Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Archive for August 2021

Die Wonnen des Fuchsjägers: 4 fundamentale Voraussetzungen eines seligen Lebens

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Update zu Weil er ihn für einen völligen Toren hielt,
Irgendwelche Lümmel oder Gesellschaften von zechenden Strolchen und
Menschenhaß! Ein Haß über ein ganzes Menschengeschlecht! O Gott! Ist es möglich, daß ein Menschenherz weit genug für so viel Haß ist!:

René Magritte, Le domaine d'Arnheim, 1962Das Krächzen der Raben
ist auch ein Stück –
dumm sein und Arbeit haben:
das ist das Glück.

Gottfried Benn: Eure Etüden, 1955.

So einfach könnt’s sein. Auf welchen verschlungenen Wegen der Mensch jedoch zu seinem persönlichen irdischen Glück gelangen kann, drängt sich durch alle Epochen immer wieder als Gegenstand der Philosophie für Fortgeschrittene auf. Schopenhauer darf man nicht ausgerechnet dazu befragen, der meint:

Es gibt nur einen angeborenen Fehler, und das ist die Vorstellung, dass wir existieren, um glücklich zu sein.

Edgar Allan Poe, diametral entgegengesetzt, meint:

Es ist aber doch eine Binsenweisheit, daß wir existieren, um glücklich zu sein.

Im Zusammenhang aus Poes Kritik über Henry Cockton 1842:

But it is a truism that the end of our existence is happiness. If so, the end of every separate aim of our existence — of everything connected with our existence, should be still — happiness. Therefore, the end of instruction should be happiness — and happiness, what is it but the extent or duration of pleasure? — therefore, the end of instruction should be pleasure.

Es ist aber doch eine Binsenweisheit, daß wir existieren, um glücklich zu sein. Wenn das stimmt, dann müßte auch jeder einzelne Bereich unserer Existenz, alles, was überhaupt mit unserer Existenz verbunden ist, das Glück zum Ziel haben. Das Ziel der Belehrung sollte daher Glück sein — und was ist Glück anders als umfassendes und dauerndes Vergnügen? —, weshalb denn auch das Ziel der Belehrung Glück sein sollte.

Nach den Rezepten zur Glückseligkeit von Solon via Herodot (beide nach ruhmreichen Karrieren unbekannt verstorben) und Heinrich von Kleist (erweiterter Selbstmord) hören wir heute auf die Handreichung aus The Domain of Arnheim in verschiedenen Fassungen zwischen 1842 und 1847 von Edgar Allan Poe (im Delirium tremens in einem Baltimorer Rinnstein aufgefunden, den Folgen der Trunksucht erlegen):

———- Edgar Allan Poe:

The Domain of Arnheim

The Columbian Lady’s and Gentleman’s Magazine, March 1847:

The ideas of my friend may be summed up in a few words. He admitted but four elementary principles, or, more strictly, conditions, of bliss. That which he considered chief was (strange to say!) the simple and purely physical one of free exercise in the open air. “The health,” he said, “attainable by other means is scarcely worth the name.” He instanced the ecstacies of the fox-hunter, and pointed to the tillers of the earth, the only people who, as a class, can be fairly considered happier than others. His second condition was the love of woman. His third, and most difficult of realization, was the contempt of ambition. His fourth was an object of unceasing pursuit; and he held that, other things being equal, the extent of attainable happiness was in proportion to the spirituality of this object.

———- Edgar Allan Poe:

Der Park von Arnheim

März 1847, Übersetzung Arno Schmidt, Werke II, Walter-Verlag 1967, Seite 598 f.:

Aber es ist schließlich nicht meine Absicht, einen Essay über Glückseligkeit zu Papier zu bringen. Die Ideen meines Freundes lassen sich in wenigen Worten zusammenfassen. Er ließ nicht mehr als 4 fundamentale Grundlagen, oder, korrekter, Voraussetzungen, eines seligen Lebens gelten. Diejenige, die er als das Wichtigste betrachtete, war (merkwürdigerweise!) eine simple & rein physische, nämlich körperliche Bewegung in freier Luft. „Die Gesundheit, wie man sie durch andere Mittel erzielt,“ pflegte er zu sagen, „ist kaum desselben Namens würdig.“ Als Beleg für sich führte er die Wonnen des Fuchsjägers an; und verwies auf den Pflüger im Erdenschoß als den Einzigen, der, als Klasse betrachtet, mit Recht für glücklicher angesehen werden kann, denn Andere. Seine zweite Voraussetzung war die Liebe des Weibes. Die dritte (und am schwierigsten einzuhaltende) bestand in der Verachtung jeglichen Ehrgeizes. Die vierte war, daß ein Gegenstand unablässigen Trachtens vorhanden sei; und er behauptete, daß, wenn auch alles andre noch gleichmäßig verteilt wäre, das Ausmaß des ereichbaren Erdenglücks genau proportional sei der Vergeistigtheit eben dieses Trachtens.

René Magritte, Le domaine d'Arnheim, 1938, Amy's Art Gallery

Bilder: René Magritte: Le domaine d’Arnheim, 1938, via Amy’s Art Gallery,
und 1962 via Rene Magritte. Biography, Paintings, and Quotes.

Soundtrack: Hurray for the Riff Raff: Pa’lante, aus: The Navigator, 2017:

Oh I just wanna go to work,
And get back home, and be something.
I just wanna fall and lie,
And do my time, and be something.

Written by Wolf

27. August 2021 at 00:01

Veröffentlicht in Romantik, Weisheit & Sophisterei

Wie Champagnerschaum das wilde Gelächter (deine Erdbeer- und Himbeerdüfte)

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Update zu Und wenn es hundert schönere gibt,
O süßes Lied und
La feuille s’émeut comme l’aile dans les noirs taillis frémissants:

Die Leute wollen neben der Politik und dem Aktuellen etwas haben, was sie ihrer Freundin schenken können. Sie glauben gar nicht, wie das fehlt.

(Riesenschnörkel) Ernst Rowohlt, in: Kurt Tucholsky: Schloss Gripsholm, 1931.

Sehr richtig, Herr Verleger: Die Leute sollten sich gegenseitig viel mehr Gedichte schenken. Daher kommt heute der literaturwissenschaftliche Teil erst hinterher.

Rimbaud schrieb Les réparties de Nina im Alter von 15 Jahren als 9. Gedicht in seinem 1. Cahier de Douai, die erste Veröffentlichung war in Le Reliquaire 1891. Zitiert wird nach: Arthur Rimbaud: Sämtliche Werke. Französisch und deutsch, übertragen von Sigmar Löffler und Dieter Tauchmann. Mit Erläuterungen zum Werk und einer Chronologie zum Leben Arthur Rimbauds, neu durchgesehen von Thomas Keck, Insel-Verlag Anton Kippenberg, Leipzig 1976, Seite 52 bis 61:

——— Arthur Rimbaud:

Ninas Antwort

15. August 1870:

Er:

Deine Hüfte an meiner Hüfte,
     Na, gehen wir mal,
Die Nasenlöcher voller Düfte,
     Beim frischen Strahl

Der blauen Früh, da uns umflutet
     Tagwein ringsum? …
Dann, wenn der Wald erschauernd blutet,
     Vor Liebe stumm,

Aus jedem Ast als grüne Tropfen
     Den Knospenschwarm!
Man fühlt’s aus allen Poren klopfen
     Wie Fleisch so warm:

Den Morgenrock in der Luzerne
     Gehst du dahin,
Daß rosig sich die Augensterne,
     Statt blau, umziehn.

