatte
und Etwas distinkt Metaphysisch-Transzendentales:
Für das Jahr 2020 drängt sich nichts so sehr auf wie ein Rückblick auf vergangene Pandemien.
Es ist Advent. Gott steh uns bei.
Mit manchen Schreibern ist es gelinde gesagt erstaunlich, wie punktgenau sie auf postmoderne Ereignisse passen. Weniger gelinde gesagt ist es unfair bis geradenwegs widerlich. So hat unser aller Hausheiliger Edgar „The Divine“ Allan Poe 1842 mit The Masque of the Red Death (in der Urfassung ist die Schreibung noch Mask) die bis heute passende Parabel auf alle sozialdynamischen Prozesse während der Zeiten von Pest und sonstiger Epi- und Pandemien geliefert.
Allein kann versöhnen, dass selbst ein Poe auf seit Jahrhunderten reichlich sprudelnde literarische Quellen zurückgreifen musste: Im Falle des roten Todes sind das mit meist recht indirektem Einfluss Liebeszauber von Ludwig Tieck 1811, Der Sandmann und Klein Zaches genannt Zinnober von E.T.A. Hoffmann 1817 bzw. 1819 und nachweislich sogar Ahnung und Gegenwart von Eichendorff 1815 (siehe hierzu Franz K. Mohr: The Influence of Eichendorff’s Ahnung und Gegenwart on Poe’s Masque of the Red Death, in: Modern Language Quarterly X, 1949, pp. 3–15), sehr viel direkter die Beschreibungen des gesamteuropäisch verheerenden Schwarzen Todes zwischen 1346 und 1353 aus Italien, die es zu weltliterarischem Rang gebracht haben, allen voran Il Decamerone von Boccaccio, das noch mitten im Geschehen entstand und ohne das seitdem keine Erzählung unter Romanstärke auskommt. In Frage kommen auch die Pestschilderungen aus dem Dreißigjährigen Krieg in I Promessi Sposi von Alessandro Manzoni 1827 bis 1842 (siehe hierzu Cortell King Holsapple: The Masque of the Red Death and I Promessi Sposi, in: University of Texas Studies English, Nr. 18, 1838, pp. 137–139), Klosterheim, or, The Masque von Thomas de Quincey 1832, die reichhaltigen Darstellungen mehrer Jahrhunderte von Totentänzen, die an Poe sicher nicht unbemerkt vorbeigehen konnten — sowie höchst unmittelbar „ein Artikel im New Yorker Mirror vom 2. Juni 1832, in dem Nathaniel Parker Willis berichtet, bei einem Maskenball in Paris habe einer der Teilnehmer die Pest dargestellt“ (cit. die Anmerkung in der deutschen Gesamtausgabe). Ferner konnte Poe 1831 die Cholera in Baltimore beobachten — und aufpassen, nicht selbst erwischt zu werden. Aus dieser Zeitzeugenschaft war ihm 1835 schon König Pest entstanden, allerdings launig-makabrer, deutlicher historisch verankert, dafür mit weniger zeitübergreifender Relevanz.
Die Umfärbung des Schwarzen auf den „roten“ Tod scheint Poes eigene, bildhaft ausgebreitete Farbsymbolik, zugeschrieben dem festveranstaltenden Prinzen Prospero mit dem namentlichen Anklang an den Zauberer aus dem Sturm von Shakespeare 1611. Zeit und Ort der Handlung erinnern an Boccaccios decameronisches Florenz, werden aber nicht bezeichnet. — Der eindrucksvolle Schluss:
——— Edgar Allan Poe: The Mask of the Red Death. A Fantasy.in: Graham’s Lady’s and Gentleman’s Magazine, vol. XX, no. 5, May 1842, Philadelphia, May 1842:
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——— Edgar Allan Poe: Die Maske des roten TodesÜbersetzung: Hans Wollschläger, 1966, Schluss:
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Als ob solche Clairvoyance nicht reichen würde, hat Poe an unbekannterer Stelle auch noch den Klimawandel vorausgesagt. Wie anders ließe sich die Stelle aus dem Mittelstück von „Poe’s trilogy of dialogues of blessed spirits in Heaven“ sonst deuten? — Das Thema war Poe offenbar wichtig, wie man aus der Überarbeitung nach vier Jahren schließen darf:
——— Edgar Allan Poe: The Colloquy of Monos and UnaMay or June, 1841, in: Graham’s Lady’s and Gentleman’s Magazine, Philadelphia, August 1841;
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——— Edgar Allan Poe: Zwiegespräch zwischen Monos und Una1841 ff., Übersetzung: Hans Wollschläger, 1967:
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Mit dem Wissen über Poe stünden wir alleine da ohne die verdienstreiche, immer noch gültige Gesamtausgabe im Walter Verlag, Olten 1966 ff., und ohne die nicht weniger verdienstreiche, ebenfalls immer noch gültige Biographie im Winkler Verlag 1986 und das enzylopädische, freimütig mitgeteilte Wissen von Frank T. Zumbach.
——— Frank T. Zumbach:
Die phänomenale Wirkung des Edgar Allan Poe
Und wenn Schwachsinn und Medienverblödung nicht noch weiter um sich greifen, werden wir Mr. Poe nie wieder los, gottseidank.
Bilder: Harry Clarke1916, in der teilkolorierten Fassung 1923, via
- Maya Phillips: The Rich Can’t Hide From a Plague. Just Ask Edgar Allan Poe.
In „The Masque of the Red Death,“ the poor are sacrificed to disease so the rich can keep their comfortable lives. Sound familiar?, Slate, 26. März 2020, und - Glenn Russell: I’ve always sensed a strong connection to Poe’s The Masque of the Red Death,
goodreads 9. Februar 2014.
Soundtrack: Eric Burdon & The Animals: The Black Plague, aus: Winds of Change, 1967:
Wer hätte da sich um Blumen bekümmert?
Update zu Pflanzenähnlichkeit der Weiber:
Novalis und die Frau als Königin, Mineral und Nahrungsmittel:
Klar bleibt allein, dass der Begriff der Blauen Blume der deutschen Romantik von Novalis in die „hohe“ Literatur eingeführt wurde.
Allenfalls findet sich ein vager Hinweis auf „eine alte Volkssage, lange vor der Romantik“ in der „jemand zufällig eine blaue Wunderblume“ findet; „durch sie erlangt er Zugang zu verborgenen Schätzen“ — näher werden wir nicht zur Quelle geführt. Schlüssig nachweisbar ist nur Novalis‘ Roman Heinrich von Ofterdingen von 1800, posthum 1802 erschienen. Darin liegt „der Jüngling“ gleich zu Anfang des ersten Kapitels
unruhig auf seinem Lager, und gedachte des Fremden und seiner Erzählungen. Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir geweckt haben, sagte er zu sich selbst; fern ab liegt mir alle Habsucht: aber die blaue Blume sehn‘ ich mich zu erblicken. Sie liegt mir unaufhörlich im Sinn, und ich kann nichts anders dichten und denken. So ist mir noch nie zu Muthe gewesen: es ist, als hätt‘ ich vorhin geträumt, oder ich wäre in eine andere Welt hinübergeschlummert; denn in der Welt, in der ich sonst lebte, wer hätte da sich um Blumen bekümmert, und gar von einer so seltsamen Leidenschaft für eine Blume hab‘ ich damals nie gehört.
Heinrich, würde man heute sagen, verarbeitet also im Halbschlaf seinen Tag. Nicht viel später im Text „träumte ihm erst von unabsehlichen Fernen, und wilden, unbekannten Gegenden“:
Berauscht von Entzücken und doch jedes Eindrucks bewußt, schwamm er gemach dem leuchtenden Strome nach, der aus dem Becken in den Felsen hineinfloß. Eine Art von süßem Schlummer befiel ihn, in welchem er unbeschreibliche Begebenheiten träumte, und woraus ihn eine andere Erleuchtung weckte. Er fand sich auf einem weichen Rasen am Rande einer Quelle, die in die Luft hinausquoll und sich darin zu verzehren schien. Dunkelblaue Felsen mit bunten Adern erhoben sich in einiger Entfernung; das Tageslicht das ihn umgab, war heller und milder als das gewöhnliche, der Himmel war schwarzblau und völlig rein. Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die zunächst an der Quelle stand, und ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von allen Farben, und der köstlichste Geruch erfüllte die Luft. Er sah nichts als die blaue Blume, und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stengel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blüthenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte. Sein süßes Staunen wuchs mit der sonderbaren Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme seiner Mutter weckte, und er sich in der elterlichen Stube fand, die schon die Morgensonne vergoldete.
Halten wir fest: Der romantisch verträumte Jüngling Heinrich erfährt in der Exposition unvermittelt durch einen nicht näher bezeichneten Fremden — vielleicht dem erst später auftretenden Klingsohr — von einer blauen Blume, die gleichfalls nicht genauer denn „lichtblau“ und impilzit von auffallender Schönheit beschrieben wird. Gegen Ende desselben ersten Kapitels tritt zutage, dass auch Heinrichs Vater einst von einer Blume geträumt hat, sich aber nicht an deren Farbe und sonstige Beschaffenheit erinnert:
Ach! liebster Vater, sagt mir doch, welche Farbe sie hatte, rief der Sohn mit heftiger Bewegung.
Das entsinne ich mich nicht mehr, so genau ich mir auch sonst alles eingeprägt habe.
War sie nicht blau?
Es kann seyn, fuhr der Alte fort, ohne auf Heinrichs seltsame Heftigkeit Achtung zu geben. Soviel weiß ich nur noch, daß mir ganz unaussprechlich zu Muthe war, und ich mich lange nicht nach meinem Begleiter umsah. Wie ich mich endlich zu ihm wandte, bemerkte ich, daß er mich aufmerksam betrachtete und mir mit inniger Freude zulächelte. Auf welche Art ich von diesem Orte wegkam, erinnere ich mir nicht mehr. Ich war wieder oben auf dem Berge. Mein Begleiter stand bey mir, und sagte: du hast das Wunder der Welt gesehn. Es steht bey dir, das glücklichste Wesen auf der Welt und noch über das ein berühmter Mann zu werden. Nimm wohl in Acht, was ich dir sage: wenn du am Tage Johannis gegen Abend wieder hieher kommst, und Gott herzlich um das Verständniß dieses Traumes bittest, so wird dir das höchste irdische Loos zu Theil werden; dann gieb nur acht, auf ein blaues Blümchen, was du hier oben finden wirst, brich es ab, und überlaß dich dann demüthig der himmlischen Führung. Ich war darauf im Traume unter den herrlichsten Gestalten und Menschen, und unendliche Zeiten gaukelten mit mannichfaltigen Veränderungen vor meinen Augen vorüber. Wie gelöst war meine Zunge, und was ich sprach, klang wie Musik. Darauf ward alles wieder dunkel und eng und gewöhnlich; ich sah deine Mutter mit freundlichem, verschämten Blick vor mir; sie hielt ein glänzendes Kind in den Armen, und reichte mir es hin, als auf einmal das Kind zusehends wuchs, immer heller und glänzender ward, und sich endlich mit blendendweißen Flügeln über uns erhob, uns beyde in seinen Arm nahm, und so hoch mit uns flog, daß die Erde nur wie eine goldene Schüssel mit dem saubersten Schnitzwerk aussah. Dann erinnere ich mir nur, daß wieder jene Blume und der Berg und der Greis vorkamen; aber ich erwachte bald darauf und fühlte mich von heftiger Liebe bewegt. Ich nahm Abschied von meinem gastfreyen Wirth, der mich bat, ihn oft wieder zu besuchen, was ich ihm zusagte, und auch Wort gehalten haben würde, wenn ich nicht bald darauf Rom verlassen hätte, und ungestüm nach Augsburg gereist wäre.
Der Verlust, ja die Missachtung der Erinnerung an die blaue Blume macht den Vater zu einem Vertreter der Klassik, die jener Romantik voranging, für deren Werte die Blume steht, jedenfalls zu einem nüchternen, strebsamen, der Welt zugewandten, nicht eben schlechten, aber doch prosaischen Menschen.
Ohne die eine oder andere Epoche auf- oder abzuwerten, habe ich es immer für einen Verlust in der Auslegung und Bewertung beider unbestreitbar wichtigen Epochen gehalten, dass niemand weiß: von was für einer Blume Novalis eigentlich redet, die er vielleicht aus einer „Volkssage, lange vor der Romantik“ oder vielleicht aus einem Bild seines Freundes Friedrich Schwedenstein herleiten mag — oder vielleicht auch nicht.
Am 2. Juni 2019 habe ich mich in dieser Angelegenheit an die Mitglieder der Facebook-Gruppe Deutsche Romantik gewandt, wo ich einige Experten für solche Belange vermutete:
Mal eine Frage, die geradezu in die Substanz der deutschen Romantik lappt: Was ist eigentlich die Blaue Blume für eine Blume?
Das klingt so trivial — aber was genau sollte man sich darunter bildlich vorstellen? In Wikipedia finde ich: „Als reale Vorbilder der blauen Blume werden oft heimische Pflanzen angesehen, in Mitteleuropa etwa die Kornblume oder die Wegwarte; Novalis spricht vom blauen Heliotrop.“
Und zwar finde ich das ausschließlich in Wikipedia. Deshalb hab ich mir die Mühe gemacht nachzuschauen, seit wann diese Zuschreibung des Heliotrops kursiert: Eingeführt hat das erst unter der alten Version ein Nutzer namens NikePelera am 7. Januar 2010 um 14:01 Uhr — verbessert aus seiner eigenen, genau 2 Minuten älteren Version mit dem noch nicht verlinkten „Heliothrop“.
Man wird also seit Anfang 2010 an den Heliotrop als Blaue Blume glauben, was man auch öfter so verbreitet findet. Allerdings beziehen sich nach meiner Einschätzung sämtliche Stellen, genannt oder ungenannt, auf diese Wikipedia-Erklärung von einem Nutzer, der nicht erreichbar ist. Das Wikipedia-Bild dazu zeigt eine Kornblume mit der unbelegten Vermutung in unbegründetem Konjunktiv: „Die Kornblume könnte Vorbild für das Symbol gewesen sein“.
Ohne dem unbekannt bleibenden NikePelera zu nahe treten zu wollen, finde ich das in dieser Verbindung wenig glaubwürdig. Dass Novalis von einem Heliotrop, von mir aus auch von der Sonnenwende (Heliotropium) spricht, stelle ich weder in meiner Gesamtausgabe noch irgendwo online fest — abgesehen davon, dass es laut dem Ofterdingen „eine hohe lichtblaue Blume“ sein soll, was ich aus der Zeit und der Stilebene als „hellblau“ übersetzen möchte, und Sonnenwenden eher dunkelblau gedeihen — allerdings auf heutigem Stand der Botanik: „Sowohl krautige Pflanzen, Halbsträucher als auch Bäume kommen vor“, sagt wiederum Wikipedia über die „rund 250 Arten“, was durchaus als „hohe“ Pflanze durchgehen kann, und na gut, dann kannte Novalis vielleicht ja auch hellblaue.
Und dann doch wieder: „Die Blüthenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte“ — wohingegen Sonnenwenden nicht breit, sondern mit doldenähnlichem Blütenstand blühen.
Kurz gesagt bin ich also unglücklich mit der Vorstellung der Blauen Blume als Heliotrop, weil ich mir das weder bildlich vorstellen noch aus der Primär- oder Sekundärliiteratur herleiten kann. Eine bessere Lösung weiß ich auch nicht.
Kann hier jemand sagen, ob ich was übersehen hab oder was denn die Blaue Blume sonst sein könnte?
Darauf erhielt ich noch am selben Tag die Antwort vom Gruppen-Administrator Michael D. Schmid:
Ja, an dem Artikel habe ich auch schon rumgebastelt. :) Zur botanischen Deutung der blauen Blume: Ich persönlich würde die Ansicht vertreten, dass eine allzu einengende Definition der träumerisch-rauschhaften Traumerzählung Heinrichs etwas zuwider läuft. Die Passage appelliert doch an die assoziative Phantasie, und das Symbol der blauen Blume als Inbegriff der Sehnsucht muss sich einer aufklärerisch-wissenschaftlichen Vermessung (Vermessung = Vermessenheit?) entziehen. Oder mit Novalis gesprochen: „Die Aussenwelt ist die Schattenwelt, sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich.“ Ich für meinen Teil kann und will die Blaue Blume nicht erkennen, nur erahnen.
Das trug Herrn Schmid fünf Likes und ein „So ist es!“ ein, die wir ihm herzlich vergönnen wollen, allerdings auf seine durchdachte, engagierte und unbestreitbar wahre Antwort, die mir dennoch nicht genügen wollte:
Das gibt Sinn und entspricht wohl auch dem romantischen Geiste :) Ich würde die Blume gern auch benennen wollen. Der Heliotrop scheint mir dann doch aus der Luft gegriffen — und deshalb an einer Stelle, die so ziemlich jeder Interessierte als erstes ansteuern wird, zu vermeiden. Schon klar, Wiki-Artikel verbessern kann jeder, ich selber sogar unter registriertem Nutzernamen; da überlege ich gerade, ob das ersatzlos zu streichen ist, oder wodurch man’s denn verbessern sollte…
Bei meiner Unzufriedenheit mit der Forschung, ja Verderbtheit des allgemeinen Wissensstandes, ist es bis auf weiteres geblieben. Noch fünf Wochen danach wurde mein Facebook-Thread nach oben geholt durch den nicht vollends geistlosen Kalauer anderer Hand:
Ganz einfach: Es handelt sich um eine blûme in pla-tôn.
Ein konstruktiver Versuch wurde noch unternommen durch den ergänzenden Einwurf:
ich würde sagen, gustav mahler hat wie kein anderer die suche nach der blauen blume in musik umgesetzt, zumindest in seinen wunderhorn-symphonien 1-4.
Das war’s. Im übrigen sind wir geworfen auf Ricarda Huch: Die Romantik. Ausbreitung, Blütezeit und Verfall Blütezeit der Romantik: Erstdruck: Leipzig, Haessel, 1899. Ausbreitung und Verfall der Romantik: Erstdruck: ebenda, 1902.
Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.
Ja, genau:
Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott!
Ich habe keinen Nahmen
Dafür! Gefühl ist alles;
Name ist Schall und Rauch,
Umnebelnd Himmelsgluth.
Bild: Cicely Mary Barker: The Heliotrope Fairy, aus: Flower Fairies of the Garden; Blackie, 1944:
Heliotrope’s my name; and why
People call me „Cherry Pie“,
That I really do not know;
But perhaps they call me so,
’Cause I give them such a treat,
Just like something nice to eat.
For my scent—O come and smell it!How can words describe or tell it?
And my buds and flowers, see,
Soft and rich and velvety—
Deepest purple first, that fades
To the palest lilac shades.
Well-beloved, I know, am I—
Heliotrope, or Cherry Pie!
Soundtrack: wie auf Facebook empfohlen, Gustav Mahler: 4. Sinfonie in G-Dur, 1901,
unter Leonard Bernstein, Mai 1972 im Wiener Musikvereinssaal; Sopran: Edith Mathis:
Blumenstück 006: Sie weinten nicht, sie klagten nicht, sie starben sonder Laut
Update zum Wunderblatt 11: Die blühenden Narkosen und
Ein alter Moortopf, der auf seinem eigenen Herd sitzt und sich selbst kocht:
Wer sich Schnittblumen in die Wohnung stellt, kann tagelang dem Tod bei der Arbeit zuschauen. Soviel zur Romantik von Blumensträußen.
Eins der traurigsten Gedichte der Freifrau von Droste zu Hülshoff, vulgo Frau Nette, handelt von so einer vorzeitigen Folter zum Tode. Die Umstände, unter denen der Strauß am Hof zu Bökendorf gepflückt wurde, sind komplizierter als das heutige Vorsprechen in einem Blumenladen, vielmehr eingebunden ins nachmals so bezeichnete Arnswaldt-Straube-Erlebnis — eine verwickelte Liebesaffäre der Droste mit August von Arnswaldt und Heinrich Straube, deren genauerer Verlauf sich bei fortbestehender Forschungslage der Rekonstruktion entziehen wird.
Drostes Entwurf lässt sich aufgrund eines Stammbucheintrags ihrer Tante Sophie vom Haxthausen auf Juni 1820 datieren, von der die Situation beschrieben wird:
Im Juny 1820 als Nette auf dem Hof in Bökendorf mit Anna unter der Akazie saß und einen Blumenstrauß, den ihr Anna gebracht, zerrissen.
Anna ist Drostes andere, vier Jahre jüngere und eng vertraute Tante Anna von Haxthausen, die sich ihrerseits in ihrem Stammbuch erinnert:
Wir saßen auf einer Bank, auf dem Hof unter der Linde die Ludowine gepflanzt, und sie zerpflückte einen Blumenstrauß, den ich ihr gebracht; nach einem ernsten Gespräch, das wir führten, diktierte sie mir das Gedicht, was ich in eine Brieftasche schrieb.
Anna pflückt also den Strauß, schenkt ihn Annette, dieselbe zerpflückt ihn. Es folgt ein ernstes Gespräch. Eine Auseinandersetzung unter adligen jungen Fräulein, die sich vermutlich um adlige junge Männlein dreht. So genau will man’s am Ende gar nicht wissen.
Die üblich gewordene Überschrift Blumentod hat die große Schwester „Hans“, eigentlich Jenny, in den Entwurf dazugeschrieben. In der rohen, nur leicht modernisierten Fassung mit ganz wenigen Satzzeichen, in der die Haxthausen das Diktat der Droste aufgenommen haben muss, und wie sie der Deutsche Klassiker Verlag in den Sämtlichen Werken bringt, wirkt das Gedicht aber erst richtig verzweifelt und archaisch.
——— Annette von Droste-Hülshoff:
Blumentod
Schloss Bökerhof, Juni 1820:
Wie sind meine Finger so grün
Blumen hab ich zerrissen
Sie wollten für mich blühn
Und haben sterben müssen
Wie neigten sie um mein Angesicht
Wie fromme schüchterne Lieder
Ich war in Gedanken, ich achtets nicht
Und bog sie zu mir nieder
Zerriß die lieben Glieder
In sorgenlosem Mut
Da floß ihr grünes Blut
Um meine Finger nieder
Sie weinten nicht, sie klagten nicht,
Sie starben sonder Laut
Nur dunkel ward ihr Angesicht
Wie wenn der Himmel graut
Sie konnten mirs nicht ersparen
Sonst hätten sies wohl getan, —
Wohin bin ich gefahren!
In trüben Sinnens Wahn!
O töricht Kinderspiel!
O schuldlos Blutvergießen!
Und gleichts dem Leben viel,
Laßt mich die Augen schließen,
Denn was geschehn ist, ist geschehn
Und wer kann für die Zukunft stehn!
Schloss Bökerhof bei Brakel im nordrhein-westfälischen Landkreis Höxter ist heute Gedenkstätte für den Bökendorfer Romantikerkreis mit Literaturmuseum, mithin eine touristische Unternehmung wert. Wer mir durch Bild und/oder lebende — also nicht etwa sinnlos ausgerupfte — Präparate schlüssig nachweisen kann, aus welchen Pflanzenarten anno 1820 ein Blumenstrauß von unter Ludowinens Linde bestanden haben mag, gewinnt was richtig Schönes. Ein Buch, wie ich mich einschätze.
Bild: John William Waterhouse: Narcissus, 1912.
Soundtrack: John Mayall: Don’t Pick a Flower, aus: Empty Rooms, 1970:
Unvernünftige Rede übers unwiederbringlich Verlorene
Update zu Dieses treffliche Märchen vom Schmidt
und Адвент 1: Über Nacht bin ich tot:
Unter den rhetorischen Strategemen, um eine Diskussion zu gewinnen, ist die Zustimmung, die sogleich den gegenteiligen Schluss aus dem Argument des Diskussionsgegners zieht, das vornehmste. Im Märchen beherrschen sogar Tiere diesen Salto — mit der Extradrehung, dem gegnerischen Argument zuvorzukommen. Jedenfalls im ukrainischen Märchen (empfohlene Quelle: Ukrajinska Prawda). Und wer mir glaubwürdig sagen kann, wie dieser spezielle argumentative Kunstgriff beim Fachausdruck heißt, gewinnt ein Buch von mir. Ein schönes.
Mir fällt immer schwer, Märchen aus eigenem fachlichen Ermessen nach dem Aarne-Thompson-Uther-Index einzuteilen, vor allem wenn Tiere (ATU 1–299), übernatürliches Können oder Wissen (650–699), schwankhafte Geschehnisse (ATU 1200–1963), ein überraschender Zugewinn an Weisheit, der auch ein Übertölpeln des vermeintlich Stärkeren sein könnte, und bestimmt noch einiges, das sich allzu leicht übersieht, auf so engem Raum zusammenkommen. Die Nachtigall aus dem gleichnamigen Märchen kann jedenfalls alles davon.
Gegen die dahingegangene DDR ist mancherlei vorzubringen, aber die Märchenbücher dieses Landes, denen gleich mehrere volkseigene Betriebe des Buchgewerbes und nicht wenige international wirksame Erzähler, Übersetzer und Illustratoren oblagen, sind bis heute unübertroffen schön. Soviel weiß man.
Die Sonnenrose mit den ukrainischen Märchen, aus der ich unten zitiere, war nie in meinem Besitz. Im Gegenteil musste ich letzthin einen ganzen Stoß solcher großformatigen Märchenziegel aus meiner Kindheit, die mir meine Verwandtschaft „von drüben“ einstmals im Austausch gegen Bohnenkaffee, Bananen und Strumpfhosen geschenkt hat, in gute Hände weiterreichen, solange die Leute noch ein Regalmeterchen für dergleichen übrig haben. Die russischen hab ich behalten. Die Sonnenrose, lauten meine Einkaufspläne, darf ich erst anschaffen, wenn noch ein Buch nicht unter DIN A4 aussortiert ist. Es eilt also mit dem Fachausdruck für den argumentativen Kunstgriff.
——— Mimi Barillot, Hrsg.:
Die Nachtigall
aus: Die Sonnenrose. Ukrainische Märchen. Mit Illustrationen von Irmhild und Hilmar Proft,
Verlag Kultur und Fortschritt Berlin, 1966 u. ö.,
aus dem Ukrainischen von Lieselotte Remané, Seite 108:
Ein Pan fing eine Nachtigall, die wollte er in einen Käfig sperren.
„Wenn du mich freiläßt“, sagte da die Nachtigall, „will ich dir zwei gute Ratschläge geben, vielleicht können sie dir nützen.<"
Der Pan versprach, sie freizulassen.
Ihr erster Rat lautete: Trauere niemals dem unwiederbringlich Verlorenen nach!
Und der zweite war: Glaube keiner unvernünftigen Rede!
Als der Pan diese Ratschläge vernommen hatte, ließ er die Nachtigall frei. Sie flog auf und sagte: „Schlecht hast du daran getan, mich freizulassen. Wenn du wüßtest, welch einen Schatz ich besitze! Eine herrliche riesengroße Perle trage ich in mir. Hättest du die erworben, so wärst du noch reicher geworden.“
Das hörte der Pan und trauerte dem unwiederbringlich Verlorenen nach. Er hüpfte in die Höhe, um die Nachtigall zu fangen.
Da sprach sie: „Jetzt weiß ich, Pan, du bist ebenso habgierig wie dumm: Dem unwiederbringlich Verlorenen trauerst du nach und glaubtest meiner unvernünftigen Rede! Sieh doch, wie klein ich bin. Wie sollte denn eine riesengroße Perle in mir Platz finden!“
Sprach’s und flog davon.
Bilder: Irmhild und Hilmar Proft, aus: Mimi Barillot, Hrsg.: Die Sonnenrose. Ukrainische Märchen,
Verlag Kultur und Fortschritt, Ost-Berlin 1966 u. ö.; verwendete antiquarische Angebote:
- liberantiquus, 25. März 2020;
- kulpet, 15. November 2019;
- piemonteser, 1. Januar 2020.
Soundtrack: Тік: Люби ти Україну!, 2013:
Der Sommer ohne Freischütz
Update zu Grabesdunstwitterlich,
Gespräch mit einem frischerstandenen Vampyren (was niemand hören wollte),
The admirable symmetry of her person
und I wish you were dead, my dear:
I had a dream, which was not all a dream.
The bright sun was extinguish’d, and the stars
Did wander darkling in the eternal space,
Rayless, and pathless, and the icy earth
Swung blind and blackening in the moonless air;
Morn came and went—and came, and brought no day.Lord Byron: Darkness, 1816.
Auf diese Weise kommt man doch endlich noch zu einem Book on Demand — weil mir nur zwei Plattformpublikationen aus der ganzen Publikationsplattform auffallen, die Sinn ergeben.
Nun will ich aus dem Internet keinen bestimmten Matthias Wagner fischen müssen, um ihn zu verlinken. Einer aber dieses Namens hat nicht weniger geschafft als eine schmerzlich klaffende Lücke im Buchhandel zu schließen, für die eigentlich der Insel-Verlag zuständig gewesen wäre. Dafür kann man ihn gar nicht genug loben und preisen, ihm danken und seine zwei Books on Demand abkaufen — die werden, wie der Name sagt, erst auf Anfrage gedruckt und tauchen deshalb nie antiquarisch oder — was im Falle gleichbleibender 22,90 bzw. 18,90 Euro wenig schreckt — verbilligt auf. Bei ebenjenen Books on Demand hat Matthias Wagner sich herbeigelassen, das Gespensterbuch und das Wunderbuch von Apel und Laun, eine insgesamt siebenbändige Reihe zwischen 1810 (sic!) und 1818, erstmals vollständig in zwei benutzbaren Bänden herauszugeben. Bei Insel gibt es eine tröstliche Auswahl und bei de Gruyter ein unverständlich teures Faksimile, aber es musste erst ein Herr Wagner kommen, alles selber machen, auf ein von zitierfähiger Seite anerkanntes Lektorat verzichten und in postmoderner Eigenausbeutung auf eigene Kosten self-publishen. Das mit dem Lektorat schmerzt mich berufsbedingt persönlich, aber wir reden über das Einrichten eines nicht vollends veschütteten Textkorpus, das es historisch einzuordnen galt.
Matthias Wagners selbstverlegerische Arbeit wirkt hierin vertrauenswürdig, weil er ein eigenes Nachwort stiftet, das ich ungekürzt und um die nötigen Verlinkungen erweitert übernehmen kann: Besser kann ich’s auch nicht sagen, und man erfährt nebenher alles, was man aus dem Jahr ohne Sommer 1816 für literaturhistorische Belange behalten sollte. An dieser Stelle mal wieder special thanks an Hank Nagler für den einschlägigen einschlagenden Hinweis.
Die ansonsten immer an erste Stelle gerückte literarische Bedeutung des Gespensterbuchs erwähnt Wagner gar nicht erst: Die einleitende Geschichte Der Freischütz war 1821 die Vorlage für die gleichnamige Oper von Weber. Der ausgewiesene Autor weist sie im Untertitel als „Eine Volkssage“ aus. Die interessantere Frage ist daher: Woher bezog wiederum Apel seinen ach so originären Urstoff zur deutschesten aller Opern?
Die von Wagner erwähnte französische Auswahlübersetzung ist Fantasmagoriana 1812 von Apel, Laun, Heinrich Clauren und dem Volksmärchen-Musäus (übrigens mit seiner schon behandelten Stummen Liebe) 1816, auf Französisch herausgegeben von Jean-Baptiste Benoît Eyriès, danach ebenfalls ungedruckt bis 2017 und erst dann in den deutschen Originalen als „Geisterbarbiere, Totenbräute und mordende Porträts“ beim Berliner Ripperger und Kremers Verlag.
Die interessantere Frage ist daher: Die englische — seinerzeit anonyme — Auswahlübersetzung Tales of the Dead 1813 konnte den schauerromantisierenden Helden der Villa Dioadati im sommerlosen Jahr 1816 schon vorliegen. Insinuiert wird an mehreren Stellen, sie hätten die Inspiration zu ihrem folgenreichen Schreibwettbewerb aus den frranzösischen Fantasmagoriana gezogen, wobei nahe liegt, dass in einer Villa bei Cologny am Genfersee im französischsprachigen Kanton Genf ein französisches Buch vorrätig herumliegt. Beherrschten aber wirklich alle Beteiligten — Engländer allesamt — gut genug die Fremdsprache, um sich unter dem ausgiebigen Einfluss von Laudanum, der in den Berichten darüber nie verschwiegen wird, zu solchen auch intellektuellen Höchstleistungen beflügeln zu lassen? Forschungsauftrag an mich selbst und alle anderen, die sich an dergleichen aufspulen: Ich würde gern mal das Exemplar der Fantasmagoriana oder der Tales of the Dead sehen, in dem diese Kommune auf Zeit geblättert haben muss.
In keiner der beiden zeitgenössischen Auswahlen kommt eine Übersetzung der Freischütz-Volkssage vor; am frankophonen Genfersee mussten die Engländer ohne Vorlage zum nachträglichen Soundtrack der deutschen Romantik auskommen. Die interessantere Frage ist daher, auf welchen Wegen — als prominentes Beispiel aus dem jüngeren Musikschaffen — Tom Waits und William S. Burroughs 1990 auf ihre „musical fable“ The Black Rider: The Casting of the Magic Bullets geraten und sie im hanseatisch weltoffenen, aber grunddeutschen Thalia-Theater zu Hamburg uraufführen konnten.
——— Matthias Wagner:
Nachwort.
2017, zu: Johann August Apel & Friedrich Laun: Gespensterbuch, J. G. Göschen, Leipzig 1811–1815.
Vollständige Ausgabe, Books on Demand 2017, Seite 569 f.:
Das Gespensterbuch der beiden Literaten Johann August Apel und Friedrich Laun, ursprünglich in fünf Einzelbänden zwischen den Jahren 1811 und 1815 erschienen, war die bekannteste Sammlung deutscher Schauergeschichten der Romantik.
Ihr damaliger Bekanntheitsgrad war so groß. daß sich bald Teilübersetzungen ins Englische und Französische fanden.
Die französische Übersetzung mit dem Titel: Fantasmagoriana, ou Recueil d’histoires d’apparitions de spectres, revenans, fantômes, etc., traduit de l’allemand par un amateur, Paris 1812 von Jean-Baptiste Benoît Eyriès, erlangte im Sommer 1816 Berühmtheit, als Lord Byron, sein Leibarzt John William Polidori, Mary Wollstonecraft Shelley und ihr Mann Percy Bysshe Shelley [Anmerkung: Die Gesellschaft umfasste auch die Initiatorin der Reise, Claire Clairmont.] nach ihrer Lektüre den Entschluß faßten, eigene Schauergeschichten zu erfinden. Polidori verfaßte The Vampyre, eine kurze Novelle, welche lange Zeit Lord Byron zugeschrieben wurde. The Vampyre ist die erste literarische Verarbeitung der Sagengestalt des Vampirs in Prosaform und verändert diese so, daß daraus der diabolische Adlige mit unstillbarem Blutdurst wurde. Die Arbeiten Byrons und Percy Shelleys blieben nur Fragmente, doch Mary Shelley earbeitete ihren größten Erfolg und einen der bekanntesten Schauerromane der Weltliteratur: Frankenstein, or The Modern Prometheus, der im Jahre 1818 in erster Auflage erschien.
Das Gespensterbuch erhielt in den Jahren zwischen 1815 und 1817 einen mehrbändigen Nachfolger unter dem Titel Wunderbuch. Die Geschichten knüpfen an diejenigen des Gespensterbuches an, sind teilweise aber unter die religiös-legendenhafte Literatur zu rechnen.
Johann August Apel verstarb unvorhergesehen im Jahre 1816. Der letzte Band des Wunderbuchs erschien 1817, unter Mitherausgabe von Friedrich de la Motte Fouqué, die Reihe wurde danach nicht mehr weitergeführt.
Eine englische Teilübersetzung des Gespensterbuchs erschien unter dem Titel: Tales of the Dead, London 1813 unter der Herausgabe Sarah Elizabeth Uttersons.
Sowohl die französische als auch die englische Übersetzung enthielten eine Erzählung Johann August Apels, welche eigentlich nicht im Gespensterbuch enthalten war, durch diese Übersetzungen aber immer wieder damit in Verbidung gebracht und fälschlicherweise dazugerechnet wird: Die Bilder der Ahnen. Diese Geschichte erschien in einem Sammelband mit Kurzgeschichten J. A. Apels aus dem Jahre 1810 mit dem Titel: Cicaden, ein Jahr vor Veröffentlichung des ersten Bandes des Gespensterbuchs. Da dieses schöne Stück aber immer wieder mit dem großen Werk Apels und Launs in Verbindung gebracht wird, hielt ich es für angemessen, es als einen Anhang zum Gespensterbuch beizufügen.
