Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Archive for the ‘Junges Deutschland’ Category

Dornenstück 0010: Antisterntaler

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Update zu Moral, das ist wenn man moralisch ist, versteht Er. (Kartoffeln schmälzen),
Dieses treffliche Märchen vom Schmidt
und Ein holprichtes Lied mit tiefer und rauher Stimme:
:

In my own grim dead times of depression, the sun is brutal, the moon is mocking, the stars are terrifying. But Saturn, spinning in its lonely rings, is kind.

Sam Kriss: The Sadness of Saturn, 10. Oktober 2017.

Josef Walch, Es war einmal ein arm Kind, Kunst + Unterricht, 1978 Josef Walch, Es war einmal ein arm Kind, Kunst + Unterricht, 1978

Das Märchen ist ebenso ein Diminutiv wie das Mädchen, das Diminutiv ein Neutrum, die Augmentativa beider ersteren sind Feminina. Auch keine Erklärung dafür, dass man sich im traurigsten Märchen der Welt „ein arm Kind“ automatisch als Mädchen vorstellt.

——— Georg Büchner:

Marie mit Mädchen vor der Hausthür.

aus: Woyzeck, 1836,
cit. nach Georg Büchner: Werke und Briefe, Münchner Ausgabe, dtv 1988, Seite 252:

Kinder. Marieche sing du uns.

Marie. Kommt ihr klei Krabbe!
               Ringle, ringel Rosekranz,
               König Herodes.
               …
Großmutter erzähl!

Robert Leinweber, Sterntaler, 1893Großmutter. Es war eimal ein arm Kind und hat kein Vater und kei Mutter, war Alles tot und war Niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es ist hingangen und hat gerrt Tag und Nacht. Und wie auf der Erd Niemand mehr war, wollt’s in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an und wie’s endlich zum Mond kam, war’s ein Stück faul Holz und da ist es zur Sonn gangen und wie’s zur Sonn kam, war’s ein verwelkt Sonneblum und wie’s zu den Sterne kam warn’s klei golde Mücke, die warn angesteckt wie der Neuntöter sie auf die Schlehe steckt, und wie’s wieder auf die Erd wollt, war die Erd ein umgestürzter Hafen und war ganz allein und da hat sich’s hingesetzt und gerrt und da sitzt es noch und ist ganz allein.

Woyzeck.. Marie!

Marie. (erschreckt). Was ist?

Woyzeck. Marie]wir wolle gehn, ’s ist Zeit.

Marie. Wohinaus?

Woyzeck. Weiß ich’s?

Quellen:

Fachliteratur: Richard Kämmerlings: Im Hafen: Großmutters Märchen aus „Woyzeck“,
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. Januar 2006.

Josef Walch, Es war einmal ein arm Kind, Kunst + Unterricht, 1978 Josef Walch, Es war einmal ein arm Kind, Kunst + Unterricht, 1978

Bilder: Josef Walch: Es war einmal ein arm Kind …, Kunst + Unterricht, Heft 48, 1978, Seite 46;
Robert Leinweber: Sterntaler, 1893, via Grimm-Bilder.

But Saturn is kind: Dead Fingers: Ring Around Saturn, aus: Dead Fingers, 2012:

Written by Wolf

23. September 2022 at 00:01

Coronadvent 1: Dornenstück 0005: Voilà le Choléra-morbus!

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Update zu Süßer Freund, das bißchen Totsein hat ja nichts zu bedeuten,
Nachtstück 0020: Im rauschenden Wellenschaumkleide (In dem düstern Poetenstübchen)
und Und der liebe Gott sitzt ernsthaft in seiner großen Loge und langweilt sich vielleicht:

Für das Jahr 2020 drängt sich nichts so sehr auf wie ein Rückblick auf vergangene Pandemien.
Es ist Advent. Gott steh uns bei.

Nach einer gnädigen Pause von zwei Jahresläufen erreichte eine zweite Cholera-Pandemie ab 1826 Frankreich über Mekka und Ägypten, die bis 1841 andauern sollte. Heinrich Heine war 1832 in Paris als Journalist zugegen und berichtete für die Augsburger Allgemeine Zeitung so Lebensnahes, dass er es für seine längerlebigen Französischen Zustände weiterverwenden konnte. Für seine gewohnt schonungslosen Begriffe in der Ausdrucksweise nimmt er sich hier sogar noch zurück. Was muss der alles gesehen haben.

Cholera-Opfer in Paris, 1832

——— Heinrich Heine:

Ich rede von der Cholera

für Außerordentliche Beilage zur Allgemeinen Zeitung, Nro. 164 und 165, Augsburg, 29. und 30. April 1832,
in: Französische Zustände, Schluss von Artikel VI, Julius Campe, Hamburg, Dezember 1832,
Historisch-kritische Gesamtausgabe, Band 12/1, Seite 133 bis 142:

Paris, 19. April 1832.

[…]

Ich rede von der Cholera, die seitdem hier herrscht, und zwar unumschränkt, und die, ohne Rücksicht auf Stand und Gesinnung, tausendweise ihre Opfer niederwirft.

Man hatte jener Pestilenz um so sorgloser entgegen gesehn, da aus London die Nachricht angelangt war, daß sie verhältnißmäßig nur wenige hingerafft. Es schien anfänglich sogar darauf abgesehen zu seyn, sie zu verhöhnen, und man meinte, die Cholera werde, eben so wenig wie jede andere große Reputazion, sich hier in Ansehn erhalten können. Da war es nun der guten Cholera nicht zu verdenken, daß sie, aus Furcht vor dem Ridikül, zu einem Mittel griff, welches schon Robespierre und Napoleon als probat befunden, daß sie nemlich, um sich in Respekt zu setzen, das Volk dezimirt. Bey dem großen Elende, das hier herrscht, bey der kolossalen Unsauberkeit, die nicht bloß bey den ärmern Klassen zu finden ist, bey der Reitzbarkeit des Volks überhaupt, bey seinem grenzenlosen Leichtsinne, bey dem gänzlichen Mangel an Vorkehrungen und Vorsichtsmaaßregeln, mußte die Cholera hier rascher und furchtbarer als anderswo um sich greifen. Ihre Ankunft war den 29. März offiziell bekannt gemacht worden, und da dieses der Tag des Mi-Carême und das Wetter sonnig und lieblich war, so tummelten sich die Pariser um so lustiger auf den Boulevards, wo man sogar Masken erblickte, die, in karikirter Mißfarbigkeit und Ungestalt, die Furcht vor der Cholera und die Krankheit selbst verspotteten. Desselben Abends waren die Redouten besuchter als jemals; übermüthiges Gelächter überjauchzte fast die lauteste Musik, man erhitzte sich beim Chahut, einem nicht sehr zweydeutigen Tanze, man schluckte dabey allerley Eis und sonstig kaltes Getrinke: als plötzlich der lustigste der Arlequine eine allzu große Kühle in den Beinen verspürte, und die Maske abnahm, und zu aller Welt Verwunderung ein veilchenblaues Gesicht zum Vorscheine kam. Man merkte bald, daß solches kein Spaß sey, und das Gelächter verstummte, und mehrere Wagen voll Menschen fuhr man von der Redoute gleich nach dem Hotel-Dieu, dem Centralhospitale, wo sie, in ihren abentheuerlichen Maskenkleidern anlangend, gleich verschieden. Da man in der ersten Bestürzung an Ansteckung glaubte, und dieältern Gäste des Hotel-Dieu ein gräßliches Angstgeschrey erhoben, so sind jene Todten, wie man sagt, so schnell beerdigt worden, daß man ihnen nicht einmal die buntscheckigen Narrenkleider auszog, und lustig, wie sie gelebt haben, liegen sie auch lustig im Grabe.

Le Cholera MorbusNichts gleicht der Verwirrung, womit jetzt plötzlich Sicherungsanstalten getroffen wurden. Es bildete sich eine Commission sanitaire, es wurden überall Bureaux de secours eingerichtet, und die Verordnung in Betreff der Salubrité publique sollte schleunigst in Wirksamkeit treten. Da kollidirte man zuerst mit den Interessen einiger tausend Menschen, die den öffentlichen Schmutz als ihre Domaine betrachten. Dieses sind die sogenannten Chiffonniers, die von dem Kehricht, der sich des Tags über vor den Häusern in den Kothwinkeln aufhäuft, ihren Lebensunterhalt ziehen. Mit großen Spitzkörben auf dem Rücken, und einem Hakenstock in der Hand, schlendern diese Menschen, bleiche Schmutzgestalten, durch die Straßen, und wissen mancherley, was noch brauchbar ist, aus dem Kehricht aufzugabeln und zu verkaufen. Als nun die Polizey, damit der Koth nicht lange auf den Straßen liegen bleibe, die Säuberung derselben in Entreprise gab, und der Kehricht, auf Karren verladen, unmittelbar zur Stadt hinaus gebracht ward, aufs freye Feld, wo es den Chiffonniers frey stehen sollte, nach Herzenslust darin herum zu fischen: da klagten diese Menschen, daß sie, wo nicht ganz brodlos, doch wenigstens in ihrem Erwerbe geschmälert worden, daß dieser Erwerb ein verjährtes Recht sey, gleichsam ein Eigenthum, dessen man sie nicht nach Willkühr berauben könne. Es ist sonderbar, daß die Beweisthümer, die sie, in dieser Hinsicht, vorbrachten, ganz dieselben sind, die auch unsere Krautjunker, Zunftherren, Gildemeister, Zehntenprediger, Fakultätsgenossen, und sonstige Vorrechtsbeflissene vorzubringen pflegen, wenn die alten Mißbräuche, wovon sie Nutzen ziehen, der Kehricht des Mittelalters, endlich fortgeräumt werden sollen, damit durch den verjährten Moder und Dunst unser jetziges Leben nicht verpestet werde. Als ihre Protestazionen nichts halfen, suchten die Chiffonniers gewaltthätig die Reinigungsreform zu hintertreiben; sie versuchten eine kleine Kontrerevoluzion, und zwar in Verbindung mit alten Weibern, den Revendeuses, denen man verboten hatte, das übelriechende Zeug, das sie größtentheils von den Chiffonniers erhandeln, längs den Kays zum Wiederverkaufe auszukramen. Da sahen wir nun die widerwärtigste Emeute: die neuen Reinigungskarren wurden zerschlagen und in die Seine geschmissen; die Chiffonniers barrikadirten sich bey der Porte St. Denis; mit ihren großen Regenschirmen fochten die alten Trödel-Weiber auf dem Chatelet; der Generalmarsch erscholl; Casimir Perier ließ seine Myrmidonen aus ihren Boutiquen heraustrommeln; der Bürgerthron zitterte; die Rente fiel; die Karlisten jauchzten. Letztere hatten endlich ihre natürlichsten Alliirten gefunden, Lumpensammler und alte Trödelweiber, die sich jetzt mit denselben Prinzipien geltend machten, als Verfechter des Herkömmlichen, der überlieferten Erbkehrichtsinteressen, der Verfaultheiten aller Art.

Als die Emeute der Chiffonniers durch bewaffnete Macht gedämpft worden, und die Cholera noch immer nicht so wüthend um sich griff, wie gewisse Leute es wünschten, die bey jeder Volksnoth und Volksaufregung, wenn auch nicht den Sieg ihrer eigenen Sache, doch wenigstens den Untergang der jetzigen Regierung erhoffen, da vernahm man plötzlich das Gerücht: die vielen Menschen, die so rasch zur Erde bestattet würden, stürben nicht durch eine Krankheit, sondern durch Gift. Gift, hieß es, habe man in alle Lebensmittel zu streuen gewußt, auf den Gemüsemärkten, bey den Bäckern, bey den Fleischern, bey den Weinhändlern. Je wunderlicher die Erzählungen lauteten, desto begieriger wurden sie vom Volke aufgegriffen, und selbst die kopfschüttelnden Zweifler mußten ihnen Glauben schenken, als des Polizeypräfekten Bekanntmachung erschien. Die Polizey, welcher hier, wie überall, weniger daran gelegen ist, die Verbrechen zu vereiteln, als vielmehr sie gewußt zu haben, wollte entweder mit ihrer allgemeinen Wissenschaft prahlen, oder sie gedachte, bey jenen Vergiftungsgerüchten, sie mögen wahr oder falsch seyn, wenigstens von der Regierung jeden Argwohn abzuwenden: genug, durch ihre unglückselige Bekanntmachung, worin sie ausdrücklich sagte, daß sie den Giftmischern auf der Spur sey, ward das böse Gerücht offiziell bestätigt, und ganz Paris gerieth in die grauenhafteste Todesbestürzung.

Das ist unerhört, schrieen die ältesten Leute, die selbst in den grimmigsten Revoluzionszeiten keine solche Frevel erfahren hatten. Franzosen, wir sind entehrt! riefen die Männer, und schlugen sich vor die Stirne. Die Weiber, mit ihren kleinen Kindern, die sie angstvoll an ihr Herz drückten, weinten bitterlich, und jammerten: daß die unschuldigen Würmchen in ihren Armen stürben. Die armen Leute wagten weder zu essen noch zu trinken, und rangen die Hände vor Schmerz und Wuth. Es war als ob die Welt unterginge. Besonders an den Straßenecken, wo die rothangestrichenen Weinläden stehen, sammelten und beriethen sich die Gruppen, und dort war es meistens, wo man die Menschen, die verdächtig aussahen, durchsuchte, und wehe ihnen, wenn man irgend etwas verdächtiges in ihren Taschen fand! Wie wilde Thiere, wie Rasende, fiel dann das Volk über sie her. Sehr viele retteten sich durch
Geistesgegenwart; viele wurden durch die Entschlossenheit der Kommunalgarden, die an jenem Tage überall herumpatrouillirten, der Gefahr entrissen; Andere wurden schwer verwundet und verstümmelt; sechs Menschen wurden aufs unbarmherzigste ermordet. Es giebt keinen gräßlichern Anblick, als solchen Volkszorn, wenn er nach Blut lechzt und seine wehrlosen Opfer hinwürgt. Dann wälzt sich durch die Straßen ein dunkles Menschenmeer, worin hie und da die Ouvriers in Hemdärmeln, wie weiße Sturzwellen, hervorschäumen, und das heult und braust, gnadenlos, heidnisch, dämonisch. An der Straße St. Denis hörte ich den altberühmten Ruf »à la lanterne!« und mit Wuth erzählten mir einige Stimmen, man hänge einen Giftmischer. Die Einen sagten, er sey ein Karlist, man habe ein brevet du lis in seiner Tasche gefunden; die Andern sagten, es sey ein Priester, ein solcher sey Alles fähig. Auf der Straße Vaugirard, wo man zwey Menschen, die ein weißes Pulver bey sich gehabt, ermordete, sah ich einen dieser Unglücklichen, als er noch etwas röchelte, und eben die alten Weiber ihre Holzschuhe von den Füßen zogen und ihn damit so lange auf den Kopf schlugen, bis er todt war. Er war ganz nackt, und blutrünstig zerschlagen und zerquetscht; nicht bloß die Kleider, sondern auch die Haare, die Scham, die Lippen und die Nase waren ihm abgerissen, und ein wüster Mensch band dem Leichname einen Strick um die Füße, und schleifte ihn damit durch die Straße, während er beständig schrie: voilà le Cholera-morbus! Ein wunderschönes, wuthblasses Weibsbild mit entblößten Brüsten und blutbedeckten Händen stand dabey, und gab dem Leichname, als er ihr nahe kam, noch einen Tritt mit dem Fuße. Sie lachte, und bat mich, ihrem zärtlichen Handwerke einige Franks zu zollen, damit sie sich dafür ein schwarzes Trauerkleid kaufe; denn ihre Mutter sey vor einigen Stunden gestorben, an Gift.