Verliebt ins grüne Gefilde,
     Säst rundhinaus
Du wie Champagnerschaum das wilde
     Gelächter aus:

Lachst über mich, den ganz Bezechten,
     Der roh dich zwingt,
So, siehst du wohl! – die schönen Flechten,
     Oh! – mich, der trinkt

Deine Erdbeer- und Himbeerdüfte,
     O welch Genuß!
Lachst über die diebischen Lüfte
     Und ihren Kuß,

Über die liebe Heckenrose,
     Die Ärger gibt,
Lachst meistens über ihn, du Lose,
     Der dich so liebt! …

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Oh, siebzehn Jahr! Das wird ein Leben!
     Vom Wiesenkranz,
Vom liebestrunknen Land umgeben!
     – Komm! näher! ganz! …

Deine Hüfte an meiner Hüfte,
     Im Zwiegesang
Erreichen wir langsam die Klüfte
     Am Waldeshang! …

Dann, grad als ob du stürbst, du Tolle,
     Vor Herzenspein,
Sagst du, daß ich dich tragen solle,
     Und blinzelst fein …

Ich trag dich – wie dein Herz klopft, Schöne! –
     Auf schmalem Steig;
Der Vogel spinnt Andantetöne:
     Im Haselzweig

Ich sprech in deine Lippen leise
     Ich drück dich gut
Und wieg dich Kind nach Ammenweise,
     Berauscht vom Blut,

Das färbt die weiße Haut der Glieder
     Mit Rosenton,
Und spreche dann ganz freiweg wieder …
     Na, – du weißt schon …

Die Wälder sind vom Safte trunken;
     Der Sonnenschein
Streut in den Purpurtraum wie Funken
     Sein Gold hinein.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Abends? … Nach Haus die weißen Wege,
     Die schlängelnd gehen
Wie Weisetiere, die sich träge
     Im Kreise drehn.

Die Apfelbäume, Zeil an Zeile,
     Im blauen Gras,
Man riecht sie über eine Meile,
     Wie gut ist das!

Zurück ins Dorf, wo schon die Gasse
     Einschläft; der Duft
Von frischer Milch durchzieht die blasse
     Nächtliche Luft.

Es riecht nach dampfend warmen Haufen
     Des Mists im Stall,
Durch welchen zieht das lange Schnaufen
     Der Leiber all,

Die bleichen im Laternenscheine;
     Und voller Ruh
Bedreckt sich stolz die Hinterbeine
     Die letzte Kuh …

– Großmutters Nase, die andächtig
     Die Brillenlast
Ins Meßbuch tunkt; der Bierkrug, prächtig
     In Blei gefaßt,

Der schäumt, dieweil die Pfeifen rauchen,
     Wenn schmatzend sie
Gräßliche Hängelippen schmauchen,
     Die dennoch nie

Aufhören, Schinken zu verschlingen,
     Mehr! immerzu!
Das Feuer, dessen Lichter springen
     Um Licht und Truh,

Das blanke Hinterteil des Knaben,
     Der rosigrund
Kniet, ’s weiße Mäulchen tief vergraben
     Im Tassengrund,

Indes sich knurrend, stupsend eine
     Schnauze aufreckt
Und liebevoll das dicke, kleine
     Gesicht ableckt …

Die starre Alte auf dem Stuhle,
     Die finster sinnt,
Schwarz vor der Glut, und auf die Spule
     Den Faden spinnt;

Was man alles in solchen Katen
     Zu sehen kriegt,
Wenn auf den grauen Steinquadraten
     Der Herdschein liegt! …

– Dann klein und duftend unsre Bleibe
     In frischer Nacht
Des Flieders: die verhängte Scheibe,
     Die drunter lacht …

Du kommst, du kommst, nicht wahr, wir wandern?
     Ich freu mich so!
Du kommst, mein Lieb? Und was die andern …

Sie:

Und mein Büro?

——— Arthur Rimbaud:

Les réparties de Nina

15 août 1870:

Lui.