Des Weiteren wird in der Geschichte Die schwarze Kammer, von Hauptprotagonisten einer Erzählung aus dem Journal Der Freimüthige gedacht, nämlich: Die graue Stube von Heinrich Clauren. Es handelt sich dabei praktisch um eine Zwillingsgeschichte zur Schwarzen Kammer des Gespensterbuchs und soll der Vollständigkeit halber hier auch mitaufgenommen werden.
Nun liegt mit dieser Edition zum ersten Mal seit 200 Jahren wieder eine schonend überarbeitete Komplettausgabe des Gespensterbuchs vor, und ich hoffe, daß sich heute wieder so wie damals viele Leser finden, die sich von seinem Inhalt verzaubern lassen.
Der Herausgeber.
Bilder: Gespensterbuch: Titelseite, via Staatsbibliothek zu Berlin;
Johann August Apel: Die Bilder der Ahnen, Cover zum Hörbuch, via Thomas Rippert,
Schnorr von Carolsfeld: Titelkupfer 1810, via LeastCommonAncestor, 2010.
Soundtrack: Carl Maria von Weber: Wir winden dir den Jungfernkranz, aus: Der Freischütz, 1821,
unter Carlos Kleiber, 1972 in der Dresdner Lukaskirche („Nutzung des Ortes für national und international bekannte Musikaufnahmen“). Die ist bis heute von keiner Referenzaufnahme abgelöst worden:
Bonus Track: Tom Waits/Willam S. Burroughs: Crossroads, aus: The Black Rider, Albumversion 1993:
Eichendorffs Märchen
Update zu Süßer Freund, das bißchen Totsein hat ja nichts zu bedeuten
und Da ist schwäb’scher Dichter Schule, und ihr Meister heißt – Natur!:
Sosehr man populärer Weise dazu neigen mag, ihn mit der Epoche der deutschen Romantik höchstselbst gleichzusetzen, so wenig ist bekannt, dass der adlige Joseph von Eichendorff zu einer studentischen Künstlerclique gehörte, die ihren Ehrgeiz nicht zuletzt darein setzte, bestehende Kunstwerke „im Volkston“ zu sammeln und sie als Naturerscheinungen zu würdigen: Musäus die Volksmährchen der Deutschen in fünf Bänden 1782 bis 1787; Clemens Brentano und Achim von Arnim Des Knaben Wunderhorn 1805 bis 1808; Eichendorffs Lehrer Joseph Görres Die teutschen Volksbücher 1807; Jacob und Wilhelm Grimm Kinder- und Hausmärchen 1812 bis 1858; Ernst Moritz Arndt und Ludwig Bechstein Märchen in der Nachfolge der Brüder Grimm; die Aufzählung ist bei weitem nicht vollständig.
Eichendorff hat seinen Versuch nach sieben Exemplaren abgebrochen. Sein Enkel und Nachlassverwalter Karl hat die „meist dem Volksmunde abgelauschte[n] Sagen und Märchen aus Oberschlesien“ als Märchen aus dem Nachlasse Joseph Freiherrn von Eichendorff auf 1808 bis 1809 datiert. Der Erstdruck geschah deshalb unter Karls Obhut als: Märchen. Von Joseph Freiherr von Eichendorff. Aus dem Nachlaß erstmals veröffentlicht von Karl Freiherr von Eichendorff, in: Der Wächter. Zeitschrift für alle Zweige der Kultur 8, Köln, erst 1925, Seite 10 bis 20. Offenbar hat der aufzeichnende Großvater Joseph die Märchen, die ihm in einem Dialekt erzählt wurden, der Schlonsakisch oder — wegen der rechten Seite der Oder bei Brieg, heute Brzeg — Wasserpolnisch heißt, gleich im selben Arbeitszug ins Hochdeutsche übersetzt und dabei — so der herausgebende Enkel Karl — „mit einer stellenweise geradezu verblüffenden Sorglosigkeit zu Papier gebracht.“ Das wäre damit von der Arbeitsweise etwa der Brüder Grimm prägnant unterschieden, aber für heutige Belange unerheblich, weil man mit der Sammlung eher die Arbeit Eichendorffs als die wasserpolnische Mythologie dokumentieren will.
Der erste Neudruck stammt von Albrecht Schau: Eichendorffs oberschlesische Märchen- und Sagensammlung, in: Aurora. Jahrbuch der Eichendorffgesellschaft 30/31, 1970/1971, Seite 57 bis 72. Der traditionell schlesische, heute Görlitzer Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn gab 2001 offenbar aus heimatpflegerischen Absichten eine Einzelausgabe als In freudenreichem Schalle: Eine Sammlung oberschlesischer Märchen heraus; offenbar kommentiert, weil das Büchlein immerhin 79 Seiten haben soll.
Unten wird zitiert nach dem heute zugänglichsten Druck in: Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart. Sämtliche Erzählungen I, in: Werke in sechs Bänden, Band 2, herausgegebn von Wolfgang Frühwald und Brigitte Schillbach, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1985, als Taschenbuch Band 18 bei Suhrkamp 2007. Die Überschriften stammen nicht von Eichendorff, sondern laut dieser Ausgabe erst von Albrecht Schau für seinen Nachdruck 1970.
——— Joseph von Eichendorff:
Märchen
1808 bis 1809:
1. Das Märchen von der schönen Crassna, der wunderbaren Rose und dem Ungeheuer
In einer Stadt wohnte ein reicher Kaufmann. Der hatte ein prächtiges Haus, ein Vorwerk und zwei sehr schöne Töchter. Die älteste war stolz und übermütig, die jüngste aber, die alles an Schönheit übertraf, war gut und hieß Craßna. Eines Tages verlor der Kaufmann sein ganzes Vermögen, denn seine Schiffe waren in einem Sturme auf dem Meere mit allen Waren untergegangen. Da ward er sehr betrübt, stieg auf sein Pferd und wollte in die Welt reisen, um wieder etwas zu gewinnen. Wie er wegritt, sagte die älteste Tochter, er solle ihr ein schönes Kleid, Perlen und Edelgesteine einkaufen, Craßna aber bat, er möge ihr nur eine schöne Rose mitbringen. Als er nun in fremden Landen war, kam er einstmals zu einem großen, schönen Schloß. Er band sein Pferd am Tore an und ging hinein. Aber da war alles still und kein Mensch zeigte sich. Endlich ging er in ein Zimmer, das sehr schön verziert war. Darin standen Stühle, ein Tisch und ein Bett. In einem Augenblick war der Tisch gedeckt und mit Wein und köstlichen Speisen besetzt, ohne daß man jemand sah oder hörte. Er aß und trank und ging darauf im Garten spazieren, der neben dem Schlosse lag und voll der schönsten Blumen stand. Als er eben auch das Abendessen verzehrt hatte, trat plötzlich ein schreckliches Ungeheuer in die Stube, das aber nichts sprach und sogleich wieder verschwand. So lebte der Kaufmann drei Tage lang ganz allein in dem Schlosse, der Tisch deckte sich immer wieder von selbst, das Ungeheuer aber zeigte sich nicht mehr. Den dritten Tag endlich machte er sich wieder auf die Reise. Er war aber noch nicht weit gekommen als ihm einfiel, daß ihn seine Tochter Craßna um eine Rose gebeten wie er sie im Garten bei jenem Schlosse gesehen hatte. Er kehrte also schnell wieder um, stieg ab und ging in den Garten hinein. Als er aber eben die schönste Rose abgebrochen hatte, stand auf einmal das Ungeheuer vor ihm, brüllte fürchterlich und sagte er müsse nunmehr für die Rose seine Tochter Craßna auf das Schloß bringen. Da kam der Kaufmann sehr betrübt wieder nach Hause, gab seiner Tochter die Rose, erzählte wie es ihm ergangen und wie er dem Ungeheuer habe versprechen müssen, sie auf das Schloß zu bringen. Alles war sehr traurig, Craßna aber, welche befürchtete, daß viel Übel daraus entstehen würde, wenn sie nicht gehorchte, willigte ein. Der Vater brachte sie selber auf das Schloß und ließ sie dort mit vielen Tränen allein zurück. Sie fand dort reichlich zu essen und zu trinken und alles was ihr Herz nur wünschte. Das Ungeheuer besuchte sie alle Tage einmal auf kurze Zeit, ohne ein Wort zu sprechen. Nach geraumer Frist kam das Ungeheuer einmal zu ihr, gab ihr einen Ring und sagte: „Meine schöne Craßnal Behalte diesen Ring stets am Finger und wenn du an irgend einen Ort der Welt denkst, wo du gerne sein möchtest, so brauchst du nur den Ring nach jener Gegend hinzuwenden und er wird dich sogleich, samt einem Koffer mit so viel Gold, als du nur wünschest, dorthin versetzen. Aber hüte dich, so lange du an dem betreffenden Orte weilst, in den Koffer hineinzusehen. Auch darfst du niemals über drei Tage ausbleiben, sonst muß ich sterben.“ Craßna war über dies alles sehr vergnügt. Sie wünschte sehnlichst ihren Vater und ihre Schwester wiederzusehen, richtete ihren Ring dorthin und befand sich sogleich inmitten der Ihrigen. Unbeschreiblich war die Freude, die alle hatten, die geliebte Craßna wiederzusehen, zumal als sie den Koffer bemerkten, den sie mitgebracht hatte. Sie konnte sich nicht enthalten letzteren zu öffnen, um zu sehen, was er eigentlich enthielt, kaum aber hatte sie dies getan, so war er mit allen Kostbarkeiten verschwunden. Am Abend des dritten Tages kehrte sie wieder in ihr Schloß zurück. So wiederholte sie ihre Besuche noch sehr oft und da sie jedesmal einen Koffer mit Gold mitbrachte und nicht mehr hineinguckte wie das erstemal, zählte ihr Vater bald wieder zu den Reichsten im Lande. Als sie wieder einmal nach Hause kam, fand sie Vater und Schwester sehr betrübt, weil sie auf immer getrennt von ihr leben mußten. Mit vielem Weinen und Bitten sprachen sie ihr daher, als der dritte Tag seinem Ende entgegenging, zu, nicht mehr aufs Schloß zurückzukehren. Nach vielen Gegenreden ließ sie sich auch erweichen und blieb über Nacht zu Hause. Als aber der Morgen graute, sprang sie sogleich auf, denn sie hatte sich nach und nach so an das Ungeheuer gewöhnt, daß ihr unaussprechlich bange wurde, wenn sie einige Tage von ihm weg war. Ohne Abschied und ohne, daß jemand davon wußte, kehrte sie ihren Ring jener Weltgegend zu und befand sich sogleich wieder im Schlosse. Zu ihrem Entsetzen fand sie dort das Ungeheuer im Garten wie tot ausgestreckt. Es schien sie nicht mehr zu kennen und holte nur noch schwach Atem. Sie stürzte sich auf dasselbe, umarmte und küßte es und klagte und weinte bitterlich. Da schwoll dieses immer mehr und mehr auf bis es endlich zerplatzte und ein Jüngling von blendender Schönheit vor Craßna stand, der ihr um den Hals fiel und sie mit Küssen fast erstickte. Darauf nahm er sie bei der Hand, führte sie im Garten herum und erzählte ihr, daß er ein verwunschener Prinz sei und nur von einer Jungfrau erlöst werden konnte, die ihn trotz seiner erschrecklichen Gestalt so liebte, daß sie ohne ihn nicht zu leben vermochte. „Ihr habt mich,“ so sagte es, „durch Euere große Liebe endlich erlöst und nun ist alles Euer, was Ihr seht.“ In diesem Augenblicke wimmelte der ganze Garten von schön geschmückten Knaben und Frauen, welche den Prinzen und Craßna bedienten. Der Prinz schickte sogleich einen Wagen mit vier schönen Pferden zu Craßnas Vater und seinen Anverwandten und da alles beisammen war, hielt er mit seiner Braut auf dem Schlosse Hochzeit, die drei Wochen lang dauerte.
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2. Das Märchen von dem Amulettring und den zwei Königskindern
Es war einmal ein König, der hatte eine sehr schöne Tochter. Eines Tages kam ein fremder reisender Krämer mit allerhand Waren auf das Schloß, der einen Ring bei sich hatte, auf dem ein wunderschöner junger Mann gemalt war. Die Prinzessin kaufte den Ring und war so entzückt über das Bild, daß sie keinen anderen in der Welt heiraten wollte als den auf dem Gemälde dargestellten. So war sie in das Bild verliebt, daß sie alle Freier ausschlug. Endlich kam ein sehr schöner und reicher Prinz in der Absicht, sich um sie zu bewerben. Sie schlug auch diesen aus, der König aber, der nicht länger zu warten beabsichtigte, wollte sie zwingen ihn zu heiraten. Da ging sie am Abend vor dem Hochzeitstage mit ihrem Ring am Meere spazieren und weinte. Am Ufer erblickte sie eine Schifferin in einem Kahne. Diese sprach zu ihr: „Durchlauchtigste Prinzessin, was seid Ihr so traurig?“ „Ach,“ entgegnete die Prinzessin, „fraget nicht erst, Ihr könnt mir doch nicht helfen.“ „Wer weiß!“ sagte die Schifferin, „entdeckt mir nur getrost den Grund Euerer Betrübnis.“ Da erzählte ihr die Prinzessin die ganze Geschichte. Als die Schifferin den Ring erblickte, rief sie sogleich voller Freude: „Ich kann Euch Eueren Geliebten zeigen, der auf diesem Ringe dargestellte Prinz wohnt in dem Lande, dem ich entstamme. Wenn Ihr morgen in aller Frühe wieder hierherkommen wollt, so will ich Euch hinführen; Ihr müßt aber viel Gold und drei Eurer schönsten Kleider mitbringen.“ Die Prinzessin begab sich hierauf nach Hause und konnte die ganze Nacht vor Freude nicht schlafen. Sie sann immerfort darüber nach, wer wohl der Prinz wäre und wo das Land gelegen sei. Ehe noch der Tag angebrochen war, ging sie mit dem Gold und ihren Kleidern ganz allein an den Meeresstrand, wo die Schifferin mit ihrem Kahne schon auf sie wartete. Diese als Mannsbild angekleidet, nahm Gold und Kleider in Verwahrung und so fuhren sie über das Meer bis sie zu einer großen Stadt kamen. Hier begab sich die Schifferin in das königliche Schloß und sagte dem Koche des Prinzen, sie wolle ihm eine recht gute und geschickte Küchenmagd bringen. Dann zog sie der Prinzessin schlechte Kleider an, verdeckte ihr Kopf und Gesicht mit einem weißen Tuche, so daß sie niemand erkennen konnte, und führte sie ins Schloß. Dort verrichtete die Prinzessin still und fromm die niedrigsten Geschäfte in der Küche. Der Prinz aber war immer sehr traurig, denn auch er hatte vor einiger Zeit von einem reisenden Kaufmann einen Ring erhalten, auf dem eine wunderschöne Jungfrau gemalt war. Er wollte keine andere als diese und konnte sie doch nirgends finden. Eines Tages wurde in der Stadt ein großer Ball gegeben. Der Prinz bestellte beim Koch bloß eine Suppe, die er essen wollte ehe er wegging. Die Schifferin begab sich zur Prinzessin und setzte ihr ausführlich auseinander, wie sie sich zu verhalten habe, was sie denn auch treulich ausführte. Als der Bediente die Suppe hinauftragen wollte, nahm sie dieselbe heimlich fort und trug sie selbst zum Prinzen. Dieser, der sich eben den Rock ausbürstete, wurde böse darüber, daß er von einer so schlechten Magd bedient werden sollte, nahm die Bürste und warf sie nach ihr. Sie aber ging, ohne ein Wort zu sagen, aus dem Zimmer. Dann bat sie, wie ihr die Schifferin geraten, den Koch, ihr zu erlauben, heute abend dem Balle zuzusehen. Alsdann verschaffte sie sich einen herrlichen Wagen mit vier Pferden, zog eines von ihren drei schönen Kleidern an und fuhr zum Balle. Alles war über ihre Schönheit und Pracht erstaunt. Der Prinz wurde auf einmal ganz fröhlich, als er bemerkte, daß es sich um dieselbe handelte, die er auf seinem Ringe erblickte. Sie aber hatte ihren Ring nicht angesteckt. Nachdem der Prinz sehr viel mit ihr getanzt hatte, fragte er sie zuletzt, woher sie wäre, worauf sie erwiderte, aus Bürstendorf. Da sann er hin und her, aber er kannte kein Dorf dieses Namens. Als sie nach Hause kam, fragte sie der Koch, was sie gesehen habe und sie erzählte ihm, wie der Prinz lustig gewesen sei und viel getanzt habe. Der Koch wunderte sich hierüber sehr, da der Prinz in seinem Leben noch nicht getanzt hatte. Nach einiger Zeit war wieder ein Ball in der Stadt. Da ihm nun die Prinzessin als Magd wieder die von ihm bestellte Suppe brachte, warf er einen Stiefel hinter ihr her. Sie fuhr nun wieder in ihrem zweiten schönen Kleide hin und als der Prinz sie noch einmal nach dem Namen ihres Heimatortes fragte, nannte sie ihn Stiefeldorf. Schließlich gab der Prinz, der sehr neugierig war, ob die Prinzessin wiederkommen würde, selbst einen Ball. Auch diesmal trug sie ihm vorher wieder seine Suppe herauf. Er war eben im Begriffe, seine goldenen Sporen umzuschnallen und warf, als er sie erblickte, einen derselben nach ihr. Später erschien sie in ihrem dritten prächtigsten Kleide auf dem Balle. Zuletzt fragte der Prinz wieder, woher sie sei und erhielt von ihr zur Antwort aus Sporndorf. Das fiel dem Prinzen endlich auf, denn er hatte schon nach allen Richtungen vergeblich Boten ausgeschickt, um die Lage der erwähnten Dörfer festzustellen. Die Prinzessin begab sich zeitig nach Hause, um ihre Geschäfte in der Küche nicht zu versäumen. Als der Ball beendet war, sandte der Prinz in die Küche, das neue Mensch solle zu ihm hinaufkommen und zog ihr, da sie zu ihm in die Stube trat, schnell das große weiße Tuch vom Kopfe. Da erkannte er sie. „Also du bist es, liebes Kind,“ rief er voller Freuden aus, fiel ihr um den Hals und küßte sie unzähligemale. Nun waren sie alle beide vergnügt, belohnten die Schifferin sehr reichlich und hielten miteinander Hochzeit in freudenreichem Schalle.
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3. Das Märchen von dem Faulpelz, dem wunderbaren Fisch und der Prinzessin
Es war einmal ein Weib, das einen Faulpelz zum Sohne hatte. Der saß das ganze Jahr auf dem Ofen und fraß alle Tage einen Topf mit Krautsuppe auf, der so groß war, daß er ihm bis über die Knien reichte. Als nun der Vater gestorben, sagte die Mutter: „Faulpelz, rühre dich! denn nun mußt du mir helfen Brot verdienen. Spanne gleich die Ochsen an den Wagen und fahre in den Wald um Holz.“ Der Faulpelz stieg vom Ofen herunter, konnte aber die Ochsen nicht einspannen. Da spannte die Mutter selber an und setzte den Faulpelz auf den Wagen. Vor dem Walde befand sich ein großer Teich, durch den ein Damm ging. Als nun der Faulpelz herankam, lag quer über den Damm ein großer Fisch. Er nahm die Peitsche und warf den Fisch in den Teich. Da schnalzte dieser im Wasser mit dem Schwanze und sagte: „Faulpelz, du hast mich wieder ins Wasser gebracht, zum Danke kannst du dir wünschen was du willst, und wenn du sagest: Es geschehe durch den Fisch, so wird es erfüllt werden.“ Da sagte der Faulpelz: „Der Wagen soll durch den Fisch voll Holz sein,“ und sogleich lag eine ganze Fichte auf dem Wagen. Als er nun damit wieder nach Hause fuhr, sah eben die Prinzessin oben im Schlosse zum Fenster heraus. Die lachte laut auf, als sie ihn unten fahren sah, und sagte: „Die Leute sprechen immer, der Faulpelz arbeitet nichts, und da fährt er ja wahrhaftig eine ganze Fichte aus dem Walde.“ Daß er so ausgelacht wurde, ärgerte dem Faulpelz und er sprach: „Ich wünsche, daß die Prinzessin durch den Fisch schwanger wird.“ Von diesem Augenblick an wurde die Prinzessin schwanger und gebar nach 9 Monaten einen jungen Prinzen. Alles war erstaunt, denn niemand kannte den Vater. Als das Kind 5 Jahre alt war, war es wunderschön und spielte immer mit einem goldenen Apfel. Da sagte der König: „Ich will alle meine Untertanen zusammenberufen und wem das Kind den Apfel gibt, der ist der Vater.“ Vornehme und Niedere kamen herbei und mußten sich stellen, aber der kleine Prinz rollte immerfort den goldenen Apfel in der Stube vor sich her und gab auf keinem acht …
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4. Das Märchen von der schönen Sophie und ihren neidischen Schwestern
Ein König hatte drei sehr schöne Töchter, unter denen aber die jüngste, welche Sophie hieß, die beiden anderen an Liebreiz weit übertraf. Die beiden älteren Schwestern waren im Besitz eines Spiegels, den sie immer fragten: „Sag an, du Spiegel an der Wand, welche ist die Schönste in Engelland?“ und jedesmal antwortete ihnen der Spiegel: „Ihr zwei seid schön, die Sophie ist jedoch die Schönste in ganz Engelland.“ Darüber wurden die beiden Prinzessinnen sehr böse und neidisch und suchten auf alle Weise die jüngste Schwester loszuwerden. An einem schönen Sommertage begaben sie sich mit ihr in den Wald, um Heidelbeeren zu klauben. Als sie draußen waren, hingen sie an einem Aste eine Schnur mit einem Stück Holz auf, das vom Winde immer wieder gegen den Baum geworfen wurde. Dann sagten sie ihrer Schwester: „Wir wollen uns nun alle drei im Walde zerstreuen und wenn es Abend wird, hier, wo das Holz im Winde klappert, zusammenkommen.“ Sophie ging darauf in den Wald, wo sie fleißig Beeren klaubte. Die beiden Schwestern aber begaben sich sogleich nach Hause und ließen sie im Walde allein. Bei einbrechender Dunkelheit traf sie aber doch wieder zu dem Holze und kam glücklich nach Hause. Das ärgerte ihre beiden Schwestern gar sehr und sie führten sie daher den anderen Tag wieder in den Wald. Aber auch diesmal fand sie den Weg zurück. Als sie aber am dritten Tage wieder in die Beeren gegangen waren, konnte Sophie am Abend den rechten Weg nicht mehr finden, sie verirrte sich immer tiefer und fing, da es schon ganz finster geworden war, bitterlich an zu weinen. Auf einmal sah sie von ferne ein Licht schimmern. Sie ging darauf zu und kam endlich an ein kleines, niedriges Häuschen. Da sie, durch das Fenster blickend, am Herde ein altes Mütterchen bemerkte, klopfte sie an. Die Alte machte sogleich auf, freute sich ungemein, ein so schönes Mädchen bei sich zu haben, gab ihr zu essen und trinken und beredete sie, bei ihr zu bleiben. Den anderen Morgen ging die Alte in den Wald hinaus und schärfte der Sophie ein, durchaus niemanden ins Haus zu lassen. Die beiden älteren Prinzessinnen freuten sich sehr, daß ihre Schwester nicht wiedergekommen war, da sie aber den Spiegel befragten und dieser wieder wie sonst antwortete: „Ihr beide seid schön, aber die Sophie ist die Schönste in ganz Engelland“ ärgerten sie sich und begaben sich in den Wald, die Sophie aufzusuchen. Endlich kamen sie auch an das Häuschen, klopften an und wollten hinein. Sophie aber erwiderte, daß sie durchaus nicht öffnen dürfe. Darauf sagten sie zu ihr: „Liebste Schwester, du hast gewiß hier in dem schlechten Hause Läuse bekommen, wir wollen dir etwas den Kopf durchsuchen.“ Da Sophie das Fensterchen öffnete und den Kopf herausstreckte, kämmten die Prinzessinnen sie sauber, flochten die Haare, banden die Zöpfe mit einem goldenen Bande zusammen und nahmen alsdann wieder Abschied. Kaum aber hatte Sophie das Fenster geschlossen, so fiel sie wie tot auf den Boden. Gen Abend kam die Alte zurück: „Hui, hui, Sophie“ rief sie „mach auf!“ Da aber drinnen alles stille blieb, stieg sie durch das Fenster hinein und jammerte sehr, als sie Sophie tot da liegen sah. Trotzdem sie Sophie sogleich auszog und ihr den ganzen Leib mit warmen Wasser wusch, war kein Lebenszeichen zu bemerken. Auf einmal erblickte sie das goldene Band im Haar und zog es schnell heraus, worauf Sophie alsbald wieder lebendig wurde. Die beiden Schwestern hatten das Band vergiftet. Den anderen Tag ging die Alte wieder aus und warnte die Sophie, ihren Schwestern, falls sie wiederkommen sollten, nochmals Gehör zu schenken. Da nun die beiden Prinzessinnen zu Hause den Spiegel befragten und wiederum die Antwort erhielten „Die Sophie ist die Schönste in Engelland,“ suchten sie nochmals das Häuschen auf und nahmen ein Körbchen voll Äpfel mit. Als Sophie das Fenster nicht aufmachen wollte, baten sie sehr freundlich, sie möchte doch wenigstens einige von den Äpfeln nehmen und da sie selber anfingen, die Äpfel zu verspeisen, konnte Sophie nicht mehr widerstehen, öffnete das Fenster und aß mit. Die Schwestern suchten ihr noch den schönsten Apfel aus und gingen wieder fort. Der Apfel aber war vergiftet. Wie sie die Hälfte davon abbiß, blieb er ihr im Halse stecken und sie fiel tot um. Gegen Abend kam die Alte zurück: „Hui, hui, Sophie, mach auf.“ Niemand aber rührte sich. Wiederum stieg sie durchs Fenster und sah Sophie auf dem Boden liegen. Trotzdem sie die Tote wieder sehr fleißig wusch und salbte, war sie diesmal nicht wieder zum Leben zu erwecken. Die Alte warf sich über sie, küßte sie und weinte sehr. Dann ließ sie einen gläsernen Sarg anfertigen, putzte die Tote mit den schönsten Kleidern, legte sie hinein und setzte den Sarg auf zwei hohe Linden, die oben mit den Ästen ineinander gewachsen waren. Einen Kranz von Rosmarin hatte sie ihr in die Haare und einen Strauß davon an die Brust gesteckt. Diese blieben immerfort grün und wuchsen im Sarge fort, auch sie selbst blieb so schön und rot, wie sie im Leben gewesen. Alle Tage fragten nun die beiden Prinzessinnen den Spiegel: „Sag an du Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste in Engelland?“ worauf der Spiegel jedesmal antwortete: „Sophie war schön, ihr zwei seid die Schönsten in ganz Engelland.“ Darüber entstand große Freude. Nach einiger Zeit verirrte sich einmal ein junger Prinz auf der Jagd im Walde. Seine Hunde blieben vor dem Lindenbaume stehen, bellten hinauf und wollten von dem Orte nicht fort. Der Prinz bemerkte nun oben den Sarg und war außer sich vor Freude über die Schönheit der Toten. Er ging sofort in das Häuschen und verlangte von der Alten den Sarg. Diese aber weinte entsetzlich und erwiderte es wäre dies ihre einzige Freude auf der Welt und sie würde sterben, wenn man ihr die schöne Sophie wegnähme. Nachdem ihr versprochen worden war, auch sie mitzunehmen, und immer bei dem Sarge zu belassen, willigte sie endlich ein und der Prinz ließ den Sarg herabholen und auf einen Wagen setzen. Als dieser aber über einige Baumwurzeln hinwegrollte, sprang durch die Erschütterung plötzlich der Apfel aus Sophiens Halse, worauf sie tief aufatmete und die Augen aufschlug. Da fiel ihr der Prinz voller Freude um den Hals, setzte sich zu ihr in den Wagen und hielt Hochzeit mit ihr auf seinem Schlosse. Auf die Frage der beiden Schwestern: „Sag an du Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste in Engelland?“ antwortete der Spiegel nun wieder: „Ihr beide seid schön, Sophie jedoch ist die Schönste in ganz Engelland.“ Die Prinzessinnen wurden hierdurch zornig, warfen den Spiegel auf die Erde und zertraten ihn in kleine Stücke.
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5. Das Märchen vom Vogel Venus, dem Pferd Pontifar
und der schönen Amalia aus dem schwarzen Wald
Ein König war so krank, daß ihm kein Arzt im ganzen Königreiche mehr zu helfen wußte. Da träumte ihm einmal, daß er nicht eher gesund werden würde, bis er den Vogel Venus singen höre. Als er aufwachte, erzählte er allen seinen Traum. Aber da war keiner, der den Vogel Venus kannte, oder wußte, wo er zu finden sei. Der König hatte aber drei Söhne. Der älteste von ihnen sagte: „Ich will in die Welt hinaus und den Venusvogel überall suchen“ und trat, nachdem er vom König viel Gold und Silber erhalten hatte, die Reise an. In der nächsten großen Stadt erkundigte er sich nach dem besten Wirtshause und kehrte dort ein. In dem Gasthofe war ein großes Jubeln und Tosen von Spielleuten und schöngeputzten Mädchen, Saufen und Spielen, und da man beim Prinzen viel Geld merkte, hielt man ihn so lange auf, bis er seinen letzten Groschen verspielt hatte. Dann ließ ihn der Wirt, weil er nichts mehr besaß, die Zeche zu bezahlen, in einen tiefen Turm werfen. Da nun der König lange vergebens auf seinen Sohn gewartet hatte und immer kränker wurde, erklärte der zweite Prinz, nun auch auf die Wanderschaft zu gehen und den Vogel Venus aufzusuchen. Auch er erhielt vom Könige Gold in Menge. Er nahm denselben Weg, wie der erste, kehrte ebenfalls in dem Wirtshause ein, verspielte sein ganzes Geld und wurde gleichfalls in einen Turm geworfen. Als auch der zweite nicht wiederkam, machte sich endlich der dritte Prinz auf den Weg. Er kam auch an das Wirtshaus, aber er trank und spielte nicht, achtete auch nicht auf die hübschen Mädchen, sondern sann nur immerfort nach, wohin er sich wenden sollte, um den Vogel zu finden. Vor der Weiterreise sagte ihm der Wirt: „Ihr seid ein recht feiner und kluger junger Herr, daß Ihr Euer Geld so wohl zusammenhaltet, erst unlängst waren zwei eben so junge und reiche Menschen hier, die ich in den Turm geworfen habe, weil sie alles verspielt hatten.“ Da verlangte der Prinz die beiden Gefangenen zu sehen und erkannte seine Brüder. Dem Wirt bezahlte er, was sie schuldig waren, machte ihnen Vorwürfe daß sie so unbedachtsam gelebt und wies den Wirt an, ihnen gutes Quartier, aber täglich nur so viel zu verzehren zu geben, als sie notwendig brauchten und sie so lange zurückzuhalten, bis er selbst sie abhole. Darauf ritt er in Gottes Namen weiter. In der Vorstadt sah er auf offener Straße eine Leiche auf der Bahre stehen. Er erkundigte sich, was dies zu bedeuten habe und als man ihm mitteilte, daß es hier Gebrauch sei, einen Menschen, der Geld schuldig geblieben, unbegraben zu lassen, bezahlte er sogleich die 200 Rthr., die der Verstorbene schuldig war und ließ ihn auf seine Kosten beerdigen. Darauf kam er in einen großen Wald, wo ein Fuchs am Wege saß. „Wo reitest du denn so voller Gedanken hin,“ fragte derselbe den Prinzen. „Ach, mein liebes Füchslein,“ erwiderte der Prinz, „was hülfe es mir, wenn ich’s dir auch sagte, du könntest mir doch nicht raten.“ „Wer weiß,“ sagte der Fuchs, „wenn du erlaubst, will ich dich begleiten.“ Nachdem sie lange so gereist waren, rief der Fuchs: „Hier in der Nähe wohnt ein König, der besitzt den Vogel Venus. Gehe um Mitternacht ganz allein ins Schloß, die Wachen werden alle schlafen. Im innersten Gemache wirst du ringsherum an der Wand eine Menge Vögel in schönen Gebauern finden, in der Mitte aber steht der Vogel Venus, der einen so prächtigen Käfig hat, daß die Stäbe desselben einen glänzenden Schein von sich geben. Begeize dich aber ja nicht auf den Käfig, sondern lasse ihn stehen und begnüge dich damit, den Vogel sachte herauszunehmen, sonst wirst du unglücklich.“ Um Mitternacht ging der Prinz aufs Schloß, während der Fuchs die Pferde bewachte. Als er in das erwähnte Gemach trat, war er von der Schönheit des Käfigs ganz geblendet und dachte bei sich: „Die Wachen schlafen alle, ich werde den Käfig schnell forttragen, so hab‘ ich beides.“ Kaum aber hatte er den Käfig in die Hand genommen, so fing der Vogel an, dermaßen zu kreischen und mit den Flügeln zu schlagen, daß die Wächter erwachten, den Prinzen ergriffen und ins Gefängnis warfen. Am zweiten Tage erschien der Fuchs im Turme und sagte: „Sieh’st du, hab‘ ich nit gesagt, daß es dir schlimm gehen würde, wenn du nicht folgtest. Morgen sollst du gehängt werden, wenn du auf den Richtplatz hinausgeführt wirst, so bitte den Henker, dich noch einmal zum Könige zu führen, da du ihm etwas sehr Wichtiges anzuvertrauen hättest. Nur so kannst du dich noch retten.“ Das tat denn auch der Prinz am anderen Tage. Auf vieles Bitten führte ihn der Henker noch einmal vor den König, dem er, wie ihn der Fuchs gelehrt, versprach, ihm das Pferd Pontifar zu bringen, wenn er ihm das Leben schenke. Der König war ganz außer sich vor Freude, begnadigte den Prinzen und versprach ihm den Vogel Venus samt dem Käfig zum Geschenk zu machen, wenn er ihm das Pferd Pontifar bringe. Als nun der Prinz wieder zum Fuchse in dem Walde kam, fragte er ihn, wo nun aber das Pferd zu finden sei. „Das Pferd Pontifar,“ erwiderte dieser, „befindet sich wieder bei einem anderen Könige in einem prächtigen Stalle. In einem Kreise um das Pferd herum sitzen die Wächter, von denen jeder einen goldenen Zügel in der Hand hält. Du wirst nun wieder um Mitternacht, während die Wächter schlafen, allein hingehen. Hüte dich aber, von dem köstlichen Geschirr des Pferdes etwas mitzunehmen, schirr es vielmehr langsam ab und reite auf dem ledigen Pferde davon, sonst wirst du unglücklich.“ Wie erstaunte aber der Prinz, als er in der Nacht in den Stall kam. Denn war das Pferd schön, so war doch Sattel und Geschirr, aus Gold und Edelsteinen bestehend, noch weit schöner. Er konnte nicht widerstehen, zog die goldenen Zügel langsam aus den Händen der schlafenden Wächter und schwang sich auf das aufgeputzte Pferd. Kaum aber saß er droben, so wieherte und polterte das Roß derart, daß die Wächter erschreckt auffuhren, den Prinzen herabrissen und ins Gefängnis warfen. Am zweiten Tage erschien der Fuchs wieder im Gefängnisse, schalt ihn aus und gab ihm wieder Ratschläge wie das erstemal. Auf inständiges Bitten wurde der Prinz vom Richtplatze noch einmal vor den König geführt, dem er die Prinzessin Amalia aus dem schwarzen Walde zu verschaffen versprach, wenn er ihm das Leben schenke. Da freute sich der König über alle Maßen, er schenkte ihm nicht nur das Leben, sondern stellte ihm auch noch das Pferd Pontifar nebst Sattel und Zeug in Aussicht, wenn er ihm die Prinzessinbringe. „Mein liebes Füchslein,“ sagte der Prinz, als er zurückkam, „wo werden wir nun aber die Prinzessin finden?“ „Die Prinzessin Amalia,“ erwiderte der Fuchs, „wohnt im schwarzen Walde in einem schwarzen Schlosse, bewacht von zwei Wölfen, zwei Bären und zwei Löwen. Du mußt wieder um Mitternacht bis ins innerste Gemach vordringen. Dort wirst du auf einem Tische eine Menge herrlicher brennender Lampen finden. Hüte dich aber, eine der schönen Lampen anzurühren, nimm vielmehr die schlechteste, die in der Mitte steht, und gehe damit hinaus. Du bist verloren, wenn du mir nicht folgst, denn diesmal kann ich dir nicht mehr helfen.“ – Beim Schlosse angekommen, ging der Prinz allein hinein. Wölfe, Bären und Löwen schliefen alle. Im innersten Gemache brannten die Lampen in verschiedenen bunten Farben und Scheinen, so daß der ganze Raum mit Glanz erfüllt war. Keine von ihnen rührte er an, sondern nahm aus der Mitte die schlechte und ging mit ihr hinaus. Am Tore wartete seiner schon die Prinzessin Amalia aus dem schwarzen Walde, die ganz in schwarzem Flor gekleidet war. Ohne ein Wort zu sprechen, führte sie der Prinz, wie ihn der Fuchs befohlen, zu den Pferden und ritt mit ihr zum Schlosse des zweiten Königs zurück. Aus dem Schloßfenster sah ihnen der König schon entgegen und das Pferd Pontifar stand bei ihrer Ankunft bereits aufgeputzt am Tore. Der König war voller Freude, als er die Prinzessin Amalia erblickte und dankte dem Prinzen außerordentlich. Dieser bestieg sein Roß, schwang die Prinzessin, die von ihm nicht lassen wollte, vor sich auf den Sattel und ritt somit ihr über alle Berge. Als er zum Schlosse des ersten Königs kam, stand der Käfig mit dem Vogel Venus bereits auf dem Hofe. Mit tausend Freuden bestieg der König das Pferd Pontifar. Es wollte ihn aber nicht dulden und er vermochte es nicht zu bändigen. Der Prinz erklärte, es im Hofe etwas zureiten zu wollen, bestieg es, die Prinzessin Amalia, die ihn außerordentlich liebte, gleich auch mit ihm, tummelte das Roß nach allen Richtungen, ergriff unversehens den Käfig mit dem Vogel Venus und jagte somit allem davon. Seine im Wirtshaus zurückgebliebenen Brüder wunderten sich, als er dorthin zurückkam, sehr über die mitgebrachten herrlichen Sachen, verabredeten aus Neid, den Bruder zu erschlagen, versenkten ihn in einen Graben, ritten mit den Sachen nach Hause und rühmten sich ihrer Erfolge. Aber die schöne Prinzessin wollte nicht sprechen, das Pferd nicht fressen, der Vogel Venus nicht singen und der alte König blieb daher so krank, wie er gewesen. Unterdessen lief der Fuchs zu dem Graben, wo der Prinz lag, zog ihn heraus, wusch ihn mit seinen Pfoten, erweckte ihn zum Leben und sagte zu ihm: „Ich bin die Seele des Verstorbenen, für den du die Schulden bezahlt hast, meine Schuld habe ich dir nunmehr abgezahlt und bin erlöst. Gehe du nun zu einem Schäfer, ziehe dessen Kleider an, eile so ins Schloß und gib dich für einen Tierarzt aus.“ Bei diesen Worten verschwand der Fuchs, der Prinz aber suchte einen Schäfer auf dem Felde auf, wechselte mit ihm die Kleider und ging alsdann zu seinem Vater. Dort wollte man ihn, weil er so verlumpt aussah, nicht aufnehmen, wurde aber, da er angab, alle Pferde kurieren zu können, in den Stall geführt. Bei seinem Eintritt sah sich das Pferd Pontifar sogleich nach ihm um, wieherte, fraß Hafer aus seinen Händen und wurde ganz munter. Alles war hierüber höchst erstaunt und wollte den Wunderarzt sehen. Als er in die königlichen Gemächer geführt wurde, fiel die stumme Prinzessin Amalia ihm um den Hals, der Vogel Venus begann wunderschön zu singen und der König sprang gesund aus dem Bette. Hierauf zog der Prinz seine schönen Kleider an und erzählte alles. Der alte König war voller Freude und gab eine prächtige Gasterei. Die beiden Brüder, die zur Jagd ausgezogen waren, erstaunten über die Vorkommnisse aufs höchste. Über Tafel fragte sie der König, was wohl jemand verdiene, der seinen Vater belogen und einen Menschen erschlagen habe. Sie antworteten: „Den lichten Galgen.“ Der König wollte sie hierauf aufhängen lassen, da der Bruder aber sehr für sie bat, wurden sie in ein Gewölbe gebracht, wo sie zeitlebens in der dicksten Finsternis sitzen mußten. Der jüngste Prinz aber hielt mit der schönen Prinzessin Amalia aus dem schwarzen Walde eine glänzende Hochzeit.