Des andern Tags ergab sich aus den öffentlichen Blättern, daß die unglücklichen Menschen, die man so grausam ermordet hatte, ganz unschuldig gewesen, daß die verdächtigen Pulver, die man bey ihnen gefunden, entweder aus Campher, oder Chlorüre, oder sonstigen Schutzmitteln gegen die Cholera bestanden, und daß die vorgeblich Vergifteten ganz natürlich an der herrschenden Seuche gestorben waren. Das hiesige Volk, das, wie das Volk überall, rasch in Leidenschaft gerathend, zu Gräueln verleitet werden kann, kehrt jedoch eben so rasch zur Milde zurück, und bereut mit rührendem Kummer seine Unthat, wenn es die Stimme der Besonnenheit vernimmt. Mit solcher Stimme haben die Journale gleich des andern Morgens das Volk zu beschwichtigen und zu besänftigen gewußt, und es mag als ein Triumph der Presse signalisirt werden, daß sie im Stande war, dem Unheile, welches die Polizey angerichtet, so schnell Einhalt zu thun. Rügen muß ich hier das Benehmen einiger Leute, die eben nicht zur untern Klasse gehören, und sich dochvom Unwillen so weit hinreißen ließen, daß sie die Parthey der Karlisten öffentlich der Giftmischerey bezüchtigten. So weit darf die Leidenschaft uns nie führen; wahrlich, ich würde mich sehr lange bedenken, ehe ich gegen meine giftigsten Feinde solche gräßliche Beschuldigung ausspräche. Mit Recht, in dieser Hinsicht, beklagten sich die Karlisten. Nur daß sie dabey so laut schimpfend sich gebärdeten, könnte mir Argwohn einflößen; das ist sonst nicht die Sprache der Unschuld. Aber es hat, nach der Ueberzeugung der Bestunterrichteten, gar keine Vergiftung statt gefunden. Man hat vielleicht Scheinvergiftungen angezettelt, man hat vielleicht wirklich einige Elende gedungen, die allerley unschädliche Pulver auf die Lebensmittel streuten, um das Volk in Unruhe zu setzen und aufzureitzen; war dieses letztere der Fall, so muß man dem Volke sein tumultuarisches Verfahren nicht zu hoch anrechnen, um so mehr, da es nicht aus Privathaß entstand, sondern, »im Interesse des allgemeinen Wohls, ganz nach den Prinzipien der Abschreckungstheorie.« Ja, die Karlisten waren vielleicht in die Grube gestürzt, die sie der Regierung gegraben; nicht dieser, noch viel weniger den Republikanern, wurden die Vergiftungen allgemein zugeschrieben, sondern jener Parthey, »die, immer durch die Waffen besiegt, durch feige Mittel sich immer wieder erhob, die immer nur durch das Unglück Frankreichs zu Glück und Macht gelangte, und die jetzt, die Hülfe der Kosaken entbehrend, wohl leichtlich zu gewöhnlichem Gifte ihre Zuflucht nehmen konnte.« So ungefähr äußerte sich der Constitutionnel.

Was ich selbst an dem Tage, wo jene Todtschläge statt fanden, an besonderer Einsicht gewann, das war die Ueberzeugung daß die Macht der ältern Bourbone nie und nimmermehr in Frankreich gedeihen wird.Ich hatte aus den verschiedenen Menschengruppen die merkwürdigsten Worte gehört; ich hatte tief hinabgeschaut in das Herz des Volkes; es kennt seine Leute.

Le Choléra à ParisSeitdem ist hier Alles ruhig; l’ordre règne à Paris, würde Horatius Sebastiani sagen. Eine Todtenstille herrscht in ganz Paris. Ein steinerner Ernst liegt auf allen Gesichtern. Mehrere Abende lang sah man sogar auf den Boulevards wenig Menschen, und diese eilten einander schnell vorüber, die Hand oder ein Tuch vor dem Munde. Die Theater sind wie ausgestorben. Wenn ich in einen Salon trete, sind die Leute verwundert, mich noch in Paris zu sehen, da ich doch hier keine nothwendigen Geschäfte habe. Die meisten Fremden, namentlich meine Landsleute, sind gleich abgereist. Gehorsame Eltern hatten von ihren Kindern Befehl erhalten, schleunigst nach Hause zu kommen. Gottesfürchtige Söhne erfüllten unverzüglich die zärtliche Bitte ihrer lieben Eltern, die ihre Rückkehr in die Heimath wünschten; ehre Vater und Mutter, damit du lange lebest auf Erden! Bey Andern erwachte plötzlich eine unendliche Sehnsucht nach dem theuern Vaterlande, nach den romantischen Gauen des ehrwürdigen Rheins, nach den geliebten Bergen, nach dem holdseligen Schwaben, dem Lande der frommen Minne, der Frauentreue, der gemüthlichen Lieder und der gesündern Luft. Man sagt, auf dem Hotel-de-Ville seyen seitdem über 120,000 Pässe ausgegeben worden. Obgleich die Cholera sichtbar zunächst die ärmere Klasse angriff, so haben doch die Reichen gleich die Flucht ergriffen. Gewissen Parvenüs war es nicht zu verdenken, daß sie flohen; denn sie dachten wohl, die Cholera, die weit her aus Asien komme, weiß nicht, daß wir in der letzten Zeit viel Geld an der Börse verdient haben, und sie hält uns vielleicht noch für einen armen Lump, und läßt uns ins Gras beißen. Hr. Aguado, einer der reichsten Banquiers und Ritter der Ehrenlegion, war Feldmarschall bey jener großen Retirade. Der Ritter soll beständig mit wahnsinniger Angst zum Kutschenfenster hinausgesehen, und seinen blauen Bedienten, der hinten aufstand, für den leibhaftigen Tod, den Cholera-morbus, gehalten haben.

Das Volk murrte bitter, als es sah, wie die Reichen flohen, und bepackt mit Aerzten und Apotheken sich nach gesündern Gegenden retteten. Mit Unmuth sah der Arme, daß das Geld auch ein Schutzmittel gegen den Tod geworden. Der größte Theil des Justemilieu und der haute Finance ist seitdem ebenfalls davon gegangen und lebt auf seinen Schlössern. Die eigentlichen Repräsentanten des Reichthums, die Herren v. Rothschild, sind jedoch ruhig in Paris geblieben, hierdurch beurkundend, daß sie nicht bloß in Geldgeschäften großartig und kühn sind. Auch Casimir Perier zeigte sich großartig und kühn, indem er nach dem Ausbruche der Cholera das Hotel-Dieu besuchte; sogar seine Gegner mußte es betrüben, daß er in der Folge dessen, bey seiner bekannten Reitzbarkeit, selbst von der Cholera ergriffen worden. Er ist ihr jedoch nicht unterlegen, denn er selber ist eine schlimmere Krankheit. Auch der junge Kronprinz, der Herzog von Orleans, welcher in Begleitung Periers das Hospital besuchte, verdient die schönste Anerkennung. Die ganze königliche Familie hat sich, in dieser trostlosen Zeit, ebenfalls rühmlich bewiesen. Beim Ausbruche der Cholera versammelte die gute Königinn ihre Freunde und Diener, und vertheilte unter ihnen Leibbinden von Flanell, die sie meistens selbst verfertigt hat. Die Sitten der alten Chevalerie sind nicht erloschen; sie sind nur ins Bürgerliche umgewandelt; hohe Damen versehen ihre Kämpen jetzt mit minder poetischen, aber gesündern Schärpen. Wir leben ja nicht mehr in den alten Helm- und Harnischzeiten des kriegerischen Ritterthums, sondern in der friedlichen Bürgerzeit der warmen Leibbinden und Unterjacken; wir leben nicht mehr im eisernen Zeitalter, sondern im flanellenen. Flanell ist wirklich jetzt der beste Panzer gegen die Angriffe des schlimmsten Feindes, gegen die Cholera. Venus würde heutzutage, sagt Figaro, einen Gürtel von Flanell tragen. Ich selbst stecke bis am Halse in Flanell, und dünke mich dadurch cholerafest. Auch der König trägt jetzt eine Leibbinde vom besten Bürgerflanell.

Ich darf nicht unerwähnt lassen, daß er, der Bürgerkönig, bey dem allgemeinen Unglücke viel Geld für die armen Bürger hergegeben und sich bürgerlich mitfühlend und edel benommen hat. – Da ich mahl im Zuge bin, will ich auch den Erzbischof von Paris loben, welcher ebenfalls im Hotel-Dieu, nachdem der Kronprinz und Perier dort ihren Besuch abgestattet, die Kranken zu trösten kam. Er hatte längst prophezeyt, daß Gott die Cholera als Strafgericht schicken werde um ein Volk zu züchtigen, »welches den allerchristlichsten König fortgejagt und das katholische Religionsprivilegium in der Charte abgeschafft hat.« Jetzt, wo der Zorn Gottes die Sünder heimsucht, will Hr. v. Quelen sein Gebet zum Himmel schicken und Gnade erflehen, wenigstens für die Unschuldigen; denn es sterben auch viele Karlisten. Außerdem hat Hr. v. Quelen, der Erzbischof, sein Schloß Conflans angeboten, zur Errichtung eines Hospitals. Die Regierung hat aber dieses Anerbieten abgelehnt, da dieses Schloß in wüstem, zerstörtem Zustande ist, und die Reparaturen zu viel kosten würden. Außerdem hatte der Erzbischof verlangt, daß man ihm in diesem Hospitale freye Hand lassen müsse. Man durfte aber die Seelen der armen Kranken, deren Leiber schon an einem schrecklichen Uebel litten, nicht den quälenden Rettungsversuchen aussetzen, die der Erzbischof und seine geistlichen Gehülfen beabsichtigten; man wollte die verstockten Revoluzionssünder lieber ohne Mahnung an ewige Verdammniß und Höllenqual, ohne Beicht und Oehlung, an der bloßen Cholera sterben lassen. Obgleich man behauptet, daß der Katholizismus eine passende Religion sey für so unglückliche Zeiten, wie die jetzigen, so wollen doch die Franzosen sich nicht mehr dazu bequemen, aus Furcht, sie würden diese Krankheitsreligion alsdann auch in glücklichen Tagen behalten müssen.

Es gehen jetzt viele verkleidete Priester im Volke herum, und behaupten, ein geweihter Rosenkranz sey ein Schutzmittel gegen die Cholera. Die Saint-Simonisten rechnen zu den Vorzügen ihrer Religion, daß kein Saint-Simonist an der herrschenden Krankheit sterben könne; denn da der fortschritt ein Naturgesetz sey, und der sociale Fortschritt im Saint-Simonismus liege, so dürfe, so lange die Zahl seiner Apostel noch unzureichend ist, keiner von denselben sterben. Die Bonapartisten behaupten: wenn man die Cholera an sich verspüre, so solle man gleich zur Vendomesäule hinaufschauen: man bleibe alsdann am Leben. So hat Jeder seinen Glauben in dieser Zeit der Noth. Was mich betrifft, ich glaube an Flanell. Gute Diät kann auch nicht schaden, nur muß man wieder nicht zu wenig essen, wie gewisse Leute, die des Nachts die Leibschmerzen des Hungers für Cholera halten. Es ist spaßhaft, wenn man sieht, mit welcher Poltronerie die Leute jetzt bey Tische sitzen, und die menschenfreundlichsten Gerichte mit Mißtrauen betrachten, und tiefseufzend die besten Bissen hinunterschlucken. Man soll, haben ihnen die Aerzte gesagt, keine Furcht haben und jeden Aerger vermeiden; nun aber fürchten sie, daß sie sich mahl unversehens ärgern möchten, und ärgern sich wieder, daß sie deßhalb Furcht hatten. Sie sind jetzt die Liebe selbst, und gebrauchen oft das Wort mon Dieu, und ihre Stimme ist hingehaucht milde, wie die einer Wöchnerinn. Dabey riechen sie wie ambulante Apotheken, fühlen sich oft nach dem Bauche, und mit zitternden Augen fragen sie, jede Stunde, nach der Zahl der Todten. Daß man diese Zahl nie genau wußte, oder vielmehr, daß man von der Unrichtigkeit der angegebenen Zahl überzeugt war, füllte die Gemüther mit vagem Schrecken und steigerte die Angst ins Unermeßliche. In der That, die Journale haben seitdem eingestanden, daß in Einem Tage, nemlich den zehnten April, an die zweytausend Menschen gestorben sind. Das Volk ließ sich nicht offiziell täuschen, und klagte beständig, daß mehr Menschen stürben, als man angebe. Mein Barbier erzählte mir, daß eine alte Frau auf dem Faubourg Mont-Martre die ganze Nacht am Fenster sitzen geblieben, um die Leichen zu zählen, die man vorbeytrüge; sie habe dreyhundert Leichen gezählt, worauf sie selbst, als der Morgen anbrach, von dem Froste und den Krämpfen der Cholera ergriffen ward und bald verschied. Wo man nur hinsah auf den Straßen, erblickte man Leichenzüge, oder, was noch melancholischer aussieht, Leichenwagen, denen Niemand folgte. Da die vorhandenen Leichenwagen nicht zureichten, mußte man allerley andere Fuhrwerke gebrauchen, die, mit schwarzem Tuch überzogen, abentheuerlich genug aussahen. Auch daran fehlte es zuletzt, und ich sah Särge in Fiackern fortbringen; man legte sie in die Mitte, so daß aus den offenen Seitenthüren die beiden Enden herausstanden. Widerwärtig war es anzuschauen, wenn die großen Möbelwagen, die man beim Ausziehen gebraucht, jetzt gleichsam als Todten-Omnibusse, als omnibus mortuis, herumfuhren, und sich in den verschiedenen Straßen die Särge aufladen ließen, und sie dutzendweise zur Ruhestätte brachten.