Ta poitrine sur ma poitrine,
     Hein ? nous irions,
Ayant de l’air plein la narine,
     Aux frais rayons

Du bon matin bleu, qui vous baigne
     Du vin de jour ?…
Quand tout le bois frissonnant saigne
     Muet d’amour

De chaque branche, gouttes vertes,
     Des bourgeons clairs,
On sent dans les choses ouvertes
     Frémir des chairs :

Tu plongerais dans la luzerne
     Ton blanc peignoir,
Rosant à l’air ce bleu qui cerne
     Ton grand oeil noir,

Amoureuse de la campagne,
     Semant partout,
Comme une mousse de champagne,
     Ton rire fou :

Riant à moi, brutal d’ivresse,
     Qui te prendrais
Comme cela, – la belle tresse,
     Oh ! – qui boirais

Ton goût de framboise et de fraise,
     O chair de fleur !
Riant au vent vif qui te baise
     Comme un voleur,

Au rose églantier qui t’embête
     Aimablement:
Riant surtout, ô folle tête,
     A ton amant !….

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

– Ta poitrine sur ma poitrine,
     Mêlant nos voix
Lents, nous gagnerions la ravine,
     Puis les grands bois !…

Puis, comme une petite morte,
     Le cœur pâmé,
Tu me dirais que je te porte,
     L’œil mi fermé…

Je te porterais, palpitante,
     Dans le sentier :
L’oiseau filerait son andante :
     Au Noisetier

Je te parlerais dans ta bouche:
     J’irais, pressant
Ton corps, comme une enfant qu’on couche,
     Ivre du sang

Qui coule, bleu, sous ta peau blanche
     Aux tons rosés:
Et te parlant la langue franche…
     Tiens !… – que tu sais…

Nos grands bois sentiraient la sève
     Et le soleil
Sablerait d’or fin leur grand rêve
     Vert et vermeil.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Le soir ?… Nous reprendrons la route
     Blanche qui court
Flânant, comme un troupeau qui broute,
     Tout à l’entour

Les bons vergers à l’herbe bleue
     Aux pommiers tors !
Comme on les sent tout une lieue
     Leurs parfums forts !

Nous regagnerons le village
     Au ciel mi-noir ;
Et ça sentira le laitage
     Dans l’air du soir ;

Ça sentira l’étable, pleine
     De fumiers chauds,
Pleine d’un lent rhythme d’haleine,
     Et de grands dos

Blanchissant sous quelque lumière ;
     Et, tout là-bas,
Une vache fientera, fière,
     À chaque pas…

– Les lunettes de la grand’mère
     Et son nez long
Dans son missel : le pot de bière
     – Cerclé de plomb,

Moussant entre les larges pipes
     Qui, crânement,
Fument: les effroyables lippes
     Qui, tout fumant,

Happent le jambon aux fourchettes
     Tant, tant et plus :
Le feu qui claire les couchettes
     Et les bahuts.

Les fesses luisantes et grasses
     D’un gros enfant
Qui fourre, à genoux, dans les tasses,
     Son museau blanc

Frôlé par un mufle qui gronde
     D’un ton gentil,
Et pourlèche la face ronde
     Du cher petit…..

Que de choses verrons-nous, chère,
     Dans ces taudis,
Quand la flamme illumine, claire
     Les carreaux gris !…

– Puis, petite et toute nichée
     Dans les lilas
Noirs et frais : la vitre cachée,
     Qui rit là-bas….

Tu viendras, tu viendras, je t’aime !
     Ce sera beau.
Tu viendras, n’est-ce pas, et même…

Elle.

Et mon bureau ?

Rimbaud suites, 13. Oktober 2018

Die gedachte Landschaft in Rimbauds, des Ardennensohns, Gedicht dürfen wir uns um Chuffilly-Roche (Stand 2018: 73 Seelen) bei Charleville-Mézières vorstellen: um das Nachfolgeanwesen von Rimbauds Mutter herum — das übrigens 2017 von Patti Smith erworben wurde: als waldiges Mittelgebirge ohne Extreme, aber mit viel Idylle:

Auf Rimbauds Manuskript hieß das Gedicht noch Ce qui retient Nina, das ist: Was Nina zurückhält. Die Insel-Ausgabe von Sigmar Löffler und Dieter Tauchmann 1976 lehrt dazu, Seite 416 f.:

Rimbaud suites, 13. Oktober 2018Aufschlußreich ist das Gedicht in vielerlei Hinsicht: Obwohl das Thema, die Einladung eines Mädchens zum Spaziergang, in der zeitgenössischen Dichtung oft strapaziert war, ist doch die realistische Beschreibung, besonders des Bauernhauses in den Ardennen, poetisch außerordentlich gelungen. Am bedeutsamsten jedoch sind die hier gebrauchten Effekte, das Bemühen nämlich, neue kühne Wortschöpfungen zu finden, wenn z. B. das Gras unter dem Schatten der Bäume blau erscheint. Damit leitet sich eine Entwicklung ein, die im ‚Bateau ivre‚ und in der poetischen Prosa der ‚Illuminations‚ gipfelt.

Und noch etwas ist in diesem Stück bedeutsam! Die am Schluß frappierende Antwort des Mädchens: ‚Et mon bureau?‘ Die herbe Desillusionierung eines schwärmerischen poetischen Aufschwungs des lyrischen Ich durch das profane Nützlichkeitsdenken eines weiblichen Gegenübers erinnert an ähnliche Effekte in Texten Baudelaires (z. B. ‚La Soupe et les nuages‘ aus den ‚Petits Poèmes en Prose‚). In Rimbauds poetischer Terminologie ist ‚Bureau‘ ein symbolkräftiger Schlüsselbegriff für geistige Stupidität. In ‚À la musique‘ charakterisiert er die Bourgeois als ‚gros bureaux bouffis‘, in ‚Les Assis‘ spricht er von ‚fiers bureaux‘.

Images: Rimbaud expliqué, 5. Juni 2021;
Rimbaud suites, 13. Oktober 2018.

Bande sonore: Adaption musicale par Richard Ankri, 2019:

Bonus Track: das vollständige Lied von oben:
Patti Smith: Dancing Barefoot, aus: Wave, 1979:

Written by Wolf

20. August 2021 at 00:01

Veröffentlicht in Impressionismus, Land & See

Zahlenzyklus

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2:2

Ihr Name ist
keiner, ihn ins
Kissen zu flüstern;

deinen Namen wird
sie niemals in
die Nacht schreien.

~~~\~~~~~~~/~~~

13

Trau keiner Zahl
frag alles was
sich zählen lässt

nach seiner Quersumme
der Zahlenfolge 13
und allen Vielfachen

die geschrieben stehen

~~~\~~~~~~~/~~~

3 × 10

Girl With Wild Green Eyes, Clarks, Frühling 2002Einmal waren meine Freundin und ich
ins selbe Mädchen verliebt.
Für einen Tag, nach dem ich
in unserer ersten Wohnung
Staub gesaugt hatte,
lud meine Freundin Cathrin ein.
Beim Hereinwehen
erwischte sie ohne hinzuschauen
meine Hand, drückte sie,
schmiegte eine flaumweiche
Wange an meine unrasierte
und stellte sich vor:
Ich freu mich,
Cathrin mit großem C.
Ich seh’s, sagte ich,
sogar mit zweien,
und schaute an ihr herunter.
Cathrin verstand den Kalauer,
lachte und zog die Sandalen aus.
Sie hatte einen offenen Blick
aus grasgrünen Augen,
dem man nicht ausweichen konnte,
und ein Lächeln,
dem man nicht ausweichen wollte.
Wir saßen auf den Bierkästen,
die wir zu leeren gedachten,
um einen Tisch mit einem Kerzenstumpen,
rauchten alte Zigarren
aus einem vergessenen Zelturlaub,
verbrauchten Säfte
aus zerbeulten Tetrapackungen
und bewachten eifersüchtig,
dass die anderen nicht zu viel
von unserer einzigen
Flasche Portwein wegschwallten.
Es war ein Mädelsabend,
in den ich geraten war,
später durfte ich Cathrin,
ihren Fuß auf den Bierkasten
zwischen meinen Knien gestützt,
die Nägel lackieren.
Siehst du, du kannst es ja,
bewunderte meine Freundin.
Dann musste sie Cathrin
im anderen Zimmer
mit den Betten
etwas zeigen.
Sie komplimentierten mich
unauffällig hinaus
und sperrten sich ein.
Da drin machten sie
ganz lange
kichernde Geräusche
und dann noch einmal so lange
und noch viel länger
gar keine mehr.
Irgendwann wäre es unhöflich gewesen,
noch mehr
von den Bierflaschen zu leeren,
geweckt wurde ich
von einem Duft
aus Zigarre und Portwein links
und von einem
aus Pfirsich und Flieder rechts,
die mich überall ins Gesicht küssten.
Es war zu spät,
um früh raus zu müssen,
Cathrin musste gehen,
bevor die U-Bahnen zu voll wurden,
und verteilte zum Abschied
bis vor die Tür
großzügig ihre lachenden Küsse
an uns beide.
Den Rest der Nacht
schlief meine Freundin mit mir.
Es war ein Dreier.

~~~\~~~~~~~/~~~

99

Das geht vorbei.
Dann bist du alt
und schaust zurück
und merkst dann endlich:
Na siehst du,
es hätte ja,
es hätte doch,
es hätte auch
was werden können,
dies ist ein freies Land,
du hattest deine Chance.
Du schaust zurück,
jetzt bist du alt,
das geht vorbei.