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6. Die Sage vom häßlichen Schuster, der zwölf Jahre Teufelsbündler war
und ein reicher Mann wurde
Unterdessen hatte auch der König von dem großen Reichtum des Arrendators gehört und fuhr daher hin, um alles selbst in Augenschein zu nehmen. Da führte ihn der Schuster in seinem Hause durch unzählige Keller, die bis zur Decke mit Gold angefüllt waren. Der König war über die Maßen erstaunt, da er sah, daß der Schuster hundertmal reicher war, als er selbst, versprach ihm seine Tochter zur Frau zu geben, ließ ein Bild des Schusters anfertigen und nahm es mit nach Hause. Als er aber der ältesten Tochter mitteilte, was er versprochen und sie auf dem Bilde den gräulichen, über und über beschmutzten Schuster erblickte, lachte sie ihrem Vater ins Gesicht. Darauf wandte sich der König an seine zweite Tochter, aber auch diese wollte durchaus nichts von der Heirat wissen. Die jüngste Prinzessin aber erklärte, den Befehlen ihres Vaters Gehorsam leisten zu wollen. Mittlerweile waren die zwölf Jahre, die der Schuster mit dem Teufel akkordiert hatte, verflossen und er beschloß sich nunmehr um die versprochene Prinzessin zu bewerben. Er ließ sechs prächtige Pferde vor einen goldenen Wagen spannen und fuhr so vor. Als er unterwegs an einem Teiche vorbeifuhr, sprangen plötzlich drei Teufel aus dem Schilfe hervor. „Du Schweinigel,“ riefen sie dem Schuster zu, „ist das eine Art, so mit kotigem Gesicht und mit unausgekämmten Haaren um eine Prinzessin zu freien!“ Damit rissen sie den Schuster aus dem Wagen, warfen ihn ins Wasser und wuschen und striegelten ihn von oben bis unten. Dann zogen sie ihm prächtige Kleider an und setzten ihn wieder in den Wagen. Der Schuster aber sprach für sich: „Man behauptet immer, der Teufel sei dumm, aber wahrhaftig, er ist klüger als ich,“ und war wohl zufrieden. Bei der Ankunft war man über seine Schönheit allgemein erstaunt, denn er war ganz verwandelt. Die jüngste Prinzessin fiel ihm voller Freude um den Hals, die beiden anderen aber erhängten sich aus Neid und Ärgernis. Die Teufel aber verabschiedeten sich für immer von dem Schuster, da sie hier und im Branntweinhause bereits zahlreiche Seelen erobert hatten.
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7. Das Märchen von der in der Wildnis ausgesetzten Königin
und ihren Söhnen Josaphat und Löwiath
Ein römischer Kaiser heiratete einstmals ein sehr schönes, aber ganz armes Fräulein. Darüber wurde seine Mutter, die alte Kaiserin, sehr ergrimmt und suchte daher die junge Frau auf alle Weise anzuschwärzen. Während der Kaiser eben Krieg führte, gebar ihm seine junge Gemahlin zwei Prinzen auf einmal. Die Alte schrieb hierauf ihrem Sohne, daß keine junge Frau, wenn sie züchtig und ehrbar gelebt habe, zum erstenmale Zwillinge gebären könne, er solle sich daher eiligst aufmachen, um die ihm angetane Schande an seiner Frau zu rächen. Der Kaiser kehrte auf diese Nachricht hin schleunigst in seine Residenz zurück, ging sogleich in die Kirche, kniete vor dem Hochaltar nieder und bat Gott für seine Frau. Das ärgerte die alte Kaiserin entsetzlich, sie beredete daher ihren Kammerdiener, sich bis aufs Hemd auszuziehen und so zu der jungen Kaiserin, die eben schlief, ins Bett zu legen. Dann ging sie zu ihrem Sohne in die Kirche und erzählte ihm, wie schändlich sich seine Frau aufführe und zerrte ihn so lange, bis er ihr endlich in das Schlafgemach der jungen Kaiserin folgte, wo er neben seiner schlafenden Frau den Kammerdiener liegen sah. Da zog der Kaiser sein Schwert und durchbohrte den Diener, daß sein Blut der erschrockenen Kaiserin ins Gesicht spritzte. Sie sollte sogleich mit ihren Kindern lebendig verbrannt werden. Auf dem Richtplatze verhielt sich das dort zusammengelaufene Volk still und traurig, weil alle die junge Kaiserin sehr liebten und keiner von den Richtern wollte das Todesurteil verlesen. Die Verurteilte wandte sich hierauf an ihren Gemahl und sprach: „Weil du mich nicht mehr liebst, lege ich keinen Wert darauf, weiter zu leben, aber die beiden armen Кinder erbarmen mich sehr. Schenke mir ihretwegen das Leben und ich will mit ihnen fortziehen, so weit mich meine Füße tragen.“ Der Каiser ließ sie auf ein Pferd setzen und gab ihr einen großen Mantel mit, in den sie die Кinder einwickelte. Nach langem Ritt kam sie in eine große Wildnis. Аuf einer Wiese stieg sie ab, legte die Кinder rechts und links auf dem Мantel in die Sonne und schlief in deren Мitte ein. Вald darauf näherte sich ein Affe, nahm eines der Кinder in seine Аrme und trug es unbemerkt in den Wald. Dort sah eine Räuberbande den Аffen mit dem Кinde, man jagte ihm nach, nahm ihm das Кind fort und trug es in die nächste Stadt. Еinem dort weilenden fremden Каufmann gefiel der schöne Кnabe so, daß er beschloß, ihn seiner Frau mitzubringen. Еr kaufte daher den jungen Prinzen von den Räubern, besorgte ihm eine Amme, setzte diese auf eine Eselin und zog alsdann nach Hause, wo das Kind von seiner Frau sehr gut aufgenommen wurde. Вald darauf schlich sich eine Löwin an die Schlafende heran und raubte ihr das zweite Кind, um es ihren Jungen zum Fraß zu geben. Da sie aber eben im Вegriff war, es fortzutragen, flog der Vogel Greif heran, ergriff die Löwin samt dem Кinde und flog mit seiner Beute weit übers Мееr. Аuf einer wüsten Insel wollte sich der Greif niederlassen. Als sie schon ganz niedrig waren, ließ die Löwin das Кind sachte in den Sand fallen, riß sich, sobald sie den Boden erreichte, schnell los und biß den Vogel tot. Dann scharrte sie dem Кinde ein Bett im Sande, säugte es und nährte sich neun Tage lang von dem Fleische des Vogels. Die Кaiserin jammerte und weinte sehr, als sie den Verlust ihrer Кinder bemerkte und irrte so lange im Walde umher, bis sie endlich an das Мееr kam. Da stand ein Schiff, das eben absegeln wollte. Sie bat die Schiffer, sie mitzunehmen und diese taten es gerne ihrer Schönheit halber. Nach mehrtägiger Fahrt warfen sie an einer wüsten Insel die Аnker aus und gingen ans Land, kehrten aber alsbald wieder zurück, weil sie eine Löwin mit einem Кinde erblickt hatten. Über diese Nachricht war die Mutter voll Freuden, eilte nach dem bezeichneten Оrte hin und erkannte sofort ihr Кind, das die Löwin sich gutwillig nehmen ließ. Аls die Мutter es forttrug, folgte ihr die Löwin wie ein Нund. Die Schiffer fuhren, da sie dieses sahen, aus Furcht, ohne sie schnell ins Мееr hinein, ließen aber einen Каhn zurück, den sie mit der Löwin bestieg. So fuhr sie mit dem Kinde an der Вrust und die Löwin zu ihren Füßen, so lange auf dem Меere herum, bis sie endlich wieder mit dem Schiff zusammentraf und auf vieles Bitten aufgenommen wurde. Еiner von den Seeleuten verliebte sich in sie und schlich in der Nacht in ihre Кammer, um sie zu notzüchtigen, er wurde aber von der Löwin hieran gehindert, die ihn in Stücke zerriß und ins Мееr warf. In einer großen Stadt, wo gelandet wurde, begab sich die Кaiserin mit der Löwin, die sie niemals verließ, in ein Ноspital. Нier erzog sie ihren Sohn, den man nach der Löwin Löwiath nannte, aufs beste. — Unterdessen war ihr zweiter Sohn, der weit entfernt bei dem Кaufmann sich aufhielt und Josaphat genannt wurde, immer mehr herangewachsen. Weil er sehr stark und stammig war, sollte er Fleischhacker werden und sein Pflegevater schickte ihn daher mit zwei Осhsen über Land zu einem Меister. Веi der Ankunft redete er diesen sogleich an: „Guten Мorgen, Каmerad!“ Der Meister aber antwortete zornig: „Du Laffel kommst eben in die Lehre und nennst mich Каmerad,“ wobei er mit der Аxt drohte. Da rief Josaphat: „Rühr mich nicht an, oder ich breche dir das Genick,“ kehrte zornig mit seinen Оchsen nach Hause zurück und wollte von der Profession nichts mehr wissen. Unterwegs begegnete ihm ein Jäger, der einen Falken auf der Hand trug. Der Vogel gefiel ihm außerordentlich. Еr gab dem Jäger seine beiden Оchsen und nahm dafür den Falken mit. Sein Pflegevater, der Кашfmann, war über diesen Наndel sehr erzürnt und wollte ihn abprügeln, aber seine Frau verwendete sich sehr für den jungen Josaphat und sagte, daß er gewiß von adeligem Geschlecht und nicht zu niederem Standegeboren sei. Einige Zeit später sandte der Кашfmann den Josaphat mit dreizehn Pfund Silber in die Münze, wo sein rechter Sohn als Geselle arbeitete. Auf dem Wege dorthin begegnete Josaphat einem Reiter, der ein wildes, prächtiges Pferd tummelte. Ganz entzückt von dem schönen Rosse gab er dem Reiter das Silber und ritt nach Hause. Über diesen Streich ergrimmte der Kaufmann sehr, aber seine Frau bat noch einmal für ihn und meinte, man wisse nicht, was aus dem Knaben noch einmal werden könne.
Inzwischen hatten die Türken dem Könige, in dessen Land der Kaufmann wohnte, den Krieg erklärt und waren bis zu dessen Residenz vorgerückt. Im türkischen Lager befand sich die wunderschöne Tochter des Sultans, welche dieser einem Riesen zur Frau geben wollte, der so stark war, daß er einen gewappneten Ritter samt dem Rosse fortzutragen und vor die Füße der Prinzessin zu werfen vermochte. Von diesem Riesen wurde der König zum Zweikampf herausgefordert. Da war großes Trauern und Wehklagen im ganzen Lande, denn der König war diesem Gegner keineswegs gewachsen. Als Josaphat sah, daß auch sein Pflegevater trauerte, entschloß er sich, selbst hinzugehen und sich für den König zu schlagen. „O du großer Narr,“ sagte ihm der Kaufmann, „woher willst du denn eine Rüstung nehmen?“ Josaphat riß zwei große Platten aus Blech aus dem Ofen und band sich die eine hinten, die andere vorne hin. „Wo hast du denn aber eine Lanze?“ fragte der Kaufmann weiter. Da ging der junge Held in den Hühnerstall und bewaffnete sich mit einer langen Stange. Unter dem Bette zog er ein verrostetes, aber sehr wunderbares und glückseliges Schwert hervor, mit dem schon die Vorfahren des Kaufmannes große Taten verrichtet hatten, schwang sich auf sein schönes Pferd und ritt zur Residenzstadt, wo er mit großen Freuden empfangen wurde. Die ihm vom Könige angebotene prächtige und starke Rüstung verschmähte er und ritt in seinem erstaunlichen Aufzuge auf den Kampfplatz, wo der Riese zu Pferde schon seiner harrte und ihn fragte, ob er der König sei. Josaphat entgegnete ihm: „Hiernach hast du nicht zu fragen, der Schmied hat seine Zange, damit er sich nicht verbrenne und der König seine Ritter.“ Mit diesen Worten warf er dem Riesen seine Stange mit solcher Gewalt an den Kopf, daß er rücklings zu Boden sank. Dann sprang Josaphat schnell zu, hieb dem Riesen das Haupt ab, spießte es auf sein Schwert, sprengte ins türkische Lager vor das Zelt der Prinzessin, legte ihr den Kopf zu Füßen und sagte ihr: „Hier hast du den Kopf deines Liebsten.“ Die Prinzessin war über die Schönheit des fremden Ritters ebenso erstaunt wie er über die ihrige. – Als er eines Tages nach Rückkehr in die Residenz in Gedanken versunken oben auf dem Walle stand, ging jenseits am grünen Flußufer die Prinzessin mit ihren Hofdamen spazieren. „Glaubt ihr,“ sagte sie zu diesen, „daß der junge Ritter dort mir so gewogen ist, daß er gleich zu mir herüberkäme, wenn ich ihm ein Zeichen gäbe.“ Da sie sich aber schämte, dies zu tun, winkte eine der Jungfrauen, worauf Josaphat ungesäumt durch den Fluß zu ihr hinüberschwamm. Hier verlangte sie von ihm, daß er sie während der nächsten Schlacht entführe und versprach ihm, ihm überallhin zu folgen. – Es begann nun ein großes Gemetzel, Josaphat benutzte diesen Umstand, ritt in das türkische Lager, entführte seine Prinzessin, überließ sie aber ihrem Schicksal, als die Christen zu weichen anfingen und stürzte sich in das Kampfgewühl. Trotzdem der römische Kaiser und auch andere Fürsten dem Könige zu Hilfe geeilt waren, trugen die Türken den Sieg davon und der König, der römische Kaiser, Josaphat und alle wurden gefangen genommen.
Die Kunde von diesem Unglück war schnell auch in das Land gedrungen, wo die vertriebene Kaiserin mit ihrem zweiten Sohne lebte. Löwiath begab sich mit einer Anzahl Krieger und seiner Löwin sofort auf den Kriegsschauplatz und ritt direkt ins türkische Lager hinein. Da die Löwin alles wütend zerriß, was ihm und seiner Mannschaft noch Widerstand leistete, so waren bald fast alle Türken getötet und die Gefangenen befreit. Der König zog feierlich in seine Residenz ein und veranstaltete eine große Gasterei. Über Tafel fragte Löwiath den römischen Kaiser, aus welchem Grunde er ohne Söhne, die für ihn fechten könnten, in den Krieg zöge, woaruf dieser voll Traurigkeit erwiderte, daß er in verhängnisvoller Übereilung seine tugendhafte Gemahlin verstoßen und sich seit dieser Zeit nicht wiedervermählt habe. Da erkannte Löwiath in dem Kaiser seinen Vater. Als dieser seine Frage, ob er seine Gemahlin wiedererkennen würde, bejahte, ließ er schnell seine Mutter herbeiholen. Alle waren voller Freude über die Wiedervereinigung und Josaphat hielt glänzende Hochzeit mit der schönen türkischen Prinzessin. Der römische Kaiser verabschiedete sich hierauf mit seiner Frau und seinen Söhnen von dem Könige und zog mit ihnen in die Heimat. Schon unterwegs hörten sie, daß die alte Kaiserin, die alles Übel verursacht, wahnsinning geworden sei und sich erhängt habe.
Bilder: Frédéric:
- L’après-midi d’un(e) faune, 13. März 2020;
- Souffle léger, vapeur éphémère, 30. März 2020;
- Au pied de l’arbre, 12. April 2020;
- La fille qui murmurait à l’oreille des forêts, 15. April 2020;
- Les nuits blanches (et les mots bleus), 29. April 2020;
- Sous le soleil (exactement), 30. April 2020;
- De la tête au pied, 5. Mai 2020.
In freudenreichem Schalle: Breslau: Volksmusik, 1982 — gleich das ganze Album.
Vocals: die — solche Erwähnung erscheint angebracht — mitnichten „rechte“ Jutta Weinhold:
Zwei Klavier-Trios und zwei Violoncello-Sonaten
Update zu Leise retardierende, ungläubig fragende Zurücknahme der Meldung
und Ein ewig Weißwurschten:
Mein üblicher Urlaub besteht darin, ein-, zweimal im Jahr frühmorgens zur Haustür hinauszufallen, den Weg zur Isar einzuschlagen und erst wieder mit dem Latschen aufzuhören, wenn ich in Kloster Schäftlarn rauskomme. Das kann ich nur empfehlen: Obwohl der Weg durch einen touristisch durcherschlossenen Wald stur geradeaus am Isarufer flussaufwärts führt, verfranst man sich unfehlbar so vielfältig, dass ich in zwanzig Jahren keine zweimal genau dieselbe Strecke gegangen bin, der Klosterladen hält einwandfreien lokal hergestellten Honig von sichtbar umherschwärmenden Bienen feil – falls – selten genug – noch welcher da ist –, hinterher ist man so rechtschaffen müde, dass man sogar zu faul ist, im anliegenden Klosterbräustüberl als Isarpreuße herumzustören, und obwohl das ein noch viel steilerer Aufstieg aufs Isarhochufer ist, als man über die Straße bis in die Traditionskneipe hinein gehechtet wäre, kommt man mit der S7 vom Bahnhof Hohenschäftlarn aller 20 Minuten wieder nach München. Bei dem fiesen Anstieg aufs Hochufer in den Hauptort holt man sich erst den Muskelkater, da hilft auch die still vor sich hin verfallende Kapelle Maria Rast nix. Oben vekehrt sich’s bei gleichem Aufwand auch weiter nach Wolfratshausen, wenn man unbedingt meint.
Das Klosterbräustüberl Schäftlarn bleibt selbstverständlich mit seinen drei Umlauten im Domainnamen und seinem Schnitzel- und Steaktag aus den persönlich ansprechbaren Isartaler Angusrindern ausgerechnet an unchristlich gewählten Freitagen nur die zweite Sehenswürdigkeit am Ort, durch den man mir nix dir nix durchgerauscht ist, wenn man nicht rechtzeitig an der Klosterkirche bremst.
Letztere ist nämlich von einem idylischen Friedhof umzingelt, und an der Kirchenwand, gleich linker Hand der Hauptpforte, findet sich das Schild angeschroben:
ANNA MARIA GRÄFON ERDÖDY
1779 — 1837
FAND IN SCHÄFTLARN IHRE LETZTE RUHE.
LUDWIG VAN BEETHOVEN
WIDMETE IHR IN DANKBARKEIT
ZWEI KLAVIER-TRIOS
UND ZWEI VIOLONCELLO-SONATEN.
BEETHOVEN-GESELLSCHAFT MÜNCHEN
„Zwei Klavier-Trios“ ist gut. Die Gräfin Anna Maria „Marie“ von Erdődy (mit ungarischem ő) hat von Beethoven nichts Geringeres denn das vom Beufsmusiker E.T.A. Hoffmann für die Musikgeschichte dringend empfohlene Geistertrio – und dann noch einiges geschenkt bekommen, was sie in den Kreis der Verdächtigen als Beethovens obskure Unsterbliche Geliebte aus dem gleichnamigen Brief vom Montag, den 6. Juli 1812 rückt.
Ohne einem Frauenschicksal hinterherzuspüren, das eine Banater Adlige zu Beethovens Verehrerin der ersten Stunde, seiner Gönnerin, Hauswirtin in der Krugerstraße 1074 im Wiener 1. Bezirk, Eigentümerin des geeigneten Landguts für den viel späteren Verein der Freunde der Beethoven-Gedenkstätte in Floridsdorf, einer seiner allerengsten Lebensfreundinnen, wenn nicht gar noch Unsterblichen Geliebten machte – ohne, sagte ich, solchen wahrhaft verwirrenden Details hinterherzuspüren, weil wir darüber ohnhein nicht herausfinden, was die Gräfin an ihren Sterbeort im zarten 57. Lebensjahr zu München trug – und vor allem: wer oder was sie dann an ihre Grabstätte vor der Kirchenmauer der Benediktinerabtei – und eben nicht Benediktinerinnenabtei – Schäftlarn getragen haben mag, wohin ihr in späteren Zeitaltern noch eine bis 1990 existierende Münchner Beethoven-Gesellschaft mit einer von geistlicher Seite zu genhemigenden Gedenktafel nachruft – ohne diese Verwirrungen eines erwartbar an allen Ecken und Enden überraschenden Lebenswandels zu einer Auflösung zu führen und velmehr in unserer vielgestaltigen Verwunderung steckenzubleiben, wollen wir an dieser Stelle über ihren Widmungen ihres Frauenschicksals gedenken, wenn auch nicht ohne eine gewisse Wehmut des Versäumnisses:
- Klaviertrio op. 70 Nr. 1, „Geistertrio“, Lieblingsaufnahme mit Barenboim, Zukerman & du Pré:
- Klaviertrio op. 70 Nr. 2:
- 4. Cellosonate op. 102 Nr. 1:
- 5. Cellosonate op. 102 Nr. 2 – beide letzteren auf den Leib des Cellisten Joseph Linke komponiert:
- Kanon Glück, Glück zum neuen Jahr, WoO 176:
So eine nachweinende Wehmut bleibt einem sowieso jedesmal, wenn man von München aus nach Schäftlarn wandert. Auch wenn man im Gegensatz zu der verstorbenen Gräfin Erdődy aus eigenen Mitteln zurück nach München gelangt, verpasst man immer irgendwas bei seinem bemessenen Aufenthalt: Entweder hat der überaus sehenswerte Prälatengarten – man beachte dort das persönlich erinnernde, anrührende Dankschreiben von Papst Benedikt „Ratzefummel“ XVI. – ist zugesperrt, man ist zu geizig, um ins Klosterbräustüberl einzukehren, oder zu katholisch, um fastenfreitags dessen Angebot eines Angusrindersteaks zu nutzen, oder der Klosterladen hat wahlweise Ruhetag oder keinen Honig mehr.
Man steckt nicht drin, in den wenigsten der angeführten Umstände. Um wenigstens den Klosterladen geöffnet zu erwischen, damit man daheim sein – so vorrätig – Halb- oder Pfundglasl Klosterhonig vorweisen und sagen kann: „Schau her, ich bin dagewesen“ – die Öffnungszeiten sind:
Mittwoch–Samstag 14.00–17.00 Uhr
Sonn- und Feiertage 11.00–17.00 UhrWährend der Monate Januar bis Ende März ist der Klosterladen sonntags geschlossen.
Zu deutsch: Montag und Dienstag haben Sie Glück, wenn Sie mal aus dem idyllisch plätschernden Brunnen im Prälatengarten Im Zweifelsfall vorher zu den angegebenen Öffnungszeiten mal anrufen; die Schäftlarner, mit denen man touristisch zu tun hat, sind nach meiner Erfahrung auffallend freundlich. Wer bis hier mitgelesen hat, kriegt als Belohnung den Geheimtipp mit: Der Schnaps ist meistens noch da. Vielleicht war die Gräfin Erdődy ja doch eine gesegnete Frau.
Buidln: Lars Melzer für Google Maps, Januar 2020;
das Schild von mir, die anderen via Abtei Schäftlarn.
Bonus Track. Johannes Buxbaum an der Klosterorgel Schäftlarn, 15. April 2020:
Pater Anton Estendorffer: Capriccio super Christ ist erstanden, 2008:
Wem recht die Brust sich dehnte vom sanften Lau des März (oh yeah!)
Update zu Und Beethoven so: WTF??!!! (Aufmerksam hab‘ ich’s gelesen)
und Da unten in jenem Thale (da geht ein Kollergang):
Gustav Seibt sagt es so — ausnahmsweise nicht in der Süddeutschen Zeitung, sondern auf Facebook am 20. September 2019:
Oh, yeah!
Von Eckhard Henscheids Eichendorff-Büchlein „Aus der Heimat hinter den Blitzen rot“ kann man wohl kaum mehr als fünf Seiten am Stück lesen, schon weil man unentwegt unterbricht, um die anzitierten Vertonungen nachzuhören. Aber vor allem weil Henscheid sich immer wieder in ein Delirium redet und schreibt, und zwar ein gleichermaßen verquasseltes wie poetisch verdicktes, eine Suada des Enthusiasmus über Dichtung und Musik — im Grund ist es fast egal, wo genau man in diesen Stream einsteigt und reinhört, die Bilder, Metaphern, preziösen Fremdwörter, verbalen Ausbrüche und Rücknahmen steigern sich immer wieder zu einem erhöhten Sprachzustand, dem oft nur der Abbruch mitten mit im Satz beikommt — hier eine Soundprobe zu „künftigem großen Glück“ und „Mondesglanz“: Wer danach nicht zu Robert Schumann und Felix Mendelssohn eilt, hat ein Herz aus Stein.
Mit der Soundprobe meint er:
——— Eckhard Henscheid:
Aus der Heimat hinter den Blitzen rot:
Gedichte von Joseph von Eichendorff.
Ein Lesebuch von Eckhard Henscheid
Hanser Verlag, 1999:
Der „Frühlingsnacht“ wie des Schwesterwerks künftiges großes Glück: ganz auszuloten ist das Gemeinte nicht. Es hat zu tun mit einer spezifischen Gestimmtheit, mit einer Idee, die als sinnlich überaus scheinende bei vielen der ebendeshalb allerschönsten Eichendorffstrophen und -zeilen aufgeht; sonst zuweilen eben auch von mancherlei Schumann-Musik; aber vor allem wiederum doch der Mendelssohns, dem Beginn des Violinkonzerts in e-moll etwa, oder dem Elfenchor des „Sommernachtstraum“, beidemale vernehmlich in Sonderheit im bangfrohen Pochen der Pauken: als tippten sie wie ein erwartungsvolles Kätzchen mit der sanften Pfote auf unsere dämmrige Stirn, uns zum Aufbruche zu mahnen, ins künftige große Glück, gleichwie zu pochen und zu tippen an des Zukunftsschicksals ja schon halboffene Pforte —
— was aber dieses künftige große Glück denn nun wirklich ganz genau sei, das läßt sich trotzdem nicht sagen, höchstens allzu geschwollen. Das im Sinne der ganz besonderen und unwiederbringlichen, allerdings offenbar im Gedicht doch revozierbaren Eichendorff-Heidelbergischen Romantik aufgebrochene und entfesselte Menschheitsgefühl selber wird es wohl sein, kulminierend und symbolisch gekrönt in dem werweiß deutschesten aller Wörter, dem „Mondesglanz“ als der damit schon erfüllten Vorahnung des großen Glücks, als der fast militanten Lichtfanfare der Idee Romantik, einer speziell deutschen Romantik zugleich — vorzüglich dann, wenn dieser Eichendorff-Schumannsche „Mondesglanz“ diesmal weniger von Hermann Prey, sondern einer so spezifischen Deutschen wie der bekannten Jessye Norman ausgestoßen wird: es ist das dann schon wie ein hinreißend-hingerissener Trumpfdreisilber mitten im schäumenden Triumphgefühl, oh yeah.
Das fasst schon auf der kurzen Strecke zusammen, warum ich Henscheid unter den verdienstvollen Recken der Neuen Frankfurter Schule immer am wenigsten mochte — was mein Problem ist, nicht seins: „spezifische Gestimmtheit“, „das im Sinne der ganz besonderen und unwiederbringlichen, allerdings offenbar im Gedicht doch revozierbaren Eichendorff-Heidelbergischen Romantik aufgebrochene und entfesselte Menschheitsgefühl“, und „beidemale vernehmlich in Sonderheit im bangfrohen Pochen der Pauken“, also bitte mal; ich hoffe inständig, aus alter Befangenheit nur blind für Henscheids Selbstironie zu sein.
Dabei ist gerade er mit seinen Feldzügen gegen das Dummdeutsche, die das „publizistische Scharmützel“ (Wolfgang Heubisch, FDP, 2009) nicht scheuen, einer der verdienstvollsten Neuen Frankfurter, dazu — siehe oben — mit hoher Affinität zur deutschen Romantik, und als gebürtigem Amberger sollte ich ihm eigentlich persönlich nahe stehen. Eigentlich. Aber noch eigentlicher kommt man — siehe noch weiter oben — eben nicht um ihn herum. Jedenfalls hat er die richtigen Fans: Ebenjenem Gustav Seibt, von dem ich nicht wenig halte – endlich mal ein Journalist, der sich im richtigen Thema richtig auskennt —, gilt Henscheids „unvergleichliche Leistung des Humors“ geradezu als „Henscheidsche Wende in der deutschen Nachkriegsliteratur“. Alle Achtung. Sag ich ja, dass es mein Problem ist, nicht seins.
Außerdem hat Gustav Seibt seinerseits Facebook-Follower, die sich zu etwas gehaltvolleren Kommentaren herbeilassen als „lol“, „ggg“ oder „This.“ Zu seiner Auslassung über Aus der Heimat hinter den Blitzen rot unter anderem:
Niemand deliriert schöner als Jean Paul und sein Erbe Henscheid.
Die einen sagen so, die andern so. Siehe oben.
Schön auch Henscheids Wandergedicht im postromantischen Eichendorff-Sound samt Heine’scher Brechungen!
Danach Henscheids Wandergedicht als Telephonphotographie. Siehe unten (das Gedicht, nicht das Handyfoto).
Vielleicht könnte der Verlag ja einfach den Soundtrack als CD (oder als Playlistlink, für die jüngeren unter uns) beilegen?
Auch gute Idee. Der Soundtrack zu einem Buch als Spotify-Playlist wäre nicht das Dümmste, was ich je angelegt hätte.
Fangen wir an mit den Textbelegen: Soll Henscheid meist verdeckt Literatur- und Opernzitate in seine Texte einmontieren, ist das „künftige große Glück“ in der Vorlage Eichendorff recht eindeutig zuzuordnen:
——— Joseph von Eichendorff:
Schöne Fremde.
1837:
Es rauschen die Wipfel und schauern,
Als machten zu dieser Stund‘
Um die halbversunkenen Mauern
Die alten Götter die Rund‘.Hier hinter den Myrthenbäumen
In heimlich dämmernder Pracht,
Was sprichst du wirr wie in Träumen
Zu mir, phantastische Nacht?Es funkeln auf mich alle Sterne
Mit glühendem Liebesblick,
Es redet trunken die Ferne
Wie von künftigem großen Glück! —
Die gleiche Lage besteht beim „Mondesglanz“:
——— Joseph von Eichendorff:
Frühlingsnacht
1837:
Übern Garten durch die Lüfte
Hört ich Wandervögel ziehn,
Das bedeutet Frühlingsdüfte,
Unten fängts schon an zu blühn.Jauchzen möcht ich, möchte weinen,
Ist mirs doch, als könnts nicht sein!
Alte Wunder wieder scheinen
Mit dem Mondesglanz herein.Und der Mond, die Sterne sagens,
Und in Träumen rauschts der Hain,
Und die Nachtigallen schlagens:
Sie ist Deine, sie ist dein!
Ein gedeihlicher Fund war mir Henscheids Wandergedicht. Das lässt einen fast schon mit allen Ressentiments brechen, schon gar mit den hässlich grundlosen wie denen gegenüber dem Oberpfälzer Nachkriegsliteraturüberwinder und -wender Henscheid:
——— Eckhard Henscheid:
Vorfrühling im Sulzbacher Land
vor 2008:
Wer auf den Wogen schritte
von lindem frischem Grün;
wer über Hügel glitte,
wo Anemonen glühn;Wem recht die Brust sich dehnte
vom sanften Lau des März;
wer in den Hain sich sehnte:
dem blümt jetrzt Aug‘ und Herz.Rings sich die Wiesen weiten,
und blau am Firmament
Düfte in Schaum sich kleiden
von Wolken – und man wähntHeut‘ schon Karfreitag gekommen,
diesig unde bräsig – das Warten
auf Ostern, freudvoll beklommen:
des Schmauses im Prohofer Garten.Zwei Herren streichen für sich hin
– es lümmelt ein Lufthauch, ein warmer – :
der eine im Polohemd, Krauskopf, Bluejean,
der and’re sieht aus wie ein sehr kleiner Farmer.Löwenzahn knistert, Schwalbe girrt;
Buschwind fährt sachte durchs Röschen;
voll in die Landschaft ist integriert
des Farmers grasgrünes Höschen.Igelchen raschelt im laubigen Blatt,
froh des erwachten Gewandels –
fern dröhnt das Lärmen der staubigen Stadt,
Zentrum des Teppichhandels.Zwei Herren dackeln übers Land
in trautem Plausch – zwei Bekannte –,
und zwischen ihnen pendelt gewandt,
Wenzi, die Hundetante.
Eine Herausforderung ist der Soundtrack als Playlist in einer Aufzählung, die sogar die Einspielungen unterscheidet. Der Bestand aus Seibts Ausschnitt heißt uns für den Anfang zu Robert Schumann und Felix Mendelssohn eilen:
- Felix Mendelssohn Bartholdy: Violinkonzert e-Moll, opus 64, 1844,
live mit Hilary Hahn: - Felix Mendelssohn Bartholdy: Ein Sommernachtstraum, opus 61, 1842, Elfenreigen,
live auf dem Münchner Odeonsplatz: - Robert Schumann: Schöne Fremde, aus: Liederkreis, opus 39, 1840/1842,
Probenmitschnitt einer Meisterklasse unter Dietrich Fischer-Dieskau: - Robert Schumann: Frühlingsnacht, aus: Liederkreis, opus 39,
wie von Henscheid empfohlen von Jessye Norman:
Das war aus einer einzigen Druckseite, auf der ein musikalisch beschlagener Satiriker Vertonungen mit Eichendorff-Bezügen anzitiert, die ein bedeutender Feuilletonist mit Henscheid-Bezügen anzitiert. Nicht auszudenken, was auf den restlichen 175 Seiten der Heimat hinter den Blitzen rot noch alles gespielt wird.