Honoré de Daumier, Souvenirs d Choléra-MorbusDie Nähe eines Kirchhofs, wo die Leichenzüge zusammentrafen, gewährte erst recht den trostlosesten Anblick. Als ich einen guten Bekannten besuchen wollte und eben zur rechten Zeit kam, wo man seine Leiche auflud, erfaßte mich die trübe Grille, eine Ehre, die er mir mahl erwiesen, zu erwiedern, und ich nahm eine Kutsche und begleitete ihn nach Père-la-Chaise. Hier nun, in der Nähe dieses Kirchhofs, hielt plötzlich mein Kutscher still, und als ich, aus meinen Träumen erwachend, mich umsah, erblickte ich nichts als Himmel und Särge. Ich war unter einige hundert Leichenwagen gerathen, die vor dem engen Kirchhofsthore gleichsam Queue machten, und in dieser schwarzen Umgebung, unfähig mich herauszuziehen, mußte ich einige Stunden ausdauern. Aus langer Weile frug ich den Kutscher nach dem Namen meiner Nachbarleiche, und, wehmüthiger Zufall! er nannte mir da eine junge Frau, deren Wagen einige Monathe vorher, als ich zu Lointier nach einem Balle fuhr, in ähnlicher Weise einige Zeit neben dem meinigen stille halten mußte. Nur daß die junge Frau damals mit ihrem hastigen Blumenköpfchen und lebhaften Mondscheingesichtchen öfters zum Kutschenfenster hinausblickte, und über die Verzögerung ihre holdeste Mißlaune ausdrückte. Jetzt war sie sehr still und vielleicht blau. Manchmal jedoch, wenn die Trauerpferde an den Leichenwagen sich schaudernd unruhig bewegten, wollte es mich bedünken, als regte sich die Ungeduld in den Todten selbst, als seyen sie des Wartens müde, als hätten sie Eile ins Grab zu kommen; und wie nun gar an dem Kirchhofsthore ein Kutscher dem andern vorauseilen wollte, und der Zug in Unordnung gerieth, die Gendarmen mit blanken Säbeln dazwischen fuhren, hie und da ein Schreyen und Fluchen entstand, einige Wagen umstürzten, die Särge aus einander fielen, die Leichen hervorkamen: da glaubte ich die entsetzlichste aller Emeuten zu sehen, eine Todtenemeute.

Ich will, um die Gemüther zu schonen, hier nicht erzählen, was ich auf dem Père-la-Chaise gesehen habe. Genug, gefesteter Mann wie ich bin, konnte ich mich doch des tiefsten Grauens nicht erwehren. Man kann an den Sterbebetten das Sterben lernen und nachher mit heiterer Ruhe den Tod erwarten; aber das Begrabenwerden, unter die Choleraleichen, in die Kalkgräber, das kann man nicht lernen. Ich rettete mich so rasch als möglich auf den höchsten Hügel des Kirchhofs, wo man die Stadt so schön vor sich liegen sieht. Eben war die Sonne untergegangen, ihre letzten Stralen schienen wehmüthig Abschied zu nehmen, die Nebel der Dämmerung umhüllten wie weiße Laken das kranke Paris, und ich weinte bitterlich über die unglückliche Stadt, die Stadt der Freyheit, der Begeisterung und des Martyrthums, die Heilandstadt, die für die weltliche Erlösung der Menschheit schon so viel gelitten!

Denis-Auguste-Marie Raffet, La Barbarie et Le Choléra-Morbus Entrant en Europe, 1831

Bilder:

  1. Darstellung eines Cholera-Opfers in Paris im Jahr 1832,
    via Thomas Zimmer: Das Zeitalter der Pandemien, Die Zeit, 14. Juli 2020;
  2. Le Cholera Morbus: zeitgenössische Karikatur, via Catherine J. Kudlick:
    Learning from cholera: medical and social responses to the first great Paris epidemic in 1832;
  3. J. Roze: Le choléra à Paris, Chardon ainè et fils, Paris 1832, und
  4. Honoré de Daumier: Souvenirs du Choléra-Morbus,
    in: Antoine François Hippolyte Fabre: Némésis médicale illustrée, recueil de satires,
    Bureau de la Némésis médicale, Paris 1840,
    via Cholera Online. A Modern Pandemic in Text and Images: Patients and Victims,
    U.S. National Library of Medicine;
  5. Denis-Auguste-Marie Raffet: La Barbarie et Le Choléra-Morbus Entrant en Europe.
    Les Polonais se battent, les puissances font des protocoles et la France, 1831.

Soundtrack: Lola Ngoma Kadogo: La chanson choléra, aus: Tout est possible, 2012:

Und der liebe Gott sitzt ernsthaft in seiner großen Loge und langweilt sich vielleicht

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Update zu Süßer Freund, das bißchen Totsein hat ja nichts zu bedeuten:

Wie respektvoll hab ich in meiner ersten Heine-Ausgabe immer die Ideen. Das Buch Le Grand gemieden, weil mir das schon in der Überschrift so überwältigend staatstragend schien, dass mein fünzehnjähriges Herzchen, geschweige denn Gehirnchen, nie immer und nimmer verkraftet hätte. Seltsam genug, dass ich dagegen, was das Verkraften angeht, mit Horrofilmen nie ein Problem hatte. Jeder spinnt anders.

Und was für eine Gaudi mir seitdem entgangen ist. So grand ist das Buch Le Grand weder gemeint noch ausgefallen, sondern nur nach einem französischen Tambourmajor Le Grand benannt.

Der später eindringlich wiederholte Einsatz des 11. Kapitels: „Du sublime au ridicule il n’y a qu’un pas“ wird Napoleon zugeschrieben: „Vom Erhabenen zum Schrecklichen ist es nur ein Schritt“ soll er auf der Flucht mit seiner Grande Armée aus Russland am 10. Dezember 1812 zu seinem Gesandten und Vertrauten Dominique Dufour de Pradt zu Warschau geäußert haben, der es in seiner Histoire de l’ambassade dans le grand-duché de Varsovie en 1812 von 1815, deutsch 1816 mitteilt. Heine kann das Buch 1826 in der einen oder in der anderen Sprache gekannt haben, falls Napoleons bon mot bis dahin nicht schon geflügelt war; so oder so beschreibt es Heines eigenen Stil im ganzen Buch Le Grand, wo er Napoleon „erst auf dem Gipfel seiner Macht und Herrlichkeit vorführt und dann den jähen Schicksalswandlel in St. Helena zeigt“ — Anmerkung von Günter Häntzschel in der Hanser-Ausgabe von Klaus Briegleb, Band 2, Seite 819.

Die in dem Buche durchweg wie in einem Brief angeprochene „Madame“ ist vermutlich Rahel Varnhagens Schwägerin Friederike Robert. Unser Zitat setzt ein mit dem 11. Kapitel, unmittelbar nachdem das Haupt Monsieur Le Grands „herab auf die Trommel gesunken“ ist, worauf er „in diesem Leben nie mehr getrommelt“ hat — Kapitel X. Kapitel XI wird zitiert nach der Düsseldorfer Ausgabe, Kapitel XII sollte selbsterklärend sein; beide erscheinen hier ungekürzt.

Un singe qui parle, Filles. Lectrices dans le métro de Paris, Mai 2008 bis März 2017, Flickr

——— Heinrich Heine:

Capitel XI.

aus: Ideen. Das Buch Le Grand, 1826,
in: Reisebilder von H. Heine. Zweiter Theil. Hoffmann und Campe, Hamburg 1827,
Erstausgabe Seite 224 bis 227:

Du sublime au ridicule il n’y a qu’un pas, Madame!

Seite 228Aber das Leben ist im Grunde so fatal ernsthaft, daß es nicht zu ertragen wäre ohne solche Verbindung des Pathetischen mit dem Komischen. Das wissen unsere Poeten. Die grauenhaftesten Bilder des menschlichen Wahnsinns zeigt uns Aristophanes nur im lachenden Spiegel des Witzes, den großen Denkerschmerz, der seine eigne Nichtigkeit begreift, wagt Goethe nur in den Knittelversen eines Puppenspiels auszusprechen, und die tödtlichste Klage über den Jammer der Welt legt Shakespeare in den Mund eines Narren, während er dessen Schellenkappe ängstlich schüttelt.

Sie haben’s alle dem großen Urpoeten abgesehen, der in seiner tausendaktigen Welttragödie den Humor aufs Höchste zu treiben weiß, wie wir es täglich sehen: – nach dem Abgang der Helden kommen die Clowns und Graziosos mit ihren Narrenkolben und Pritschen, nach den blutigen Revoluzionsscenen und Kaiseractionen, kommen wieder herangewatschelt die dicken Bourbonen mit ihren alten abgestandenen Späßchen und zartlegitimen Bonmots, und graziöse hüpft herbey die alte Noblesse mit ihrem verhungerten Lächeln, und hintendrein wallen die frommen Kaputzen mit Lichtern, Kreuzen und Kirchenfahnen; – sogar in das höchste Pathos der Welttragödie pflegen sich komische Züge einzuschleichen, der verzweifelnde Republikaner, der sich wie ein Brutus das Messer ins Herz stieß, hat vielleicht zuvor daran gerochen, ob auch kein Häring damit geschnitten worden, und auf dieser großen Weltbühne geht es auch außerdem ganz wie auf unseren Lumpenbrettern, auch auf ihr giebt es besoffene Helden, Könige, die ihre Rolle vergessen, Coulissen, die hängen geblieben, hervorschallende Soufleurstimmen, Tänzerinnen, die mit ihrer Lendenpoesie Effekt machen, Costümes, die als Hauptsache glänzen – Und im Himmel oben, im ersten Range, sitzen unterdessen die liben Engelein, und lorgniren uns Komödianten hier unten, und der liebe Gott sitzt ernsthaft in seiner großen Loge, und langweilt sich vielleicht, oder rechnet nach, daß dieses Theater sich nicht lange mehr halten kann, weil der Eine zu viel Gage und der Andre zu wenig bekommt, und Alle viel zu schlecht spielen.