~~~\~~~~~~~/~~~

Satem

Wenn du nichts
hast, woran du
glaubst, glaube den
Sätzen, die dich
von selbst aufsuchen,
um zu bleiben,

sie stimmen ohne
wahr zu werden,
solange du die
Übungssätze aus Omas
alter russischer Grammatik
nicht wörtlich nimmst.

~~~\~~~~~~~/~~~

256

Bunny Yeager, Bettie Page at the Beach, ca. 1955Meine erste Fernbeziehzung
verschwand mit einem
der musste weiter
anreisen als ich.

Meine zweite auch.

~~~\~~~~~~~/~~~

404

Nur im ganz
falschen Licht flammen
ihre Haare rot

ihre Lippen auch
im richtigen wie
die von Bettie

Page not found

Bilder: Jeff Mermelstein: Girl With Wild Green Eyes, Schuhwerbung von St. Luke’s für Clarks, Frühling 2002;
Bunny Yeager: Bettie Page at the Beach, ca. 1955,
via Madison Strake Bernath: Buzzed Books #18: Betty Page, Queen of Curves,
in: The Drunken Odyssey ~ A Podcast About the Writing Life, 13. Januar 2015.

Soundtrack: The Mamas and the Papas: Twelve Thirty, 1967; Maurice Jarre: Miss Lily Langtry, 1972,
für Quentin Tarantino: Once Upon a Time in Hollywood, 2019:

Written by Wolf

13. August 2021 at 00:01

Veröffentlicht in Ehestand & Buhlschaft, ~ Weheklag ~

Unvorworm is alderbest

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Update zu Jug und
Wie Hippo und ich uns einmal Siegfried Lenz geschenkt haben (Träum die nächsten hundert Jahre):

Die schulische Bildung im Nordbayerischen schließt ein oder mehrere Male immer einen Schulausflug auf die Nürnberger Kaiser- samt Burggrafenburg ein. Von der Verbindungamauer zwischen beiden soll etwa anno 1375 der Raubritter Apollonius „Eppelein“ von Gailingen durch einen sagenhaft beherzten Sprung zu Pferde seiner Hinrichtung entkommen sein. Die historische Quellenlage zu einem absichtsvollen Sturz von Ross und Reiter über eine nie genau verzeichnete, aber allemal schwindelerregende Höhe in den Burggraben ist spärlich, allenfalls werden zwei — ebenfalls nie genau datierte — Hufabdrücke in der Brüstung gezeigt, die auf einen derartigen Stunt hin-, ihn jedoch nicht beweisen; vermutlich eine touristisch motivierte Stgeinmetzarbeit. Viel zu gut belegt sind dafür das Sprichwort „Die Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn zuvor“ und ein Erschauern ganzer Schulklassen vor den Hufabdrücken im direkten Sichtvergleich zur Höhe, nein: Tiefe der nach Norden weisenden Burgmauer. Eppeleins sonstiger Wirkungskreis zwischen Gunzenhausen, Neumarkt, Postbauer-Heng und Burgthann, in den er auf seinem Pferd — offenbar ohne gebrochene Beine — geflohen sein soll, liegt übrigens von Nürnberg aus im Süden; seine angebliche Burg über Trainmeusel in der Fränkischen Schweiz wäre nördlich, bleibt aber hypothetisch.