Vorfrühlingsbilder: Tina Sosna: Ricarda, Silja, Julia. La(u)custrine, 2017.
Bonus Track: My Bubba & Mi: Through & Through, aus: Wild & You, 2011:
Ein ganz anderer Kerl als der Fuchs oder Wolf (so, gerade so bist du)
Die Stelle mit dem Kater wird dessen Halter besonders gerne dann vor Augen gestellt, wenn er zweie davon hat. Hab ich gehört.
Ansonsten werde ich nicht ruhen, Ludwig Tieck als so relevant (nicht „aktuell“) darzustellen, wie er ist, bis wenigstens der Deutsche Klassiker Verlag sich herbeilässt, seine liegen gelassene Gesamtausgabe von fünf Bänden — davon die ersten schon wieder vergriffen — auf die vorgesehenen zwölf aufzustocken.
Aus dem formatierten Volltext in die originale Rechtschreibung zurückkorrigiert:
——— Ludwig Tieck:
Die Gesellschaft auf dem Lande
Berlinischer Taschenkalender, 1825:
„Man wird mit dem Pferde eins“, sagte Römer, „Mensch und Thier lassen sich gar nicht mehr trennen.“
„Da sprecht Ihr ein gescheutes Wort“, rief Binder, „darin liegt das Geheimniß und auch der Schlüssel zu tausend Dingen, die man ohne ihn niemals begreifen würde. Es ist unglaublich, was die Thiere durch uns empfangen, indem wir sie zähmen und zu Hausthieren machen: alle die Anlagen, die die gütige Natur ihnen mitgetheilt hat, werden nur erst dadurch, daß ein Theil des Menschengeistes in sie übergeht, etwas Lebendiges und Geistiges. Die Zähmbarkeit ist ihr Genie, und durch Regel, Ordnung und Vernunft, die das wunderbare Wesen nun beherrscht und sich ihm mittheilt, erwachsen die Erscheinungen und Künste, die wir am Pferde und Hunde bewundern müssen. Dadurch, daß der Hund gezähmt werden kann und sich zum Menschen sehnt, diesen auch weit mehr liebt, als sein eigenes Geschlecht, ist er eben ein ganz anderer Kerl als der Fuchs oder Wolf, mit denen er doch in so naher Familienverbindung steht. Aber eben so wie die Thiere gewinnen, und etwas in ihrer Natur auch verlieren, so geht es ebenfalls dem Menschen, wenn er in diese Allianz tritt. Er entwickelt unbewußt thierische Anlagen, die vorher schlummerten. Der Jäger, der sich täglich und nächtlich mit seinem Hunde umtreibt, oder der Liebhaber, der mit seinem Pudel stündlich spielt, fängt allgemach an, die Dinge so zu sehen, wie das Thier. Er bekommt einen ähnlichen Neid, sowie eine Verwandtschaft in Blick, Geberde und Gang, er kann auch schon keinen Stock liegen sehn, ohne die Lust, apportiren zu lassen, und so wie ihm der Hund nur winkt, so thut er ihm auch den Gefallen, den Span aufzunehmen, und mit dem Liebling das langweilige Spiel zu treiben. Wie das Pferd den Reiter versteht, wie der Sinn und die Art des Rosses in den Mann übergeht, wie beide sich wechselsweis errathen, wie ihr Instinkt in der Gefahr ein und derselbe wird, darüber ließe sich vielerlei sagen, obgleich die Liebe des Gauls zum Menschen eine ganz andere, als die knechtische des Hundes ist. Ein Hund kann eigentlich nicht gekränkt werden, ein Pferd wohl, und je edler es ist, so leichter. Welcher Rinderhirt hält den Kopf nicht eben so, wie sein Vieh. Man erzeigt mir die Ehre, meine Schaafzucht für die beste in der Provinz zu halten, da kommen denn die Leute, und wollen sich bei mir Raths erholen. Was ein anderer mir so sagen kann über dergleichen, das ist niemals das beste. Andere lachen über meine Anstalten, verwundern sich aber doch, daß alles so gedeiht. Im Winter tragen einige meiner Schaafe Kappen, diese sind an den Köpfen empfindlich, etlichen habe ich Jacken angezogen, manchen eine Art von Schuh gemacht. Die Garde geht auch anders, als die Füseliere, Dragoner sind von den schweren Kürassieren unterschieden. Alles hat seine Vernunft und seinen guten Grund. Woher ich nun alles habe, was ich bei meiner Schäferei, und mit so gutem Erfolge, anwende? Denken? Beobachten? Erfahrungen anderer benutzen? O ja, das ist auch alles ganz gut und nicht zu verachten, – aber die Hauptsache ist doch, daß ich zu Zeiten in meinen Schaafstall gehe, nun drängt und wälzt sich alles das Wollenvieh zu mir heran. ‚Schäfer‘, sag‘ ich, ‚laßt mich ein Weilchen allein‘. Nun mach‘ ich die Augen zu, taste mit beiden Händen um mich her, fasse bald den Kopf, bald den Rücken dieses und jenes Hammels, versenke mich ganz in das Gefühl und die Anschauung, werde mit einem Wort, ganz und gar und völlig zum Schaaf. In diesem Schaafthum, in diesem wachen Schlummerzustande kommen mir denn die allerbesten Erfindungen und Verbesserungen, und in diesen Stunden der Weihe empfange ich durch Instinkt oder Inspiration alles, was ich abändern, was ich anwenden muß. Wem kann ich aber diese Gabe wohl mittheilen, der nicht schon selbst auf guten Wegen geht? Und nun, meine Herren, beobachten Sie einmal meinen Gang, ich will ein paarmal auf und nieder wandeln, – he, ist es nun nicht ganz der Gang eines Hammels? Aufrichtig gesprochen, ja! Sehen Sie meine Physiognomie unbefangen an. Sie verändert sich von Jahr zu Jahr: immer mehr wächst mir der Hammelausdruck in Stirn und Nase hinein. Ich niese auch schon wie die Schaafe, und wenn ich einmal viel spreche, wie jetzt eben, so gibt es wahrlich schon unter meinen Redetönen so viele Blökelaute, die knarrenden lang gezogenen Määähredensarten der Mutterschaafe, daß ich mich vor Worten, wie: ‚Wehe! sähe, geschähe‘ u. dgl. einigermaßen hüten muß.“
Gotthold ergötzte sich heimlich an diesen Bekenntnissen, der Obrist nahm eine Prise nach der andern, um nur das Lachen zu unterdrücken, Römer sah gen Himmel, und erinnerte sich wohl einiger Lebensgefahren seiner Jugend, um eine ehrbare Miene zu behalten; aber der alte Baron brach, nach nicht sonderlich langem Kampfe, mit einem ungemäßigten, lauten und anhaltenden Lachen hervor. „Nun wahrlich“, sagte er endlich, sich noch immer die ermüdeten Seiten haltend, „das ist ein Selbstlob von ganz eigener, so wie völlig neuer Art! Das ist eine Einbürgerung in einen Stand und die Urbarmachung einer Geniegegend, von denen unsere Vorfahren nichts wußten. Du könntest eine ganz neue erklärende Ausgabe der ovidischen Metamorphosen veranstalten, wenn ein einfaches Entgegenkommen, nach deiner Meinung, das Wunder überflüssig macht.“
„Aber was ist denn da zu lachen?“ sagte Binder plötzlich mit dem heftigsten Zorne. „Lachen, wenn ein denkender Mann etwas Tiefes und Gründliches spricht? Bloß, weil es der alten Basenweisheit vielleicht ein wenig sonderbar vorkommt? Auch an dir bewährt sich meine Beobachtung. Du liegst hier seit Jahren still und träge, und spielst unermüdet mit deinen großen und kleinen Katzen. Wie nun ein alter Kater wohl zwölf Stunden ruhig mit zugekniffenen Augen unter dem Ofen liegt, indes umher Spiel und Tanz, Zwist und Versöhnung, Musik und Gespräch, oder selbst wichtige Begebenheiten vorfallen, er aber nichts weiß und erfährt, und endlich langsam, langsam hervorkriecht, die Vorderbeine weit ausstreckt, sich dehnt, sie zurückzieht, und, mit den vier Beinen eng aneinander, den hohen Buckel hinaufrollt, wie es ihm keine andere Creatur nachmachen kann, so daß er wie ein griechisches Omega dasteht: so, gerade so bist du, der auch zu allem Neuen, zu allen Fortschritten, zum Anwachs der Vernunft und Kenntnisse, wie beim Abschnitte der Wissenschaften und Zöpfe mit deinem langgedehnten ‚Oooo!‘ verwundernd dastehst, und die Augen dann erstaunend aufmachst, daß es noch andere Wesen, als Kater in der Welt geben soll.“
„Jetzt bei deinem O!“ sagte der Baron, „fand ich deine vorige Behauptung, die mir als unglaublich auffiel, bestätigt.“
Schaafsbilder:
- Nova Sophia: 25, aus: Sunshine Unedited, 12. Oktober 2017;
- William-Adolphe Bouguereau: Innocence, 1873;
- Sheepy Hollows, 8. Februar 2017;
- Jean-François Millet: Le Retour du Troupeau, La Grande Bergère, Orsay 1863.
Dieß ward schon oft gesprochen, doch spricht man’s nie zu oft
Update zum 2. Advent 2014: Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt
und Quis me amabit? (Wer sol mich minnen?):
Friedrich de la Motte Fouqué, 12. Februar 1777 bis 23. Januar 1843, verlebte die Jahre 1803 bis 1831 auf Schloss Nennhausen im heutigen Landkreis Havelland als außergewöhnlich produktiver Modeschriftsteller.
1817 war der Glanz, zumal der finanzielle, seiner literarischen Meterware stark unterschiedlicher Qualität weitgehend verblasst. In demselben Jahr war Trost, das vermutlich schönste Gedicht des ausufernden Epikers, eine zur Veröffentlichung freigegebene Tatsache, schon im zweiten Band seiner gesammelten Gedichte. Wer dagegen wann und warum und unter welchen Umständen die Fouqué-Eiche im Nennhausener Schlosspark — wohl gegen 1550 — gepflanzt und — wohl gegen 1810 — benannt hat, bleibt über all den Berichten über ihren Zusammenbruch — am 17. April 2006 — ungewiss.
Stand Februar 2005:
Die Fouqué-Eiche (Quercus robur) in Nennhausen.
Text bei Fröhlich (1994): Ausgesprochen attraktive Stieleiche, deren mächtiger hohler Stamm leicht geneigt ist und eine große halbseitige Öffnung aufweist. Der obere Kronenbereich ist schon reduziert. Einseitig reichen die Äste tief herab. Bizarre Trockenäste. Sehenswert: Schloß Nennhausen. Die Eiche ist benannt nach dem Dichter und Freiheitskämpfer Friedrich de la Motte Fouque (1777-1843), der in Nennhausen seinen Roman „Undine“ geschrieben haben soll.
Daten bei Fröhlich (1994): 500–600 Jahre, Höhe 21 m, Umfang 805 cm, Krone 23 m.
Standort: Auf einer Wiese neben dem Schloß.
Landkreis: Havelland.
Besucht in den Jahren: 2001, 2002, 2003, 2004, 2005, 2006, 2008, 2011, 2011, 2014, 2016, 2018.
Naturdenkmal: Ja.
Umfang 2005: 855 cm in 1,3 m Höhe.
Photo und Messung stammen aus Februar 2005, dem Jahr vor dem traurigen Ende dieser außergewöhnlichen Eiche. Schaut man sich das Bild an, den geneigten Wuchs des Stammes und die Form der Höhlung, so ist wahrscheinlich, dass es sich ihr einst um einen Tiefzwiesel, oder zweistämmigem Baum handelte, bei dem der eine Stamm vor langer Zeit ausbrach.
GPS-Koordinaten: 52.606540, 12.501861
Mai 2006:
Sie war ein mächtiges Baummonument mit Ihrem gewaltigem, geneigten und bis in die Krone hinauf vollkommen hohlen Stamm. Schon 1904 hieß es im Entwurf für das Forstbotanische Merkbuch der Provinz Brandenburg: In der Viehkoppel im Schloßpark eine alte Stieleiche, im Absterben begriffen, 6,50m U, 12-15m H, stark zerklüftet, des Haltes wegen mit Lehm und Stein ausgefüllt, von Epheu umsponnen.
Hundert Jahre später immer noch vital, bzw. mit wieder regenerierter Krone, schien sie, dem seinerzeit prophezeiten Schicksal trotzend, ewig leben zu wollen. Doch völlig unvermittelt, in den windstillen Morgenstunden des 17.04.2006, brach sie in sich zusammen.
Als wir dann, von dem Ereignis Kenntnis erhalten, drei Wochen später die Eiche besuchten, fanden wir sie, über die gesamte Krone, frisch austreibend vor, ein letztes Zeichen ihrer Vitalität. Der Torso lässt sich heute noch erleben, er wird jedoch immer mehr überwachsen.
Besucht in den Jahren: 1999, 2001, 2002, 2002, 2005, 2006, 2007, 2009, 2014, 2017.
Naturdenkmal: Ja, bis zu ihrem Zusammenbruch.
Die letzte Messung stammt aus Februar 2005, dem Jahr vor dem traurigen Ende dieser außergewöhnlichen Eiche. Das Photo ist aus Mai 2006, kurz nach ihrem Zusammenbruch. Sie strotzte immer noch so vor Kraft, dass aus den Ästen und Zweigen am abgebrochenem Stamm noch Blätter und Blüten austrieben.
Man hätte es ahnen können:
——— Friedrich de la Motte Fouqué:
Trost
aus: Gedichte, Zweiter Band, Gedichte aus dem Manns=Alter,
Cotta’sche Buchhandlung, Stuttgart und Tübingen 1817, Seite 75:
Wenn Alles eben käme,
Wie Du gewollt es hast,
Und Gott Dir gar nichts nähme,
Und gäb‘ Dir keine Last,
Wie wär’s da um Dein Sterben,
Du Menschenkind bestellt?
Du müßtest fast verderben,
So lieb wär‘ Dir die Welt!Nun fällt — ein’s nach dem andern —
Manch süßes Band Dir ab,
Und weiter kannst Du wandern
Gen Himmel durch das Grab.
Dein Zagen ist gebrochen,
Und Deine Seele hofft; —
Dieß ward schon oft gesprochen,
Doch spricht man’s nie zu oft.
Bilder: Baumjäger via Ostdeutsches Baumarchiv:
- Fröhlich — Wege zu alten Bäumen — Brandenburg — Nr 140 —
Fouqué-Eiche in Nennhausen, Februar 2005; - Fouque-Eiche in Nennhausen (Quercus robur), Umfang 8,55 m
(2006 zusammengebrochen), Mai 2006.
Soundtrack: Lisa Hannigan: Lille, aus: Sea Sew, 2008, live auf dem Baum 2011:
Etwas distinkt Metaphysisch-Transzendentales
Update zu Die unnachsichtige Logik, zu der ich mich erzogen hatte:
But he lies in dust,
And the stone is roll’d
Over his sepulcher dark and cold;
He has cancel’d all he has done, or said,
And gone to the dear and holy dead!
Let us forget the path he trod,
And leave him now,
With his Maker — God!Richard H. Stoddard (zugeschrieben): Miserriums, aus: New York Tribune, in: EDGAR ALLAN POE, The National Magazine, März 1853;
Somewhat ironically, at the bottom of the last page on which this article was originally printed appears the following small bit of filler: „HARSH WORDS are like hailstones in summer, which, if melted, would fertilize the tender plant they batter down.“
Edgar Allan Poe — * 19. Januar 1809; † 7. Oktober 1849. Frank T. Zumbach lebt noch.
——— Frank T. Zumbach:
19. Januar 2020:
Der Text über Eddie stammt übrigens nicht von mir, es handelt sich lediglich um eine von mir übersetzte Cum-grano-salis-Anekdote, über deren Hintergründe ich hier noch endlos schwafeln könnte, immerhin halte ich sie für wahr, let that suffice.
Poe, Edgar Allan
(1809—1849)
aus: Der rasende Leichnam. Ein literarischer Befremdenführer.
Ausgewählt, mit einem Grußwort und biographischen Angaben versehen von Frank Tilman Zumbach,
Kleine Reihe Sachon, Band 3, Mindelheim 1986,
letzte der Biographischen Angaben, Seite 171 f.:
Ein Zeitschriftenherausgeber aus Philadelphia, in seinen Reminiszenzen kurz ‚Tom‘ genannt, erinnerte sich daran, wie Poe einmal ebenso ’niedergeschlagen‘ wie ‚angeheitert‘ in seiner Redaktion erschien und drohte, hier, gleich und auf der Stelle, Selbstmord zu begehen: „Ich habe dieses Leben satt. Alles ekelt mich (hick) … ekelt mich an. Ich bin fertig. Ich will (hick) sterben.“ ‚Tom‘ machte den Vorschlag, er solle seinen Enschluß noch etwas hinauszögern, um ihn am gleichen Abend vor einem größeren Publikum in die Tat umzusetzen, einer öffentlichen Versammlung, die um 19 Uhr im städtischen Museum stattfinden würde. Dabei hätte er Gelegenheit, vor der ersten Festansprache gemessenen Schrittes zum Rednerpodium vorzugehen und von dort eine feierliche Abschlußrede zu halten: „Ich bin Edgar A. Poe — von meinen Freunden im Stich gelassen — von meinen Feinden verleumdet und verfolgt — von den Talentierten gefürchtet — unverstanden von der Welt — ohne jeden Rückhalt auf ein Gestirn verbannt, das ich verachte, von blödem Pöbel umgeben — nun seht! so fliegt ein Genius seiner Bestimmung zu!“ „Dann“, fuhr Tom fort, „schneiden Sie sich mutig vor der Masse die Kehle durch, und es wird in der gesamten Christenheit keine Zeitung geben, die über diesen Vorfall nicht detailliert berichten wird.“
„Beim Jupiter, Tom“, rief Poe aus, indem er aufsprang, „das ist eine fabelhafte Idee. Poetisch. Philosophisch. Entschieden römisch. Diese Todesart hätte wahrlich Stil. Es haftet ihr etwas distinkt Metaphysisch-Transzendentales an, Tom, etwas Besonderes, das nicht verfehlen wird, die Öffentlichkeit zu beeindrucken. Wie Lukretia, Tom, ne non procumbat honeste, etc.: ‚Ihr letzter Gedanke war’s, auf ehrbare Weise zu fallen.‘ So wird’s sein, Tom. Ihre Hand darauf. Die Versammlung findet um sieben statt, nicht wahr?“ Und er begab sich sogleich auf den Heimweg, um zuvor noch ein kleines Nickerchen zu halten. Dabei verschlief er den Termin.
Fachliteratur: Frank T. Zumbach: Edgar Allan Poe: Eine Biographie, Winkler, München 1986.
Jung-Edgar: Richard H. Stoddard: EDGAR ALLAN POE, The National Magazine, März 1853, Seite 193,
posthume Darstellung, via Edgar Allan Poe Society of Baltimore;
John Alexander McDougall: Edgar Allan Poe, 1845,
via AMERICAN GALLERY – 19th Century, 6. Juli 2017.
Soundtrack: Pink Martini: Que Sera, Sera (Whatever Will Be, Will Be), 1956,
aus: Sympathique, 1997, für: Mary and Max, 2009:
O Julie – Giulietta – Himmelsbild – Höllengeist – Entzücken und Qual – Sehnsucht und Verzweiflung
Update zu Weinfassreiten an der Küste der Nacht (oder geschah es bei Tage):
Gedeihliches neues Jahr uns allen! Egal was Sie Silvester angestellt haben: Solange Sie sich daran erinnern können, muss schon was kommen, damit es falsch war. Die Wölfin zum Beispiel hat Silvester Bananeneis gemacht, was man guten Gewissens so weiterempfehlen kann.
Ad vocem Bananen: Zu Zeiten des Kalten Krieges musste immer ein Päckchen nach drüben verschickt werden — die Älteren entsinnen sich, vor allem die mit Verwandtschaft in der DDR — und es musste Weihnachten geschehen und unterm Jahr zu jedem Geburtstag besagter Verwandtschaft. Außen auf dem Päckchen musste gut sichtbar „Geschenkware, keine Handelsware“ geschrieben stehen, und drin musste außer den Bananen sein: Orangen, möglichst Jaffa, Kaffee, möglichst Jacobs Krönung, Seife und Strumpfhosen.
Im Gegenzug kamen Schallplatten und Bücher zurück — die „gab’s“ immer: schwer verderbliche Ware, über den Fünfjahresplan hinaus auf Vorrat produzierbar, für die deutsch-russische Freundschaft und die Konkurrenz zum „Westen“, sprich: die BRD, zum Renommieren geeignet, und die Kulturschaffenden konnten anhand ihrer Arbeit beweisen, dass sie das System liebten. Und Dresdner Christstollen und Danziger Goldwasser.
Die Schallplatten und Bücher waren oft gar nicht schlecht: Ein paar Einspielungen in prächtigen LP-Boxen des Ossis Johann Sebastian Bach sind bis heute beispiellos und kommen einer historisch-kritischen Ausgabe einzelner Werke gleich; die Bücher waren auf holzhaltigem, also stark gilbendem Papier, aber vorbildlich lektoriert und ausgestattet. Für bestimmte Schreiber in ordentlich kommentierten Ausgaben muss man heute noch auf die inzwischen dunkelbraun vefärbten DDR-Schwarten zurückgreifen, zumal bei abseitigen Russen oder gängiger Weltliteratur, die man sich ordentlich, also so respekt- wie liebevoll illustriert wünscht. Ich erinnere mich an eine wunderschöne, leider nicht ganz vollständige Ausgabe der Grimmschen Märchen mit Illustrationen von Professor Werner Klemke, die vom Beltz Verlag vorgehalten wird, an einen ganzen Stapel Kinderbücher mit Bildern von Manfred Bofinger, und ich erinnere mich an den ungebändigt produktiven, ehrfurchtgebietenden, hochverdienten und in allen mir zugänglichen Bücherschränken allgegenwärtigen Klaus Ensikat, den letzten überlebenden Großrecken der Buchgestaltung in der DDR.
Gerade 2019 hat Ensikat — endlich — Die Abentheuer der Sylvester-Nacht von E.T.A. Hoffmann für die Bayreuther Pressendrucke bei The Bear Press illustriert. Sollten Sie noch Weihnachtsgeld übrig behalten haben: Schön sind Ensikat-Illustrationen ohnedies, ihren Preis wert scheinen sie allemal:
Imprint Antiqua, 68 S., 19 x 28 cm:
- Edition de Tête: 83 Exemplare, Halbpergament. Subskriptionspreis bis 30.06.2020: € 800,00;
- Vorzugsausgabe: 25 Exemplare, eine zusätzliche Radierung, anthrazitfarbenes Maroquin. Subskriptionspreis bis 30.06.2020: € 1200,00;
- Luxusausgabe: 12 Exemplare, alle 12 Radierungen vom Künstler aquarelliert. Preis auf Anfrage;
- Suitenausgabe: 12 Exemplare mit 12 einzeln signierten Radierungen, dunkelrote Leinenkasette. Subskriptionspreis bis 30.06.2020: € 1200,00.
Niemand konnte so passend die Raserey der Eifersucht und unerwiderten Liebe ausbreiten wie E. T. A. Hoffmann — nicht ohne lebendigen Grund. Für die Sylvester-Nacht schien es am passendsten, um eine Handlung, die sich offen — mit Namensnennung — an den Peter Schlemihl seines persönlichen Kumpels Adalbert von Chamisso sowie versteckter an den Fauststoff anlehnt, seinen öfter verwendeten „reisenden Enthusiasten“ zu schlingen, um klarzumachen, wie er sich doch als noch aufstrebender Schriftsteller von dergleichen Wahnsinn distanziere.
Aufkommende Schwarzromantik mit Rahmenhandlung eines fiktiven generischen Ich-Erzählers, veräußerte Schatten, drei Kapitel lang hinausgezögerte Spannung auf eine Allegorie zu, aus der nachmals nur noch ein Opernstoff werden konnte — soviel Verfremdung musste sein. Immerhin war der Mann verheiratet, und zwar mit der zur Zeit der Sylvester-Nacht 37-jährigen Marianne Thekla Michaelina „Mischa“ Rorer-Trzcińska und nicht etwa mit einer 19-jährigen Lieblingsklavierschülerin namens Giulietta, nicht doch: Julia.
Übigens feiert Klaus Ensikat, * 1937, am 16. Januar Geburtstag (wir wollen ihm wünschen: sehr aktiv), E. T. A. Hoffmann, * 1776, am 24. Januar (passiv). Beiden traue ich in ihren besten Phasen jederzeit zu, dass sie eine Silvestergeschichte dieses Umfangs am 3. Januar fertig haben. — Im Volltext:
——— E. T. A. Hoffmann:
Die Abentheuer der Sylvester-Nacht
aus: Fantasiestücke in Callot’s Manier. Vierter und letzter Band. C. F. Kunz, Bamberg 1815, Seite 1 bis 104:
1.
Die Geliebte.
Ich hatte den Tod, den eiskalten Tod im Herzen, ja aus dem Innersten, aus dem Herzen heraus stach es wie mit spitzigen Eiszapfen in die gluthdurchströmten Nerven. Wild rannte ich, Hut und Mantel vergessend, hinaus in die finstre stürmische Nacht! – Die Thurmfahnen knarrten, es war, als rühre die Zeit hörbar ihr ewiges furchtbares Räderwerk und gleich werde das alte Jahr wie ein schweres Gewicht dumpf hinabrollen in den dunkeln Abgrund. – Du weißt es ja, daß diese Zeit, Weihnachten und Neujahr, die Euch Allen in solch heller herrlicher Freudigkeit aufgeht, mich immer aus friedlicher Klause hinauswirft auf ein wogendes, tosendes Meer. Weihnachten! das sind Festtage, die mir in freundlichem Schimmer lange entgegenleuchten. Ich kann es nicht erwarten – ich bin besser, kindlicher als das ganze Jahr über, keinen finstern, gehässigen Gedanken nährt die der wahren Himmelsfreude geöffnete Brust; ich bin wieder ein vor Lust jauchzender Knabe. Aus dem bunten vergoldeten Schnittwerk in den lichten Christbuden lachen mich holde Engelgesichter an, und durch das lärmende Gewühl auf den Straßen gehen, wie aus weiter Ferne kommend, heilige Orgelklänge: „denn es ist uns ein Kind geboren!“ – Aber nach dem Feste ist Alles verhallt, erloschen der Schimmer im trüben Dunkel. Immer mehr und mehr Blüthen fallen jedes Jahr verwelkt herab, ihr Keim erlosch auf ewig, keine Frühlingssonne entzündet neues Leben in den verdorrten Aesten. Das weiß ich recht gut, aber die feindliche Macht rückt mir das, wenn das Jahr sich zu Ende neigt, mit hämischer Schadenfreude unaufhörlich vor. „Siehe,“ lispelt’s mir in die Ohren, „siehe, wie viel Freuden schieden in diesem Jahr von Dir, die nie wiederkehren, aber dafür bist Du auch klüger geworden und hältst überhaupt nicht mehr viel auf schnöde Lustigkeit, sondern wirst immer mehr ein ernster Mann – gänzlich ohne Freude.“ Für den Sylvester-Abend spart mir der Teufel jedesmal ein ganz besonderes Feststück auf. Er weiß im richtigen Moment, recht furchtbar höhnend, mit der scharfen Kralle in die Brust hineinzufahren und weidet sich an dem Herzblut, das ihr entquillt. Hülfe findet er überall, so wie gestern der Justizrath ihm wacker zur Hand ging. Bei dem (dem Justizrath, meine ich) giebt es am Sylvester-Abend immer große Gesellschaft, und dann will er zum lieben Neujahr Jedem eine besondere Freude bereiten, wobei er sich so ungeschickt und täppisch anstellt, daß alles Lustige, was er mühsam ersonnen, untergeht in komischem Jammer. – Als ich in’s Vorzimmer trat, kam mir der Justizrath schnell entgegen, meinen Eingang in’s Heiligthum, aus dem Thee und feines Räucherwerk herausdampfte, hindernd. Er sah überaus wohlgefällig und schlau aus, er lächelte mich ganz seltsam an, sprechend: „Freundchen, Freundchen, etwas Köstliches wartet Ihrer im Zimmer – eine Ueberraschung sonder gleichen am lieben Sylvester-Abend – erschrecken Sie nur nicht!“ – Das fiel mir auf’s Herz, düstre Ahnungen stiegen auf und es war mir ganz beklommen und ängstlich zu Muthe. Die Thüren wurden geöffnet, rasch schritt ich vorwärts, ich trat hinein, aus der Mitte der Damen auf dem Sopha strahlte mir ihre Gestalt entgegen. Sie war es – Sie selbst, die ich seit Jahren nicht gesehen, die seligsten Momente des Lebens blitzten in einem mächtigen zündenden Strahl durch mein Innres – kein tödtender Verlust mehr – vernichtet der Gedanke des Scheidens! – Durch welchen wunderbaren Zufall sie hergekommen, welches Ereigniß sie in die Gesellschaft des Justizraths, von dem ich gar nicht wußte, daß er sie jemals gekannt, gebracht, an das Alles dachte ich nicht – ich hatte sie wieder! – Regungslos, wie von einem Zauberschlag plötzlich getroffen, mag ich da gestanden haben; der Justizrath stieß mich leise an: „Nun, Freundchen – Freundchen?“ Mechanisch trat ich weiter, aber nur sie sah ich, und der gepreßten Brust entflohen mühsam die Worte: „Mein Gott – mein Gott, Julie hier?“ Ich stand dicht am Theetisch, da erst wurde mich Julie gewahr. Sie stand auf und sprach in beinahe fremden Ton: „Es freuet mich recht sehr, Sie hier zu sehen – Sie sehen recht wohl aus!“ – und damit setzte sie sich wieder und fragte die neben ihr sitzende Dame: „Haben wir künftige Woche interessantes Theater zu erwarten?“ – Du nahst Dich der herrlichen Blume, die in süßen heimischen Düften Dir entgegenleuchtet, aber so wie Du Dich beugst, ihr liebliches Antlitz recht nahe zu schauen, schießt aus den schimmernden Blättern heraus ein glatter, kalter Basilisk und will Dich tödten mit feindlichen Blicken! – Das war mir jetzt geschehen! – Täppisch verbeugte ich mich gegen die Damen, und damit dem Giftigen auch noch das Alberne hinzugefügt werde, warf ich, schnell zurücktretend, dem Justizrath, der dicht hinter mir stand, die dampfende Tasse Thee aus der Hand in das zierlich gefaltete Jabot. Man lachte über des Justizraths Unstern und wol noch mehr über meine Tölpelhaftigkeit. So war Alles zu gehöriger Tollheit vorbereitet, aber ich ermannte mich in resignirter Verzweiflung. Julie hatte nicht gelacht, meine irren Blicke trafen sie, und es war, als ginge ein Strahl aus herrlicher Vergangenheit, aus dem Leben voll Liebe und Poesie zu mir herüber. Da fing Einer an im Nebenzimmer auf dem Flügel zu fantasiren, das brachte die ganze Gesellschaft in Bewegung. Es hieß, Jener sey ein fremder großer Virtuose, Namens Berger, der ganz göttlich spiele und dem man aufmerksam zuhören müsse. „Klappre nicht so gräßlich mit den Theelöffeln, Mienchen,“ rief der Justizrath und lud, mit sanft gebeugter Hand nach der Thür zeigend und einem süßen: „Eh bien!“ die Damen ein, dem Virtuosen näher zu treten. Auch Julie war aufgestanden und schritt langsam nach dem Nebenzimmer. Ihre ganze Gestalt hat etwas Fremdartiges angenommen, sie schien mir größer, herausgeformter in fast üppiger Schönheit, als sonst. Der besondere Schnitt ihres weißen, faltenreichen Kleides, Brust, Schultern und Nacken nur halb verhüllend, mit weiten bauschigen, bis an die Ellbogen reichenden Aermeln, das vorn an der Stirn gescheitelte, hinten in vielen Flechten sonderbar heraufgenestelte Haar gab ihr etwas Alterthümliches, sie war beinahe abzusehen, wie die Jungfrauen auf den Gemälden von Mierís – und doch auch wieder war es mir, als hab‘ ich irgendwo deutlich mit hellen Augen das Wesen gesehen, in das Julie verwandelt. Sie hatte die Handschuhe herabgezogen und selbst die künstlichen um die Handgelenke gewundenen Armgehänge fehlten nicht, um durch die völlige Gleichheit der Tracht jene dunkle Erinnerung immer lebendiger und farbiger hervorzurufen. Julie wandte sich, ehe sie in das Nebenzimmer trat, nach mir herum, und es war mir, als sey das engelschöne, jugendlich anmuthige Gesicht verzerrt zum höhnenden Spott; etwas Entsetzliches, Grauenvolles regte sich in mir, wie ein alle Nerven durchzuckender Krampf. „O er spielt himmlisch!“ lispelte eine durch süßen Thee begeisterte Demoiselle, und ich weiß selbst nicht, wie es kam, daß ihr Arm in dem meinigen hing, und ich sie, oder vielmehr sie mich in das Nebenzimmer führte. Berger ließ gerade den wildesten Orkan daher brausen; wie donnernde Meereswellen stiegen und sanken die mächtigen Akkorde, das that mir wohl! – Da stand Julie neben mir und sprach mit süßerer, lieblicherer Stimme, als je: „Ich wollte, Du säßest am Flügel und sängest milder von vergangener Lust und Hoffnung!“ – Der Feind war von mir gewichen und in dem einzigen Namen, Julie! wollte ich alle Himmelsseligkeit aussprechen, die in mich gekommen. – Andere dazwischen tretende Personen hatten sie aber von mir entfernt. – Sie vermied mich nun sichtlich, aber es gelang mir, bald ihr Kleid zu berühren, bald dicht bei ihr ihren Hauch einzuathmen, und mir ging in tausend blinkenden Farben die vergangene Frühlingszeit auf. – Berger hatte den Orkan ausbrausen lassen, der Himmel war hell worden, wie kleine goldne Morgenwölkchen zogen liebliche Melodien daher und verschwebten im Pianissimo. Dem Virtuosen wurde reichlich verdienter Beifall zu Theil, die Gesellschaft wogte durch einander, und so kam es, daß ich unversehens dicht vor Julien stand. Der Geist wurde mächtiger in mir, ich wollte sie festhalten, sie umfassen im wahnsinnigen Schmerz der Liebe, aber das verfluchte Gesicht eines geschäftigen Bedienten drängte sich zwischen uns hinein, der, einen großen Präsentirteller hinhaltend, recht widrig rief: „Befehlen Sie?“ – In der Mitte der mit dampfendem Punsch gefüllten Gläser stand ein zierlich geschliffener Pokal, voll desselben Getränkes, wie es schien. Wie der unter die gewöhnlichen Gläser kam, weiß jener am besten, den ich allmälig kennen lerne; er macht, wie der Clemens im Oktavian daherschreitend, mit einem Fuß einen angenehmen Schnörkel und liebt ungemein rothe Mäntelchen und rothe Federn. Diesen fein geschliffenen und seltsam blinkenden Pokal nahm Julie und bot ihn mir dar, sprechend: „Nimmst Du denn noch so gern, wie sonst das Glas aus meiner Hand?“ – „Julia – Julia,“ seufzte ich auf. Den Pokal erfassend berührte ich ihre zarten Finger, elektrische Feuerstrahlen blitzten durch alle Pulse und Adern – ich trank und trank – es war mir, als knisterten und leckten kleine blaue Flämmchen um Glas und Lippe. Geleert war der Pokal, und ich weiß selbst nicht, wie es kam, daß ich in dem nur von einer Alabaster-Lampe erleuchteten Kabinet auf der Ottomane saß – Julie – Julie neben mir, kindlich und fromm mich anblickend, wie sonst. Berger war auf’s Neue am Flügel, er spielte das Andante aus Mozarts sublimer Esdur-Sinfonie, und auf den Schwanenfittigen des Gesanges regte und erhob sich alle Liebe und Lust meines höchsten Sonnenlebens. – Ja es war Julie – Julie selbst, engelschön und mild – unser Gespräch, sehnsüchtige Liebesklage, mehr Blick als Wort, ihre Hand ruhte in der meinigen. – „Nun lasse ich Dich nimmer, Deine Liebe ist der Funke, der in mir glüht, höheres Leben in Kunst und Poesie entzündend – ohne Dich – ohne Deine Liebe Alles todt und starr – aber bist Du denn nicht auch gekommen, damit Du mein bleibest immerdar?“ – In dem Augenblick schwankte eine tölpische, spinnenbeinichte Figur mit herausstehenden Froschaugen herein und rief, recht widrig kreischend und dämisch lachend: „Wo der Tausend ist denn meine Frau geblieben?“ Julie stand auf und sprach mit fremder Stimme: „Wollen wir nicht zur Gesellschaft gehen? mein Mann sucht mich. – Sie waren wieder recht amüsant, mein Lieber, immer noch bei Laune wie vormals, menagiren Sie sich nur im Trinken“ – und der spinnenbeinichte Kleinmeister griff nach ihrer Hand; sie folgte ihm lachend in den Saal. – „Auf ewig verloren!“ schrie ich auf – „Ja gewiß, Codille, Liebster!“ meckerte eine l’Hombre spielende Bestie. Hinaus – hinaus rannte ich in die stürmische Nacht. –
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2.