Du sublime au ridicule il n’y a qu’un pas, Madame! Während ich das Ende des vorigen Capitels schrieb, und Ihnen erzählte, wie Monsieur Le Grand starb, und wie ich das testamentum militare, das in seinem letzten Blicke lag, gewissenhaft executirte, da klopfte es an meine Stubenthüre, und herein trat eine arme, alte Frau, die mich freundlich frug: Ob ich ein Doctor sey? Und als ich dies bejahte, bat sie mich recht freundlich, mit ihr nach Hause zu gehen, um dort ihrem Manne die Hühneraugen zu schneiden.

~~~\~~~~~~~/~~~

Un singe qui parle, Lectrices dans le métro de Paris, Mai 2008 bis März 2017, Flickr

Capitel XII.

aus: Ideen. Das Buch Le Grand, 1826, Erstausgabe Seite 228:

Die deutschen Censoren – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Dummköpfe – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –.

Un singe qui parle, Filles. Lectrices dans le métro de Paris, Mai 2008 bis März 2017, Flickr

Bilder: Un singe qui parle: Filles: Lectrices dans le métro, Paris, Mai 2008 bis März 2017.

Du sublime au ridicule il n’y a qu’un pas, Madame: Camille: Seeds, aus: OUÏ, 2017,
mit ordentlich tambour drauf:

Written by Wolf

19. Juni 2020 at 00:01

You were beaming once before, but it’s not like that anymore

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Update zu Postcards from Germany,
Die deutsche Sirene vom Zwirbel im Rhein in die Bronx,
Süßer Freund, das bißchen Totsein hat ja nichts zu bedeuten und
You’ll learn to sprechen Deutsch mein kind, ash fast ash you tesire:

In a World Full of Kardashians, Be a Gallagher.

Etsy: T-Shirt-Text, ca. 2019 u. ö.

Stupidedia war schon immer eine Art Kamelopedia mit Abitur, übertroffen nur noch von der Uncyclopedia. Überraschend wirkt der Stupidedia-Artikel über Heinrich Heine, der einige diskutierwürdige, aber wenigstens diskussionswerte Parallelen aufgetan hat. Wir übernehmen die — sachlich korrekte — Übersicht von dort:

Heine Börne
Religion Judentum Judentum
Getauft protestantisch protestantisch
Abitur nein nein
Diplom promoviert promoviert
Loge Freimaurer Freimaurer
Exil Paris Paris
Beruf Schriftsteller und Journalist Schriftsteller und Journalist
Waffe scharfe Worte scharfe Worte
Auftraggeber von Cotta von Cotta
Grab Paris Paris
Heine Tucholsky
Religion Judentum Judentum
Getauft protestantisch protestantisch
Diplom Dr. jur. Dr. jur.
Loge Freimaurer Freimaurer
Exil Frankreich Frankreich
Beruf Schriftsteller und Journalist Schriftsteller und Journalist
Waffe Witz Witz
Beigesetzt in nicht in Deutschland nicht in Deutschland

Und dann das:

Heinrich Heine via Wikipedia Jeremy Allen White via Wikipedia

Bilder: Heinrich Heine — das ist der deutsche Klassiker, der nicht mal mehr richtig zur Deutschen Romantik zählt, der zum Nachteil seines Gesamtwerks seiner Frau nie vermitteln konnte, wovon er sie eigentlich ernährt, und in Paris an „Bleivergiftung“, was bedeutet: behandelter Syphilis, zugrunde ging — und Jeremy Allen White — das ist der Allesstudent aus Shameless, der zum Nachteil der Handlung ein paar ganze Staffeln durchvögeln durfte, kein Freimaurer und hoffentlich noch lange nirgends beigesetzt — via Wikimedia Commons.

Soundtrack: The High Strung: The Luck You Got, aus: Moxie Bravo, 2005
und ab 2010 hauptsächlich der Vorspann zu Shameless:

Written by Wolf

10. April 2020 at 00:01

Die junge Gräfin (erzählt neben einem Paar nachbarlichen Würsten)

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Update zu Traume-trunkene feministische Ikonen, der lange Weg zum Eros und ein Stück weiter (oder vierzehn):

Am bekanntesten ist bis heute der späte — 1985 — DDR-Märchenfilm Gritta von Rattenzuhausbeiuns oder Gritta vom Rattenschloß. Die Buchvorlage, ein erklärter „Märchenroman“ mit dem vollen Namen Das Leben der Hochgräfin Gritta von Rattenzuhausbeiuns, wird sogar in der großen Gesamtausgabe der Bettina von Arnim unterschlagen — entweder weil er in keine Werkkategorie der vier Bände passen will oder weil Bettinas Schaffensanteil daran unklar bleibt, weil als Neben-, wenn nicht gar Hauptautorin ihre jüngste Tochter Gisela gelten muss.

Gisela, zu Beginn der Arbeiten zarte 17, war mit 15 unter dem Namen Marilla Fitchersvogel Gründungsmitglied der Berliner Kaffeter-Gesellschaft, eines parodistisch heiter geführten Literatursalons und Jungfrauenordens, der später auch Mannspersonen zuließ, zum Beispiel den von Jungfrauen, Kaffee und Literaturschaffen begeisterten König Friedrich Wilhelm IV. höchstselbst. Die Koautorin und Mutter Bettina, die sich oft Bettine spricht und schreibt, war seit 1835 mit Goethes Briefwechsel mit einem Kinde und 1840 Die Günderode Bestsellerautorin und außerdem Witwe des vor allem mit Des Knaben Wunderhorn populären Achim von Arnim — auch wieder mit einer Gemeinschaftsarbeit mit unklaren Beteiligungen.

Der Märchenroman mit Gritta war das einzige Desideratum, das ich je an die Münchner Stadtbibliothek gerichtet habe — eben aus dem Gefühl der schmerzlichen Lücke in der Arnimschen Gesamtausgabe. Es wurde erfüllt und steht heute default in der belletristischen Abteilung der Filiale Am Gasteig, aber meistens ausgeliehen bei mir daheim. Was für eine Perle da im Verborgenen funkelt — niemals werde ich mich ganz über das Versäumnis der Gesamtausgabe beruhigen können — wird aus dem Volltext, den man mindestens zweimal online findet, teilweise klar — so richtig aber erst aus dem Nachwort von Rolf Vollmann in der Manesse-Ausgabe, die ich der Stadtbibliothek 2008 empfohlen habe. Welche auch sonst? An Einzeltexten sind noch ungefähr drei verschiedene sehr schöne, leider obskur gewordene DDR-Ausgaben antiquarisch jagdbar, dieselbe Manesse ist 2018 schon wieder vergriffen, und die Gesamtausgabe … hatten wir schon.

Es spricht sehr für den familiären Umgangston im Hause von Arnim, was da als Mutter-Tochter-Projekt entstanden ist. Die 1985er Verfilmung bemüht sich mit arg zurechtfrisierter Handlung um eine DDR-Nachfolge der Pippi Langstrumpf, das Original hat viel mehr Bedeutungsebenen. Aus heutiger Sicht liegt die Langstrumpf nicht ganz fern, aber es erlaubt sich auch — Arnims waren eng mit den Grimms verwandt und befasst — märchenhaft düstere Stellen. Insgesamt erinnert es mehr an Walter Moers, wenn nicht gar Eugen Egner oder sonstige Skurrilvirtuosen — wobei man meistens recht schief liegt, wenn man solche jahrhundertealten Hervorbríngungen mit allzu modernen vergleicht; jedenfalls war eine so vielschichtige Mischung nicht vor dem 20. Jahrhundert dran.

Die folgende halbwegs abgeschlossene Passage funkelt im Dunkeln in mehreren Bunt- und Schwarztönen. Gritta ist zur Zeit der Handlung sieben Jahre alt, Müffert ist der väterliche hochgräfliche Diener. — Staunt, Kinder.

——– Gisela von Arnim/Bettina von Arnim:

Das Leben der Hochgräfin Gritta von Rattenzuhausbeiuns

1844–1848, Druckvorlage 1845, Erstdruck: hg. Otto Mallon, S. Martin Fraenkel, Berlin 1926:

Gritta und Müffert saßen eines Abends in der Küche, die ein kleines rußiges Gewölbe war. Ein Feuer brannte auf dem Herd, vier große Töpfe kochten, und die weißen Nebelwolken vermischten sich mit dem schwarzen Rauch, zogen hinauf und flogen mit ihm davon. Es war heut zum ersten Mal nach langer Zeit stürmisch, der Wind trieb manchmal den Rauch wieder hinab. Die kleine Gritta saß neben den Töpfen auf dem Herd. Sie schien an etwas zu denken, was sie ängstigte, denn sie sah von Zeit zu Zeit zu Müffert auf, der in Gedanken vertieft vor einer Speckseite stand, die im Schornstein neben einem Paar nachbarlichen Würsten an einem Bindfaden bammelte; er schien sich zu besinnen, ob er sie anschneiden solle, denn das säbelförmige Messer guckte zwischen seinem Zeigefinger und seinem breiten Daumen wie ein angerufener Ratgeber hervor, mit einem entsetzlich begierigen Gesicht, in dem sich das Feuer spiegelte.

Gisela von Arnim, Joseph Joachim„Ach, Müffert“, hob Gritta an, „glaubst Du wohl, daß der Vater noch an die Birkenrute denkt? Glaubst Du wohl, daß noch Birkenreiser draußen am Birkenbaum sind?“

„Nein, Kind, ich glaube, der wird vertrocknen; das hat einmal seine sonderbare Bewandtnis mit dem Baume gehabt.“

„Ach, erzähle!“ bat Gritta.

Müffert machte das Messer zu, und Gritta sah mit Vergnügen, wie ihre lieben blonden Würstchen heute noch vergnügt hängen blieben; er setzte sich auf den Herd neben sie, und Gritta schaute, während er erzählte, in die weißen Wolken der Töpfe, wie sie mit den schwarzen Rauchmassen davon wirbelten, in denen sich, was in der Geschichte vorkam, ihr bildete.

„Dein Ururururgroßvater hatte seine Kinder gar artig erzogen, bis er Graf wurde; da bekam er aber noch ein Mägdlein und meinte, weil er Graf geworden, dürfe eine kleine Gräfin doch nicht mehr die Rute kosten; so wurden denn die Rutenbäume hier um des Herrn Grafen Schloß gar nicht mehr gepflegt; die kleine Gräfin wuchs auf in aller Unart. Der Graf wußte kein Mittel, sie zu strafen, das nicht das Gräfliche in ihr verletzte. Er kannte noch nicht den Spruch, der jetzt in mehreren Familien gang und gäbe ist: „Heute kriegst du nichts zu essen!“ – und dachte, es werde immer bei den kleinen Unarten bleiben. Aber das war Irrtum; sie entwuchs der Rutenzeit, ward wild, lief in den Wald, blieb Nächte lang aus, kam des Morgens mit wilden Dornenranken, Moos und Nachttau in den fliegenden Haaren stolz nach Haus. In der Frühsonne regte sich besonders ihre Lustigkeit, wenn sie den betauten Gräserfußpfad hinauflief, ihren stolzen Gliederbau dem Himmel entgegen hob und Frühluft trank, dann sang sie die im Walde selbst erfundenen Weisen. So kam sie eines Morgens auch mit einem jungen Bären bepackt, der sie im Walde angefallen und den sie mit ihren festen und starken Gliedern erwürgt, gerade als ihr Herr Papa mit einem jungen Manne sprach, den er ihr zum Bräutigam erwählt. Der Bär mit seinem dunklen Fell hing ihr über die weiße Schulter, und das Blut tröpfelte aus einer Wunde, die seine Tatze ihr geschlagen. Ihre Stimme, die wie die des Windes war, der um die Burg des Nachts sang, erschallte; der junge Graf mit seinem blassen Angesicht und schwarzen Bart schaute sie freundlich an. Sie hatte fast einen kalten Blick, weil alles Feuer ihrer Augen sich tief in sie zurückgedrängt hatte. Aber, meldet die Sage, als sie ihn angeschaut, brach es aus, das Feuer ihres Herzens, ihrer Seele; darum auch, meldet sie ferner, daß sie das Fräulein vom Feuerauge hieß. Jetzt liebte sie den Grafen mit Leidenschaft; sie war nicht seine Braut, das durfte man nicht sagen, sie war sein Geselle, – aber das konnte ihrem Herrn Papa keine Freude machen. Fröhlich eilten sie nebeneinander mit Wurfgeschossen über die Berge und durch Schluchten und auf moosigen Pfaden unter Gebüschen hinweg. Die rauschenden Waldeslüfte strömten ihnen voran, dem Wilde nach; sie sangen zusammen; studierte er, wozu er besondere Neigung hatte, so lernte sie mit ihm. Bis spät in die Nacht saßen sie oft vor den alten Folianten, die Arme in einander verschlungen, eins dem andern helfend.

Ach, der gute, alte Vater wußte gar nicht, wie er sich dabei anstellen solle; er hatte Sorge, daß dies einer jungen Hochgräfin böse Nachrede machen werde; auch bekümmerte ihn das sehr, daß sie so tief in frühere Zeiten sich bewanderten, wo die Welt noch auf der linken Seite mochte gelegen haben. Dies verdroß den Grafen sehr; er mochte nun einmal durchaus nicht leiden, daß sie in den alten Büchern herumsuchten, aus denen die Staubwolken beim Umwenden der Blätter aufstiegen und die alten Bilder mit grinsenden Gesichtern schnell herausguckten; kurz, er wurde immer unzufriedner. Besonders schrieb sich sein Unwille gegen dieses Bücherdurchsuchen daher, weil er einmal in Gemütsruhe im Keller unter dem offnen Kranen am Weinfasse liegend, während der Wein wie ein Bächlein durch die Gebirge und Wiesen seines Innern floß, es ihm vorkam, als ob die Bücher aus der Bibliothek dahergetrampelt kämen und knurrten ihn an und öffneten ihre Blätter und klappten wieder zu, worauf allemal große Staubwolken herausfuhren, die sich zu alten Mönchen und andern dergleichen wunderlichen Gestalten formten, dann umherspazierten und feine Liedchen auf seine Trunkenheit sangen. Diese Spottgesichte konnte er nicht vergessen, und oft schaute er nach dem Rutenstammbaum hinüber, der mit seinen Blättern säuselnd, ihn zu mahnen schien, daß er seinen Einspruch bei der Erziehung der Gräfin abgelehnt habe.

Präsident Maiblümchen Maximiliane Maxe von Arnim, Joseph JoachimEs brach Krieg aus, der junge Graf zog mit einem Fähnlein Reiter fort. Jetzt glaubte der alte Herr die junge Gräfin unter seiner Regierung zu haben; er wollte, sie solle still zu Hause sitzen und einen Kaminschirm sticken. Ihr pochte es in allen Gliedern, und wenn sie durch die Schloßfenster hinausschaute auf die blauen Berge, die gleich einer Mauer vor einem tatenkräftigen Leben ihr lagen, wurde es ihr oft so eng, daß sie die Vorhänge ihres großen Himmelbettes aufriß und mit den Kissen zu bombardieren anfing, so daß die Federn stiebten; bald ließ sie diese wider die goldnen Engel fliegen, die die Federkrone des Betthimmels trugen, bald in die und jene Ecke. Kam nun der alte Graf in solchem Augenblick, wo alles krachte und knarrte, in ihr Zimmer, so zog sie schnell die Gardinen ums Bett und steckte sich unter ein großes Federbett, was sie fest um sich wickelte. Da stand nun der Graf und predigte ihr Stunden lang vor. So kam er auch wieder eines Morgens, mit einem Arm voll Seide zu jenem Kaminschirm, den sie noch nicht angefangen hatte; da lag wieder das große Federbett; der Graf stellte sich davor und zankte, aber heut blieb das Federbett besonders ruhig liegen; – sonst hatte sie zuweilen ihren Kopf hervorgestreckt und ihn dann schnell wieder zurückgezogen. Endlich ward der Graf über ihren Mangel an Anteil zornig, daß er sich Mut faßte und das Federbett herunter riß. Aber siehe, der Fleck war leer und nichts dahinter. Während der Graf am Abend vorher in Gemütsruhe unter dem Kränchen eines uralten Fasses lag, öffnete sich das Tor des Schlosses und die Gräfin mit einem Bündelchen schritt heraus. Ganz still und für sich schaute sie umher auf die nachtenden Berge, und ihr lichtbraunes Haar floß leise im Abendwind daher; sie zog zur Armee. Als sie anlangte, empfing sie der junge Graf mit großen Freuden. An seiner Seite zog sie mit zu Felde, focht neben ihm und verfolgte ihn mit den Augen, dem entgegentretend, der das Schwert gegen ihn schwang.