Das macht aber alles nichts, solange die besuchenden Schulkinder hinterher ein Eis kriegen und die Lochgefängnisse mit Folterkammern auf dem Abstieg noch viel schauderhafter, anschaulicher und historisch unwidersprechlich belegt sind: Von Lübeck aus gesehen liegt Nürnberg offenkundig am Main (für Nordlichter: Nürnberg liegt an der mäanderreichen, über jeden einzelnen ihrer über hundert Kilometer idyllischen Pegnitz), jedenfalls noch auf den dortigen Flugblättern des ausgehenden Spätmittelalters bis der anbrechenden Frühneuzeit, je nachdem, wie man es eingrenzen will.

Ungewohnt ist außerdem das Lübecker Platt, das sich geradezu gesucht weit vom üblichen Nürnberger Oberostfränkisch entfernt, in dessen vulgären Ausprägungen als Prolog ledergebundener Speisekarten man die Sage vom „Epp“ immer noch antrifft, wenn man den Schulausflügen entwachsen ist.

——— Jacob und Wilhelm Grimm, Hrsg.:

30./31. Eyn hübsch nye ledt, de Eppele van Geillingen is he geanth, im thone, jdt was ein frisscher frier

Volksblatt gedruckt zu Lübeck um 1550.

(ein ritter zu pferdt in holzschnitt, neben die worte: unvorworm is alderbest, so si he och de dit lest)

Flugblatt, Lübeck ca. 1548, von Jacob Grimm angegeben und hs. überliefert, Quelle nicht ermittelt:

Eppelein von Geillingen 1548Jdt was ein frisscher frier riddersch man
de Eppele van Geilligen is he genant.
   He redt to Nürnberg uth und in
is der van Nürnberg affgesechte viendt.
   hör leve smidt tridt to my heruth.
   Hör leve smidt nu lath di sagen
Du schalt my meym ross veer ysern upslagen.
   Besla my se wol und gesla my se even
jck wil di ein gulden loen darüm geven.
   Do grep he in de taschen syn
he gaff ehm roder gülden neün
   Lever smidt du schalt nicht vel darvan sagen
die hern de motent mirs wol betalen.
   He redt wol vor das wesselhus
he nam den van Nürnberg ein sülvern vögelhuss.
   He redt wol up den Geierssberg
he mäckde den van Nürnberg ehr vögelhuss leer.
   Se schickden em einen baden henna
wor de Eppel van Geillingen wolde liggen de nacht
   Hör lever bader so ick di moth fragen
wat hörste vam Eppele van Geillingen sagen.
   Dat machste wol vor eine warheit yhehen
du heffst en mit dinen ogen gesehen
   Do redt he under dat frouwen doer
dar hengte ein paer rüterstevel vör.
   Doerwechter leve doerwechter myn
wem mögen dit paer rüterstevel syn
   de syn eyns fryen riddersman
de Eppele van Geillingen is he genanth
Eppelein von Geilingen 1852   He nam de stevel up sinen guel
und sloechs dem doerwechter um dat muel
   Sü doerwechter dar heffste din loen
dat segge dinen hern van Nürnberg an.
   De doerwechter was ein behende man
und segts synen hern und der gantzen gemein
   Se schickden twe und ssöventich rüter aengefer
wor de Eppele van Geillingen hen kamen weer.
   Gi söldener yuwe gevangen wil ick nicht syn
sint yuwer twe und ssöventich bin ick men allein.
   Se dreven ehn hindersick up eynen hogen steyn
de Eppele van Geillingen sprinckt in den Meyn.
   Gi Nürnberger söldner synt nicht eerenwerth
juwer neiner hefft kein gudt rüterschpert
   Wo bald he sick uth dem ssadel swanck
und toch dat nige paer stevel an
   Do redt he aver eyn avwe was grön
dar begegnend em eyn koepman dücht sick kön.
   Hör lever koepman nu lath di sagen
wi willen einander um de tasschen slagen
   De koepman was ein behende man
he görde dem Eppele van Geillingen syn tasschen an
   Des koepmans he gantz wol vornam
ein bürin ehm ock up der straten bekam
   De bürinnen he fragde up der stede
wat men vam Eppele van Geillingen seggen dede
   De bürin ehm ein antwert gab
de Eppele van Geillingen weer eyn eyn näckder knäb
   So segge my leve bürin schan,
war hefft di de Eppele van Geillingen gedan
Eppelein von Gailingens Flucht aus Nürnberg, Die Gartenlaube, 1899   De Eppel van Geillingen sick balde bedacht
wo balde he dar ein vür affmacht.
   He nam dat smoldt und mäckd ydt warm
und stöth ehr de hende hevin beth an de arm
   Sü dar so heffste dinen loen
und segge de Eppele van Geillingen hebt dirs gedan.
   He schickde syn Knecht na Farnbach henaff
men scholde em bereden ein gudes mäl.
   Do quam de Eppele van Geillingen in
dho gaff men ehm den kolden win
   De Eppel van Geillingen lügt thom finster henuth
do schoff men em vel wagen vort huss
   Lever werdt do my de dören up
und lath my springen aver uth.
   Do sprank he aver de achte wagen uth
aver den megden gaff he den gevel up
   So licht myn moder am Rin is dodt
darüm moth ick lyden grote nodt.
   Dho toech he uth syn gude rüterschperdt
   Eppele van Geillingen heddest dus nicht gedan
bi dem levende wolden wi di laen
   Den Eppele van Geillingen nemen se an
und bröchten den van Nürnberg den gevangen man.
   Darna förden so en up den ravenstein
man lede ehm den Kop twisschen de Been.