Die Gesellschaft im Keller.
Unter den Linden auf und ab zu wandeln mag sonst ganz angenehm seyn, nur nicht in der Sylvester-Nacht bei tüchtigem Frost und Schneegestöber. Das fühlte ich Baarköpfiger und Unbemäntelter doch zuletzt, als durch die Fiebergluth Eisschauer fuhren. Fort ging es über die Opernbrücke, bei dem Schlosse vorbei – ich bog ein, lief über die Schleusenbrücke bei der Münze vorüber. – Ich war in der Jägerstraße dicht am Thiermannschen Laden. Da brannten freundliche Lichter in den Zimmern; schon wollte ich hinein, weil zu sehr mich fror und ich nach einem tüchtigen Schluck starken Getränkes durstete; eben strömte eine Gesellschaft in heller Fröhlichkeit heraus. Sie sprachen von prächtigen Austern und dem guten Eilfer-Wein. „Recht hatte Jener doch,“ rief Einer von ihnen, wie ich beim Laternenschein bemerkte, ein stattlicher Uhlanenoffizier, „Recht hatte Jener doch, der voriges Jahr in Mainz auf die verfluchten Kerle schimpfte, welche Anno 1794 durchaus nicht mit dem Eilfer herausrücken wollten.“ – Alle lachten aus voller Kehle. Unwillkührlich war ich einige Schritte weiter gekommen, ich blieb vor einem Keller stehen, aus dem ein einsames Licht herausstrahlte. Fühlte sich der Schakspearsche Heinrich nicht einmal so ermattet und demüthig, daß ihm die arme Creatur Dünnbier in den Sinn kam? In der That, mir geschah Gleiches, meine Zunge lechzte nach einer Flasche guten englischen Biers. Schnell fuhr ich in den Keller hinein. „Was beliebt?“ kam mir der Wirth, freundlich die Mütze rückend, entgegen. Ich forderte eine Flasche guten englischen Biers nebst einer tüchtigen Pfeife guten Tabaks, und befand mich bald in solch einem sublimen Philistrismus, vor dem selbst der Teufel Respekt hatte und von mir abließ. – O Justizrath! hättest du mich gesehen, wie ich aus deinem hellen Theezimmer herabgestiegen war in den dunkeln Bierkeller, du hättest dich mit recht stolzer verächtlicher Miene von mir abgewendet und gemurmelt: „Ist es denn ein Wunder, daß ein solcher Mensch die zierlichsten Jabots ruinirt?“ –
Ich mochte ohne Hut und Mantel den Leuten etwas verwunderlich vorkommen. Dem Manne schwebte eine Frage auf den Lippen, da pochte es an’s Fenster und eine Stimme rief herab: „Macht auf, macht auf, ich bin da!“ Der Wirth lief hinaus und trat bald wieder herein, zwei brennende Lichter hoch in den Händen tragend, ihm folgte ein sehr langer, schlanker Mann. In der niedrigen Thür vergaß er sich zu bücken und stieß sich den Kopf recht derb; eine baretartige schwarze Mütze, die er trug, verhinderte jedoch Beschädigung. Er drückte sich auf ganz eigene Weise der Wand entlang und setzte sich mir gegenüber, indem die Lichter auf den Tisch gestellt wurden. Man hätte beinahe von ihm sagen können, daß er vornehm und unzufrieden aussähe. Er forderte verdrießlich Bier und Pfeife, und erregte mit wenigen Zügen einen solchen Dampf, daß wir bald in einer Wolke schwammen. Uebrigens hatte sein Gesicht so etwas Charakteristisches und Anziehendes, daß ich ihn trotz seines finstern Wesens sogleich liebgewann. Die schwarzen reichen Haare trug er gescheitelt und von beiden Seiten in vielen kleinen Locken herabhängend, so daß er den Bildern von Rubens glich. Als er den großen Mantelkragen abgeworfen, sah ich, daß er in eine schwarze Kurtka mit vielen Schnüren gekleidet war, sehr fiel es mir aber auf, daß er über die Stiefeln zierliche Pantoffeln gezogen hatte. Ich wurde das gewahr, als er die Pfeife ausklopfte, die er in fünf Minuten ausgeraucht. Unser Gespräch wollte nicht recht von Statten gehen, der Fremde schien sehr mit allerlei seltenen Pflanzen beschäftigt, die er aus einer Kapsel genommen hatte und wohlgefällig betrachtete. Ich bezeigte ihm meine Verwunderung über die schönen Gewächse und fragte, da sie ganz frisch gepflückt zu seyn schienen, ob er vielleicht im botanischen Garten oder bei Boucher gewesen. Er lächelte ziemlich seltsam und antwortete: „Botanik scheint nicht eben Ihr Fach zu seyn, sonst hätten Sie nicht so“ – Er stockte, ich lispelte kleinlaut: „albern“ – „gefragt“ setzte er treuherzig hinzu. „Sie würden,“ fuhr er fort, „auf den ersten Blick Alpenpflanzen erkannt haben, und zwar, wie sie auf dem Tschimborasso wachsen.“ Die letzten Worte sagte der Fremde leise vor sich hin, und Du kannst denken, daß mir dabei gar wunderlich zu Muthe wurde. Jede Frage erstarb mir auf den Lippen; aber immer mehr regte sich eine Ahnung in meinem Innern, und es war mir, als habe ich den Fremden nicht sowol oft gesehen, als oft gedacht. Da pochte es aufs Neue ans Fenster, der Wirth öffnete die Thür und eine Stimme rief: „Seyd so gut Euern Spiegel zu verhängen.“ – „Aha!“ sagte der Wirth, „da kommt noch recht spät der General Suwarow.“ Der Wirth verhing den Spiegel, und nun sprang mit einer täppischen Geschwindigkeit, schwerfällig hurtig, möcht‘ ich sagen, ein kleiner dürrer Mann herein, in einem Mantel von ganz seltsam bräunlicher Farbe, der, indem der Mann in der Stube herumhüpfte, in vielen Falten und Fältchen auf ganz eigene Weise um den Körper wehte, so daß es im Schein der Lichter beinahe anzusehen war, als führen viele Gestalten aus und in einander, wie bei den Enslerschen Fantasmagorien. Dabei rieb er die in den weiten Aermeln versteckten Hände und rief: „Kalt! – kalt – o wie kalt! In Italia ist es anders, anders!“ Endlich setzte er sich zwischen mir und dem Großen, sprechend: „Das ist ein entsetzlicher Dampf – Tabak gegen Tabak – hätt‘ ich nur eine Priese!“ – Ich trug die spiegelblank geschliffene Stahldose in der Tasche, die Du mir einst schenktest, die zog ich gleich heraus und wollte dem Kleinen Tabak anbieten. Kaum erblickte er die, als er mit beiden Händen darauf zufuhr und, sie wegstoßend, rief: „Weg – weg mit dem abscheulichen Spiegel!“ Seine Stimme hatte etwas Entsetzliches, und als ich ihn verwundert ansah, war er ein Andrer worden. Mit einem gemüthlichen jugendlichen Gesicht sprang der Kleine herein, aber nun starrte mich das todtblasse, welke, eingefurchte Antlitz eines Greises mit hohlen Augen an. Voll Entsetzen rückte ich hin zum Großen. „Ums Himmelswillen, schauen Sie doch,“ wollt‘ ich rufen, aber der Große nahm an Allem keinen Antheil, sondern war ganz vertieft in seine Tschimborasso-Pflanzen, und in dem Augenblick forderte der Kleine: „Wein des Nordens,“ wie er sich preziös ausdrückte. Nach und nach wurde das Gespräch lebendiger. Der Kleine war mir zwar sehr unheimlich, aber der Große wußte über geringfügig scheinende Dinge recht viel Tiefes und Ergötzliches zu sagen, unerachtet er mit dem Ausdruck zu kämpfen schien, manchmal auch wol ein ungehöriges Wort einmischte, das aber oft der Sache eben eine drollige Originalität gab, und so milderte er, mit meinem Innern sich immer mehr befreundend, den übeln Eindruck des Kleinen. Dieser schien wie von lauter Springfedern getrieben, denn er rückte auf dem Stuhle hin und her, gestikulirte viel mit den Händen, und wol rieselte mir ein Eisstrom durch die Haare über den Rücken, wenn ich es deutlich bemerkte, daß er wie aus zwei verschiedenen Gesichtern heraussah. Vorzüglich blickte er oft den Großen, dessen bequeme Ruhe sonderbar gegen des Kleinen Beweglichkeit abstach, mit dem alten Gesicht an, wiewol nicht so entsetzlich, als zuvor mich. – In dem Maskenspiel des irdischen Lebens sieht oft der innere Geist mit leuchtenden Augen aus der Larve heraus, das Verwandte erkennend, und so mag es geschehen seyn, daß wir drei absonderliche Menschen im Keller uns auch so angeschaut und erkannt hatten. Unser Gespräch fiel in jenen Humor, der nur aus dem tief bis auf den Tod verletzten Gemüthe kommt. „Das hat auch seinen Haken,“ sagte der Große. „Ach Gott,“ fiel ich ein, „wie viel Haken hat der Teufel überall für uns eingeschlagen, in Zimmerwänden, Lauben, Rosenhecken, woran vorbeistreifend wir etwas von unserm theuern Selbst hängen lassen. Es scheint, Verehrte! als ob uns Allen auf diese Weise schon etwas abhanden gekommen, wiewol mir diese Nacht vorzüglich Hut und Mantel fehlte. Beides hängt an einem Haken in des Justizraths Vorzimmer, wie Sie wissen!“ Der Kleine und der Große fuhren sichtlich auf, als träfe sie unversehens ein Schlag. Der Kleine schaute mich recht häßlich mit seinem alten Gesichte an, sprang aber gleich auf einen Stuhl und zog das Tuch fester über den Spiegel, während der Große sorgfältig die Lichter putzte. Das Gespräch lebte mühsam wieder auf, man erwähnte eines jungen wackern Malers, Namens Philipp, und des Bildes einer Prinzessin, das er mit dem Geist der Liebe und dem frommen Sehnen nach dem Höchsten, wie der Herrinn tiefer heiliger Sinn es ihm entzündet, vollendet hatte. „Zum Sprechen ähnlich, und doch kein Portrait, sondern ein Bild,“ meinte der Große. „Es ist so ganz wahr,“ sprach ich, „man möchte sagen, wie aus dem Spiegel gestohlen.“ Da sprang der Kleine wild auf, mit dem alten Gesicht und funkelnden Augen mich anstarrend schrie er: „Das ist albern, das ist toll, wer vermag aus dem Spiegel Bilder zu stehlen? – wer vermag das? meinst Du, vielleicht der Teufel? – Hoho Bruder, der zerbricht das Glas mit der tölpischen Kralle, und die feinen weißen Hände des Frauenbildes werden auch wund und bluten. Albern ist das. Heisa! – zeig mir das Spiegelbild, das gestohlne Spiegelbild, und ich mache Dir den Meistersprung von tausend Klafter hinab, du betrübter Bursche!“ – Der Große erhob sich, schritt auf den Kleinen los und sprach: „Mache Er sich nicht so unnütz, mein Freund! sonst wird Er die Treppe hinaufgeworfen, es mag wol miserabel aussehen mit Seinem eignen Spiegelbilde.“ – „Ha ha ha ha!“ lachte und kreischte der Kleine in tollem Hohn, „ha ha ha – meinst Du? meinst Du? Hab‘ ich doch meinen schönen Schlagschatten, o Du jämmerlicher Geselle, hab‘ ich doch meinen Schlagschatten!“ – Und damit sprang er fort, noch draußen hörten wir ihn recht hämisch meckern und lachen: „hab‘ ich doch meinen Schlagschatten!“ Der Große war, wie vernichtet, todtenbleich in den Stuhl zurückgesunken, er hatte den Kopf in beide Hände gestützt und aus der tiefsten Brust athmete schwer ein Seufzer auf. „Was ist Ihnen?“ fragte ich theilnehmend. „O mein Herr,“ erwiederte der Große, „jener böse Mensch, der uns so feindselig erschien, der mich bis hieher, bis in meine Normalkneipe verfolgte, wo ich sonst einsam blieb, da höchstens nur etwa ein Erdgeist unter dem Tisch aufduckte und Brodkrümchen naschte – jener böse Mensch hat mich zurückgeführt in mein tiefstes Elend. Ach – verloren, unwiederbringlich verloren habe ich meinen – Leben Sie wohl!“ – Er stand auf und schritt mitten durch die Stube zur Thür hinaus. Alles blieb hell um ihn – er warf keinen Schlagschatten. Voll Entzücken rannte ich nach – „Peter Schlemihl – Peter Schlemihl!“ rief ich freudig, aber der hatte die Pantoffeln weggeworfen. Ich sah, wie er über den Gensdarmesthurm hinwegschritt und in der Nacht verschwand.
Als ich in den Keller zurück wollte, warf mir der Wirth die Thür vor der Nase zu, sprechend: „Vor solchen Gästen bewahre mich der liebe Herr Gott!“ –
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3.
Erscheinungen.
Herr Mathieu ist mein guter Freund, und sein Thürsteher ein wachsamer Mann. Der machte mir gleich auf, als ich im goldnen Adler an der Hausklingel zog. Ich erklärte, wie ich mich aus einer Gesellschaft fortgeschlichen ohne Hut und Mantel, im letztern stecke aber mein Hausschlüssel, und die taube Aufwärterinn herauszupochen, sey unmöglich. Der freundliche Mann (den Thürsteher mein‘ ich) öffnete ein Zimmer, stellte die Lichter hin und wünschte mir eine gute Nacht. Der schöne breite Spiegel war verhängt, ich weiß selbst nicht, wie ich darauf kam, das Tuch herabzuziehen und beide Lichter auf den Spiegeltisch zu setzen. Ich fand mich, da ich in den Spiegel schaute, so blaß und entstellt, daß ich mich kaum selbst wiedererkannte. – Es war mir, als schwebe aus des Spiegels tiefstem Hintergrunde eine dunkle Gestalt hervor; so wie ich fester und fester Blick und Sinn darauf richtete, entwickelten sich in seltsam magischem Schimmer deutlicher die Züge eines holden Frauenbildes – ich erkannte Julien. Von inbrünstiger Liebe und Sehnsucht befangen, seufzte ich laut auf: „Julia! Julia!“ Da stöhnte und ächzte es hinter den Gardinen eines Bettes in des Zimmers äußerster Ecke. Ich horchte auf, immer ängstlicher wurde das Stöhnen. Juliens Bild war verschwunden, entschlossen ergriff ich ein Licht, riß die Gardinen des Bettes rasch auf und schaute hinein. Wie kann ich Dir denn das Gefühl beschreiben, das mich durchbebte, als ich den Kleinen erblickte, der mit dem jugendlichen, wiewol schmerzlich verzogenen Gesicht da lag und im Schlaf recht aus tiefster Brust aufseufzte: „Giulietta – Giulietta!“ – Der Name fiel zündend in mein Inneres – das Grauen war von mir gewichen, ich faßte und rüttelte den Kleinen recht derb, rufend: „he – guter Freund, wie kommen Sie in mein Zimmer, erwachen Sie und scheren Sie sich gefälligst zum Teufel!“ – Der Kleine schlug die Augen auf und blickte mich mit dunklen Blicken an: „Das war ein böser Traum,“ sprach er, „Dank sey Ihnen, daß Sie mich weckten.“ Die Worte klangen nur wie leise Seufzer. Ich weiß nicht, wie es kam, daß der Kleine mir jetzt ganz anders erschien, ja daß der Schmerz, von dem er ergriffen, in mein eignes Innres drang und all‘ mein Zorn in tiefer Wehmuth verging. Weniger Worte bedurfte es nur, um zu erfahren, daß der Thürsteher mir aus Versehen dasselbe Zimmer aufgeschlossen, welches der Kleine schon eingenommen hatte, daß ich es also war, der, unziemlich eingedrungen, den Kleinen aus dem Schlafe aufstörte.
„Mein Herr,“ sprach der Kleine, „ich mag Ihnen im Keller wol recht toll und ausgelassen vorgekommen seyn, schieben Sie mein Betragen darauf, daß mich, wie ich nicht läugnen kann, zuweilen ein toller Spuk befängt, der mich aus allen Kreisen des Sittigen und Gehörigen hinaustreibt. Sollte Ihnen denn nicht zuweilen Gleiches widerfahren?“ – „Ach Gott ja,“ erwiederte ich kleinmüthig, „nur noch heute Abend, als ich Julien wiedersah.“ – „Julia?“ krächzte der Kleine mit widriger Stimme und es zuckte über sein Gesicht hin, das wieder plötzlich alt wurde. „O lassen Sie mich ruhen – verhängen Sie doch gütigst den Spiegel, Bester!“ – dies sagte er ganz matt aufs Kissen zurückblickend. „Mein Herr,“ sprach ich, „der Name meiner auf ewig verlornen Liebe scheint seltsame Erinnerungen in Ihnen zu wecken, auch variiren Sie merklich mit Dero angenehmen Gesichtszügen. Doch hoffe ich mit Ihnen ruhig die Nacht zu verbringen, weshalb ich gleich den Spiegel verhängen und mich ins Bett begeben will.“ Der Kleine richtete sich auf, sah mich mit überaus milden, gutmüthigen Blicken seines Jünglings Gesichts an, faßte meine Hand und sprach, sie leise drückend: „Schlafen Sie ruhig, mein Herr, ich merke, daß wir Unglücksgefährten sind. – Sollten Sie auch? – Julia – Giulietta – Nun dem sey, wie ihm wolle, Sie üben eine unwiderstehliche Gewalt über mich aus – ich kann nicht anders, ich muß Ihnen mein tiefstes Geheimniß entdecken – dann hassen, dann verachten Sie mich.“ Mit diesen Worten stand der Kleine langsam auf, hüllte sich in einen weißen weiten Schlafrock und schlich leise und recht gespensterartig nach dem Spiegel, vor den er sich hinstellte. Ach! – rein und klar warf der Spiegel die beiden Lichter, die Gegenstände im Zimmer, mich selbst zurück, die Gestalt des Kleinen war nicht zu sehen im Spiegel, kein Strahl reflektirte sein dicht herangebogenes Gesicht. Er wandte sich zu mir, die tiefste Verzweiflung in den Mienen, er drückte meine Hände: „Sie kennen nun mein grenzenloses Elend,“ sprach er, „Schlemihl, die reine gute Seele, ist beneidenswerth gegen mich Verworfenen. Leichtsinnig verkaufte er seinen Schlagschatten, aber ich! – ich gab mein Spiegelbild ihr – ihr! – oh – oh – oh!“ – So tief aufstöhnend, die Hände vor die Augen gedrückt, wankte der Kleine nach dem Bette, in das er sich schnell warf. Erstarrt blieb ich stehen, Argwohn, Verachtung, Grauen, Theilnahme, Mitleiden, ich weiß selbst nicht, was sich alles für und wider den Kleinen in meiner Brust regte. Der Kleine fing indeß bald an so anmuthig und melodiös zu schnarchen, daß ich der narkotischen Kraft dieser Töne nicht widerstehen konnte. Schnell verhing ich den Spiegel, löschte die Lichter aus, warf mich so wie der Kleine, ins Bett und fiel bald in tiefen Schlaf. Es machte wol schon Morgen seyn, als ein blendender Schimmer mich weckte. Ich schlug die Augen auf und erblickte den Kleinen, der im weißen Schlafrock, die Nachtmütze auf dem Kopf, den Rücken mir zugewendet, am Tische saß und bei beiden angezündeten Lichtern emsig schrieb. Er sah recht spukhaft aus, mir wandelte ein Grauen an; der Traum erfaßte mich plötzlich und trug mich wieder zum Justizrath, wo ich neben Julien auf der Ottomane saß. Doch bald war es mir, als sey die ganze Gesellschaft eine spaßhafte Weihnachtsausstellung bei Fuchs, Weide, Schoch oder sonst, der Justizrath eine zierliche Figur von Dragant mit postpapiernem Jabot. Höher und höher wurden die Bäume und Rosenbüsche. Julie stand auf und reichte mir den kristallnen Pokal, aus dem blaue Flammen emporleckten. Da zog es mich am Arm, der Kleine stand hinter mir mit dem alten Gesicht und lispelte: „Trink nicht, trink nicht – sieh sie doch recht an! – hast Du sie nicht schon gesehen auf den Warnungstafeln von Breughel, von Callot oder von Rembrandt?“ – Mir schauerte vor Julien, denn freilich war sie in ihrem faltenreichen Gewande mit den bauschigen Aermeln, in ihrem Haarschmuck so anzusehen, wie die von höllischen Unthieren umgebenen lockenden Jungfrauen auf den Bildern jener Meister. „Warum fürchtest Du Dich denn,“ sprach Julie, „ich habe Dich und Dein Spiegelbild doch ganz und gar.“ Ich ergriff den Pokal, aber der Kleine hüpfte wie ein Eichhörnchen auf meine Schultern und wehte mit dem Schweife in die Flammen, widrig quiekend: „Trink nicht – trink nicht.“ Doch nun wurden alle Zuckerfiguren der Ausstellung lebendig und bewegten komisch die Händchen und Füßchen, der dragantne Justizrath trippelte auf mich zu und rief mit einem ganz feinen Stimmchen: „warum der ganze Rumor, mein Bester? warum der ganze Rumor? Stellen Sie sich doch nur auf Ihre lieben Füße, denn schon lange bemerke ich, daß Sie in den Lüften über Stühle und Tische wegschreiten.“ Der Kleine war verschwunden, Julie hatte nicht mehr den Pokal in der Hand. „Warum wolltest Du denn nicht trinken?“ sprach sie, „war denn die reine herrliche Flamme, die Dir aus dem Pokal entgegenstrahlte, nicht der Kuß, wie Du ihn einst von mir empfingst?“ Ich wollte sie an mich drücken, Schlemihl trat aber dazwischen, sprechend: „Das ist Mina, die den Raskal geheirathet.“ Er hatte einige Zuckerfiguren getreten, die ächzten sehr. – Aber bald vermehrten diese sich zu Hunderten und Tausenden, und trippelten um mich her und an mir herauf im bunten häßlichen Gewimmel und umsummten mich wie ein Bienenschwarm. – Der dragantne Justizrath hatte sich bis zur Halsbinde heraufgeschwungen, die zog er immer fester und fester an. „Verdammter dragantner Justizrath!“ schrie ich laut und fuhr auf aus dem Schlafe. Es war heller lichter Tag, schon eilf Uhr Mittags. „Das ganze Ding mit dem Kleinen war auch wol nur ein lebhafter Traum,“ dachte ich eben, als der mit dem Frühstück eintretende Kellner mir sagte, daß der fremde Herr, der mit mir in einem Zimmer geschlafen, am frühen Morgen abgereiset sey und sich mir sehr empfehlen lasse. Auf dem Tische, an dem Nachts der spukhafte Kleine saß, fand ich ein frisch beschriebenes Blatt, dessen Inhalt ich Dir mittheile, da es unbezweifelt des Kleinen wundersame Geschichte ist.
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4.
Die Geschichte vom verlornen Spiegelbilde.
Endlich war es doch so weit gekommen, daß Erasmus Spikher den Wunsch, den er sein Leben lang im Herzen genährt, erfüllen konnte. Mit frohem Herzen und wohlgefülltem Beutel setzte er sich in den Wagen, um die nördliche Heimath zu verlassen und nach dem schönen warmen Welschland zu reisen. Die liebe fromme Hausfrau vergoß tausend Thränen, sie hob den kleinen Rasmus, nachdem sie ihm Nase und Mund sorgfältig geputzt, in den Wagen hinein, damit der Vater zum Abschiede ihn noch sehr küsse. „Lebe wohl, mein lieber Erasmus Spikher,“ sprach die Frau schluchzend, „das Haus will ich Dir gut bewahren, denke fein fleißig an mich, bleibe mir treu und verliere nicht die schöne Reisemütze, wenn Du, wie Du wol pflegst, schlafend zum Wagen herausnickst.“ – Spikher versprach das. –
In dem schönen Florenz fand Erasmus einige Landsleute, die voll Lebenslust und jugendlichen Muths in den üppigen Genüssen, wie sie das herrliche Land reichlich darbot, schwelgten. Er bewies sich ihnen als ein wackrer Kumpan und es wurden allerlei ergötzliche Gelage veranstaltet, denen Spikhers besonders muntrer Geist und das Talent, dem tollen Ausgelassenen das Sinnige beizufügen, einen eignen Schwung gaben. So kam es denn, daß die jungen Leute (Erasmus erst sieben und zwanzig Jahr alt, war wol dazu zu rechnen) einmal zur Nachtzeit in eines herrlichen, duftenden Gartens erleuchtetem Boskett ein gar fröhliches Fest begingen. Jeder, nur nicht Erasmus, hatte eine liebliche Donna mitgebracht. Die Männer gingen in zierlicher altteutscher Tracht, die Frauen waren in bunten leuchtenden Gewändern, jede auf andere Art, ganz fantastisch gekleidet, so daß sie erschienen wie liebliche wandelnde Blumen. Hatte Diese oder Jene zu dem Saitengelispel der Mandolinen ein italienisches Liebeslied gesungen, so stimmten die Männer unter dem lustigen Geklingel der mit Syrakuser gefüllten Gläser einen kräftigen deutschen Rundgesang an. – Ist ja doch Italien das Land der Liebe. Der Abendwind säuselte wie in sehnsüchtigen Seufzern, wie Liebeslaute durchwallten die Orange- und Jasmindüfte das Boskett, sich mischend in das lose neckhafte Spiel, das die holden Frauenbilder, all‘ die kleinen zarten Buffonerien, wie sie nur den italienischen Weibern eigen, aufbietend, begonnen hatten. Immer reger und lauter wurde die Lust. Friedrich, der Glühendste vor Allen, stand auf mit einem Arm hatte er seine Donna umschlungen, und das mit perlendem Syrakuser gefüllte Glas mit der andern Hand hoch schwingend, rief er: „Wo ist denn Himmelslust und Seligkeit zu finden als bei Euch, Ihr holden, herrlichen, italienischen Frauen, Ihr seyd ja die Liebe selbst. – Aber Du, Erasmus,“ fuhr er fort, sich zu Spikher wendend, „scheinst das nicht sonderlich zu fühlen, denn nicht allein, daß Du, aller Verabredung, Ordnung und Sitte entgegen, keine Donna zu unserm Feste geladen hast, so bist Du auch heute so trübe und in Dich gekehrt, daß, hättest Du nicht wenigstens tapfer getrunken und gesungen, ich glauben würde, Du seyst mit einem Mal ein langweiliger Melancholikus geworden.“ – „Ich muß Dir gestehen, Friedrich,“ erwiederte Erasmus, „daß ich mich auf die Weise nun einmal nicht freuen kann. Du weißt ja, daß ich eine liebe, fromme Hausfrau zurückgelassen habe, die ich recht aus tiefer Seele liebe, und an der ich ja offenbar einen Verrath beginge, wenn ich im losen Spiel auch nur für einen Abend mir eine Donna wählte. Mit Euch unbeweibten Jünglingen ist das ein Andres, aber ich, als Familienvater“ – Die Jünglinge lachten hell auf, da Erasmus bei dem Worte „Familienvater“ sich bemühte, das jugendliche gemüthliche Gesicht in ernste Falten zu ziehen, welches denn eben sehr possierlich herauskam. Friedrichs Donna ließ sich das, was Erasmus teutsch gesprochen, in das Italienische übersetzen, dann wandte sie sich ernsten Blickes zum Erasmus und sprach, mit aufgehobenem Finger leise drohend: „Du kalter, kalter Teutscher! – verwahre Dich wohl, noch hast Du Giulietta nicht gesehen!“
In dem Augenblick rauschte es beim Eingange des Bosketts, und aus dunkler Nacht trat in den lichten Kerzenschimmer hinein ein wunderherrliches Frauenbild. Das weiße, Busen, Schultern und Nacken nur halb verhüllende Gewand, mit bauschigen bis an die Ellbogen streifenden Aermeln, floß in reichen breiten Falten herab, die Haare vorn an der Stirn gescheitelt, hinten in vielen Flechten heraufgenestelt. – Goldene Ketten um den Hals, reiche Armbänder um die Handgelenke geschlungen, vollendeten den alterthümlichen Putz der Jungfrau, die anzusehen war, als wandle ein Frauenbild von Rubens oder dem zierlichen Mieris daher. „Giulietta!“ riefen die Mädchen voll Erstaunen. Giulietta, deren Engelsschönheit Alle überstrahlte, sprach mit süßer lieblicher Stimme: „Laßt mich doch Theil nehmen an Euerm schönen Fest, ihr wackern teutschen Jünglinge. Ich will hin zu Jenem dort, der unter Euch ist so ohne Lust und ohne Liebe.“ Damit wandelte sie in hoher Anmuth zum Erasmus und setzte sich auf den Sessel, der neben ihm leer geblieben, da man vorausgesetzt hatte, daß auch er eine Donna mitbringen werde. Die Mädchen lispelten unter einander: „Seht, o seht, wie Giulietta heute wieder so schön ist!“ und die Jünglinge sprachen: „Was ist denn das mit dem Erasmus, er hat ja die Schönste gewonnen und uns nur wol verhöhnt?“
Dem Erasmus war bei dem ersten Blick, den er auf Giulietta warf, so ganz besonders zu Muthe geworden, daß er selbst nicht wußte, was sich denn so gewaltsam in seinem Innern rege. Als sie sich ihm näherte, faßte ihn eine fremde Gewalt und drückte seine Brust zusammen, daß sein Athem stockte. Das Auge fest geheftet auf Giulietta mit erstarrten Lippen saß er da und konnte kein Wort hervorbringen, als die Jünglinge laut Giulietta’s Anmuth und Schönheit priesen. Giulietta nahm einen vollgeschenkten Pokal und stand auf, ihn dem Erasmus freundlich darreichend; der ergriff den Pokal, Giulietta’s zarte Finger leise berührend. Er trank, Gluth strömte durch seine Adern. Da fragte Giulietta scherzend: „Soll ich denn Eure Donna seyn?“ Aber Erasmus warf sich wie im Wahnsinn vor Giulietta nieder, drückte ihre beiden Hände an seine Brust und rief: „Ja, Du bist es, Dich habe ich geliebt immerdar, Dich, Du Engelsbild! – Dich habe ich geschaut in meinen Träumen, Du bist mein Glück, meine Seligkeit, mein höheres Leben!“ – Alle glaubten, der Wein sey dem Erasmus zu Kopf gestiegen, denn so hatten sie ihn nie gesehen, er schien ein Anderer worden. „Ja, Du – Du bist mein Leben, Du flammst in mir mit verzehrender Gluth. Laß mich untergehen – untergehen, nur in Dir, nur Du will ich seyn,“ – so schrie Erasmus, aber Giulietta nahm ihn sanft in die Arme; ruhiger geworden, setzte er sich an ihre Seite, und bald begann wieder das heitre Liebesspiel in munteren Scherzen und Liedern, das durch Giulietta und Erasmus unterbrochen worden. Wenn Giulietta sang, war es, als gingen aus tiefster Brust Himmelstöne hervor, nie gekannte, nur geahnte Lust in Allen entzündend. Ihre volle wunderbare Kristallstimme trug eine geheimnißvolle Gluth in sich, die jedes Gemüth ganz und gar befing. Fester hielt jeder Jüngling seine Donna umschlungen, und feuriger strahlte Aug‘ in Auge. Schon verkündete ein rother Schimmer den Anbruch der Morgenröthe, da rieth Giulietta das Fest zu enden. Es geschah. Erasmus schickte sich an, Giulietta zu begleiten, sie schlug das ab und bezeichnete ihm das Haus, wo er sie künftig finden könne. Während des teutschen Rundgesanges, den die Jünglinge noch zum Beschluß des Festes anstimmten, war Giulietta aus dem Boskett verschwunden; man sah sie hinter zwei Bedienten, die mit Fackeln voranschritten, durch einen fernen Laubgang wandeln. Erasmus wagte nicht, ihr zu folgen. Die Jünglinge nahmen nun jeder seine Donna unter den Arm und schritten in voller heller Lust von dannen. Ganz verstört und im Innern zerrissen von Sehnsucht und Liebesqual folgte ihnen endlich Erasmus, dem sein kleiner Diener mit der Fackel vorleuchtete. So ging er, da die Freunde ihn verlassen, durch eine entlegene Straße, die nach seiner Wohnung führte. Die Morgenröthe war hoch heraufgestiegen, der Diener stieß die Fackel auf dem Steinpflaster aus, aber in den aufsprühenden Funken stand plötzlich eine seltsame Figur vor Erasmus, ein langer dürrer Mann mit spitzer Habichtsnase, funkelnden Augen, hämisch verzogenem Munde, im feuerrothen Rock mit strahlenden Stahlknöpfen. Der lachte und rief mit unangenehm gellender Stimme: „Ho, ho! – Ihr seyd wol aus einem alten Bilderbuch herausgestiegen mit Euerm Mantel, Euerm geschlitzten Wamms und Euerm Federnbarett. – Ihr seht recht schnakisch aus, Hr. Erasmus, aber wollt Ihr denn auf der Straße der Leute Spott werden? Kehrt doch nur ruhig zurück in Euern Pergamentband.“ – „Was geht Euch meine Kleidung an,“ sprach Erasmus verdrießlich und wollte, den rothen Kerl bei Seite schiebend, vorübergehen, der schrie ihm nach: „Nun, nun – eilt nur nicht so, zur Giulietta könnt Ihr doch jetzt gleich nicht hin.“ Erasmus drehte sich rasch um. „Was sprecht Ihr von Giulietta,“ rief er mit wilder Stimme, den rothen Kerl bei der Brust packend. Der wandte sich aber pfeilschnell und war, ehe sich’s Erasmus versah, verschwunden. Erasmus blieb ganz verblüfft stehen, mit dem Stahlknopf in der Hand, den er dem Rothen abgerissen. „Das war der Wunderdoktor, Signor Dapertutto; was der nur von Euch wollte?“ sprach der Diener, aber dem Erasmus wandelte ein Grauen an, er eilte sein Haus zu erreichen. –
Giulietta empfing den Erasmus mit all‘ der wunderbaren Anmuth und Freundlichkeit, die ihr eigen. Der wahnsinnigen Leidenschaft, die den Erasmus entflammt, setzte sie ein mildes, gleichmüthiges Betragen entgegen. Nur dann und wann funkelten ihre Augen höher auf, und Erasmus fühlte, wie leise Schauer aus dem Innersten heraus ihn durchbebten, wenn sie manchmal ihn mit einem recht seltsamen Blicke traf. Nie sagte sie ihm, daß sie ihn liebe, aber ihre ganze Art und Weise mit ihm umzugehen, ließ es ihn deutlich ahnen, und so kam es, daß immer festere und festere Bande ihn umstrickten. Ein wahres Sonnenleben ging ihm auf; die Freunde sah er selten, da Giulietta ihn in andere fremde Gesellschaft eingeführt. –