Am Abend saßen sie an den Wachfeuern, die müden Glieder ausgestreckt auf ihren Mänteln; da wehte der kühle Nachtwind über die lustige Schaar hin und kühlte die heißen Köpfe.

Die Soldaten rauchten, sie sang, erzählte alte Weisen, und alle waren fröhlich und gut in ihrer Gegenwart. Es verglimmten nach und nach die Kohlen, der Himmel breitete seinen Nachtmantel aus mit den unzähligen Sternen. Da wußte die junge Gräfin erst, wozu sie geboren war; sie erhob sich leise und betrachtete den schlummernden Grafen und vertiefte sich in die Ruhe seiner edlen Züge und las wie in einem Buch die schönsten Lieder an den Frühling, an die aufgehende Sonne oder den Mond, je nachdem das Antlitz des Grafen oder auch ihr eignes Gemüt gestimmt war; sie schrieb dies alles mit ihrer Messerspitze in die Rinde der Bäume umher. Dann schlummerte sie ein Weilchen, während Göttinen, man nennt sie Musen, ihrer sind Neune, voran ein schöner Musenjüngling, einen schwebenden Tanz über ihrem Haupte aufführten und allerlei Träume ihr zusendeten.

Eines Morgens zogen sie aus dem Quartier, die Trommel tönte; sie hatte die dem Tambur abgenommen und trommelte einen Marsch, zu dem sie sang von der Kriegslust. Die Soldaten hörten begeistert zu, sonderbar wirbelten die Trommeltöne wie ein Lied, aus ihrer Brust geschaffen, in den blauen Himmel empor. Da kam eilig des Weges ein Bote, der sagte, der alte Graf liege auf dem Todesbett; zwar habe er verboten sie zu rufen, aber der alte Schloßkaplan habe ihn ausgeschickt.

Amalie St. Malo von Herder, Joseph JoachimSchnell reichte Gräfin Bärwalda dem Grafen zum Abschied die Hand und ritt davon. Eine unnennbare Trauer erfaßte sie, als sie das Schloß, auf dem selbst die alten rostigen Wetterhähne die Flügel zu hängen schienen, erblickte. Es sagte ihr alles, ihr Herr Vater lebe nicht mehr. So war es auch, das ganze Schloß war leer; alle Diener und Hausleute waren furchtsam geflohen und hatten die alten Mauern allein stehen lassen. So zog sie in ihr Erbe ein, das einzige was ihr blieb; rasch sprang sie vom Pferde und klopfte leise seinen Hals, als wolle sie sagen: „Bald reiten wir wieder davon!“ Dann warf sie ihm die Zügel auf den Bug, und es trabte mit lautem Hufschlag in den leeren Schloßhof. Der Schloßkaplan schlich in den leeren Gemächern herum, halb als wenn er sich vor ihr scheue, halb als wenn er sie bemitleide; ängstlich übergab er ihr die Schlüssel und ging eilig davon. Die Gräfin stellte sich an ein hohes Fenster und schaute hinaus auf die dunklen blauenden Berge in der Ferne. Sie liebte ihr altes Erbe so, und doch war es ihr, als drücke ihr etwas schwer auf dem Herzen. Die Sonne ging unter, sie erhellte das Gemach und die braune Ledertapete mit einem leisen Schimmer. Da kam der alte Schloßkaplan herein, wich aber scheu zurück vor ihr; sie verlangte, er solle bleiben und alles sagen, was er auf dem Herzen habe.

Nach langem Zagen sagte er endlich, der Graf hätte immer zornig über sie geschwiegen; aber in der letzten Stunde habe er gesagt, es sei gesündigt, daß er nicht die Reiser vom Rutenbaum zu ihrer Erziehung gebraucht; darum habe er den Gram erleben müssen, daß sie davon und unter die Soldaten gegangen sei. Er verwünsche sie, daß sie selbst im Grabe keine Ruhe finde, bis der Rutenbaum vertrockne, und der solle nicht eher vertrocknen und mit frischer Kraft fortblühen, bis ein Mädchen aus ihrem Geschlecht so gut sei, daß es nie eine Rute verdiene.“ Der alte Mann hatte ausgesprochen; die junge Gräfin schwieg und schaute nach der sinkenden Sonne; ihr Glück sank mit ihr.

Da tönten Schritte die öde Burgtreppe hinauf, der Bote trat ein mit einem Schreiben. Der junge Graf war in der Schlacht gefallen; sie schwieg und ging in ihr Turmzimmer, was auf die Gegend hinausschaute, von wannen der Bote gekommen war. Die alten Bücher, in denen sie studierte, lagen um sie her. So saß sie im Lehnstuhl, dem Fenster gegenüber, bis in ihr spätes Alter.

Niemand traute sich in die Nähe dieses Gemachs. In den Wald ging sie noch oft, und fortgewirkt hat sie noch lange. Woher kommt es, daß jetzt jenseit der Berge blühende Wiesen und Felder liegen? Oft kam sie von den Bergen herunter geschritten, wenn die Bauern im Schweiße ihres Angesichts unten arbeiteten, mit traurigen Blicken die Stücke messend, deren widerspenstigen Boden sie glaubten nicht bearbeiten zu können. Sie lehrte ihnen diese fruchtbar machen; sie baute sogar ihnen einen eignen Pflug. Die Leute liebten und fürchteten sie. Und doch war es ihnen, wenn sie weg gegangen, als habe sie kein Wort mit ihnen gesprochen, keinen angesehen. Selbst als sie ganz alt war, kam sie an einem Stabe gebückt und schaute mit ihren wunderbaren Augen wie segnend alles an. Die Kinder hatten vor ihr keine Scheu; sie besuchte diese oft im Walde, aber wenn sie gegangen, war es ihnen wie ein schöner Traum, der wieder verschwand. Ich weiß nicht, auf welche Weise sie mag gestorben sein, aber“, sagte Müffert leise, „man will sie nachdem manchmal gesehen haben. Es ist noch kein Kind aus dem Geschlecht so gut gewesen, daß es nicht eine Rute verdient hätte. – – Ich glaube gar, daß der Rutenbaum vertrocknet! Ach, was für eine kleine artige Gritta wir haben!“

Caroline Bardua, Sir Odillon verlässt den Kaffeter. Ottilie von Graefe heiratet Hermann von Thile, Joseph Joachim„Wo weißt du denn alles her?“ fragte Gritta, deren Augen ganz groß vom vielen Erstaunen und Zuhören geworden.

„Ja, Kind! Sieh, das kenne ich, erst, seitdem ich Schneider geworden, und die großen Bände aus der Schloßbibliothek zum Zeug verbrauchte.“

Er schwieg ein Weilchen – dann sagte er nachdenklich: „Ich weiß eigentlich nicht, was Fräulein Bärwalda gesündigt hat; daß sie die Faulheit nicht liebte, gefällt mir, aber was den bösen Worten des Grafen Wirkung gab, war wohl, daß sie dem alten Herrn davon gelaufen war. Die Brüder des Fräuleins sahen sie nicht und hatten sie auf dem alten Schloß, ihrem Erbe, allein gelassen.“

Gritta schüttelte sich, wie ein Vögelchen seine Federn schüttelt: „Horch, mir ist, als klopfe etwas!“ Ein Windstoß fuhr durch den Schornstein hernieder, es pochte unten, und eine jugendliche Stimme schien hie und da durch den Sturm zu dringen, als suche sie ihn zu überbieten. „Ach, die Ahnfrau vom Rutenbaume!“ sagte Gritta zu Müffert, erschrocken aufschauend. Es war jedoch anders.

Bilder: Via Joseph Joachim: Joseph Joachim to Gisela von Arnim, November 27, 1853, 1. Januar 2015:
Gisela von Arnim;
The Kaffeter, 8. Januar 2017: Ottilie von Graefe für die Kaffeterzeitung, 1843 bis 1848:

  • Präsident Maiblümchen Maximiliane „Maxe“ von Arnim;
  • Amalie „St. Malo“ von Herder;
  • Caroline Bardua: Sir Odillon verlässt den Kaffeter (Ottilie von Graefe heiratet Hermann von Thile), Frontispiz für die Kaffeterzeitung, 5. Jahrgang, Nr. 1, 1847.

Soundtrack: Mozart: Hornquintett Es-Dur, KV 407 (386 c) live auf dem Whittington International Chamber Music Festival zu Shropshire, Mai 2016 mit Katy Woolley, der Ersten Hornistin beim Londoner Philharmonia Orchestra am Waldhorn:

Written by Wolf

27. Juli 2018 at 00:01

Kater Murr und der dramatisierte Magnetismus

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Update zu Der vortreffliche Kater Murr (Gekatzbuckel!)
und Was ich gebar in Stunden der Begeisterung:

Glücklicherweise ist die Forschung nicht erst seit 2018 weit genug zu erkennen, dass E.T.A. Hoffmann: Lebens-Ansichten des Katers Murr eins der besten, jedenfalls unverzichtbaren Bücher überhaupt ist, ohne das nicht allein die deutsche, sondern die Weltliteratur ein ganzes Stück ärmer wäre, da können Sie gern die Herrschaften Poe, Dostojewski, Thomas Mann, Christa Wolf, Franz Fühmann und ein ganzes Heer von Illustratoren fragen.

Daniel Nilsson, Homeless in Rain, 25. Juli 2016Das war nicht gleich bei Ersterscheinen so: Hans von Müller sorgt sich noch 1903 in seinem Kreislerbuch um das „gefährliche, selbstmörderische Spiel mit der Form„, Hartmut Steinicke wiegelt 1992 in seiner großen Murr-Ausgabe schon ab (Seite 923):

Die Angriffspunkte der früheren Kritik wurden in diesen [von Steinicke besprochenen] neuen Deutungen entweder ausgeklammert oder mit der allgemeinen Verwirrung der ästhetischen Begriffe in der Spätzeit der Romantik entschuldigt.

Danke dafür — von Müller für seinen mehr besorgten denn angriffslustigen Tonfall, Steinicke für seine schlichtende Ehrenrettung — ich wäre nämlich gern auf der Seite von Ludwig Börne.

Ludwig Börne teilt sich mit mir den Geburtstag, hat ein beeindruckend durchdachtes Verhältnis zu Goethe, das man ambivalent oder oder objektiv finden mag, hat den heute oft blindlings verehrten Heine jahrelang zur Ordnung gepfiffen, was man ambivalent oder zickig finden mag, gelangt dabei über der einen oder anderen brillanten Formulierung zu ebensolchen Gedankengängen und wird von nur noch wenigen, aber den richtigen Leuten gemocht. Und dann — nach einer Einleitung voll der geballten Verumglimpfung des gesamten Katzentums — das: „Kater Murr und die ihm vorhergegangenen Werke seines Verfassers sind Nachtstücke, nie von sanftem Mondscheine, nur von Irrwischen, fallenden Sternen und Feuersbrünsten beleuchtet.“

Ja, stimmt schon. Das sagt der, als ob es was Schlechtes wäre (in seiner eigenen Zeitschrift Die Wage, 1820). Gut, Börne mag keine Katzenbücher (und offenbar nicht einmal Katzen) mit einem Humor, der heute als gallig durchginge; ein inhaltliches und formales Feuerwerk wie den Murr deswegen als krankhaft und seines Da-Seins unberechtigt hinzustellen finde ich aus dem Wissensschatz des 20. Jahrhunderts heraus, den Börne zwangsläufig nicht erringen konnte, gelinde gesagt bedenklich. Nebenbei bemerkt war Börne, geborener Juda Löb Baruch im Frankfurter Schtetl, bis zu seiner Taufe (am 5. Juni 1818, also 32-jährig) — wenngleich nur sehr gelegentlich praktizierender — Jude, falls das etwas zur Sache aussagt.

Vielleicht passiert das, wenn Journalisten gleichzeitig Literaturkritiker sind. Um Börne mit seiner eigenen Argumentation zu retten: „Ein Streben, das keinen Dank verdient“ — aber eben: „Es muß auch solche Käuze geben.“

——— Ludwig Börne:

Humoralpathologie

in: Die Wage 1820, nach: Sämtliche Schriften, Band 2, Düsseldorf 1964, S. 450 bis 457:

Die Katze gehört zum edlen Geschlechte des Löwen; aber nur der Abschaum königlichen Blutes fließt in ihren Adern. Sie ist ohne Mut, und darum ohne Großmut; ohne Kraft, und darum falsch; ohne Freundlichkeit, und darum schmeichelnd. Der Tag blendet sie, am schärfsten sieht sie im Dunkeln. Sie liebt die Höhen nicht, sie liebt nur das Steigen; sie hat einen Klettersinn und klettert hinauf, um wieder herabzuklettern. Minder widerlich ist selbst ihr tückisches Knurren als ihr zärtliches Miauen. Nicht dem Menschen, der sie wartet, nur dem Hause, worin sie gefüttert worden, bleibt sie treu. Eine entartete Mutter, frißt sie ihre eigenen Jungen. So ist die Katze! So ist auch der Katzenhumor, der in Hoffmanns Kater Murr spinnt. Ich gestehe es offen, daß dieses Werk mir in der innersten Seele zuwider ist, mag man es auch eben so kindisch finden, ein Buch zu hassen, das einem wehe tat, als es kindisch ist, einen Tisch zu schlagen, woran man sich gestoßen. Aber nicht über die genannte Schrift insbesondere, sondern über die darin fortgespielte mißtönende Weise, die auch in allen übrigen Werken des Verfassers uns beleidigend entgegenklingt, über die beständig darüber herziehende, naßkalte, nebelgraue, düstere und anschauernde Witterung will ich einige Worte sagen. Die Überschrift, welche diese Betrachtung führt, ein Wort, dessen Bedeutung die neuere Arzneikunst verwirft, wurde darum gewählt, weil gezeigt werden soll, daß der Humor in den Schriften des Verfassers der Phantasiestücke ein kranker ist. Der gesunde und lebensfrische Humor atmet frei und stöhnt nicht mit enger Brust. Er kennt die Trauer, aber nur über fremde Schmerzen, nicht über eigene. Er berührt die Wunde nicht, die er nicht heilen kann, und reizt sie nie vergebens. Er sieht von der Höhe auf alle Menschen herab, nicht aus Hochmut, sondern um alle seine Kinder mit einem Blicke zu übersehen. Was sich liebt, trennt er, um die Neigung zu verstärken; was sich haßt, vereinigt er, nicht um den Hader, um die Versöhnung herbeizuführen. Er entlarvt den Heuchler und verzeiht die Heuchelei; denn auch die Maske hat ein Menschenantlitz, und in der häßlichen Puppe ist ein schönerer Schmetterling verborgen. Er findet nichts verächtlich als die Verachtung und achtet nichts, weil er nichts verachtet. Nichts ist ihm heilig, weil ihm alles heilig erscheint; die ganze Welt ist ihm ein Gotteshaus, jedes Menschenwort ein Gebet, jede Kinderlust ein Opfer auf dem Altare der Natur. Er zieht den Himmel erdwärts, nicht um ihn zu beschmutzen, sondern um die Erde zu verklären. Er kennt nichts Häßliches, doch verschönt er es, um es gefälliger zu machen. Er liebt das Gute und beklagt die Schlechten; denn das Laster ist ihm auch eine Krankheit und der Tod durch des Henkers Schwert nur eine andere Art zu sterben. Er zürnt mit seinem eignen Zorne, denn nur das Überraschende entrüstet, und nur der Schlafende wird überrascht. Er verspottet seine eigne Empfindung, denn jeder Regung geht Gleichgültigkeit vorher, und jede Vorliebe ist eine Ungerechtigkeit. Er erhebt das Niedrige und erniedrigt das Hohe, nicht aus Trotz, oder um zu demütigen, sondern um beides gleich zu setzen, weil nur Liebe ist, wo Gleichheit. Er tröstet nicht, er unterdrückt das Bedürfnis des Trostes. Stets rettend, lindernd, heilend, verletzt er sich selbst mit scharfem Dolche, um dem Verwundeten mit Lächeln zu zeigen, daß solche Verletzungen nicht tödlich seien. Seine Sorgfalt endet nicht, wenn die Wunde sich geschlossen; Narben sind auch Wunden, die Erinnerung ist auch ein Schmerz; er glättet jene und vernichtet diese. Der Geist der Liebe haucht fort und fort aus ihm, alles befördernd; er treibt das Schiff, wenn es die Gefahren des Meeres, und führt es zurück, wenn es den Hafen sucht – er rechtet nicht mit den Begehrungen der Menschen, denn Suchen beglückt mehr als Finden.