Eppelein-Sprung 2016

Empfohlene, gut erzählte und kompetent illustrierte Fachliteratur: Monisto: Нюрнберг и его легенды. Часть 3. Эппеляйн фон Гайлинген, Монетки на нитке — russisch, daher gern erst durch den Translator gescheucht als: Nürnberg und seine Legenden. Teil 3. Eppelein von Geilingen, Münzen an einer Schnur, 2. April 2017.

Bilder:

Soundtrack: Colin Wilkie & Shirley Hart: Eppelein von Gailingen, aus: Morning, Gatefold Records 1972, und aus britischer Sicht mit abweichender historischer Auffassung:

1.: It was on the road to Nuremberg
a mighty battle I did see,
it took above one hundred men
to bring a fierce knight down.
They fought throughout the afternoon
‚til force of arms it did prevail:
Eppelein von Gailingen
in iron chains was bound.

Chorus: Eppelein,
will not hang in Nuremberg,
will not dance on the gallows tree
nor pay no hangman’s fee.

2.: The soldiers brought him to the town
the Nuremberg judge said: „You must die.“
He laughed at the right scornfully
and this was his reply:
„You may build your gallows high
to the tower above the castle wall,
Eppelein von Gailingen
he will outlive you all.“

3.: The judge he said: „Your death is near,
tomorrow morning you will hang,
a final wish we’ll grant to thee,
before you face the tree.“
„Sit me once upon my horse
that faithfully has carried me,
put the reins into my hands
once more before I die.“

4.: They sat him on his faithful mare
and put the reins into his hands,
he dug the heels into her side,
she answered his command.
One leap, she’s cleared the castle wall,
like the wind raced through the town,
they heard him laugh as he rode away:
„I always shall be free.“

Bonus Track: Die jahrzehntelang unterschätzten Nürnberger Krautrockpioniere
Ihre Kinder: Leere Hände, aus: Leere Hände, Kuckuck Schallplatten 1970:

Written by Wolf

6. August 2021 at 00:01