Einst begegnete ihm Friedrich, der ließ ihn nicht los, und als der Erasmus durch manche Erinnerung an sein Vaterland und an sein Haus recht mild und weich geworden, da sagte Friedrich: „Weißt Du wol, Spikher, daß Du in recht gefährliche Bekanntschaft gerathen bist? Du mußt es doch wol schon gemerkt haben, daß die schöne Giulietta eine der schlauesten Courtisanen ist, die es je gab. Man trägt sich dabei mit allerlei geheimnißvollen, seltsamen Geschichten, die sie in gar besonderm Lichte erscheinen lassen. Daß sie über die Menschen, wenn sie will, eine unwiderstehliche Macht übt und sie in unauflösliche Bande verstrickt, seh‘ ich an Dir, Du bist ganz und gar verändert, Du bist ganz der verführerischen Giulietta hingegeben, Du denkst nicht mehr an Deine liebe fromme Hausfrau.“ – Da hielt Erasmus beide Hände vors Gesicht, er schluchzte laut, er rief den Namen seiner Frau. Friedrich merkte wol, wie ein innerer harter Kampf begonnen. „Spikher,“ fuhr er fort, „laß uns schnell abreisen.“ „Ja, Friedrich,“ rief Spikher heftig, „Du hast Recht. Ich weiß nicht, wie mich so finstre gräßliche Ahnungen plötzlich ergreifen, – ich muß fort, noch heute fort.“ Beide Freunde eilten über die Straße, quer vorüber schritt Signor Dapertutto, der lachte dem Erasmus ins Gesicht und rief: „Ach, eilt doch, eilt doch nur schnell, Giulietta wartet schon, das Herz voll Sehnsucht, die Augen voll Thränen. – Ach, eilt doch, eilt doch!“ Erasmus wurde wie vom Blitz getroffen. „Dieser Kerl,“ sprach Friedrich, „dieser Ciarlatano ist mir im Grunde der Seele zuwider, und daß der bei Giulietta aus- und eingeht und ihr seine Wunderessenzen verkauft“ – „Was!“ rief Erasmus, „dieser abscheuliche Kerl bei Giulietta – bei Giulietta?“ – „Wo bleibt Ihr aber auch so lange, Alles wartet auf Euch, habt Ihr denn gar nicht an mich gedacht?“ so rief eine sanfte Stimme vom Balkon herab. Es war Giulietta, vor deren Hause die Freunde, ohne es bemerkt zu haben, standen. Mit einem Sprunge war Erasmus im Hause. „Der ist nun einmal hin und nicht mehr zu retten,“ sprach Friedrich leise und schlich über die Straße fort. –
Nie war Giulietta liebenswürdiger gewesen, sie trug dieselbe Kleidung als damals in dem Garten, sie strahlte in voller Schönheit und jugendlicher Anmuth. Erasmus hatte Alles vergessen, was er mit Friedrich gesprochen, mehr als je riß ihn die höchste Wonne, das höchste Entzücken unwiderstehlich hin, aber auch noch niemals hatte Giulietta so ohne allen Rückhalt ihm ihre innigste Liebe merken lassen. Nur ihn schien sie zu beachten, nur für ihn zu seyn. – Auf einer Villa, die Giulietta für den Sommer gemiethet, sollte ein Fest gefeiert werden. Man begab sich dahin. In der Gesellschaft befand sich ein junger Italiener von recht häßlicher Gestalt und noch häßlicheren Sitten, der bemühte sich viel um Giulietta und erregte die Eifersucht des Erasmus, der voll Ingrimm sich von den Andern entfernte und einsam in einer Seiten-Allee des Gartens auf- und abschlich. Giulietta suchte ihn auf. „Was ist Dir? – bist Du denn nicht ganz mein?“ Damit umfing sie ihn mit den zarten Armen und drückte einen Kuß auf seine Lippen. Feuerstrahlen durchblitzten ihn, in rasender Liebeswuth drückte er die Geliebte an sich und rief: „Nein, ich lasse Dich nicht, und sollte ich untergehen im schmachvollsten Verderben!“ Giulietta lächelte seltsam bei diesen Worten, und ihn traf jener sonderbare Blick, der ihm jederzeit innern Schauer erregte. Sie gingen wieder zur Gesellschaft. Der widrige junge Italiener trat jetzt in die Rolle des Erasmus; von Eifersucht getrieben, stieß er allerlei spitze beleidigende Reden gegen Teutsche und insbesondere gegen Spikher aus. Der konnte es endlich nicht länger ertragen; rasch schritt er auf den Italiener los. „Haltet ein,“ sprach er, „mit Euern nichtswürdigen Sticheleien auf Teutsche und auf mich, sonst werfe ich Euch in jenen Teich, und Ihr könnt Euch im Schwimmen versuchen.“ In dem Augenblick blitzte ein Dolch in des Italieners Hand, da packte Erasmus ihn wüthend bei der Kehle und warf ihn nieder, ein kräftiger Fußtritt ins Genick, und der Italiener gab röchelnd seinen Geist auf. – Alles stürzte auf den Erasmus los, er war ohne Besinnung – er fühlte sich ergriffen, fortgerissen. Als er wie aus tiefer Betäubung erwachte, lag er in einem kleinen Cabinet zu Giulietta’s Füßen, die, das Haupt über ihn herabgebeugt, ihn mit beiden Armen umfaßt hielt. „Du böser, böser Teutscher,“ sprach sie unendlich sanft und mild, „welche Angst hast Du mir verursacht! Aus der nächsten Gefahr habe ich Dich errettet, aber nicht sicher bist Du mehr in Florenz, in Italien. Du mußt fort, Du mußt mich, die Dich so sehr liebt, verlassen.“ Der Gedanke der Trennung zerriß den Erasmus in namenlosem Schmerz und Jammer. „Laß mich bleiben,“ schrie er, „ich will ja gern den Tod leiden, heißt denn sterben mehr als leben ohne Dich?“ Da war es ihm, als rufe eine leise ferne Stimme schmerzlich seinen Namen. Ach! es war die Stimme der frommen teutschen Hausfrau. Erasmus verstummte, und auf ganz seltsame Weise fragte Giulietta: „Du denkst wol an Dein Weib? – Ach, Erasmus, Du wirst mich nur zu bald vergessen.“ – „Könnte ich nur ewig und immerdar ganz Dein seyn,“ sprach Erasmus. Sie standen gerade vor dem schönen breiten Spiegel, der in der Wand des Cabinets angebracht war und an dessen beiden Seiten helle Kerzen brannten. Fester, inniger drückte Giulietta den Erasmus an sich, indem sie leise lispelte: „Laß mir Dein Spiegelbild, Du innig Geliebter, es soll mein und bei mir bleiben immerdar.“ – „Giulietta,“ rief Erasmus ganz verwundert, „was meinst Du denn? – mein Spiegelbild?“ – Er sah dabei in den Spiegel, der ihn und Giulietta in süßer Liebesumarmung zurückwarf. „Wie kannst Du denn mein Spiegelbild behalten,“ fuhr er fort, „das mit mir wandelt überall, und aus jedem klaren Wasser, aus jeder hellgeschliffnen Fläche mir entgegentritt?“ – „Nicht einmal,“ sprach Giulietta, „nicht einmal diesen Traum Deines Ichs, wie er aus dem Spiegel hervorschimmert, gönnst Du mir, der Du sonst mein mit Leib und Leben seyn wolltest? Nicht einmal Dein unstetes Bild soll bei mir bleiben und mit mir wandeln durch das arme Leben, das nun wol, da Du fliehst, ohne Lust und Liebe bleiben wird?“ Die heißen Thränen stürzten der Giulietta aus den schönen dunklen Augen. Da rief Erasmus, wahnsinnig vor tödtendem Liebesschmerz: „Muß ich denn fort von Dir? – muß ich fort, so soll mein Spiegelbild Dein bleiben auf ewig und immerdar. Keine Macht – der Teufel soll es Dir nicht entreißen, bis Du mich selbst hast mit Seele und Leib.“ – Giulietta’s Küsse brannten wie Feuer auf seinem Munde, als er dies gesprochen, dann ließ sie ihn los und streckte sehnsuchtsvoll die Arme aus nach dem Spiegel. Erasmus sah, wie sein Bild unabhängig von seinen Bewegungen hervortrat, wie es in Giulietta’s Arme glitt, wie es mit ihr im seltsamen Duft verschwand. Allerlei häßliche Stimmen meckerten und lachten in teuflischem Hohn; erfaßt von dem Todeskrampf des tiefsten Entsetzens sank er bewußtlos zu Boden, aber die fürchterliche Angst – das Grausen riß ihn auf aus der Betäubung, in dicker dichter Finsterniß taumelte er zur Thür hinaus, die Treppe hinab. Vor dem Hause ergriff man ihn und hob ihn in einen Wagen, der schnell fortrollte. „Dieselben haben sich etwas alterirt, wie es scheint,“ sprach der Mann, der sich neben ihn gesetzt hatte, in teutscher Sprache, „Dieselben haben sich etwas alterirt, indessen wird jetzt Alles ganz vortrefflich gehen, wenn Sie sich nur mir ganz überlassen wollen. Giuliettchen hat schon das Ihrige gethan und mir Sie empfohlen. Sie sind auch ein recht lieber junger Mann und inkliniren erstaunlich zu angenehmen Späßen, wie sie uns, mir und Giuliettchen, sehr behagen. Das war mir ein recht tüchtiger teutscher Tritt in den Nacken. Wie dem Amoroso die Zunge kirschblau zum Halse heraushing – es sah recht possierlich aus, und wie er so krächzte und ächzte und nicht gleich abfahren konnte – ha – ha – ha –“ Die Stimme des Mannes war so widrig höhnend, sein Schnickschnack so gräßlich, daß die Worte Dolchstichen gleich in des Erasmus Brust fuhren. „Wer Ihr auch seyn mögt,“ sprach Erasmus, „schweigt, schweigt von der entsetzlichen That, die ich bereue!“ – „Bereuen, bereuen!“ erwiederte der Mann, „so bereut Ihr auch wol, daß Ihr Giulietta kennen gelernt und ihre süße Liebe erworben habt?“ – „Ach, Giulietta, Giulietta!“ seufzte Erasmus. „Nun ja,“ fuhr der Mann fort, „so seyd Ihr nun kindisch, Ihr wünscht und wollt, aber Alles soll auf gleichem glatten Wege bleiben. Fatal ist es zwar, daß Ihr Giulietta habt verlassen müssen, aber doch könnte ich wol, bliebet Ihr hier, Euch allen Dolchen Eurer Verfolger und auch der lieben Justiz entziehen.“ Der Gedanke bei Giulietta bleiben zu können, ergriff den Erasmus gar mächtig. „Wie wäre das möglich?“ fragte er. – „Ich kenne,“ fuhr der Mann fort, „ein sympathetisches Mittel, das Eure Verfolger mit Blindheit schlägt, kurz, welches bewirkt, daß Ihr ihnen immer mit einem andern Gesichte erscheint und sie Euch niemals wieder erkennen. So wie es Tag ist, werdet Ihr so gut seyn recht lange und aufmerksam in irgend einen Spiegel zu schauen, mit Euerm Spiegelbilde nehme ich dann, ohne es im mindesten zu versehren, gewisse Operationen vor und Ihr seyd geborgen, Ihr könnt dann leben mit Giulietta ohne alle Gefahr in aller Lust und Freudigkeit.“ – „Fürchterlich, fürchterlich!“ schrie Erasmus auf. „Was ist denn fürchterlich, mein Werthester?“ fragte der Mann höhnisch. „Ach, ich – habe, ich – habe,“ fing Erasmus an – „Euer Spiegelbild sitzen lassen,“ fiel der Mann schnell ein, „sitzen lassen bei Giulietta? – ha, ha, ha! Bravissimo, mein Bester! Nun könnt Ihr durch Fluren und Wälder, Städte und Dörfer laufen, bis Ihr Euer Weib gefunden nebst dem kleinen Rasmus und wieder ein Familienvater seyd, wiewol ohne Spiegelbild, worauf es Eurer Frau auch weiter wol nicht ankommen wird, da sie Euch leiblich hat, Giulietta aber nur Euer schimmerndes Traum-Ich.“ – „Schweige, Du entsetzlicher Mensch,“ schrie Erasmus. In dem Augenblick nahte sich ein fröhlich singender Zug mit Fackeln, die ihren Glanz in den Wagen warfen. Erasmus sah seinem Begleiter ins Gesicht und erkannte den häßlichen Doktor Dapertutto. Mit einem Satz sprang er aus dem Wagen und lief dem Zuge entgegen, da er schon in der Ferne Friedrichs wohltönenden Baß erkannt hatte. Die Freunde kehrten von einem ländlichen Mahle zurück. Schnell unterrichtete Erasmus Friedrichen von Allem was geschehen, und verschwieg nur den Verlust seines Spiegelbildes. Friedrich eilte mit ihm voran nach der Stadt, und so schnell wurde alles Nöthige veranstaltet, daß, als die Morgenröthe aufgegangen, Erasmus auf einem raschen Pferde sich schon weit von Florenz entfernt hatte. – Spikher hat manches Abentheuer aufgeschrieben, das ihm auf seiner Reise begegnete. Am merkwürdigsten ist der Vorfall, welcher zuerst den Verlust seines Spiegelbildes ihm recht seltsam fühlen ließ. Er war nämlich gerade, weil sein müdes Pferd Erholung bedurfte, in einer großen Stadt geblieben, und setzte sich ohne Arg an die stark besetzte Wirthstafel, nicht achtend, daß ihm gegenüber ein schöner klarer Spiegel hing. Ein Satan von Kellner, der hinter seinem Stuhle stand, wurde gewahr, daß drüben im Spiegel der Stuhl leer geblieben und sich nichts von der darauf sitzenden Person reflektire. Er theilte seine Bemerkung dem Nachbar des Erasmus mit, der seinem Nebenmann, es lief durch die ganze Tischreihe ein Gemurmel und Geflüster, man sah den Erasmus an, dann in den Spiegel. Noch hatte Erasmus gar nicht bemerkt, daß ihm das Alles galt, als ein ernsthafter Mann vom Tische aufstand, ihn vor den Spiegel führte, hineinsah und dann sich zur Gesellschaft wendend laut rief: Wahrhaftig, er hat kein Spiegelbild! „Er hat kein Spiegelbild – er hat kein Spiegelbild!“ schrie Alles durch einander; „ein mauvais sujet, ein homo nefas, werft ihn zur Thür hinaus!“ – Voll Wuth und Schaam flüchtete Erasmus auf sein Zimmer; aber kaum war er dort, als ihm von Polizei wegen angekündigt wurde, daß er binnen einer Stunde mit seinem vollständigen, völlig ähnlichen Spiegelbilde vor der Obrigkeit erscheinen oder die Stadt verlassen müsse. Er eilte von dannen, vom müssigen Pöbel, von den Straßenjungen verfolgt, die ihm nachschrieen: „da reitet er hin, der dem Teufel sein Spiegelbild verkauft hat, da reitet er hin!“ – Endlich war er im Freien. Nun ließ er überall wo er hinkam, unter dem Vorwande eines natürlichen Abscheu’s gegen jede Abspiegelung, alle Spiegel schnell verhängen, und man nannte ihn daher spottweise den General Suwarow, der ein Gleiches that. –
Freudig empfing ihn, als er seine Vaterstadt und sein Haus erreicht, die liebe Frau mit dem kleinen Rasmus, und bald schien es ihm, als sey in ruhiger, friedlicher Häuslichkeit der Verlust des Spiegelbildes wol zu verschmerzen. Es begab sich eines Tages, daß Spikher, der die schöne Giulietta ganz aus Sinn und Gedanken verloren, mit dem kleinen Rasmus spielte; der hatte die Händchen voll Ofenruß und fuhr damit dem Papa ins Angesicht. „Ach, Vater, Vater, wie hab‘ ich Dich schwarz gemacht, schau mal her!“ So rief der Kleine und holte, ehe Spikher es hindern konnte, einen Spiegel herbei, den er, ebenfalls hineinschauend, dem Vater vorhielt. – Aber gleich ließ er den Spiegel weinend fallen und lief schnell zum Zimmer hinaus. Bald darauf trat die Frau herein, Staunen und Schreck in den Mienen. „Was hat mir der Rasmus von Dir erzählt,“ sprach sie. „Daß ich kein Spiegelbild hätte, nicht wahr, mein Liebchen?“ fiel Spikher mit erzwungenem Lächeln ein, und bemühte sich zu beweisen, daß es zwar unsinnig sey zu glauben, man könne überhaupt sein Spiegelbild verlieren, im Ganzen sey aber nicht viel daran verloren, da jedes Spiegelbild doch nur eine Illusion sey, Selbstbetrachtung zur Eitelkeit führe, und noch dazu ein solches Bild, das eigne Ich, spalte in Wahrheit und Traum. Indem er so sprach, hatte die Frau von einem verhängten Spiegel, der sich in dem Wohnzimmer befand, schnell das Tuch herabgezogen. Sie schaute hinein, und als träfe sie ein Blitzstrahl sank sie zu Boden. Spikher hob sie auf, aber kaum hatte die Frau das Bewußtseyn wieder, als sie ihn mit Abscheu von sich stieß. „Verlasse mich,“ schrie sie, „verlasse mich, fürchterlicher Mensch! Du bist es nicht, Du bist nicht mein Mann, nein – ein höllischer Geist bist Du, der mich um meine Seligkeit bringen, der mich verderben will. – Fort, verlasse mich, Du hast keine Macht über mich, Verdammter!“ Ihre Stimme gellte durch das Zimmer, durch den Saal, die Hausleute liefen entsetzt herbei, in voller Wuth und Verzweiflung stürzte Erasmus zum Hause hinaus. Wie von wilder Raserei getrieben rannte er durch die einsamen Gänge des Parks, der sich bei der Stadt befand. Giulietta’s Gestalt stieg vor ihm auf in Engelsschönheit, da rief er laut: „Rächst Du Dich so, Giulietta, dafür, daß ich Dich verließ und Dir statt meines Selbst nur mein Spiegelbild gab? Ha, Giulietta, ich will ja Dein seyn mit Leib und Seele, Sie hat mich verstoßen, Sie, der ich Dich opferte. Giulietta, Giulietta, ich will ja Dein seyn mit Leib und Leben und Seele.“ – „Das können Sie ganz füglich, mein Werthester,“ sprach Signor Dapertutto, der auf einmal in seinem scharlachrothen Rocke mit den blitzenden Stahlknöpfen dicht neben ihm stand. Es waren Trostesworte für den unglücklichen Erasmus, deshalb achtete er nicht Dapertutto’s hämisches, häßliches Gesicht, er blieb stehen und fragte mit recht kläglichem Ton: „Wie soll ich Sie denn wieder finden, Sie, die wol auf immer für mich verloren ist!“ – „Mit nichten,“ erwiederte Dapertutto, „Sie ist gar nicht weit von hier und sehnt sich erstaunlich nach Ihrem werthen Selbst, Verehrter, da doch, wie Sie einsehen, ein Spiegelbild nur eine schnöde Illusion ist. Uebrigens giebt sie Ihnen, sobald sie sich Ihrer werthen Person, nämlich mit Leib, Leben und Seele sicher weiß, Ihr angenehmes Spiegelbild glatt und unversehrt dankbarlichst zurück.“ „Führe mich zu ihr – zu ihr hin!“ rief Erasmus, „wo ist sie?“ „Noch einer Kleinigkeit bedarf es,“ fiel Dapertutto ein, „bevor Sie Giulietta sehen und sich ihr gegen Erstattung des Spiegelbildes ganz ergeben können. Dieselben vermögen nicht so ganz über Dero werthe Person zu disponiren, da Sie noch durch gewisse Bande gefesselt sind, die erst gelöset werden müssen. – Dero liebe Frau nebst dem hoffnungsvollen Söhnlein“ – „Was soll das?“ – fuhr Erasmus wild auf. „Eine unmaßgebliche Trennung dieser Bande,“ fuhr Dapertutto fort, „könnte auf ganz leicht menschliche Weise bewirkt werden. Sie wissen ja von Florenz aus, daß ich wundersame Medikamente geschickt zu bereiten weiß, da hab‘ ich denn hier so ein Hausmittelchen in der Hand. Nur ein paar Tropfen dürfen die genießen, welche Ihnen und der lieben Giulietta im Wege sind, und sie sinken ohne schmerzliche Gebehrde lautlos zusammen. Man nennt das zwar sterben, und der Tod soll bitter seyn; aber ist denn der Geschmack bittrer Mandeln nicht lieblich, und nur diese Bitterkeit hat der Tod, den dieses Fläschchen verschließt. Sogleich nach dem fröhlichen Hinsinken wird die werthe Familie einen angenehmen Geruch von bittern Mandeln verbreiten. – Nehmen Sie, Geehrtester.“ – Er reichte dem Erasmus eine kleine Phiole hin.[Fußnote] 1 „Entsetzlicher Mensch,“ schrie dieser, „vergiften soll ich Weib und Kind?“ „Wer spricht denn von Gift,“ fiel der Rothe ein, „nur ein wohlschmeckendes Hausmittel ist in der Phiole enthalten. Mir stünden andere Mittel, Ihnen Freiheit zu schaffen, zu Gebote, aber durch Sie selbst möcht‘ ich so ganz natürlich, so ganz menschlich wirken, das ist nun einmal meine Liebhaberei. Nehmen Sie getrost, mein Bester!“ – Erasmus hatte die Phiole in der Hand, er wußte selbst nicht wie. Gedankenlos rannte er nach Hause in sein Zimmer. Die ganze Nacht hatte die Frau unter tausend Aengsten und Qualen zugebracht, sie behauptete fortwährend, der Zurückgekommene sey nicht ihr Mann, sondern ein höllischer Geist, der ihres Mannes Gestalt angenommen. So wie Spikher ins Haus trat, floh Alles scheu zurück, nur der kleine Rasmus wagte es, ihm nahe zu treten und kindisch zu fragen, warum er denn sein Spiegelbild nicht mitgebracht habe, die Mutter würde sich darüber zu Tode grämen. Erasmus starrte den Kleinen wild an, er hatte noch Dapertutto’s Phiole in der Hand. Der Kleine trug seine Lieblingstaube auf dem Arm, und so kam es, daß diese mit dem Schnabel sich der Phiole näherte und an dem Pfropfe pickte; sogleich ließ sie den Kopf sinken, sie war todt. Entsetzt sprang Erasmus auf. „Verräther,“ schrie er, „Du sollst mich nicht verführen zur Höllenthat!“ – Er schleuderte die Phiole durch das offene Fenster, daß sie auf dem Steinpflaster des Hofes in tausend Stücke zersprang. Ein lieblicher Mandelgeruch stieg auf und verbreitete sich bis ins Zimmer. Der kleine Rasmus war erschrocken davon gelaufen. Spikher brachte den ganzen Tag von tausend Qualen gefoltert zu, bis die Mitternacht eingebrochen. Da wurde immer reger und reger in seinem Innern Giulietta’s Bild. Einst zersprang ihr in seiner Gegenwart eine Halsschnur, von jenen kleinen rothen Beeren aufgezogen, die die Frauen wie Perlen tragen. Die Beeren auflesend verbarg er schnell eine, weil sie an Giulietta’s Halse gelegen, und bewahrte sie treulich. Die zog er jetzt hervor, und sie anstarrend, richtete er Sinn und Gedanken auf die verlorne Geliebte. Da war es, als ginge aus der Perle der magische Duft hervor, der ihn sonst umfloß in Giulietta’s Nähe. „Ach, Giulietta, Dich nur noch ein einziges Mal sehen und dann untergehen in Verderben und Schmach.“ – Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als es auf dem Gange vor der Thür leise zu rischeln und zu rascheln begann. Er vernahm Fußtritte – es klopfte an die Thür des Zimmers. Der Athem stockte dem Erasmus vor ahnender Angst und Hoffnung. Er öffnete. Giulietta trat herein, in hoher Schönheit und Anmuth. Wahnsinnig vor Liebe und Lust schloß er sie in seine Arme. „Nun bin ich da, mein Geliebter,“ sprach sie leise und sanft, „aber sieh, wie getreu ich Dein Spiegelbild bewahrt!“ Sie zog das Tuch vom Spiegel herab, Erasmus sah mit Entzücken sein Bild der Giulietta sich anschmiegend; unabhängig von ihm selbst warf es aber keine seiner Bewegungen zurück. Schauer durchbebten den Erasmus. „Giulietta,“ rief er, „soll ich denn rasend werden in der Liebe zu Dir? – Gieb mir das Spiegelbild, nimm mich selbst mit Leib, Leben und Seele.“ – „Es ist noch etwas zwischen uns, lieber Erasmus,“ sprach Giulietta, „Du weißt es – hat Dapertutto Dir nicht gesagt – Um Gott, Giulietta,“ fiel Erasmus ein, „kann ich nur auf diese Weise Dein werden, so will ich lieber sterben.“ – „Auch soll Dich,“ fuhr Giulietta fort, „Dapertutto keineswegs verleiten zu solcher That. Schlimm ist es freilich, daß ein Gelübde und ein Priestersegen nun einmal so viel vermag, aber lösen mußt Du das Band, was Dich bindet, denn sonst wirst Du niemals gänzlich mein, und dazu giebt es ein anderes besseres Mittel, als Dapertutto vorgeschlagen.“ – „Worin besteht das?“ fragte Erasmus heftig. Da schlang Giulietta den Arm um seinen Nacken, und den Kopf an seine Brust gelehnt lispelte sie leise: „Du schreibst auf ein kleines Blättchen Deinen Namen Erasmus Spikher unter die wenigen Worte: Ich gebe meinem guten Freunde Dapertutto Macht über meine Frau und über mein Kind, daß er mit ihnen schalte und walte nach Willkühr und löse das Band, das mich bindet, weil ich fortan mit meinem Leibe und mit meiner unsterblichen Seele angehören will der Giulietta, die ich mir zum Weibe erkohren, und der ich mich noch durch ein besonderes Gelübde auf immerdar verbinden werde.“ Es rieselte und zuckte dem Erasmus durch alle Nerven. Feuerküsse brannten auf seinen Lippen, er hatte das Blättchen, das ihm Giulietta gegeben, in der Hand. Riesengroß stand plötzlich Dapertutto hinter Giulietta und reichte ihm eine metallene Feder. In dem Augenblick sprang dem Erasmus ein Aederchen an der linken Hand und das Blut spritzte heraus. „Tunke ein, tunke ein – schreib‘, schreib‘,“ krächzte der Rothe. – „Schreib‘, schreib‘, mein ewig, einzig Geliebter,“ lispelte Giulietta. Schon hatte er die Feder mit Blut gefüllt, er setzte zum Schreiben an – da ging die Thür auf, eine weiße Gestalt trat herein, die gespenstisch starren Augen auf Erasmus gerichtet, rief sie schmerzvoll und dumpf: „Erasmus, Erasmus, was beginnst Du – um des Heilandes willen, laß ab von gräßlicher That!“ – Erasmus in der warnenden Gestalt sein Weib erkennend, warf Blatt und Feder weit von sich. – Funkelnde Blitze schossen aus Giulietta’s Augen, gräßlich verzerrt war das Gesicht, brennende Gluth ihr Körper. „Laß ab von mir, Höllengesindel, Du sollst keinen Theil haben an meiner Seele. In des Heilandes Namen, hebe Dich von mir hinweg, Schlange – die Hölle glüht aus Dir.“ – So schrie Erasmus und stieß mit kräftiger Faust Giulietta, die ihn noch immer umschlungen hielt, zurück. Da gellte und heulte es in schneidenden Mißtönen, und es rauschte wie mit schwarzen Rabenfittigen im Zimmer umher. – Giulietta – Dapertutto verschwanden im dicken stinkenden Dampf, der wie aus den Wänden quoll, die Lichter verlöschend. Endlich brachen die Strahlen des Morgenroths durch die Fenster. Erasmus begab sich gleich zu seiner Frau. Er fand sie ganz milde und sanftmüthig. Der kleine Rasmus saß schon ganz munter auf ihrem Bette; sie reichte dem erschöpften Mann die Hand, sprechend: „Ich weiß nun Alles, was Dir in Italien Schlimmes begegnet, und bedaure Dich von ganzem Herzen. Die Gewalt des Feindes ist sehr groß, und wie er denn nun allen möglichen Lastern ergeben ist, so stiehlt er auch sehr, und hat dem Gelüst nicht widerstehen können, Dir Dein schönes, vollkommen ähnliches Spiegelbild auf recht hämische Weise zu entwenden. – Sieh doch einmal in jenen Spiegel dort, lieber, guter Mann!“ – Spikher that es, am ganzen Leibe zitternd, mit recht kläglicher Miene. Blank und klar blieb der Spiegel, kein Erasmus Spikher schaute heraus. „Diesmal,“ fuhr die Frau fort: „ist es recht gut, daß der Spiegel Dein Bild nicht zurückwirft, denn Du siehst sehr albern aus, lieber Erasmus. Begreifen wirst Du aber übrigens wol selbst, daß Du ohne Spiegelbild ein Spott der Leute bist und kein ordentlicher, vollständiger Familienvater seyn kannst, der Respekt einflößt der Frau und den Kindern. Rasmuschen lacht Dich auch schon aus, und will Dir nächstens einen Schnauzbart mahlen mit Kohle, weil Du das nicht bemerken kannst. Wandre also nur noch ein bischen in der Welt herum und suche gelegentlich dem Teufel Dein Spiegelbild abzujagen. Hast Du’s wieder, so sollst Du mir recht herzlich willkommen seyn. Küsse mich, (Spikher that es) und nun – glückliche Reise! Schicke dem Rasmus dann und wann ein Paar neue Höschen, denn er rutscht sehr auf den Knieen und braucht dergleichen viel. Kommst Du aber nach Nürnberg, so füge einen bunten Husaren hinzu und einen Pfefferkuchen, als liebender Vater. Lebe recht wohl, lieber Erasmus!“ – Die Frau drehte sich auf die andere Seite und schlief ein. Spikher hob den kleinen Rasmus in die Höhe und drückte ihn an’s Herz; der schrie aber sehr, da setzte Spikher ihn wieder auf die Erde und ging in die weite Welt. Er traf einmal auf einen gewissen Peter Schlemihl, der hatte seinen Schlagschatten verkauft; Beide wollten Compagnie gehen, so daß Erasmus Spikher den nöthigen Schlagschatten werfen, Peter Schlemihl dagegen das gehörige Spiegelbild reflektiren sollte; es wurde aber nichts daraus.
Ende der Geschichte vom verlornen Spiegelbilde.
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Postskript des reisenden Enthusiasten.
– Was schaut denn dort aus jenem Spiegel heraus? – Bin ich es auch wirklich? – O Julie – Giulietta – Himmelsbild – Höllengeist – Entzücken und Qual – Sehnsucht und Verzweiflung. – Du siehst, mein lieber Theodor Amadäus Hoffmann! daß nur zu oft eine fremde dunkle Macht sichtbarlich in mein Leben tritt, und den Schlaf um die besten Träume betrügend, mir gar seltsame Gestalten in den Weg schiebt. Ganz erfüllt von den Erscheinungen der Sylvesternacht, glaube ich beinahe, daß jener Justizrath wirklich von Dragant, sein Thee eine Weihnachts- oder Neujahrsausstellung, die holde Julie aber jenes verführerische Frauenbild von Rembrandt oder Callot war, das den unglücklichen Erasmus Spikher um sein schönes ähnliches Spiegelbild betrog. Vergieb mir das!
[Fußnote] 1 Dapertutto’s Phiole enthielt gewiß rektifizirtes Kirschlorbeerwasser, sogenannte Blausäure. Der Genuß einer sehr geringen Quantität dieses Wassers (weniger als eine Unze) bringt die beschriebenen Wirkungen hervor. Horns Archiv für mediz. Erfahr. 1813. Mai bis Dez. Seite 510.
Bilder: Klaus Ensikat: E.T.A. Hoffmann. Die Abentheuer der Sylvester-Nacht.
Imprint Antiqua, 68 S., 19 x 28 cm, Pressendrucke in The Bear Press, Bayreuth 2019.
Soundtrack: Bryn Terfel für ORF 2 aus der Staatsoper Wien, 1995:
Jacques Offenbach: Spiegelarie „Scintille diamant“, aus: Les contes d’Hoffmann, 1881:
Bonus Track: A Gschicht zum verzähln: Anti Cornettos: Korsakov Syndrom, aus: Dohuggandedeoiweidohuggan, 2014:
Ukraihnachtsgewinnspiel: Die Lichter brennen, Geigen klingen
Веселого Різдва для всіх nochmal. Die mir bekannten Ukrainer, in der Mehrzahl Ukrainerinnen, die sich in diesen Tagen gerne für zusätzliche Schichten einteilen lassen, weil sie in einem eher zufällig sich ergebenden lückenlosen Anschluss erst nach unseren zwölf Raunächten das orthodoxe Weihnachtsfest zu begehen gedenken, die mir bekannten Ukrainer also, sagte ich, werden mir was dafür husten, dass ich auf Basis einer ukrainischen Weihnachtsserie was zu verschenken hab. Die gute Nachricht ist: Die sind Schlimmeres gewohnt.
Zu verschenken gibt es einmal Frank T. Zumbach: Galgenblüten, Haffmans 1996, ungelesen, altersbedingt angestaubt, als Mängelexemplar gekennzeichnet, aber einwandfrei benutzbar — oder wahlweise die Verwendung eines Vornamens Ihrer Wahl in meinem nächsten Liedtext. Ich hab nämlich einen drei- bis vierstrophigen Text plus Refrain für einen Blues im Ofen, in den ich noch einen menschlichen Eigennamen eintauschen kann. Voraussichtlich wird es ein ganz ordentliches Lied, und Sie dürfen sich wünschen, darin unsterblich zu werden. Für mich wäre es hilfreich, wenn Sie sich einen weiblichen Vornamen wünschen, das Buch kriegt jeder, der es haben will, weil mir das sagt, dass es dann schon in gute Hände kommen wird.
Eins von beiden dürfen Sie sich wünschen, wenn Sie mir den Originaltext zu einem Gedicht von Taras Schewtschenko beschaffen, das ich in deutscher Übersetzung von Alfred Kurella in der zweibändigen Auswahlausgabe Der Kobsar, Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau 1951 gefunden hab. Weder mein bildschönes und blitzgescheites ukrainisches Gewährsmädchen noch Volltextsuchen konnten mir sagen, woraus das übersetzt ist.
Das ukraihnachtliche Gewinnspiel ist zeitlich nicht begrenzt, weil ich die Lösung auch in hundert Jahren noch wissen will. Sollten die Preise bis dahin nicht mehr zur Verfügung stehen, finden wir einen Ersatz, versprochen. Das ist eine private Veranstaltung rein zur Gaudi mit ausgeschlossenem Rechtsweg.
Die erwartbare Reaktion auf das Gedicht wäre anno 2019 ein trockenes „OK Boomer“ gewesen, im Russischen Kaiserreich des Jahres 1850 war die Klage um die verlorene Jugend eines 36-Jährigen berechtigt. — Шукаю оригінал:
——— Taras Schewtschenko zu Orenburg, 1. Halbjahr 1850, übs. Alfred Kurella:
Die Lichter brennen, Geigen klingen,
Zum Himmel klingt ein schluchzend Singen!
In heißer Diamantenglut
Erglänzen junge Augenpaare,
Und Freude nur und Hoffnung strahlen
Im frohen Blick. Du hast es gut,
Du sündenloses, junges Blut!
Und alle plaudern, lachen, drehn sich;
Nur ich allein seh freudlos zu;
Wie ein Verdammter abseits steh ich
Und weine, weine immerzu.
Was wein ich? Mir will scheinen heute,
Daß voller Leid und ohne Freude
Die Jugend mir verflog im Nu.
Soundtrack ist das in der ukrainischen Volksseele zutiefst verankerte Schtschedryk von Mykola Leontowytsch 1916. Aus einer langen Список українських колядок і щедрівок, das ist: Liste genuin ukrainischer Weihnachtslieder, ragt der Schtschedryk, das ist: abgeleitet von „Щедрий вечiр“ der reichhaltige Abend, in Beliebtheit und die Generationen verbindender Bedeutung heraus — was man vor allem daran erkennt, dass es, von Leontowytsch eigentlich gar nicht als Weihnachtslied geplant, ein Lieblingslied meines bildschönen und blitzgescheiten ukrainischen Gewährsmädchens ist.
In diesem Sinne ein großmächtiges Dankeschön an Olha für Insiderwissen und Geduld: Du darfst immer noch mitmachen!
Bilder: Mykola Kornylovych Pymonenko: Різдвяні ворожіння (Weihnachtliche Weissagung), 1888,
Russisches Museum Sankt Petersburg;
A scene from a traditional Ukrainian Christmas vertep, via Internet Encyclopedia of Ukraine.
Bonus Track: Tom Waits: Silent Night, aus: SOS United, 1989 – nur als Stiftung für die SOS-Kinderdörfer.
Im Video: Correggio: Anbetung der Hirten, 1530 (Detail); Tintoretto, 1545 oder 1578; Gerrit van Honthorst, 1622 oder 1646.
Адвент 3: Mit einem stillen, guten Worte mein gedenken
Update zu Das Angedenken der Zuckerlust:
Die nationale, um nicht zu sagen: emotionale Bedeutung für die ganze stolze Ukraine von Taras Schewtschenkos Gedicht Заповіт kann man gar nicht überschätzen. Allein in der Liste der Übersetzungen wird man gar nicht fertig mit Scrollen — und merkt, was der Google-Translator für ein Segen ist.
Unter den deutschen Übersetzugen werden darin die von der Lemberger, nein: Львова Wortkünstlerin Hedda Zinner aus der noch erreichbarsten Schewtschenko-Auswahl Meine Lieder, meine Träume. Gedichte und Zeichnungen — Verlag der Nation Berlin und Verlag Dnipro Kiew 1987, auf keine Weise identisch mit dem nahezu gleichnamigen USA-Film 1965 — angeführt, sowie die Übersetzung von Iwan Franko.