Der gute Geist der Liebe, der versöhnt und bindet und die im Prisma des Lebens entzweiten Farben in den Schoß der Muttersonne zurückführt, jener Geist – er kommt nie ungerufen – beseelt die Werke des Verfassers der Phantasiestücke nicht mit dem leisesten Hauche. Das neckende Gespenst des Widerspruchs, das jede Freude verdirbt und jeden Schmerz verhöhnt, steigt dort, von grauser Mitternacht umgeben, aus dem Grabe aller Empfindungen herauf. Er führt uns auf die höchsten Gipfel, um uns tiefer herabzustürzen, und selbst sein Himmel ist ein unterirdischer. Er dringt in die Tiefe aller Dinge, um ihren geheimnisvollen Wechselhaß, nicht um ihre verschwiegene Liebe zu verraten. Kreisler ist der Unglücklichste aller Verdammten. Er ist ein gestürzter Engel. Die Brücke, welche der gute Humor über alle Spalten und Spaltungen des Lebens führt, reißt der entartete nieder; die Harrenden auf beiden Seiten strecken sich sehnsuchtsvoll die Arme entgegen und verzweifeln um so mehr, je näher die Ufer sind. Selbst die Musik, diese Himmelskönigin, die er liebend verehrt, steht in unerreichbarer Ferne von ihm; sie hört seine Gebete nicht, und nie gab es eine mißtönendere Seele als die jenes Kreisler, der rastlos den Wohllaut sucht und niemals findet, weil der Widerklang im eignen Herzen fehlt.

Empfindsamkeit und Spott sind die beiden Pole, jene der anziehende, dieser der abstoßende des Humors. Aber nur in der Mitte ist der Indifferenzpunkt der Liebe. Wo sie versöhnt zusammentreffen, da schmilzt die eine den Frost des anderen, oder der Spott kühlt säuselnd die Sonnenglut der Empfindung ab. Wenn sie aber auseinander stehen, ist die Empfindsamkeit nur eine gefährliche Abneigung, eine launische Wahlverwandtschaft, die uns mit einem Stoffe verbindet und von tausenden trennt, – und der Spott wird zum Hasse. So in seine Bestandteile gespalten, erscheint der Humor in den genannten Werken, und ganz so, wie er dem Meister Abraham tadelnd zugeschrieben wird, nicht „als jene seltene wunderbare Stimmung des Gemüts, die aus der tiefern Anschauung des Lebens in all seinen Bedingnissen, aus dem Kampf der feindlichsten Prinzipe sich erzeugt, sondern nur durch das entschiedene Gefühl des Ungehörigen, gepaart mit dem Talent, es ins Leben zu schaffen, und der Notwendigkeit der eignen bizarren Erscheinung. Dieses war die Grundlage des verhöhnenden Spottes, den Liscov überall ausströmen ließ, der Schadenfreude, mit der er alles als ungehörig erkannte, rastlos verfolgte, bis in die geheimsten Winkel.“ Kreisler hat sich selbst das Urteil gesprochen: nicht anders ist sein eigner Humor. Ein zerrissenes Gemüt, ein alles zerreißender Spott. Seine Gefühle sind nur Verzerrungen, nicht rührender als das Zucken des Froschschenkels an der galvanischen Säule, und der Friede seines Gemüts zeigt nur die Ruhe einer Maske. Was die Natur am innigsten verwebte, zieht er in die Fäden der Kette und des Einschlags auseinander, um hohnlächelnd ihre feindlichen Richtungen zu zeigen. Daher auch seine harten Schmähungen, mit welchen er diejenigen verfolgt, die an musikalischen Spielen ihre Lust finden und welchen die Kraft oder Neigung fehlt, die Kunst als heiligen Ernst zu fassen und auszuüben. Kreisler fordert unduldsam, seine Göttin solle, gleich dem grausamen Gotte der Juden, dem auserwählten kleinen Volke der Künstler ausschließlich zugehören. Noch nie haben Priester den Tempel, den sie bewahren, Gläubigen verschließen wollen! Musik ist Gebet; ob nun das Kind es herstammele, ob der rohe Mensch in roher Sprache es halte, ob der Gebildete in sinnigen geistvollen Worten – der Himmel hört sie mit gleicher Liebe an und gibt jedem den Widerklang seiner Empfindung als Trost zurück. Das Gassenlied, das den rohen Gesellen hinauftreibt, ist so ehrwürdig als die erhabenste Dichtung Mozarts, die ein empfängliches Ohr begeistert. Und welche Musik ist beglückender, die berauschende des wahnsinnigen Kapellmeisters, die als Bacchantin und Furie das Herz durch alle Wonnen, durch alle Qualen peitscht, oder die sanft erwärmende, die still erfreut und täglich und häuslich genossen werden kann? Darf man eine Freude zerstören, weil man sie verwirft und nicht teilen mag? Warum gegen die musikalischen Tändeleien eifern, da durch sie allein die ernste Kunst fortgepflanzt wird, weil jede Größe in Kunst und Wissenschaft nur die zusammengezogene Zahl vorhergehender kleinerer Zahlen ist, und da kein Gut an die Stelle des Genusses käme, wenn nicht seines Wertes unkundige Fuhrleute, sich mit dem Ertrage des Gewichtes begnügend, es weiter brächten?

Kater Murr und die ihm vorhergegangenen Werke seines Verfassers sind Nachtstücke, nie von sanftem Mondscheine, nur von Irrwischen, fallenden Sternen und Feuersbrünsten beleuchtet. Alle seine Menschen stehen auf der faulen wankenden Brücke, die von dem Glauben zum Wissen führt; unter ihnen droht der Abgrund, und die erschrockenen Wanderer wagen weder vorwärts zu schreiten noch zurück und harren unentschlossen, bis die Pfeiler einstürzen. Das ist seine Stärke, seine Wissenschaft und seine Kunst, – die Geisterwelt aufzuschließen, zu verraten das Leben der leblosen Dinge, an den Tag zu bringen die verborgenen Fäden, womit der Mensch, und der glückliche, ahndungslos gegängelt wird; jede Blume als ein lauerndes Gespensterauge, jeden freundlich sich herüberneigenden Zweig als den ausgestreckten Arm einer zerstörenden dunklen Macht erscheinen zu lassen. Es ist der dramatisierte Magnetismus, und wenn das Konversationslexikon von jenem Schriftsteller bemerkt: daß er durch die grellsten Dissonanzen zur harmonischen Auflösung durchdringe, so ist ja eben in dieser Auflösung das Anschauernde, Unheimliche, Verletzende.

Eine unerklärliche schreckliche Erscheinung wird dem Erzähler nicht geglaubt und mag als Werk der Einbildungskraft erheitern; aber sobald er sie natürlich erklärt und so den Glauben erzwingt, weckt er den Menschen aus seiner fröhlichen Sorglosigkeit, zieht ihn von den freundlich lichten Höhen in den dunklen Abgrund hinab, wo die zerstörende Natur unter Scherben und Leichen sitzt. Ein Streben, das keinen Dank verdient:

Es freue sich,
Wer da atmet im rosigen Licht;
Da unten aber ist’s fürchterlich!
Und der Mensch versuche die Götter nicht,
Und begehre nimmer und nimmer zu schauen,
Was sie gnädig bedecken mit Nacht und Grauen.

Nur allein die Liebe, die ihm mangelt, kann dem Verfasser des Kater Murr Verzeihung gewähren selbst für diesen Mangel, und wir endigen besänftigt und besänftigend mit den Worten, die Faust seiner den Unhold ahnenden Margaretha sagt:

Es muß auch solche Käuze geben.

Daniel Nilsson, Homeless in Rain, 25. Juli 2016

BIlder: Daniel Nilsson: Kitten Discover Water from Sky und Homeless in Rain, 25. Juli 2016:

We met a new friend in the rain in a jungle village at the Azores. We found this little fellow with a plate with white bread and no mum in sight! Probably she needs a proper home. Sadly we could not help this little one. :(

Es war gar nicht so einfach, Bilder von kranken Katzen mit einem gewissen ästhetischen Anspruch aufzutreiben, die weder einem medizinischen Zweck noch einem niederen Voyeurismus folgen. Die obigen finde ich immer noch grenzwertig genug. Nennen wir sie dokumentarisch.

Katzenjammer: My Dear, aus: Rockland, 2015:

When my white face withers
When my skin turns gray
When the drama’s over
Then will you still stay?

Written by Wolf

19. Januar 2018 at 00:01

Veröffentlicht in Das Tier & wir, Junges Deutschland

Süßer Freund, das bißchen Totsein hat ja nichts zu bedeuten

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Update zu And all I got’s a pocketful of flowers on my grave:

Internet-Premiere: Heine in der Werkstatt beim Skizzieren und Auspinseln seiner Reisebilder. Diese Versuche stehen in der historisch-kritischen Düsseldorfer und der zugänglicheren Hanser-Ausgabe und dann noch in einem Google-Book in Fraktur und verheerendem Zustand. Dazu erklärt Günter Häntzschel bei Hanser 1976:

Aus einer Handschrift Heines der „Reise von München nach Genua“ […] veröffentlichte Adolf Strodtmann in dem Supplementband zu seiner Heine-Ausgabe: Letzte Gedichte und Gedanken. Hamburg 1869, S. 273–305 diese Zusätze als „Nachträge zu den ‚Reisebildern'“. Die Skizzen wurden von Heine für die Druckvorlage der „Reise von München nach Genua“ ausgeschieden und sind teilweise später in veränderter Gestalt in „Die Bäder von Lucca“ und in „Die Stadt Lucca“ eingegangen. Strodtmann hat diese Zusätze den thematisch entsprechenden Stellen in den italienischen „Reisebildern“ zugeordnet; an diese Einordnung lehnen sich auch die Elstersche und die Walzelsche Ausgabe an. Die endgültigen Handschriftenverhältnisse dieser Stücke wird erst die historisch-kritische Ausgabe klären können.

Deswegen bestehe ich immer auf die großen, anständig kommentierten und möblierten Ausgaben. Durch die tastenden Wiederholungen innerhalb einer Traumsequenz gewinnt Heines Prosa etwas Lyrisches. Die freigegebene Endfassung der Reisebilder atmet nirgends mehr diesen Charme des Unfertigen.

——— Heinrich Heine:

Skizzen zu „Reise von München nach Genua“

zu: Reisebilder. Dritter Theil. Italien. 1828, Reise von München nach Genua, 1830,
in: Klaus Briegleb, Hrsg.: Heinrich Heine. Sämtliche Schriften,
Zweiter Band, herausgegeben von Günter Häntzschel, Carl Hanser Verlag, München 1976,
Nachlese, Seite 615 bis 620, hier ungekürzt:

Ich liebe keine Republiken — (ich habe einige Zeit in Hamburg, Bremen und Frankfurt gelebt) — ich liebe das Königtum — (ich habe Ludwig von Baiern gesehen) — außerdem werde ich als Poet eher bestochen von Taten der Treue, als von Taten der Freiheit, die minder Poetisch sind, da jene im dämmernden Gemüte, diese im mathematisch lichten Gedanken ihre Wurzel haben. Dennoch liebe ich die Schweizer mehr, als die Tiroler. Jene fühlen mehr die Würde der Persönlichkeit.

*

Albrecht Dürer, Das Schloss von Trient, 1495

Du willst wissen, lieber Leser, was diese närrischen Gedanken zu bedeuten haben, und ich muß Dir bei Deinem Eintritt in das sommerliche Italien noch nachträglich eine deutsche Geschichte erzählen, die an einem kalten Winterabende passiert ist, bei scharfem Nordwind und Schneegestöber. Aber das Gemach, worin sie passierte und worin ich mich mit Marien allein befand, war traulich und dämmernd, und der Kamin knisterte und flüsterte so voller Behagen. Sie saß am Flügel und spielte eine alte italienische Melodie. Ihr Haupt war niedergebeugt, und das Licht, das vor ihr stand, warf eine gar süßen auf ihre kleine Hand, jedes Grübchen, jedes Geäder der Hand, und unterdessen zogen die Töne so rührend und innig in mein Herz, und ich stand und träumte einen Traumvon unaussprechlicher Seligkeit. Und die Töne wurden immer siegend gewaltiger, dann wieder hinabschmelzend in besiegter Hingebung, ich starb, ich lebte, und starb wieder, Ewigkeiten rauschten an mir vorüber, und wie ich erwachte, stand sie milde vor mir und bat mich mit schaudernder Stimme, daß ich ihr die Ringe, die sie wegen des Klavierspiels abgelegt hatte, wieder an die Finger stecken möchte, und ich tat es und drückte ihre Hand an meine Lippen und …… warum, sprach ich, haben Sie mich gestern so hart behandelt? und sie antwortete: „Verzeihen Sie mir, ich war sehr unartig.“

Was ich Dir, lieber Leser, hier erzählt, das ist kein Ereignis von gestern und vorgestern, es ist eine uralte Geschichte, und Jahrtausende, viele Jahrtausende werden dahinrollen, ehe sie ihren Schluß erhält, einen guten Schluß. Wisse, die Zeit ist unendlich, aber die Dinge in dieser Zeit sind endlich; sie können zwar in die kleinsten Teilchen zerstieben, doch diese Teilchen, die Atome, haben ihre bestimmte Zahl, und bestimmt ist auch die Zahl der Gestalten, die sich, Gott selbst, aus ihnen hervorbilden; und wenn auch noch so lange Zeit darüber hingeht, so müssen, nach den ewigen Kombinationsgesetzen dieses ewigen Wiederholungsspieles, alle Gestalten, die auf dieser Erde schon gewesen, wieder zum Vorschein klmmen, sich wieder begegnen, anziehen, abstoßen, küssen verderben, vor wie nach. — Und so wird es einst geschehen, daß wieder ein Mann geborenwird, ganz wie ich, und ein Weib geboren wird, ganz wie Maria, nur daß hoffentlich der Kopf des Mannes etwas weniger Torheit, als jetzt der meinige, und das Herz des Weibes etwas mehr Liebe, als das ihrige enthalten mag, und in einem besseren Lande werden sich beide begegnen und lange betrachten, und das Weib wird endlich dem Manne die Hand reichen und mit weicher Stimme sprechen: „Verzeihen Sie mir, ich war sehr unartig.“