Was für ein glückliches Land das sein sollte, in dem sich die Nationaldichter gegenseitig in die Sprachen des befreundeten Auslands übersetzen.
——— Тарас Григорович Шевченко:
Заповітнаписанное 25 декабря 1845 года в Переяславе,
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——— Taras Hryhorowytsch Schewtschenko:
Das Vermächtnisübs. Iwan Franko, 1903:
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——— Taras Hryhorowytsch Schewtschenko:
Vermächtnisübs. Hedda Zinner, 1951:
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Bilder: beide 1912, via Anna Cherkaska: „Ховали Тараса, як гетьмана-парубка“. Сьогодні – 157 роковини перепоховання Шевченка, UAinfo, 22. Mai 2018.
Soundtrack: Отава Ё: Ой, Дуся, ой, Маруся, Juli/August 2016:
Blumenstück 003: Holdselige Ranunkel
Update zum Wunderblatt 7: Die Vegetation ist der negative Lebensprozeß. Vom ursprünglichsten Gegensatz zwischen Pflanze und Tier — und Emily und Emily
und Wunderblatt 9: Dies ist das Kaktusland:
Wenn die Reben wieder glühen,
Rühret sich der Wein im Fasse,
Wenn die Erbsen wieder blühen,
Weiß ich nicht, wie mir geschieht.Ludwig Tieck, a. a. O., Seite 95.
Einmal hab ich’s versucht: Es ist gar nicht so einfach, mit Absicht ein wirklich abgrundmieses Gedicht zu schreiben. Am zweitschwersten sind ordentliche Gedichte in aufsteigenden Qualitätsgraden, so mittel werden sie von selber; siehe auch: Kathryn und Ross Petras: Very Bad Poetry, Vintage Books 1997 (Kaufempfehlung!).
Arno Schmidt, der alles weiß, lässt genau vier „echte“ deutsche Romantiker gelten: Clemens Brentano, Friedrich de la Motte Fouqué, E.T.A. Hoffmann und Ludwig Tieck. Am wenigsten verwundert Fouqué, weil Schmidt über denselben 1958 die immer noch gültige Standard-Biographie geliefert hat; das Skandalöse an seiner extraknapp gehaltenen Liste ist eher noch, wen er alles nicht erwähnt: Eichendorff, Hölderlin, Novalis, beide Schlegels, Uhland, von Arnim – also die meisten, die unsereinem, die wir nicht gerade „zweimal zehntausend Arbeitsstunden“ (Selbstauskunft; das wären etwa zehn Arbeitsjahre) an eine abseitige Biographie gewandt haben, spontan einfallen mögen.
Ebenso unterschätzt wie vernachlässigt finde ich darunter Ludwig Tieck, der allemal mehr Spaß macht als, sagen wir, der überschätzte, überpräsente und dazu noch heillos überlebte Novalis, wenn man denn wirklich einmal auf Teile seines Werks stößt.
Sehr vereinzelt findet man noch den bedauernden Hinweis: „Eine umfassende Werkausgabe, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen könnte, gibt es nicht. Zum Teil muss man auf die Einzelausgaben oder die von Tieck selbst besorgte Ausgabe der Schriften zurückgreifen.“ Letztere ist von 1828 bis 1854. Selbst der Deutsche Klassiker Verlag hat bezeichnender Weise die auf zwölf Bände – und auf weitgehende Vollständigkeit – angelegte Gesamtausgabe von Ludwig Tieck nach fünf Bänden abgebrochen. Halbwegs aufzutreiben ist antiquarisch die vierbändige Winkler-Ausgabe von Marianne Thalmann, auch schon wieder von 1963 bis 1966. Die ist verdienstreich und wunderschön, beansprucht aber gar nicht erst, vollständig zu sein; unter anderem lässt sie die Gedichte weg.
Gerade Ludwig Tiecks Gedichte sind ein Verlust. Die gute Nachricht ist: Ruprecht Wimmer konnte vor dem Abbruch für die Bibliothek Deutscher Klassiker die Gedichte als siebten Band veranstalten, der sogar noch lieferbar ist; Verlagsbeschreibung: „Band 7 der neuen Tieck-Ausgabe versammelt erstmals alle Gedichte Tiecks und erschließt sie durch einen umfassenden Kommentar.“ Die schlechte Nachricht ist: Der Band kostet verlagsfrisch in Leinen mal kurz 76 Euro, in Leder 138. Irgendwas ist ja immer.
Um Arno Schmidts Einschätzungen über Ludwig Tieck nicht vollends ungenutzt liegen zu lassen, hören wir auf ihn und bemerken: Der Mann empfiehlt in seinem gesamten Werk spätestens aller „gefühlte“ fünfzig Seiten einmal Die Vogelscheuche von 1835 aufs allerwärmste. Im Druck ist diese „Mährchen-Novelle in fünf Aufzügen“ praktisch nicht vorhanden – außer in der Reihe Haidnische Alterthümer von Zweitausendeins 1979, die man erwischen muss – dafür als Einzel-Kindle 0 Euro, fragt sich nur, in was für einem Zustand. Online steht der Originaltext mindestens fünfmal (na gut, und in bekannter Zuverlässigkeit auf Gutenberg):
- als .pdf-Datei in der Referenzbibliothek bei der Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser;
- digitalisiert in der Bayerischen Staatsbibliothek München,
- als Vorlage fürs Google Book;
- noch einmal in der Bayerischen Staatsbibliothek München.
- Am meisten Spaß macht die Version zum Umblättern im Internet-Archiv.
Was wiederum Die Vogelscheuche im Zusammenhang mit Gedichten angeht, schlagen wir unser Haidnisches Alterthum von 1979 auf Seite 97 auf, um unsere kulturellen Verluste leichter zu verschmerzen. Wo Schmidt recht hat mit seiner nimmermüden Empfehlung, die er in jedem nur entfernt sich anbietenden Zeitungsartikel und Radiodialog unterbringt: Das Ding ist schon rein formal die reine Freude, weil die erzählende Prosa, aufgeteilt in die Akte und Szenen eines Theaterstücks, allerlei Auftritte wie Duette, Trios oder Chöre durchdekliniert. Die „Novelle“ zwischen realistischer und phantastischer Handlung umfasst ausführliche 400 Druckseiten, will also ausreden – aber nicht in nach allen Richtungen zerfasernden Assoziationen wie Jean Paul – ein anderer, höchst berechtigter Liebling von Schmidt –, sondern dicht mit wahren Kabinettstückchen vollgepackt.
Mit der auf Seite 98 besungenen Ranunkel ist vermutlich eine domestizierte Spielart des Asiatischen Hahnenfußes Ranunculus asiaticus) gemeint, dessen Wildform im östlichen Mittelmeerraum vorkommt, der aber im 19. Jahrhundert als mitteleuropäische Gärtnerpflanze beliebt war und auf den die Beschreibung „fein geblättert, sinnig, mit allen Farben prangend, und dennoch so bescheiden“ passt, und eben nicht die allzu artenreiche Gattung des Hahnenfuß Ranunculus innerhalb der schier unüberschaubaren Familie der Hahnenfußgewächse Ranunculaceae. Die Figur des Herrn Ledebrinna, ein ledergesichiger Unsympath und rücksichtsloser Emporkömmling, trägt vor:
——— Ludwig Tieck:
Große musikalische Gesellschaft.
Zweiter Aufzug. Dritte Scene,
aus: Die Vogelscheuche. Mährchen-Novelle in fünf Aufzügen. Erster Theil, Reimer, Berlin 1835,
cit. nach: ders.: Die Vogelscheuche. / Das Alte Buch und Die Reise ins Blaue hinein.
Mit einem Nachwort von Ulrich Wergin, Textredaktion Hanne Witte,
Reihe: Michael Bock, Hrsg.: Haidnische Alterthümer. Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, Band 4,
Zweitausendeins, Frankfurt am Main 1979, Seite 97 bis 100:
[…] Ich wüthe eigentlich nur, fuhr Ledebrinna fort, gegen die Rose, so wie gegen die Verehrer dieser ganz nichtsnutzigen Blume. Was ist denn Schönes oder Preiswürdiges an dieser Kreatur? Selbst die wild an den Zäunen wachsende ist nichts Vorzügliches, und doch liefert sie uns wenigstens noch die Hanbutte, die freilich auch, mit Zucker aufgekocht, oder eingemacht, nichts Sonderliches der gebildeten Zunge bietet. Glauben Sie aber nicht, daß ich so ganz einseitig nur einem wilden engherzigen Systeme folge. Ich weiß wohl Unterschiede zu machen, und einer Blume, die auch nichts weiter als eine solche ist, zolle ich meine unbedingte Huldigung, und möchte sie als Königin auf den Thron der Blüthenwelt setzen, den die unwürdige Rose schon seit lange usurpirt hat.
Und wer wäre das? fragte der Apotheker in der höchsten Spannung.
Kann es jemand anders seyn, erwiederte Ledebrinna, als die einzige, fein geblätterte, sinnige, mit allen Farben prangende, und dennoch so bescheidene Ranunkel?
Des Apothekers Gesicht erglühte hochroth in freudiger Ueberraschung. Ledebrinna aber zog ein Blatt mit Goldschnitt aus dem Busen und las:
Dir sei Preis, holdselige Ranunkel,
Denn du bist nach meinem Sinn
Doch der Blumen Königin,
Deiner tausend Farben Lichtgefunkel
Glänzt wie Frühling durch den Garten hin,
Du bedarfst nicht, nur die Rose sucht das Dunkel,
Thau und Feuchtigkeit der Nacht bringt ihr Gewinn,
Wenn es hell wird, bleicht die Röthe bald dahin:
Wozu also noch vom Rosenlob Gemunkel?
Es ist doch nur eiteles Geflunkel,
Lieber selbst ist mir die Rübe, Runkel,
Nein, Ranunkel,
Du bist aller Blumen Kaiserin,
Ros‘ und Lilie dienen höchstens nur als Kunkel-
Frauen deinem Thron, du bist und bleibst nach meinem schlichten Sinn
Die Königin
Der ganzen Blumenwelt, vielstrahlende Ranunkel!Mit dem letzten Worte verbeugte er sich und übergab dem Apotheker sein Gedicht. Dieser schloß den Dichter heftig in seine Arme und weinte laut. Die meisten wußten nicht, was sie von dieser Scene denken sollten, doch da Wilhelm bemerkte, wie sich Alexander und Amalie anlächelten und eine satirische Miene machten, hielt er sich nicht länger zurück, sondern lachte laut auf, da ihm das Gedicht, die Umarmung, Ledebrinna und der Apotheker äußerst komisch erschienen. Der Apotheker drehte sich unwillig um, und Ledebrinna warf nach seiner Art den Kopf schnell nach der Seite und rollte die dunkeln Augen. indem er mit den Armen schlenkerte. Der Magister Ubique, der das Lachen nicht bemerkt hatte, sagte mit seinem glatten Ton: Wahrlich, Herr von Ledebrinna, höchstverehrtester Freund, Sie haben uns da ein eben so originelles als großartiges Gedicht mitgetheilt, es erinnert an die schönsten Zeiten unsrer Poesie, ja auch durch den schlichten Vortrag an die Antike, und hätten Sie das elegische Sylbenmaaß, den Hexameter und Pentameter, beliebt, so zweifle ich, ob etwas in der Anthologie stehe, welches dieser lichten Geistesblüthe vorzuziehen sei. Auch an Göthe’s schönste Jugend-Periode erinnert uns dieser wahrhaft lyrische Schwung; die kühnen Uebergänge sind ganz in seiner besten Manier.
Reden Sie mir von Göthe nicht! rief Ledebrinna entrüstet aus, ich verbitte es mir, mit diesem Weichling, der unsere Moralität von allen Seiten untergraben hat, in irgend eine Parallele gestellt zu werden. […]
Bilder: via Abecedarian:
- Die Muskete, 1941;
- Paul Galdone für Margaret G. Otto: The Man in the Moon, 1957, detail;
- The Link, 1970;
- Fliegende Blätter, 1924.
Soundtrack: Tom Waits: Hold On, aus: Mule Variations, 1999:
Drei Rosen, sang er, drei Rosen
Update zu Gräflein Du bist verrathen:
Es reißt nicht ab: Wer zu tief nach Theodor Fontanes Volksliedfund Wer geht so spät zu Hofe buddelt, gerät nahezu zwangsläufig an eine weitere Ballade, diesmal ein Original von Friedrich de la Motte Fouqué.
„Wir schließen diesen Abschnitt mit einem Liede“ (George Hesekiel a. a. O.) aus derselben Quelle wie Fontanes Volkslied „zur Geschichte des Geschlechts der Grafen Königsmarck“, die über Fontanes Verwendung hinausgeht, allein schon weil sie auf einen der zentralen Forschungsgegenstände von Arno Schmidt verweist: Fouqué — und sogar, wie Schmidt sie in seinem Standardwerk von 1958 nennt, „einige seiner seiner Zeitgenossen„. Das trägt uns praktischerweise gleich noch eine Ballade in siebenzeiligen Strophen ein. Abermals in gleich zwei Zusammenhängen:
——— George Hesekiel:
Nachrichten zur Geschichte des Geschlechts der Grafen Königsmarck
Verlag von Alexander Duncker, Königlicher Hofbuchhändler, Berlin 1854, Seite 5 bis 6:
In dieser Zeit kommen die Königsmarck in die erste Verbindung mit den Lützelburgern, dem böhmischen Königshause; Rüdiger von Königsmarck, er wird auch Radecke genannt, begleitete den Markgrafen, später Kaiser, Sigismund 1382 nach Ungarn und zeichnete sich vielfach dort aus. Seine glänzendste That aber war 1387 die Befreiung der Königin Maria von Ungarn aus der Gefangenschaft des Banus von Kroatien. Der Sage nach ließ die schöne Königin den tapfern Ritter vor sich bescheiden, grüßte ihn holdselig und sagte ihm, er solle sich eine Gnade ausbitten. Da bat der ritterliche Held um die drei Rosen, welche die Königin in der Hand hielt, die Königin aber reichte ihm die Rosen und dazu dreimal ihren rosigen Mund zum Kuß. Seit der Zeit hieß Rüdiger von Königsmarck im Ungarlande der Rosenritter, seine Nachkommen aber führen noch heut zum Gedächtniß die Königin mit den drei Rosen in der Hand als Helmkleinod auf ihrem Wappen. Einer unserer edelsten deutschen Dichter, Friedrich Baron de Lamotte=Fouqué hat diese Königsmarck’sche Schildsage in der folgenden lieblichen Romanze besungen:
Hier folgt die Romanze. Um nicht wieder unzulässig ins Zitat eines Zitats eingreifen zu müssen, weil Hesekiel nicht wesentlich, aber nicht gerade sehr zuverlässig von Fouqué abweicht, bringe ich den Text nach der Erstausgabe aus: Friedrich de la Motte Fouqué: Alwin. Ein Roman in zwei Bänden von Pellegrin. Erster Band, bei Friedrich Braunes, Berlin 1808, Seite 209 bis 210:
Was meint sie denn mit den drei Rosen, die man meim Einlaß in’s Schloß nennen muß? fragte Alwin.
Emil, rief Hartwald nach dem Zelte hinein, sing uns doch einmal Flaminiens Romanze. Es ist ein altes Liedchen, fuhr er gegen Alwin fort, das ihr so ausnehmend gefällt, und von dem sie die Losung gewählt hat.
Der hübsche Page war indessen heraus getreten, hatte seine Zither gestimmt, und sang:
Mein Knappe, was kommst Du an Stirn und Brust
Und Arm von Blute so roth,
Und reitest als wie in erquicklicher Lust,
Als gäb‘ es nicht Jammer noch Noth?
Drei Rosen, sang er, drei Rosen,
Die pflückt‘ ich aus feindlichem Tosen,
Die pflückt‘ ich aus drohendem Tod.
Und als er kam vor das Königshaus
Der junge siegende Held.
Da trat die Königinn selber heraus:
Nun fordre, was Dir gefällt.
„Drei Rosen, hätt‘ ich drei Rosen,
Wie wollt‘ ich noch hundertmal losen
Um’s Leben auf eisernem Feld!Die Königinn wußte, was Helden gebührt;
Was Helden kann machen gesund.
Da haben ihn schweigende Mägdlein geführt
In Zimmers verschwiegenen Rund.
„Drei Rosen gab sie, drei Rosen,
Drei Küsse mit freundlichem Kosen
Von ihrem hellrosigen Mund.Und drauf im erleuchteten, festlichen Saal
Stand Herzog und Grafe bereit,
Da sagte die Herrin zu dieser Zahl
Sei künftig mit Ehren gereiht,
Und heiße der Ritter von Rosen,
Und führ‘ im Wappen drei Rosen
Und rosenfarb Helmbusch und Kleid.Du hast deine Sache recht gut gemacht, Emil, sagte Hartwald, und kannst billig den besten Sängerlohn verlangen. Nimm hin! Und mit diesen Worten reichte er ihm einen goldnen Becher. Der Page nahm ihn lächelnd an, und tauchte seine schwellenden Lippen in die Gluth des Weins, indeß Alwin, als bemerkte er einen lange Verkannten, plötzlich emporschaute; diese Lippen waren es, welche er in der Einsiedelei sich auf ähnliche Weise in den Wein hatte tauchen sehn, und Emil stand als Emilie vor ihm, als die entführte, reizende Nonne.
Die Bilder sind das Material, das für den Ursprungsartikel erwogen und verworfen wurde:
Günter Rössler für den Fotokinoverlag, Leipzig 1982.
Soundtrack: Über eine nicht mehr als dreigliedrige Assoziationskette:
Motörhead: Heroes, aus: Motörizer, 2008:
Gefühl kann man zu Markt nicht bringen, doch Manuskripte jederzeit
Update zu Ein Nichts, ein Zwischenraum (Jedenfalls sie hattens nicht)
und Indessen Pasternak:
Dichter.
Ihr fühlet nicht wie schlecht ein solches Handwerk sey!
Wie wenig das den ächten Künstler zieme!
Der saubern Herren Pfuscherey
Ist, merk‘ ich, schon bey euch Maxime. […]Wer läßt den Sturm zu Leidenschaften wüthen?
Das Abendroth im ernsten Sinne glühn?
Wer schüttet alle schönen Frühlingsblüten
Auf der Geliebten Pfade hin?
Wer flicht die unbedeutend grünen Blätter
Zum Ehrenkranz Verdiensten jeder Art?
Wer sichert den Olymp? vereinet Götter?
Des Menschen Kraft im Dichter offenbart.Goethe: Vorspiel auf dem Theater, Vers 104 bis 107; 150 bis 157.
Die Russen haben lange gebraucht, bis sie in ihre Literatur eine gewisse Leichtigkeit tragen konnten — eigentlich erst Puschkin in einem Jahrhundert, als deutsche Dichter mit ihrer ersten Décadence der Romantik beschäftigt waren. Alles davor war erdenschwere Religiosität und Panegyrik, und dann blühte praktisch alles zahlreich, üppig und wie über Nacht, quasi Barock, Klassik, Romantik und dämmernde Moderne auf einmal. Als Puschkin für seinen Eugen Onegin einen Vorspann zum 1. Kapitel suchte, fand er Anregung im deutschen Faust, genauer im Vorspiel auf dem Theater. Was die russische Seele halt so unter Leichtigkeit versteht.
Unten folgt — meines Wissens als Internet-Premiere — die Übersetzung von Theodor Commichau 1916 nach der vergriffenen Insel-Ausgabe, die ihrerseits die DDR-Ausgabe bei Aufbau wiedergibt. Dieselbe Übersetzung verwendet auch die wohl seltenste und dabei, wie sich begründen lässt, wichtigste deutsche Puschkin-Ausgabe: die vierbändige Auswahl aus dem Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau 1950. Wladimir Neustadt, der als Herausgeber zeichnet, dessen voller Name aber ausschließlich im Klappentext der weit späteren Insel-Ausgabe preisgegeben wird, formuliert es in seinen Anmerkungen zum ersten Band Gedichte mit Klassenbewusstsein:
Das „Gespräch“ wurde erstmalig als Vorwort zur Einzelausgabe des „Eugen Onegin“ 1825 gedruckt.
Puschkin war einer der ersten Adligen in der russischen Literatur, der sein Leben auf die Einnahmen aus seinen literarischen Werken gründete, obwohl die Adelskreise damals mit großer Verachtung auf die Schriftsteller von Beruf hinabblicken. Dieses Gedicht ist zum Verständnis dee Haltung Puschlkins zur Poesie von großer Bedeutung. Puschkin betont die Freiheit und Unabhängigkeit seines Schaffens vom Geschmack des Mobs der Großen Welt.
Der Hinweis auf den Faust erscheint noch nicht in Moskau 1950, aber dann bei Aufbau, Ost-Berlin 1973, und mit nicht weniger real existierendem Sozialbewusstsein, das von Insel im westdeutschen Frankfurt übernommen wurde:
Als Vorspann zur Ausgabe des 1. Kapitels „Eugen Onegin“ gedacht. Puschkin, dem es auf die Unabhängigkeit der dichteischen Inspiration von jeglichem Mäzenatentum und der absolutistischen Staatsdoktrin ankam, verschloß nicht die Augen vor den unausweichlichen Auswirkungen einer voranschreitenden Kapitalisierung des Büchermarktes. Um die ihrem Inhalt nach gegen alle romantisierenden Illusionen gerichteten Schlußzeilen des Dialogs zu unterstreichen, verzichtete er bewußt auf die Versform. Eine Anregung zu seinem „Gespräch“ erhielt Puschkin durch Goethes „Vorspiel auf dem Theater“ zum ersten Teil des „Faust“.
Знамя народное пусть от победы к победе ведёт. Wo Puschkin in seinem Gedicht auf die Versform verzichtet, und auf welche Grundlage ihm das als bewusstes Tun unterstellt werden kann, wird der anmerkende Herausgeber Harald Raab hoffentlich selber verstehen. Dieser „Vorspann“ erscheint weder in allen russischen noch gar den deutschen Ausgaben vom Onegin, aber umso zuverlässiger, weil exemplarisch für Puschkins Kunstauffassung, in den Gedichtsammlungen.
Puschkins Inspiration datiert vom 26. September 1824. Die erste deutsche Übersetzung stammt von Dr. Robert Lippert in: Alexander Puschkin’s Dichtungen, zweiter Band, Verlag von Wilhelm Engelmann, Leipzig 1840, Seite 1 bis 13. Mit Goethes Vorspiel auf dem Theater verbindet Puschkin der Konflikt zwischen Idealismus des künstlerischen Schaffens und kommerzieller Verwertbarkeit, den weder Goethe, Puschkin noch der nachfolgende russische Kommunismus lösen konnte. Der Kapitalismus übrigens auch nicht.
Das Bildmaterial (für das ich im Dienste des Layouts lieber drei Hochformate gefunden hätte, aber mach was) zeigt die Inhaber unabhängiger Buchhandlungen in Sankt Petersburg via Elisabeta Zelenina für die örtliche Novaja Gazeta vom 31. August 2015.
Besonderer Dank für ihre Aufmerksamkeit, Anteilnahme und Auswahl-Ausgabe aus dem Verlag für fremdsprachige Literatur ergeht an die Hochhaushex!
——— Alexander Sergejewitsch Puschkin:
Gespräch zwischen Buchhändler und Dichter
Razgovor knigoprodavca a poetom, 26. September 1824,
teilweise verwendet in der Vorrede zu Eugen Onegin,
übs. Theodor Commichau 1916,
nach: Gesammelte Werke 1: Gedichte, Insel Verlag Frankfurt am Main 1973, Seite 197 bis 203:
Buchhändler
Euch bringt das Dichten wahrlich Segen:
Ein bißchen Müh so nebenher,
Und schon hat Fama allerwegen
Hinausposaunt die frohe Mär:
Ein groß Poem sei Euch gelungen,
Entsprossen aus Genie und Fleiß;
Ich bin gespannt auf Äußerungen,
Wohlan denn, stellt mir Euren Preis.
Ich tausche Eure Musenfrüchte
Geschwind in blanke Münze ein
Und kaufe jedes Blatt Gedichte
Für einen guten Kassenschein.
Ihr seufzt, mein Lieber? Darf man fragen
Weshalb?Dichter
Mir träumt‘ von fernen Tagen:
Ich dachte jener schönen Zeit,
Da ich, von Schaffenslust getrieben,
Ein freier Sänger, gottgeweiht,
Aus Neigung, nicht um Sold geschrieben.
Ich sah im Geist mein Bergasyl,
Das Obdach einsam süßer Stunden,
Wo einst so gern sich eingefunden
Die Muse zum Gedankenspiel.
Nur Harmonie war dort mein Ziel;
Dort, mir gesandt von Zaubermächten,
Umschwebte lockend Bild um Bild,
Von himmlisch reinem Glanz erfüllt,
Mich in begeistrungsvollen Nächten.
Und alles rief Entzücken wach:
Der Mond, die Flur im Duft der Ähren,
Das Sturmgeheul ums morsche Dach,
Der greisen Pflegerin Wundermären.
Ein Dämon lenkte mich empor
Aus meiner Muße, meinen Spielen,
War um mich stets und sang dem Ohr
Süßheimlich Melodien vor –
Und sehnsuchtschweres, warmes Fühlen
Durchwogte meine volle Brust.
Ihr tiefstes Wunder ward erschlossen:
In schwungvoll klaren Rhythmen flossen
Die Worte mir – wie unbewußt
In schönem Gleichmaß hingegossen.
Wetteifernd stritt mit meinem Sang
Der Frühlingssturm, des Waldes Rauschen,
Der Meerflut nächtlich dunkler Drang,
Des frischen Bächleins muntres Plauschen.
Damals, im Schoß der Einsamkeit
Still schaffend, war ich nicht bereit,
Mein Kleinod an den Plebs zu wagen
Und was der Muse Kuß geweiht
Für schnödes Geld zu Markt zu tragen.
Ich wahrte treu mein höchstes Gut,
Gleichwie des Jünglings Herz in Glut
All seine Liebe, sein Entzücken
Verborgen hält in stolzer Hut
Vor unrein pöbelhaften Blicken.Buchhändler
Je nun, der Ruhm ersetzte Euch
Das stille Glück im Idealen;
Ihr seid bekannt, an Ehren reich,
Derweil sich hier in Staubregalen
Zu Haufen Vers und Prosa staut
Und ganz umsonst nach Lesern schaut,
Davon die meisten schlecht bezahlen.Dichter
O glücklich, wer im Herzensschrein,
Verschlossen hielt der Musen Gabe,
Wunschlos, jemals bedankt zu sein
Von seiner Mitwelt, seinem Grabe;
O glücklich, wer in edler Scham,
Von keinem Ruhmesdorn umschlungen
Und sicher vor den Lästerzungen
Als Namenloser Abschied nahm!
Trug, blinder noch als Hoffnungsträume,
Was ist denn Ruhm? Des Lesers Gunst?
Der Albernheit Entzückungsschäume?
Des läst’gen Laffen blauer Dunst?Buchhändler
Byron wie auch Shukowski fanden
Gleich bittre Worte schon; trotzdem
Hat alle Welt ihr Glanzpoem
Gewürdigt und für Geld erstanden.
Ja, Euer Los ist Neides wert:
Bald züchtigt, bald bekränzt der Dichter,
Zerschmetternd trifft sein Flammenschwert
Mit ew’gem Fluch die Bösewichter;
Dem Helden singt er schönsten Lohn,
Und auf Cytherens goldnem Thron
Erhöht er seiner Liebsten Füße.
Lobpreisen langweilt Euch zwar schon,
Allein der Weiber Herz braucht Süße.
Kurz, schreibt für sie; ihr Ohr entzückt
Anakreons galantes Kosen:
Der Kranz von Helikon beglückt
Die Jugend weniger als Rosen.Dichter
O frühen Irrwahns tiefe Schmach,
Verblendung junger Eigenliebe!
Einst lief auch ich im Weltgetriebe
Den Spuren hübscher Weiber nach.
Mit Lächeln hat auf meine Lieder
Die holde Wimper Dank getaut,
Von weichen Lippen klingt er wider,
Bestrickend, mein Verführerlaut.
O still davon! Solch Opfer bringen
Kann ich nicht mehr, ihr Sklave nur;
Mag doch das Schoßkind der Natur,
Der geile Jüngling sie besingen.
Was sind sie heut mir? Still dahin,
Vertieft in Andacht, fließt mein Leben;
Der ernsten Leier Weisen schweben
Hoch über eitlem Flattersinn.
Unkeusch ist ihr Gefühl, ihr Denken,
Und nimmermehr verstehn sie mich:
Begeistrung, wie sie Götter schenken,
Ist ihnen fremd und lächerlich.
O wenn mitunter zum Entsetzen
Solch Lied im Ohr mir widertönt,
Erkenn‘ ich schaudernd, welchen Götzen
Einst meine Lüsternheit gefrönt!
Ich Narr, wonach hab‘ ich gerungen?
Für wen den stolzen Geist entehrt?
Für welch Idol mich sinnbetört
Zu Jubelhymnen aufgeschwungen?Buchhändler
Wie prächtig grollt so ein Poet!
Respekt vor Euren tiefren Gründen,
Doch – sollte gar kein Herz sich finden,
Das ausnahmsweise Euch versteht?
Kein Wesen, wert des Dichterdranges,
Das Euren Liebesdurst erquickt
Und mit den Blüten Eures Sanges
Die eignen vollen Reize schmückt?
Da schweigt Ihr nun.Dichter
O schont den Schlummer,
Dem mein Poetenherz sich weiht;
Erinnrung weckt nur neues Leid.
Was fragt die Welt nach meinem Kummer?
Ich bin ihr fremd. Birgt meine Brust
Ein teures Bildnis, treu beschlossen?
Hab‘ ich um Liebe je gewußt?
Je Tränen still für mich vergossen,
Wenn sehnsuchtskrank die Seele war?
Wo ist sie, deren Blick noch eben
Mir zugelächelt himmlisch klar?
Zwei kurze Nächte – war’s mein Leben?…
. . . . . . . . . . . . . . .
Was soll’s? Mein Seufzer rührt ja nicht,
Und was mein Weh in Worten spricht,
Gleich irrem Stammeln eines Toren.
Ein Herz zwar lebt, das mich vernimmt,
Doch ach, nur bebend, schmerzverloren.
So war’s vom Schicksal vorbestimmt.
Wem weih ich nun die edlen Triebe?
Nur eine gab’s, vor ihr allein
Erschloß in heil’ger, lautrer Liebe
Des Sängers Brust sich keusch und rein.
Sie hätte mir, mich aufzuraffen,
Die frische Jugend neu geschenkt,
Die Phantasie zum frohen Schaffen
In freie, lichte Bahn gelenkt!
Sie hätte, sie allein, mir sinnig
Gedeutet mein verworren Lied
Und mir im Herzen hell und innig
Als heilger Liebesstern geglüht.
Doch ach, umsonst war Wunsch und Bangen!
Kein Flehen, keine Schwüre drangen
Zu ihres Busens stolzer Wehr:
Sie lieh dem irdischen Verlangen,
Gleich einer Gottheit, kein Gehör …Buchhändler
Und so, von Amor schnöd betrogen,
Enttäuscht durch unbelohnte Müh,
Habt Ihr Euch leider viel zu früh
Der Pflege Eurer Kunst entzogen.
Und nun, entrückt der lauten Welt
Und deren Sucht nach Modeneuheit,
Was habt Ihr nun erkoren?Dichter
Freiheit.Buchhändler
Sehr schön. Doch laßt Euch, wenn’s gefällt,
Von meinem klügren Rate leiten:
In unsern rücksichtslosen zeiten
Gibt’s keine Freiheit ohne Geld.
Und Ruhm, was ist’s? Ein bunter Flicken,
Auf Dichters Bettelrock genäht.
Gold, Gold, nur Gold kann uns beglücken,
Drum jagt nach Gold von früh bis spät!
Nein, kommt mir nicht mit andren Dingen,
Euch Herrn Poeten kenn ich gut:
Ihr prahlt mit Eures Werks Gelingen,
Solang im Rausch der Schaffensglut
Gedanken kühn dem Hirn entspringen;
Doch kaum zerrinnt die tolle Flut,
Lähmt Überdruß Euch gleich die Schwingen.
Drum kurz und bündig zum Bescheid:
Gefühl kann man zu Markt nicht bringen,
Doch Manuskripte jederzeit.
Was zaudert Ihr? Die Leser harren,
Mich überläuft das Publikum,
Reimschmiede, Journalisten scharren
Vor meiner Ladentür herum;
Der braucht, wovon sein Herz was hätte,
Und der ist auf Kritik bedacht:
Mit Eurer Leier wird, ich wette,
Noch wunderschön Profit gemacht.Dichter
Sie haben vollkommen recht. Hier mein
Manuskript. Schließen wir gleich ab.
Sankt Petersburger Buchhändler/-innen: via Елизавета Зеленина: Книжники. Владельцы шести независимых книжных заведений Петербурга назвали книги, коорые точнее прочих отражают сегодняшнюю реальность, Новая Газета, 31 августа 2015:
- Дарья Чилякова (Darja Tschiljakova) von Подписные издания;
- Михаил Богданов (Michail Bogdanov) vom Comicladen 28-й;
- Анна Изакар (Anna Izakar) von Порядок слов;
- Михаил Маляров (Michail Maljarov) von Фаренгейт 451;
- Ольга Кузьмина (Olga Kuzmina) von Книги и кофе;
- Мария Левченко (Marija Levtschenko) von Свои книги.
Russische art pour l’art: Белое Злато: Девушки поют в Кафе Русские песни, ca. 2017:
Nachtstück 0024: I wish you were dead, my dear
Update zu Wenn Schnee bedeckt mein Haar einmal,
Grabesdunstwitterlich,
So singet laut den Pillalu (Och orro orro ollalu)
und Das Angedenken der Zuckerlust:
——— Algernon Charles Swinburne: Satia te Sanguinefrom: Laus Veneris, and Other Poems and Ballads,
|
——— Algernon Charles Swinburne: Satia te Sanguinedeutsche Nachdichtung:
|
Satia te Sanguine quem semper sitisti: und Cum priuilegijs Regis Christianissimi / Serenissimæ Infantis et Ordinum confoed. a.o 1630: Paulus Pontius nach Peter Paul Rubens: The Head of Cyrus brought to Queen Tomyris, Kupferstich auf Papier 1630, 58,9 cm auf 40,3 cm, The Trustees of the British Museum.
Sucker love is heaven sent: Placebo: Every You Every Me, aus: Without You I’m Nothing, 1998:
Like the naked leads the blind,
I know I’m selfish, I’m unkind.
Sucker love, I always find
Someone to bruise and leave behind.
#gothiclyrik
Ein Buch gibt keine Gelatinesuppe
Update zu Die alte und neue Inertia (Warum hast du nichts gelernt?)
und Your open hand but shows our loss:
Denkenden und fühlenden Menschen wird niemals klar werden, was Schönheit um ihrer selbst willen so gleichgültig, wenn nicht gar schädlich machen soll. Die dergleichen voraussetzen, gelten als nüchtern, zielstrebig und daher erfolgreich. Bei genauerem Besehen will man nichts mit ihnen zu tun haben. Auch das wird ihnen egal sein.
Ein Thema, das gerade angesichts des aktuellen Zustands der Welt nicht einfach in der Luft herumwabert, sondern jeden Tag lodernder brennt. Ausnahmsweise erspare ich mir deshalb einen penibel korrigierten Text und bringe einen gekürzten, dafür handlichen, der sich den Philistern zum In-die-Fresse-Hauen eignet.
Das französische Original von Gautiers Erst- und Hauptwerk Mademoiselle de Maupin steht online, unser Zitat handelt aus dem ausführlichen préface. Die derzeit gültige Übersetzung von 2011 ist beim Manesse Verlag erhältlich. — Danke an Frank T. Zumbach für Aufmerksamkeit und Anteilnahme!