*

Albrecht Dürer, Trintperg. Der Dosso von Trient, 1495

Die Kleine mochte wohl bemerkt haben, daß ich, während sie sang und spielte, mehrmals nach ihrer Rose hingesehen, und sie lächelte mit schlauem Blick, als ich hernach ein nicht allzu kleines Geldstück auf den zinnernen Teller warf, womit sie ihr Honorar einsammelte.

Die Nacht war unterdessen hereingebrochen, und das Dunkel brachte Einheit in meine Gefühle. Die Straße wurde leer, und der Himmel füllte sich mit Sternen. Diese blickten herab so durftig, so keusch, so rein, daß mir selbst zu Mute wurde wie einem reinen Stern. Da nahte sich mir unversehens die kleine Harfenistin, und halb schüchtern, halb keck frug sie: ob ich ihre Rose haben wolle.

Ich war gestimmt wie ein reiner Stern, und ich antwortete Nein. Die Rose aber wurde bleich, das Mädchen errötete, aus der Harfe erklang ein leiser, ein einzelner Ton, so schmerzlich wie aus der Tiefe einer todwunden Seele — und ich hatte schon einmal diesen Ton gehört, eben so vorwurfsvoll. Eine traurige Erinnerung überschauerte mich plötzlich. Es war wieder die dämmernd braune Stube, die Lampe flimmerte wieder so ängstlich, ich hob die blau gesteifte Gardine von dem stillen Bette, küßte die Lippen der toten Maria, und aus ihrem Winkel ertönte von selber die verlassene Harfe, und es war derselbe Ton —

Erschrocken sprach ich zu der kleinen Harfenistin: Na, na! liebes Kind, gib mir deine Rose. Wenn sie auch schon zur Welklichkeit übergegangen und nicht mehr ganz so frisch duftet, und wenn auch eine Rose ohne Duft einem Weibe ohne Keuschheit zu vergleichen ist, so hat das doch nichts zu sagen bei einem Manne, der schon seit Jahren den Stockschnupfen hat.

Da lachte die Kleine und gab mir ihre Rose, und das geschah auf der Straße zu Trient, vor der Botega, der Albergo della Grande Europa gegenüber, im Angesicht von vielen tausend entdeckten und noch mehreren unentdeckten Sternen, die mir alle bezeugen müssen, daß die Geschichte nicht auf meinem Zimmer passiert und keine Allegorie ist.

Ja, denk dir nichts Böses, teurer Leser — die Sterne sahen so hell und keusch vom Himmel herab, und schienen mir so tief ins Herz. Im Herzen selbst aber zitterte die Erinnerung an die tote Maria. Ich hatte lange nicht an sie gedacht, und jetzt in Trient, wo ich eben den Fuß auf italienischen Boden gesetzt, tauchte ihr Bild, mit wundersamem Schauer, in meiner Seele wieder hervor, und es war mir, als als träte sie leibhaftig vor mich hin und spräche: „Warum haben Sie mich nicht mitgenommen nach Italien, wie Sie mir einst versprachen?“ — Liebes Kind, Sie sind ja tot, sprach ich träumend. — „Süßer Freund, das bißchen Totsein hat ja nichts zu bedeuten.“ — Aber wie kommen Sie hierher? Ich glaubte erst nach vielem Millionen Jahren das Vegnügen zu haben, Sie wieder zu sehen. Oder sind diese vielen Jahre schon verflossen? Gott, wie vergeht die Zeit! —

Ach nein, lieber Leser, es war nicht Maria selber, die im Dome gebeichtet; ich bin nicht so abergläubisch, als daß ich glauben könnte, die Toten stiegen aus den Gräbern, um die letzten geringen Liebessünden, die sie nicht einmal selbst verschuldet, abzubeichten. Auf jeden Fall aber ist es sonderbar, daß deutsche Liebe selbst dem vernünftigsten Menschen bis in Italien nachspukt, und daß ich eben, lieber Leser, gleich bei meiner Ankunft im warmen, blühenden Italien dir eine Geschichte erzählen muß, die an einem deutschen Winterabend passiert, wo kalter Nordwind im Schornstein pfiff und Schneegestöber an die Fenster schlug. Aber das Gemach, worin die Geschichte passiert und worin ich mich allein mit Maria befand, ach! da war es duftig warm, der Kamin flackerte traulich, dämmernde Blumenköpfe ragten aus blanken Vasen, nickende Heiligenbilder bedeckten die Wände, Maria aber saß am Flügel und spielte eine altitalienische Melodie. Ihr Haupt war niedergebeugt, das Licht, das vor ihr stand, warf einen gar süßen Schein auf ihre kleine Hand, und ich stand ihr gegenüber, betrachtete die bewegte Hand, jedes Grübhcne, jedes Geäder der Hand — Unterdessen zogen die Töne so warm und innig in mein Herz, ich stand und träumte einen Traum von unaussprech.icher Seligkeit, die Töne wurden immer siegend gewaltiger, dann und wann wieder hinab schmelzend in besiegter Hingebung, ich starb, ich lebte und starb wieder, Ewigkeiten rauschten vorüber, und als ich erwachte, stand sie milde vor mir und bat mich mit schaudernder Stimme, daß ich ihr die Ringe, die sie wegen des Klavierspielens abgelegt hatte, wieder an die Finger stecken möchte. Ich tat es, und sagte ihr ein Denkwort bei jedem Ring. Bei dem Rubinring sagte ich: Lieben Sie mich nur unbedingt; bei dem Saphir sagte ich: Sein Sie mir nur immer treu; bei dem Diamanten sagte ich: Sein Sie mir nur immer rein wie jetzt, und endlich drückte ich die ganze Hand an meine Lippen und sprach: Maria, warum sind Sie mir gestern im Konzerte beständig ausgewichen, und haben nie nach mir hingesehen? Und sie antwortete mit weicher Stimme: „Laßt uns gute Freunde sein.“

Was ich dir aber, lieber Leser, hier erzählt, das ist kein Ereignis von gestern und vorgestern, und Jahrtausende, viele tausend Jahrtausende werden dahin rollen, ehe sie ihren Schluß erhalten, einen gewiß guten Schluß! Denn wisse, die Zeit ist unendlich, aber die Dinge in dieser Zeit, die faßlichen Körper, sind endlich; sie können zwar in die kleinsten Teilchen zerstieben, doch diese Teilchen, die Atome, haben ihre bestimmte Zahl, und bestimmt ist auch die Zahl der Gestaltungen, die sich gottselbst aus ihnen hervor bilden; und wenn auch noch so lange Zeit darüber hingeht, so müssen doch, nach den ewigen Kombinationsgesetzen dieses ewigen Wiederholungsspiels, alle Gestaltungen, die auf dieser Erde schon gewesen sind, sich wieder begegnen, anziehen, abstoßen, küssen, verderben, vor wie nach. — Und so wird es einst geschehen, daß wieder ein Mann geboren wird, ganz wie ich, und ein Weib geboren wird, ganz wie Maria, nur daß hoffentlich der Kopf des Mannes etwas weniger Torheit enthalten mag, und in einem besseren Lande werden sie sich Beide begegnen, und sich lang betrachten, und das Weib wird endlich dem Manne die Hand reichen und mit weicher Stimme sprechen: „Laßt uns gute Freunde sein.“

Aber ach! es geht doch dabei viel Zeit verloren, dacht ich schon damals, als ich vor dem Bette stand, worauf die tote Maria lag, der schöne, blasse Leib, die sanften, stillen Lippen. Ich bat die alte Frau, die bei der Leiche wachen sollte, sich im Nebenzimmer schlafen zu legen, und mir unterdessen ihr Amt zu überlassen; denn es war schon über Mitternacht, und so eine alte Frau mit roten Augenlidern bedarf der Ruhe. Ich weiß nicht, was der Seitenblick bedeutete, den sie mir zuwarf, als sie zur Tür hinaus ging; aber ich erschrak darob im tiefsten Herzen. Die kleine Flamme der Lampe zitterte, die Nachtviolen, die auf dem Tische im Glase standen, dufteten immer ängstlicher —

Ich muß mich heut durchaus dazu bequemen, ein Materialist zu sein; denn sollte ich anfangen zu denken, daß die Toten nicht so viel Millionen Jahre nötig haben, ehe sie wieder kommen können, und daß sie uns schon in diesem Leben nachreisen, und daß es wirklich die tote Maria war, die im Dome zu Trient die letzte Sünde gebeichtet — Genug davon! ich will ein neu Kapitel anfangen und dir erzählen, was ich noch außerdem in Trient geträumt habe.

*

Albrecht Dürer, Ansicht von Trient vom Norden, 1495

Bilder: Albrecht Dürer: Erste Italienreise gen Venedig: seine drei überlieferten Ansichten vom Ort der Handlung Trient, 1495:

  1. Das Schloß von Trient, British Museum, London;
  2. Trintperg (Der Doss Triento bei Trient), Museum für Kunst und Landesgeschichte Hannover;
  3. Ansicht von Trient vom Norden, Kunsthalle Bremen, seit 1945 verschollen.

Soundtrack: Heilige Messe in der Cattedrale di San Vigilio zu Trient, 4. November 2012:

Bonus Track: Shakespears Sister: Hello (Turn Your Radio On), aus: Hormonally Yours, 1992. Das ist weder besonders südtirolerisch noch sonst gebirgig, noch heißt eine der Schwestern Maria — es lohnt sich aber, nach all den Jahren einmal dezidiert der Klavierstimme zuzuhören, und natürlich wie schon all die Jahre, der blasseren Schwester beim Bildschirmputzen zuzuschauen. Also bitte volle Lautstärke und wegen der üppigen Videodetails Vollbild:

And if I taste the honey, is it really sweet,
And do I eat it with my hands or with my feet?
Does anybody really listen when I speak,
Or will I have to say it all again next week?

Written by Wolf

1. November 2017 at 00:01

Romantische Bieronie (Dei Ironiezeigl konnst sejwa saffa)

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Update zu Isarathen ist die nördlichste Stadt Italiens und
Große Zusammenkünfte, die mehr einer Feierlichkeit als einem geselligen Vergnügen gleichen:

Zur Eröffnung des Oktoberfestes 2017 kann man sich nur mehr ironisch im nicht-aristotelischen Sinne äußern. Der letzte Teil ab „und ein mitleidig ledernes Lächeln“ erscheint nur im Manuskript und einigen Drucken in Heines Werkausgaben, von Heine autorisierter Text ist er nicht.

——— Heinrich Heine:

Reise von München nach Genua

Kapitel III, aus: Reisebilder. Dritter Teil, 1830:

Daß man aber die ganze Stadt ein neues Athen nennt, ist, unter uns gesagt, etwas ridikül, und es kostet mich viele Mühe, wenn ich sie in solcher Qualität vertreten soll. Dieses empfand ich aufs tiefste in dem Zweigespräch mit dem Berliner Philister, der, obgleich er schon eine Weile mit mir gesprochen hatte, unhöflich genug war, alles attische Salz im neuen Athen zu vermissen.

„Des“, rief er ziemlich laut, „gibt es nur in Berlin. Da nur ist Witz und Ironie. Hier gibt es gutes Weißbier, aber wahrhaftig keine Ironie.“

„Ironie haben wir nicht“, rief Nannerl, die schlanke Kellnerin, die in diesem Augenblick vorbeisprang, „aber jedes andre Bier können Sie doch haben.“

Marie-Geneviève Bouliar, Selbstportrait als Aspasia, 1794Daß Nannerl die Ironie für eine Sorte Bier gehalten, vielleicht für das beste Stettiner, war mir sehr leid, und damit sie sich in der Folge wenigstens keine solche Blöße mehr gebe, begann ich folgendermaßen zu dozieren: „Schönes Nannerl, die Ironie is ka Bier, sondern eine Erfindung der Berliner, der klügsten Leute von der Welt, die sich sehr ärgerten, daß sie zu spät auf die Welt gekommen sind, um das Pulver erfinden zu können, und die deshalb eine Erfindung zu machen suchten, die ebenso wichtig und eben denjenigen, die das Pulver nicht erfunden haben, sehr nützlich ist. Ehemals, liebes Kind, wenn jemand eine Dummheit beging, was war da zu tun? Das Geschehene konnte nicht ungeschehen gemacht werden, und die Leute sagten: ‚Der Kerl war ein Rindvieh.‘ Das war unangenehm. In Berlin, wo man am klügsten ist und die meisten Dummheiten begeht, fühlte man am tiefsten diese Unannehmlichkeit. Das Ministerium suchte dagegen ernsthafte Maßregeln zu ergreifen: bloß die größeren Dummheiten durften noch gedruckt werden, die kleineren erlaubte man nur in Gesprächen, solche Erlaubnis erstreckte sich nur auf Professoren und hohe Staatsbeamte, geringere Leute durften ihre Dummheiten bloß im verborgenen laut werden lassen; – aber alle diese Vorkehrungen halfen nichts, die unterdrückten Dummheiten traten bei außerordentlichen Anlässen desto gewaltiger hervor, sie wurden sogar heimlich von oben herab protegiert, sie stiegen öffentlich von unten hinauf, die Not war groß, bis endlich ein rückwirkendes Mittel erfunden ward, wodurch man jede Dummheit gleichsam ungeschehen machen und sogar in Weisheit umgestalten kann. Dieses Mittel ist ganz einfach und besteht darin, daß man erklärt, man habe jene Dummheit bloß aus Ironie begangen oder gesprochen. So, liebes Kind, avanciert alles in dieser Welt, die Dummheit wird Ironie, verfehlte Speichelleckerei wird Satire, natürliche Plumpheit wird kunstreiche Persiflage, wirklicher Wahnsinn wird Humor, Unwissenheit wird brillanter Witz, und du wirst am Ende noch die Aspasia des neuen Athens.“

Ich hätte noch mehr gesagt, aber das schöne Nannerl, das ich unterdessen am Schürzenzipfel festhielt, riß sich gewaltsam los, als man von allen Seiten „A Bier! A Bier!“ gar zu stürmisch forderte. Der Berliner aber sah aus wie die Ironie selbst, als er bemerkte, mit welchem Enthusiasmus die hohen schäumenden Gläser in Empfang genommen wurden; und indem er auf eine Gruppe Biertrinker hindeutete, die sich den Hopfennektar von Herzen schmecken ließen und über dessen Vortrefflichkeit disputierten, sprach er lächelnd: „Das wollen Athenienser sind?“ und ein mitleidig ledernes Lächeln zog sich um die hölzernen Lippen des Mannes, als er auf eine Gruppe Biertrinker hinzeigte, die sich das holde Getränk von Herzen schmecken ließen, und über die Vorzüglichkeit des diesjährigen Bockes disputierten. „Das wollen Athenienser sind? — — —“

Zeit und Ort der Handlung sind die Bockbierzeit 1830, das ist etwa ein Vierteljahr vor dem 20. Oktoberfest, und wie man erst im darauffolgen Kapitel IV und über das Literaturportal Bayern erfährt, weitab vom Oktoberfestgelände der Ludwigsvorstädter Theresienwiese, in Bogenhausen:

das längst verschwundene Schlößchen des Grafen von Törring-Jettenbach am Hochufer der Isar gegenüber dem St. Georgs-Kirchlein von Johann Michael Fischer; die Neuberghauserstraße erinnert seit 1897 daran. In diesem Edelsitz wohnte kurzfristig der bayerische Finanzminister Johann Wilhelm von Hompesch bis zu seinem Tod 1809. Mit dem „Montgelasgarten“ des nahe gelegenen Edelsitzes Stepperg des Freiherrn von Montgelas hat Neuberghausen allerdings nichts zu tun. In dem einstigen Schlösschen wurde stattdessen Anfang 1828 eine Ausflugsgaststätte eröffnet, die bald gut florierte. Hier saß Heinrich Heine als einer der ersten Gäste und hatte noch den freien Blick auf die Alpenkette, und eben hier wurde ihm ein besonders schönes Denkmal gesetzt, das alle Widrigkeiten der Zeit überdauert hat.