——— Théophile Gautier:
Théophile Gautier: Nützlichkeit
aus: Mademoiselle de Maupin, Vorwort, 1834;
erste deutsche Übersetzung: Ilna Ewers-Wunderwald, Verlag der Funken, Leipzig 1908:
Neben den moralischen Journalisten ist … eine Prozession kleiner Champignons einer … recht kuriosen Art aufgetaucht … es sind die utilitären Kritiker. „Was nützt dieses Buch?“(sagen sie) „Wie kann man es für die Versittlichung und das Glück der zahlreichsten und ärmsten Klasse verwenden? Was! nicht ein Wort über die Bedürfnisse der Gesellschaft, nichts Zivilisierendes und Progressives! Wie kann man, anstatt an der großen Synthese der Menschheit zu wirken und anhand der historischen Ereignisse die Phasen der regenerierenden und providentiellen Idee zu verfolgen, wie kann man Gedichte und Romane schreiben, die zu nichts führen und das Menschengeschlecht nicht auf dem Weg der Zukunft vorwärtsbringen? Wie kann man sich angesichts so schwerwiegender Angelegenheiten mit der Form, mit dem Stil und Reim befassen? – Was kümmern uns Stil, Reim und Form? Als ob es gerade darum ginge (arme Füchse, die Trauben sind zu grün!) – Die Gesellschaft leidet, sie ist das Opfer einer grossen inneren Zerrissenheit … Aufgabe des Dichters ist es, die Ursache dieses Unglücks zu suchen und es zu heilen. Das Mittel hierfür wird er finden, wenn er mit Herz und Seele mit der Menschheit sympathisiert. (Philanthropische Poeten! das wäre etwas Seltenes und Bezauberndes.) Auf diesen Dichter warten wir, wir sehen ihn innigst herbei …“ Meinetwegen. Doch da wir wünschen, daß unsere Leser bis zum Ende dieses … Vorworts wach bleiben, werden wir diese sehr getreue Nachahmung des utilitären Stils nicht fortsetzen, der von Natur sehr einschläfernd wirkt …
Nein, Schwachköpfe, nein, Kretins, ein Buch gibt keine Gelatinesuppe, ein Roman ist kein Paar nahtlose Stiefel, ein Sonett keine Klistierspritze mit Dauerstrahl, ein Drama keine Eisenbahn, alles Dinge, die für die Zivilisation wesentlich sind und die Menschheit auf dem Weg des Fortschritts vorwärtsmarschieren lassen. (…)
Nichts, was schön ist, ist zum Leben unentbehrlich. Rottete man die Blumen aus, litte die Welt nicht materiell darunter. Wer möchte jedoch, dass es keine Blumen mehr gibt? Ich würde lieber auf Kartoffeln als auf Rosen verzichten, und ich glaubte, es gibt auf der Welt nur den Utilitaristen, der fähig wäre, ein Tulpenbeet auszureißen, um Kohl darauf zu pflanzen.
Wozu dient die Schönheit der Frauen? Vorausgesetzt, eine Frau ist gesundheitlich in Ordnung und imstande, Kinder zu gebären, so wird sie für Ökonomen immer gut genug sein.
Wozu ist die Musik gut? Wozu die Malerei? Wer wäre so närrisch, Mozart Herrn Carrel und Michelangelo dem Erfinder des weißen Mostrichs vorzuziehen?
Wirklich schön ist nur, was zu nichts dienen kann.
Alles Nützliche ist häßlich, denn es ist der Ausdruck irgendeines Bedürfnisses, und die Bedürfnisse des Menschen sind unedel und widerlich, wie seine arme und schwache Natur. Der nützlichste Ort eines Hauses ist der Abtritt.
Das mit dem materiellen Schaden, den der Mangel an Blumen anrichtet, wird heute anders gesehen, selbst von Utilitaristen — die weiterhin davon absehen werden, die Arbeit der Bienen zu verrichten. Das macht den Nutzen schöner Erscheinungen nicht gleichgültiger — sondern offensichtlicher.
Buidl: Rose Matthias Claudius, von der Wölfin, 19. Juli 2019.
Die Schönheit persönlich: Miley Cyrus: Wildflowers von Tom Petty, aus: Wildflowers, 1994:
Wohl dem, der weiß, was recht und wahr, und dies auch übet immerdar
Update zu Wunderblatt 9: Dies ist das Kaktusland und
Ein Haufen belebter Maschinen, welche von der Natur hervor getrieben worden wären, für sie zu arbeiten:
Keine Ahnung, wie man zu zweit einen Roman übersetzt. Elke Link und Sabine Roth haben 1997 für den Cadolzburger ars vivendi Verlag den Silas Marner von George Eliot versucht und tatsächlich zu einem Druckunterlagenschluss etwas zur Veröffentlichung Geeignetes geliefert – das gut genug geraten ist, um es 2018 wiederzuveröffentlichen.
Eine richtig schöne Neuausgabe ist es geworden. Schon rein als Buchobjekt, selbst wenn man es gar nicht erst aufschlägt, geschweige um es zu lesen. Dunkelgrünes grobes Leinen, an dem man die Fäden zählen kann, mit einem stilisierten Webstuhl tief dreingeprägt – beides als gestalterische Referenz an den Beruf des Leinenwebers der Hauptfigur, vielleicht auch an die englische Prachtausgabe von 1907; mal den Buchausstatter fragen –, eher voluminöses Papier, aber streichelfest und nicht die saugfähigen Wischlappen chinesischer Lizenzfreibeuter-„Verlage“ – Lesebändchen. Und damit Alexander Pechmann, der einem zum Thema Moby-Dick an jedem Eck unterläuft, ein Nachwort stiftet, muss wohl auch einiges kommen.
Das Duo der Übersetzerinnen von 1997 hat, wie sich das gehört, 2018 erneut die Köpfe zusammengesteckt und tatsächlich noch was gefunden. Das macht keinen großen Unterschied, aber einen feinen. Es folgt deshalb die betreffende Stelle im Roman und danach das Eigentliche: die Nachbemerkung der Übersetzerinnen. Damit die dergleichen für ein Buch auf drei Druckseiten stiften dürfen, muss nämlich erst recht einiges kommen.
——— George Eliot: Silas Marner: The Weaver of Raveloe1861, Part One, Chapter VI:
|
——— George Eliot: Silas Marner. Der Weber von Raveloe1861, Übs. Elke Link und Sabine Roth,
|
Besonders eindrucksvoll an der Verbesserung von 2018 ist das ausführlich ins Metrum geschriebene „übet“, das nicht mehr als „üb“ mit oder ohne Apostroph oder gar ersatzlos verschluckt wird und damit seinen Doppelsinn als Üben von musikalischen Fertigkeiten annehmen kann. Das geht so:
——— Elke Link und Sabine Roth:
Nachbemerkung der Übersetzerinnen
in: George Eliot: Silas Marner. Der Weber von Raveloe, ars vivendi, Cadolzburg 2018, Seite 227 bis 229:
Als wir im letzten Jahrtausend mit der Übersetzung von Silas Marner begannen, gab es das Internet noch nicht so, wie wir es heute kennen. Wir gingen in die Bayerische Staatsbibliothek. Und dann ganz schnell wieder hinaus – denn die Übersetzungen, die wir vorfanden, drohten die Suche nach unserem eigenen Ton und die Übertragung des Silas-Marner-Sounds sofort zu überlagern.
Stattdessen besuchten wir Antiquariate und die Münchner Auer Dult, um alte Wörterbücher aufzukaufen. Wir lasen in den Wörterbüchern, lasen Texte aus der Zeit. Wir tauchten in die Soziologie des ländlichen Englands ein, nicht zuletzt, um die Frage der Anreden – Er, Du, Ihr, Sie – differenziert zu entscheiden. Und um den einzelnen Personen und Gruppen zugeordneten Soziolekt und Dialekt zu spiegeln (denn in Silas Marner sprechen alle, auch die Angehörigen der Oberschicht, dialektal gefärbt), mussten wir eine Kunstsprache schaffen, die eher lautmalerisch und über den Rhythmus funktioniert als über regionale Marker. Die teils eigenwillige Zeichensetzung des Originals haben wir dabei bewusst übernommen.
Biografisches über die Autorin war uns nicht wichtig – die Frau, die als Mann schrieb, die Frau , die sieben Namen hatte, die Frau, die lang in wilder Ehe lebte und danach einen zwanzig Jahre jüngeren Mann heiratete, der sich auf der Hochzeitsreise in den Canal Grande stürzte – das alles spielte keine Rolle. Für uns zählte letztlich nur der Text, den wir zu übertragen hatten. Wir übersetzten den Text abwechselnd und lasen gegen, überarbeiteten die eigene Version, dan die der anderen, dann die Überarbeitung der Überarbeitung, waren in konstantem Austausch, bis wir den Eindruck hatten, der Text brummt wie ein Bienenvolk im Bienenhaus.
Für die Neuauflage sahen wir den Text noch einmal durch und stießen auf erstaunlich wenig, was wir nach all den Jahren ändern wollten. Eine „echte“ Verbesserung hat unsere Nachlese allerdings gebracht, und sie illustriert Chancen und Grenzen der heutigen Technik so perfekt, dass wir sie kurz kommentieren möchten. Uns war unser „Psalm“ (s. S. 61) in der Wirtshausszene plötzlich zu unpsalmenhaft erschienen – kein Wunder, denn das Original klingt ebenfalls mehr biedermännisch als biblisch: „I know what’s right, nor only so, / But also practise what I know.“ Dank Google hatten wir nun ruckzuck herausgebracht, dass es in England tatsächlich „Psalmenlieder“ gab – gereimte (und deutlich gestreckte) Nachdichtungen aus dem späten 17. Jahrhundert, die damals regelmäßig in Gebrauch waren –, und dass der von Mr Tookey zitierte Vers aus dem 106. Psalm diese Nachdichtung leicht abwandelt. Und sogar eine deutsche Entsprechung, von Ambrosius Lobwasser aus dem Jahr 1573, fand sich im Netz, die aber just an dieser Stelle so klobig ausfällt, dass kein noch so betulicher Hilfsküster sie im Munde führen würde (und in der noch dazu das Wort „üben“ fehlt, das im weiteren Verlauf wichtig wird).
Womit uns nichts übrig blieb, als selbst noch einmal neu zu dichten und den Vers so abzufassen, dass er einerseits sprechbar ist, andererseits aber auch, zumindest theoretisch, in einem Vespergottesdienst vom Chor gesungen werden könnte. Und so wurde aus unserem ursprünglichen
„Ich weiß, was sich geziemt, doch drüber ’naus
Üb ich, was ich als recht erkannt, auch aus“nicht, wie bei Lobwasser,
„Wohl dem, der die gebott Gotts hält,
Und sein thun darnach recht anstellt“und auch nicht, wie 1861 bei unserem Vorgänger Julius Frese,
„Ich weiß, was recht ist, und noch mehr:
Ich tu’s und üb es auch nachher“,sondern:
„Wohl dem, der weiß, was recht und wahr,
Und dies auch übet immerdar“,sodass der historische Zusammenhang jetzt rekonstruierbar wird, ohne dass darunter die situative Glaubwürdigkeit leidet. Ein kleines nachträgliches Tröpfchen Honig aus dem Bienenhaus von einst …
Editorische Notiz
Die Originalausgabe erschien 1861 unter dem Titel Silas Marner: The Weaver of Raveloe. George Eliot hat diese Fassung später für zwei spätere Neuausgaben durchgesehen und leicht bearbeitet. […]
Elke Link und Sabine Roth
Bilder: Buchcover bei ars vivendi, 2018;
Hugh Thomson: Silas Marner, Teil 1, Kapitel 6: The company at the ‚Rainbow.‘,
MacMillan and Co., London 1907, Seite 74;
Hugh Thomson: Silas trifft Eppie, Allegorie vor Teil I, Kapitel 1, ebenda, 1907, Seite 1.
Soundtrack: Der erwähnte Psalm 106, vertont von Heinrich Schütz:
Confitemini Domino, quoniam ipse bonus,
aus: Cantiones sacrae quatuor vocum, SWV 53-93: XXXIX, SWV 91, 1625,
Cappella Augustana & Matteo Messori, 2013:
Bonus Track: Robert Burns: Tae the Weavers Gin Ye Gang, 1788,
as rendered by The McCalmans, aus: Peace & Plenty, 1986,
mit Bildbeispielen leinenweberischer Projekte von Andy Leisk,
Chief Cook, Bottle Washer, Handweaver, und Curmudgeon, 2011:
Sollen denn aber bloß diese Kasus in der neu aufblühenden Kunstschule gebildet werden (wenn wir bei deutscher Mundart bleiben)?
Update zu Der unverzichtbare Buchstabe e
und The Metrum is the Message:
Es folgt einer der sieben Ur-Artikel für DFWuH, den ich von Anfang 2012 an bringen wollte. Man kommt ja zu nix. Aufgefallen war mir, sagen wir ruhig: schon vor Jahrzehnten, dass Ludwig Tieck im Ernst einmal auf die Idee verfallen war, die grammatischen Kategorien der deutschen Sprache, vor allem die des Kasus, zu charakterisieren. Klasse Idee, muss ich was damit machen. Endlich geht’s.
Was man so deutsche Sprache nennt: Laut der Winkler-Ausgabe der Novellen — in meinem Besitz ist ein von der Herausgeberin Marianne Thalmann gewidmetes Exemplar aus der Erstauflage von 1965, daher noch ohne ISBN — ist Die Gesellschaft auf dem Lande von 1825
[e]ine ausgesprochen märkische Novelle, ehe noch W. Alexis den Märker zum Gegenstand patriotischer Romane macht. Es geht nicht mehr um Kunstfragen, sondern um fundamentale Fragen des preußischen Pflichtgefühls, um Religion, Deutschtum, Landwirtschaft, um die Comédie humaine der adeligen Oberschicht, die von der Führung zurücktritt. Sie gehört zu Tiecks besten Leistungen und ist als sogenannte „Zopfnovelle“ A.W. Schlegels Lieblingsstück gewesen.
Aus eigenem Laienwissen ergänze ich Frau Thalmann: vor Willibald Alexis und noch herausragender vor Theodor Fontane. Eine leichtfüßige, personal bis dialogisch durchgeführte Abhandlung über ostmitteldeutsche Sprachelemente versteht als Antwort auf preußisches Pflichtgefühl wohl eher die in Thalmanns Kommentar vermutete Comédie humaine denn das Deutschtum.
Als Bildmaterial bietet sich wegen der spärlichen Illustration für Ludwig-Tieck-Novellen eine thematisch wertfreie, aber stimmungsvolle Serie aus einer Stadtbibliothek mit Kinderabteilung an: ein bildungsbeflissenes Kinderballett via Librarians Unite von 2017.
——— Ludwig Tieck:
Die Gesellschaft auf dem Lande
Berlinischer Taschenkalender, 1825:
„Nein“, antwortete jener, „diesmal wird es etwas Großes, Idealisches. Du sollst selbst überrascht werden. Aber unausstehlich ist es doch in eurem Lande, das immerwährende unrichtige Sprechen anhören zu müssen. Diese ewige Verwechslung des Mir und Mich könnte einen Rechtgläubigen zur Verzweiflung bringen. Dabei ist das Ding so charakterlos, so recht eigentlich insipide, daß man es nicht einmal zum Spaß in Komödien oder Erzählungen nachahmen kann, denn es würde bloß albern auftreten. Das ist aber nicht wahr, was du mir sonst wohl von deinen Landsleuten erzählt hast, daß sie ohne allen Unterschied bald Mir bald Mich gebrauchen. Ich glaube, zu bemerken, daß es Sekten gibt. Hier im Hause (Adelheid ausgenommen, die richtig spricht, es wäre auch für eine Geliebte entsetzlich, so wie die übrigen zu prudeln) herrscht offenbar der Akkusativ vor: die alte gnädige Frau braucht ihn beständig; ob ich gleich erforscht und ausgegrübelt habe, daß ein so feiner Geist, wie der ihrige, auch hier gründliche und tiefsinnige Unterschiede macht, für die sich auch wohl von einem denkenden Grammatiker etwas sagen ließe. Sie behandelt die Sache nämlich mehr aus dem Gesichtspunkt der Dialekte. Der Akkusativ, als der ionische oder attische, erscheint ihr vornehmer und edler, daher braucht sie ihn unbedingt gegen ihre Domestiken. ‚Christian, geb er mich das Fleisch – nehm er mich hier den Teller weg – Fanchon, tu sie mich die Mütze auf!‘ – Gegen uns aber, wo sie demütiger und höflicher erscheinen will, braucht sie fast stets den dorischen Dativ und sagt daher ganz richtig: ‚Geben Sie mir das Salzfaß;‘ – nur geht sie freilich in der Konsequenz so weit, daß sie auch sagt: ‚Wenn Sie wohl geruht haben, soll es mir freuen.‘ – Indessen ist jedes System, jede folgerechte Lebensweise schon immer etwas Löbliches, und du hast wenigstens darin unrecht, wenn du von den Rednern deines Landes aussagst, daß sie die Anwendung dieses Kasus dem blinden Glücke, dem Zufalle, oder unbeugsamen Fatum überlassen. Sie denken über den Gegenstand; und warum will man sie zwingen, ihn so, wie der eigensinnige Adelung anzusehn?“
Bei Tische mußte Franz wirklich das bestätigt finden, was sein Freund beobachtet hatte. […]
Er ging wieder an seine Arbeit, tröstete dann seinen Freund, und am folgenden Tage, als der alte Römer auch bei der gnädigen Frau gespeist hatte, begaben sich diese und Adelheid in den großen Saal, wo Gotthold seine beiden Bilder aufgestellt hatte. Das eine war eine schlanke, vorschreitende Figur, mit leicht schwebendem griechischem Gewande, die Schultern frei, jugendlichen Angesichts; die zweite ein bärtiger, sitzender Mann, ganz bekleidet und in breiteren Formen, auch älter, der auf seine ausgestreckten Hände niedersah. Als die Eintretenden sich gesetzt, die Bilder betrachtet hatten, und alle nicht wußten, was sie daraus machen sollten, erhob sich der übermütige Gotthold in einem Anfall seiner tollen Laune und hielt an die Versammlung folgende Rede:
„Verehrteste Zuhörer!
Indem ich seit einigen Tagen von dem Vorsatz bewegt wurde, diesem teuren Hause ein Andenken meines Daseins, einen Dank, wenn auch nur kleinen, für die Gastlichkeit und Freundschaft, die ich hier genossen habe, zurückzulassen, kam in den feierlichen Stunden der Mitternacht die Begeisterung zu meinem Lager, und in kurzem Verkehr mit der Göttlichen wußte ich sogleich, was mir zu tun obliege. Wohl klagt unser Schiller mit Recht, daß die Götter von unsrer Erde entwichen seien, die den Griechen Wald, Berg und Fluß belebten und verherrlichten. Besaß doch damals sogar jede Stadt, jeder Hain, jegliches Haus ein Bild der Gottheit, die dort vorzüglich verehrt wurde, und die auch darum gern verweilte. Soll ich an die Pallas der Athener erinnern, an Trojas, Thebens Heiligtümer, an den Pan Arkadiens? Doch wir, was haben wir, was glauben wir, wenn wir auch einen Apollo oder Hermes schnitzeln? Das hat ja die Bildhauerkunst bei uns schon tausendmal beklagt, daß die Veneres uns so wenig bedeuten, daß wir mit diesen Amoribus nichts anzufangen wissen. So wandte man sich mehr wie einmal zu vaterländischen, deutschtümlichen, volksmäßigen, isländischen Göttergebilden. Aber Freia und Thor, Odin und Wodan, Tyr und Loke, samt Balder wollten uns ebensowenig aus der ratlosen Lage helfen, denn ihnen kam noch weniger der Glaube entgegen, und Kenner selbst meinten: ihre Attribute, ihre Fabeln, ihre ganze Statur und Natur vertrügen sich nicht mit dem guten Geschmack. Schon oft hab ich mich im stillen gefragt: warum hat noch keinen Genius der Blitz der Weissagung durchdrungen, uns den Geschmack selbst bildlich darzustellen? Haben wir doch Mütterlichkeit und Kindesliebe, Gesetzgebung und Freiheit, ja Aufklärung gezeichnet und gestochen, wenn auch nur in Vignetten, oder in Kalendern. Warum haut man nicht den Geist der Zeit in Marmor, oder Liberalität, Humanität, die Fortschreitung des Menschengeschlechts, die sich von selbst auch der schwachen Imagination im Bilde darbietet? Hier, vaterländische Künstler, geht ein neuer Weg, hier ist ein frischer, unberührter Steinbruch, um Originalität zu holen, die Lorbeerkränze fallen von selbst herunter. Nun möchten Sie glauben, diese Figuren, da ich mich so ereifere, sollten etwa den Geschmack, den Zeitgeist, den Zustand der Finanzen, den Amortisationsfond oder den Patriotismus darstellen; aber weit gefehlt, begeisterte Freunde, diese Einleitung ward nur vorangeschickt, um eine Bahn zu öffnen, die uns näher liegt, die uns wichtiger sein muß, und auf welcher wir den Griechen gleichkommen, ja sie wohl noch überflügeln können.
Denn das ist jenen Alten immer vorzurücken, daß sie Bild und Sache verwechselten; über ihre Verehrung der Naturkräfte war ihnen, was wir alle noch täglich bedauern, der Schöpfer selber schon verlorengegangen; aber als sie nun Stein, Holz und Erz sogar für das Wesentliche hielten, da war Hopfen und Malz an ihnen verloren. Deshalb ist zu befürchten, die wir schon mit Begriffen Götzendienst treiben, daß wir bei plastischer Bildung dieser gefühlreichen Begriffe ganz in die Anbetung des kälbernen Apis geraten möchten. Um also unsere Gemüter frei zu lassen, und doch der Kunst und Originalität genugzutun, habe ich als der erste kühne Beschiffer eines unbekannten Ozeans den vielleicht zu kühnen Versuch gemacht, in der Gestalt dieses schlanken jungen Mannes dem schauenden körperlichen Auge den Accusativus hinzustellen, der in diesem Hause und in der ganzen Provinz mit ausgezeichneter Andacht verehrt wird. Sei er also der schützende Genius dieses Schlosses, dem schon die Herzen schlagen, der so oft angerufen, zitiert und angewendet wird, in Gelegenheiten, wo andre Provinzen seinem Bruder, dem Dativ, huldigen. So, wie er hier gezeichnet ist, hat diesen feinen, idealischen, sanften Akkusativ mein Geist geschaut, und ich bin der festen Überzeugung, nur in diesem Vorschreiten, in diesem leichten Gange, in dieser Gestalt und Gebärde kann er in die Wirklichkeit treten. Vielleicht, daß der junge Erbe dieses Hauses ihn in Zukunft in Marmor gestalten läßt, nach dieser Skizze, die aus Andacht und Begeisterung hervorgegangen ist. Des Kontrastes wegen sitzt dort sein Bruder, der gedrückte, bescheidne Dativ, erwartend, statt entgegenzukommen, ruhend, statt im Anlauf, gedrungen, breit, stämmig, statt schlank und heiter. Frage jeder sich der teuern Anwesenden, jeder sinnige Beschauer, ob nicht so diese Gebilde schon seit undenklichen Zeiten in seinem Innern schlummerten. Wohlan denn, der Berg ist durchgehauen, der Weg nach der neuen und neuesten Kunst eröffnet! Mir nach, ihr Jünglinge, ihr Genien, beflügelte Geister, die nur darauf warteten, den Himmel der Kunst von einer neuen Seite bestürmen zu können. Wem von euch wird der Nominativ, der seltsam geheimnisvolle Genitiv erscheinen? Von dem wunderlich verrufenen Vocativus, dem frömmsten der sechs Brüder, ist eine kuriose Sage durch alle Länder im Umlauf, so daß er der unwissenden Menge schon oft zum Gelächter gedient hat. Ebenso war Kassandra verspottet, so wurde des Tiresias Weisheit nur zu oft mißverstanden. Aber in manchem frommen Bilde, das die Augen in Ekstase nach oben dreht, von Carlo Dolce und ähnlichen, habe ich geglaubt, die Annäherung an meinen Vocativus, die Ahndung dieses hohen Ideals zu entdecken, wenn die Gemäldegalerien und ihre Register die Figur auch ganz anders taufen.
Sollen denn aber bloß diese Kasus in der neu aufblühenden Kunstschule gebildet werden? Diese hohen Gestalten bewachen ja nur den Eingang zur menschlichen Erkenntnis. Wer sie schon geheimnisvoll nennt, mit welcher Mystik muß er dann Indikativ und Konjunktiv, das nahestehende Präsens, das hohe Perfektum, das verehrungswürdige Plusquamperfektum begrüßen? Ein Name, vor dem schon der Knabe sich beugt, der zum Bewußtsein erwacht. Soll ich das Futurum, das unbegreifliche Kind von diesem, das Paulo post noch nennen? Und der Infinitiv! Müßte er nicht in vielen Palästen als Schutzgott hingestellt wer den, da der Große schon seit lange, der Vornehme, mit lakonischem Bestreben ihn fast einzig und allein gebraucht? Dann noch der heldenkühne Imperativ, dräuenden Blicks, zornig wie Ares, stark wie Thor, majestätisch wie Zeus. Ist erst dieses geschehen, so wage sich ein künftiger Praxiteles oder Apelles selbst an die beiden Aoristen der Griechen, um das Sublimste zu schaffen und deutlich zu machen, was dem menschlichen Geiste vielleicht möglich ist! Sie sehen aber, Verehrte, daß auch schon, wenn wir bei deutscher Mundart bleiben, der Begeisterung unendlich viel zu tun obliegt. Hier stehn sie, die ersten Anfänge dieses glorreichen Jahrhunderts, der Nachwelt verehrungswürdig, weil sie zuerst den Pfropf lösten, der bis dahin den brausenden Champagner in der Flasche festhielt.“ –
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Adelheid hatte während dieser feierlichen Rede das Lachen verhalten müssen, die Mutter hatte sie aufmerksam angehört, ohne ein Wort zu verstehn, Franz war zu ernsthaft, um den Spaß genießen zu können, und der alte Römer ging empfindlich fort, indem er zur gnädigen Frau sagte: „Der junge Herr ist boshaft, das mit dem Vokativ soll auf mich gehn, weil ich die Augen manchmal gen Himmel aufschlage. Woher soll uns aber Trost und Hoffnung kommen, wenn nicht von dort? Das alles, glauben Sie mir, hat ihm der gottlose Müller eingeblasen; aber es ist weder Wahrheit noch Menschenverstand in der Sache.“
Adelheid unterbrach die Ruhe, indem sie ausrief: „Der Vater kommt!“ Alle liefen an das Fenster, ihn zu begrüßen, dann eilten sie die Treppe hinab, die beiden Fremden blieben zurück, und sahen den alten Herrn vom Pferde absteigen, der niemand anders war, als jener Grüne, gegen welchen sie sich an der großen Brücke nicht eben allzu höflich betragen hatten. „Was ist nun zu tun?“ rief der erschrockne Franz: „ist es doch, als wenn alles Unglück auf mich einstürmte.“ – „Nur zweierlei kann geschehen“, antwortete Gotthold mit Fassung: „entweder wir nehmen sogleich Extrapost und reisen ohne Abschied davon, und dies wäre das Mittel für die Feigheit, die alles aufgibt, wo noch nichts verloren ist: oder ich werfe mich in eine graziöse Unverschämtheit, und tu, als wäre gar nichts Besonderes vorgefallen. Dazu gehört aber, wenn es glücken soll, daß du dein Inkognito fahren lässest, denn wenn wir Edelleute sind, so nimmt das die Hälfte der Beleidigung hinweg.“
Hand in Hand gingen die Freunde hinab. Die Familie hatte sich schon begrüßt, und Gotthold eilte auf den Alten zu, umarmte ihn und rief: „Willkommen! willkommen! Aber warum haben Sie sich denn gar so lange erwarten lassen? Ich bin Gotthold von Eisenflamm, dieser hier Franz von Walthershausen Freunde Ihres Sohnes, und Franz ist weitläufig zwar, aber doch mit Ihnen verwandt. Verzeihen Sie uns jenen Spaß, alter, würdiger Freund, wir kannten Sie recht gut, und wollten nur sehen, ob Sie mit Ihrer Würde und Autorität auch wohl einige Geduld verbänden. Und herrlich haben Sie uns junges Volk ohne allen Zorn über die Achsel angesehn; auch dafür unsern Dank, verehrter Mann.“
Der Alte war wie im Sturm erobert, und konnte nicht zürnen. Bald musterte man alle Familienverzweigungen und Seitenverwandte durch, womit sich der alte Adel so gern, vorzüglich auf dem Lande beschäftigt. Franz gewann durch diese langweiligen Ausfädelungen so viel, daß er nun für eine Art von Vetter gelten konnte.
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Am folgenden Tage war der alte Herr mit den jungen Leuten und seiner Gemahlin im Saale. Gotthold war etwas verlegen, was der grüne Mann zu seinen beiden Bildern sagen würde. „Ei!“ rief er aus, „was ist denn das? Das ist hübsch, bei meiner Seele!“ Die gnädige Frau fing an: „Der Mann, der da sitzt, soll ein gewisser berühmter Dadiv sein.“ – „O Weibsvolk! Weibsvolk!“ rief der Vater: „was das schwatzt, David will sie sagen, und verwechselt sogar den berühmten biblischen Namen; aber dazu fehlt ihm Harfe und Krone. Es ist offenbar der bettelnde, blinde Belisar, wie er am Wege sitzt, und ein Almosen erwartet. Recht schön ist seine Not ausgedrückt, wie er so die blinden Augen auf seine ausgestreckten Hände heruntersenkt, als wenn er sagen wollte: ‚Noch habe ich heute nichts bekommen.‘ Und der Große scheint mir Achilles zu sein, wie er aus seinem Zelte heraustritt.“ Gotthold bejahte mit Schweigen. „Sehn Sie“, fuhr jener fort, „wie ich die Gemälde gleich erkenne, wenn sie nur im richtigen Charakter aufgefaßt sind. Es ist aber viel, daß die beiden Herren in der Kunst so treffliche Sachen leisten können.“
Adelheid und die Mutter entfernten sich wieder, die letztere darüber empfindlich, daß ihr Gemahl die Bilder heute ganz anders gedeutet habe, und daß Gotthold ihm darin recht gegeben, der sie gestern, wenn sie ihn auch nicht verstanden hatte, doch mit andern Namen belegte. Adelheid suchte ihr einzureden, daß die eine Figur wirklich Achilles sei genannt worden; sie glaubte dies endlich, nur Belisar und Dativ schien ihr zu weit auseinanderzuliegen, und sie meinte zuletzt; der biederherzige Römer möchte nicht ganz unrecht haben, daß er in Ansehung des Vokativ sich getroffen gefühlt, und es wären wohl noch mehr boshafte Anspielungen in jener Rede und den Bildern verborgen.
Bilder: via Librarians Unite, 2017.
Soundtrack: Harald Juhnke: Ick liebe dir, ick liebe dich, 1987:
Ick lieb nich uff den dritten Fall,
ick lieb nich uff den vierten Fall,
ick lieb uff alle Fälle.
Bonus Track: Tom Waits: Russian Dance, aus: The Black Rider, 1993,
verfilmt von Mikhail Segal an der staatlichen Filmhochschule Moskau (der ältesten der Welt) 1996:
So säumet denn, ihr Freunde, nicht, die Würste zu verspeisen
Update zu Da ist schwäb’scher Dichter Schule, und ihr Meister heißt – Natur!
und Romantische Bieronie (Dei Ironiezeigl konnst sejwa saffa):
Da, wo ich herkomme, wird allenfalls zur Kirchweih so ein Tumult um das Schlachten seiner Mitkreaturen gemacht. Ludwig Uhland war aus Schwaben und zur Zeit seines Metzelsupenlieds 26 Jahre alt. Das ist so jung, da darf man seine siebenzeiligen Strophen sogar noch mit einer ungereimten Waise abschließen (Reimschema ABABCCX).
Laut Uhlands Tagebuch entstand das Lied unter dem Arbeitstitel Verse über die Abschlachtung eines Schweins ab 26. Januar 1814 in Tübingen anlässlich eines musikalischen Abends beim befreundeten Komponisten Friedrich Knapp, tags darauf weitere Verse. Die Uraufführung war eine Lesung im selben Knappschen Kreis am 16. Februar 1814.
Der Text redet dem Fleischverzehr und dem Antisemitismus das Wort — viel gesammelt wird es wohl nicht mehr; die aufwändig belustigende, aber undistanzierte Illustration stammt von 1930. Metzelsuppe in ihrer Bedeutung als Ritual oder als Nahrung findet in den Gegenden, die tradtioneller Weise noch Wert auf dergleichen legen, ganzjährig statt; um sie außerhalb einer dörflichen Feierlichkeit in einem Gedicht zu feiern, an dem man mehr als einen Tag lang sitzt, muss man wohl über einen nicht allein sehr hungrigen, sondern künstlerisch orientierten Freundeskreis verfügen. Immerhin scheint es, der junge Ludwig Uhland war ein glücklicher Mensch.
——— Ludwig Uhland:
Metzelsuppenlied
gesammelt in Gedichte 1815, Seite 72 f.:
Wir haben heut nach altem Brauch
Ein Schweinchen abgeschlachtet;
Der ist ein jüdisch eckler Gauch,
Wer solch ein Fleisch verachtet.
Es lebe zahm und wildes Schwein!
Sie leben alle, groß und klein,
Die blonden und die braunen!So säumet denn, ihr Freunde, nicht,
Die Würste zu verspeisen,
Und laßt zum würzigen Gericht
Die Becher fleißig kreisen!
Es reimt sich trefflich: Wein und Schwein,
Und paßt sich köstlich: Wurst und Durst,
Bei Würsten gilt’s zu bürsten.Auch unser edles Sauerkraut,
Wir sollen’s nicht vergessen;
Ein Deutscher hat’s zuerst gebaut,
Drum ist’s ein deutsches Essen.
Wenn solch ein Fleischchen, weiß und mild,
Im Kraute liegt, das ist ein Bild
Wie Venus in den Rosen.Und wird von schönen Händen dann
Das schöne Fleisch zerleget,
Das ist, was einem deutschen Mann
Gar süß das Herz beweget.
Gott Amor naht und lächelt still,
Und denkt: nur daß, wer küssen will,
Zuvor den Mund sich wische!Ihr Freunde, tadle Keiner mich,
Daß ich von Schweinen singe!
Es knüpfen Kraftgedanken sich
Oft an geringe Dinge.
Ihr kennet jenes alte Wort,
Ihr wißt: es findet hier und dort
Ein Schwein auch eine Perle.
BIld: Ludwig Uhland: Metzelsuppenlied, in: Die fidele Kommode. Siebenhundert Jahre deutscher Humor. Ein kurzweiliges und scherzhaftes Album deutscher Humordichtung mit vielen hundert lustigen Reim-Episteln und launigen Versstücken, Fikentscher Verlag, Leipzig 1930, Seite 134; ex libris MTP, via Michael Studt, 5. Juni 2019.
Soundtrack: eins der wenigen, zum nachhaltigen Volksgut gewordenen Highlights
von Wilhelm Hauff: Reiters Morgenlied (Alte Soldatenweise),
aus: Kriegs und Volkslieder. Stuttgart, in der Metzlerschen Buchhandlung, 1824, Seite 84,
für fränkische Belange bearbeitet von der Frankenbänd, 2005, live in der Nürnberger Katharinenruine 2012:
Nicht immer klagen die Nachtigallen
Update zu den Wanderwochen 02: Das kannst du, Knabe, nicht fassen:
Ja, es gilt jetzt stark genug zu sein, sein Weltbild umzubauen, aber der nachfolgende Dichter namens Ludwig Bechstein ist tatsächlich der Märchen-Bechstein, der oft genug in den gängigen Märchenanthologien vorkommt, dass man ins Grübeln gerät, wodurch sich seine Sammeltätigkeit eigentlich von derjenigen der Brüder Grimm unterschied, bis man zu dem Ergebnis kommt: nicht allzuviel.
Ludwig Bechstein, der letztlich doch vollends unverächtliche Weimaraner Sammler und Herausgeber von Märchen und Sagen aus ganz Deutschland, war unter vielem anderen der Neffe des Naturforschers Johann Matthäus Bechstein, der 1795 eine Naturgeschichte der Stubenvögel herausgab — 1797 gefolgt von der sehr viel folgenreicheren Naturgeschichte der Stubenthiere — herausgab. Die ornithologische Seite animierte den poetischeren (wenngleich gelernten Apotheker) Neffen Ludwig 1846 zu einer Neuen Naturgeschichte der Stubenvögel, diesmal in gereimter Form, aber nicht ohne didaktischen Anspruch, wie man allein dem für einen Gedichtband geradezu epischen Umfang von 369 Seiten anmerkt.
Ausgegraben haben dieses Kleinod die Herausgeber Robert Gernhardt und Klaus Cäsar Zehrer für Hell und Schnell 2004, worin die unten wiedergegebene Nr. 5. eins von 555 komischen Gedichte aus 5 Jahrhunderten ist — auf Seite 475 im Abschnitt Sechster Raum: Die Wunderkammer. Wunderliche und wunderbare Fundstücke aus deutschen Dichterstuben. Deshalb und auch sonst ergeht dringende Kaufempfehlung.
Der Nachweis außerhalb dieses rundum liebenswerten und aufschlussreichen Hausbuchs ergibt: Bechsteins Gedicht heißt Noch ein Nachtigallenlied, weil es nicht nur eins, sondern gar noch zwei davon gibt. Von Gernhardt und Zehrer wird das mittlere davon angeführt; hätten sie das erste genommen, hätten sie Bechsteins Fußnote dazu mitnehmen können, die mein nie ganz abwelkender innerer Linguist der besonderen allgemeinen Aufmerksamkeit