Und eben nicht der unsäglich nichtssagende Gusseisenkäfig von 1962 im Dichtergarten, mit dem die Stadt München wehrlose, weil verstorbene Schreibarbeiter verunglimpfen zu müssen glaubt und der — typisch für München — ein abgelegener Teil des Finanzgartens ist. Übrigens, Kapitel IV, a. a. O.:

Das Bier ist an besagtem Orte wirklich sehr gut, selbst im Prytaneum, vulgo Bockkeller, ist es nicht besser, es schmeckt ganz vortrefflich, besonders auf jener Treppenterrasse, wo man die Tiroler Alpen vor Augen hat. Ich saß dort oft vorigen Winter und betrachtete die schneebedeckten Berge, die, glänzend in der Sonnenbeleuchtung, aus eitel Silber gegossen zu sein schienen.

Und unsereins soll auf einem „Volksfest“ 2017 für rund 0,8 Liter Bier knapp elf Euro zahlen und bloß nicht glauben, die Bedienung gäbe sich übertrieben lange mit dem Kramen nach Wechselgeld ab, wenn sie erst einen Zwanziger in der Hand hat. Das ist nicht-aristotelische Ironie.

Neuberghausen, Lithorgraphie 1830 via Literaturportal Bayern

Buidln: Marie-Geneviève Bouliar: Selbstportrait als Aspasia, 1794,
Öl auf Leinwand, 123 cm auf 127 cm, Musée des beaux-arts d’Arras;
„Neuberghausen“, Lithographie mit Tondruck, ca. 1830. „Im Hintergrund das ehem. Törring- und nachher Hompesch-Schlößchen, spätere Gasthaus Neuberghausen. Dasselbe bildete Mitte des vorigen Jahrhunderts Winter wie Sommer einen Vereinigungspunkt der vornehmen Welt zu den Kaffee-Nachmittagsstunden; große Tanzunterhaltungen zeichneten sich durch einen sehr heiteren Ton aus.“ Abb. 233 in: Alt-Münchner Bilderbuch. Ansichten aus dem alten München aus der Monacensia-Sammlung Zettler. München 1918. Legende ebd., S. 26,
via Dr. Dirk Heißerer: Ironie haben wir nicht. München, Bogenhausen: Neuberghauserstraße,
Literaturportal Bayern.

Soundtrack: LaBrassBanda featuring Stephan Remmler: Keine Sterne in Athen,
aus: Kiah Royal, unplugged im Kuhstall, Höllthal bei Seeon 2014:

Written by Wolf

15. September 2017 at 00:01

Leider mit Vergeßlichkeit angefüllt ist dein Gehirne

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Weheklagen mag niemand, schon gar nicht, wenn der Klagende „Lamentationen“ dazu sagt. Außer sie sind so brillant wie die von Heine oder gar wirklich von Heine.

Die Gedichtnummern 19 bis 28 aus dem dritten Teil der Nachgelassenen Gedichte 1845–1856 namens Lamentationen richten sich nachweislich an Heines Frau Augustine Crescence, vulgo Mathilde. Das Paar hielt sich gegenseitig für nicht besonders helle: Sie verstand weder, was ihr Heinrich andauernd zu schreiben hatte, wofür ihm gar noch jemand Geld zahlen sollte, noch konnte oder wollte sie kochen und haushalten, dafür verbreitete sie: „Henri, c’est un très bon garcon, très bon enfant, mais quant à l’esprit, il n’en a pas beaucoup!“

Heines resignierte Anti-Liebesgedichte gehören zum Schönsten, was sich ihm entrungen hat. Vom höchsten bleibenden Gebrauchswert finde ich die Nummern 20, 21 und 24. Man sollte wählerisch sein, wem man sie zitiert.

Die Reihenfolge, die von einer Sammlung zur anderen umsortiert wird, weil sie vom todkranken Heine nicht mehr als Zyklus festgelegt wurde, richtet sich nach der Hanser-Gesamtausgabe von Klaus Briegleb. „Celimene“ bezieht sich auf die kokette Célimène aus Molière: Le Misanthrope. Das 1486 bis 1993 chronologisch geordnete Bildmaterial illustriert das mittelalterliche Märe Aristoteles und Phyllis. Ein zeitloses Thema.

——— Heinrich Heine:

Lamentationen

aus: Nachgelesene Gedichte 1845–1856, Auszüge Nr. 19 bis 28:

19

Aristoteles und PhyllisHab eine Jungfrau nie verführet
Mit Liebeswort, mit Schmeichelei;
Ich hab auch nie ein Weib berühret,
Wußt ich, daß sie vermählet sei.

Wahrhaftig, wenn es anders wäre,
Mein Name, er verdiente nicht
Zu strahlen in dem Buch der Ehre;
Man dürft mir spucken ins Gesicht.

20

Celimene

Glaube nicht, daß ich aus Dummheit
Dulde deine Teufeleien;
Glaub auch nicht, ich sei ein Herrgott,
Der gewohnt ist zu verzeihen.

Deine Nücken, deine Tücken
Hab ich freilich still ertragen.
Andre Leut an meinem Platze
Hätten längst dich tot geschlagen.

Schweres Kreuz! Gleichviel, ich schlepp es!
Wirst mich stets geduldig finden —
Wisse, Weib, daß ich dich liebe,
Um zu büßen meine Sünden.

Ja, du bist mein Fegefeuer,
Doch aus deinen schlimmen Armen
Wird geläutert mich erlösen
Gottes Gnade und Erbarmen.

21

Aristoteles und PhyllisEs geht am End, es ist kein Zweifel,
Der Liebe Glut, sie geht zum Teufel.
Sind wir einmal von ihr befreit,
Beginnt für uns die beßre Zeit,
Das Glück der kühlen Häuslichkeit.

Der Mensch genießet dann die Welt,
Die immer lacht fürs liebe Geld.
Er speist vergnügt sein Leibgericht,
Und in den Nächten wälzt er nicht
Schlaflos sein Haupt, er ruhet warm
In seiner treuen Gattin Arm.

22

Die Liebesgluten, die so lodernd flammten,
Wo gehn sie hin, wenn unser Herz verglommen?
Sie gehn dahin, woher sie einst gekommen,
Zur Hölle, wo sie braten, die Verdammten.

23

Aristoteles und PhyllisGeleert hab ich nach Herzenswunsch
Der Liebe Kelch, ganz ausgeleert;
Das ist ein Trank, der uns verzehrt
Wie flammenheißer Kognakpunsch.

Da lob ich mir die laue Wärme
Der Freundschaft; jedes Seelenweh
Stillt sie, erquickend die Gedärme
Wie eine fromme Tasse Tee.

24

Lebewohl

Hatte wie ein Pelikan
Dich mit eignem Blut getränket,
Und du hast mir jetzt zum Dank
Gall und Wermut eingeschenket.

Böse war es nicht gemeint,
Und so heiter blieb die Stirne;
Leider mit Vergeßlichkeit
Angefüllt ist dein Gehirne.

Nun leb wohl — du merkst es kaum,
Daß ich weinend von dir scheide.
Gott erhalte, Törin, dir
Flattersinn und Lebensfreude!

25

Aristoteles und PhyllisIch war, o Lamm, als Hirt bestellt,
Zu hüten dich auf dieser Welt;
Hab dich mit meinem Brot geätzt,
Mit Wasser aus dem Born geletzt.
Wenn kalt der Wintersturm gelärmt,
Hab ich dich an der Brust erwärmt.
Hier hielt ich fest dich angeschlossen,
Wenn Regengüsse sich ergossen
Und Wolf und Waldbach um die Wette
Geheult im dunkeln Felsenbette.
Du bangtest nicht, hast nicht gezittert.
Selbst wenn den höchsten Tann zersplittert
Der Wetterstrahl – in meinem Schoß
Du schliefest still und sorgenlos.

Mein Arm wird schwach, es schleicht herbei
Der blasse Tod! Die Schäferei,
Das Hirtenspiel, es hat ein Ende.
O Gott, ich leg in deine Hände
Zurück den Stab. — Behüte du
Mein armes Lamm, wenn ich zur Ruh
Bestattet bin — und dulde nicht,
Daß irgendwo ein Dorn sie sticht —
O schütz ihr Vlies vor Dornenhecken
Und auch vor Sümpfen, die beflecken;
Laß überall zu ihren Füßen
Das allerbeste Futter sprießen;
Und laß sie schlafen, sorgenlos,
Wie einst sie schlief in meinem Schoß.

26

Aristoteles und PhyllisIch seh im Stundenglase schon
Den kargen Sand zerrinnen.
Mein Weib, du engelsüße Person!
Mich reißt der Tod von hinnen.

Er reißt mich aus deinem Arm, mein Weib,
Da hilft kein Widerstehen,
Er reißt die Seele aus dem Leib —
Sie will vor Angst vergehen.

Er jagt sie aus dem alten Haus,
Wo sie so gerne bliebe.
Sie zittert und flattert — Wo soll ich hinaus?
Ihr ist wie dem Floh im Siebe.

Das kann ich nicht ändern, wie sehr ich mich sträub,
Wie sehr ich mich winde und wende;
Der Mann und das Weib, die Seel und der Leib,
Sie müssen sich trennen am Ende.

27

Aristoteles und PhyllisDen Strauß, den mir Mathilde band
Und lächelnd brachte, mit bittender Hand
Weis ich ihn ab — Nicht ohne Grauen
Kann ich die blühenden Blumen schauen.

Sie sagen mir, daß ich nicht mehr
Dem schönen Leben angehör,
Daß ich verfallen dem Totenreiche,
Ich arme unbegrabene Leiche.

Wenn ich die Blumen rieche, befällt
Mich heftiges Weinen — Von dieser Welt
Voll Schönheit und Sonne, voll Lust und Lieben,
Sind mir die Tränen nur geblieben.

Wie glücklich war ich, wenn ich sah
Den Tanz der Ratten der Opera —
Jetzt hör ich schon das fatale Geschlürfe
Der Kirchhofratten und Grab-Maulwürfe.

O Blumendüfte, ihr ruft empor
Ein ganzes Ballett, ein ganzes Chor
Von parfümierten Erinnerungen —
Das kommt auf einmal herangesprungen,

Mit Kastagnetten und Zimbelklang,
In flittrigen Röckchen, die nicht zu lang;
Doch all ihr Tändeln und Kichern und Lachen,
Es kann mich nur noch verdrießlicher machen!

Fort mit den Blumen! Ich kann nicht ertragen
Die Düfte, die von alten Tagen
Mir boshaft erzählt viel holde Schwänke —
Ich weine, wenn ich ihrer gedenke. —

28

Aristoteles und PhyllisEs kommt der Tod — jetzt will ich sagen,
Was zu verschweigen ewiglich
Mein Stolz gebot: für dich, für dich,
Es hat mein Herz für dich geschlagen!

Der Sarg ist fertig, sie versenken
Mich in die Gruft. Da hab ich Ruh.
Doch du, doch du, Maria, du
Wirst weinen oft und mein gedenken.

Du ringst sogar die schönen Hände –
O tröste dich — Das ist das Los,
Das Menschenlos: — was gut und groß
Und schön, das nimmt ein schlechtes Ende.

Soundtrack: Wolfgang Ambros: Denk ned noch (des geht vurbei) aus: Live … auf ana langen finstern Stross’n, 1979, nach Bob Dylan: Don’t Think Twice, It’s All Right, 1963.

Written by Wolf

27. Januar 2017 at 00:01

3. Katzvent: Und ich singe was ich fühle

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Wo doch Heine heuer am dritten Advent Geburtstag hat, da kriegt er einen ausführlichen Musikteil.

Und die geschändeten und geschmähten Katzen werden über die fashionablen Kater herfallen und werden ihnen eine Katzenmusik bringen, daß ihnen alle Katerlust vergehen soll, und die Katzen werden miauen: „Jetzt regieren wir!“

Georg Weerth: Skizzen aus dem sozialen und politischen Leben der Briten, 1849.

——— Heinrich Heine (*13. Dezember 1797, Düsseldorf; † 17. Februar 1856, Paris):

14. Mimi

aus: Gedichte 1853 und 1854:

Katzenmusik, Fliegende Blätter, 1852Bin kein sittsam Bürgerkätzchen,
Nicht im frommen Stübchen spinn ich.
Auf dem Dach, in freier Luft,
Eine freie Katze bin ich.

Wenn ich sommernächtlich schwärme,
Auf dem Dache, in der Kühle,
Schnurrt und knurrt in mir Musik,
Und ich singe was ich fühle.

Also spricht sie. Aus dem Busen
Wilde Brautgesänge quellen,
Und der Wohllaut lockt herbei
Alle Katerjunggesellen.

Alle Katerjunggesellen,
Schnurrend, knurrend, alle kommen,
Mit Mimi zu musizieren,
Liebelechzend, lustentglommen.

Das sind keine Virtuosen,
Die entweiht jemals für Lohngunst
Die Musik, sie blieben stets
Die Apostel heilger Tonkunst.

Brauchen keine Instrumente,
Sie sind selber Bratsch und Flöte;
Eine Pauke ist ihr Bauch,
Ihre Nasen sind Trompeten.

Katzenrassen. Die Gartenlaube nach einer Originalzeichnung von J. Bungartz, Leipzig 1897. 1. Cyperkatze. 2. Karthäuserkatze. 3. Angorakatze. 4. Khorassankatze. 5. Chinesische Katze. 6. Siamesische KatzeSie erheben ihre Stimmen
Zum Konzert gemeinsam jetzo;
Das sind Fugen, wie von Bach
Oder Guido von Arezzo.

Das sind tolle Symphonien,
Wie Capricen von Beethoven
Oder Berlioz, der wird
Schnurrend, knurrend übertroffen.

Wunderbare Macht der Töne!
Zauberklänge sondergleichen!
Sie erschüttern selbst den Himmel,
Und die Sterne dort erbleichen.

Wenn sie hört die Zauberklänge,
Wenn sie hört die Wundertöne,
So verhüllt ihr Angesicht
Mit dem Wolkenflor Selene.

Nur das Lästermaul, die alte
Prima-Donna Philomele
Rümpft die Nase, schnupft und schmäht
Mimis Singen — kalte Seele!

Doch gleichviel! Das musizieret,
Trotz dem Neide der Signora,
Bis am Horizont erscheint
Rosig lächelnd Fee Aurora.

Grandville, Eine Katzenmusik, La Caricature, Paris 1. September 1831

Katzenbilder: Fliegende Blätter, 16.1852 (Nr. 361-384), Bild 2, 1852;
Katzenrassen: Die Gartenlaube nach J. Bungartz, Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1897:

  1. Cyperkatze
  2. Karthäuserkatze
  3. Angorakatze
  4. Khorassankatze
  5. Chinesische Katze
  6. Siamesische Katze

Grandville: Eine Katzenmusik (Charivari) in La Caricature, Paris, 1. September 1831.

Katzenmusikteil:

Fuge (wie) von Bach: Die Katze lässt das Mausen nicht, aus:
Schweigt stille, plaudert nicht (Kaffeekantate, BWV 211), ca. 1734.

Bonus Tracks:

Katzenjammer, Ben Caplan and The Trondheim Soloists: Fairytale Of New York aus The Pogues: If I Should Fall from Grace with God, 1987, in: Vi tenner våre lykter, 2011;

Aristocats: Scales and Arpeggios, Walt Disney et al., 1970:

Coda:

Ebenda: Everybody Wants to Be a Cat (dt.: Katzen brauchen furchtbar viel Musik).

Written by Wolf

11. Dezember 2015 at 00:01

Veröffentlicht in Junges Deutschland, Schall & Getöse

Geibels Wesen und Beruf

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Update zu Moral, das ist wenn man moralisch ist, versteht Er. (Kartoffeln schmälzen):

Wo Geibel und Heyse herrschen, bleibt Georg Büchner draußen vor der Tür.

Robert Minder.

Der Geibelplatz muss weg. Damit ist eigentlich alles gesagt.

Buddenbrookhaus Lübeck zum Geibel-Jahr 2015.

Lorenz Clasen: Germania auf der Wacht am Rhein, 1860Wenn man es denn bemerkt, was man aber kaum schafft, kann man es auch begehen, was man aber nicht muss: Emanuel Geibel ist gerade 200 geworden. In Lübeck, wo nicht einmal der zuständige Stadtrat sagen kann, ob sie dort einen Geibelplatz haben oder nicht, bekommt der Mann deshalb von einem engen Kreis Berufener ein ganzes Geibel-Jahr gewidmet: Das Buddenbrookhaus feiert schon das ganze Jahr lang den großen Dichter des Blutes und des Eisens und findet gar kein Ende mit seinen Veranstaltungen. Unverdächtig oder wenigstens nicht eindeutig überführbar bleibt Herr Geibel wohl deswegen, weil sich jemand, der Emanuel heißt, was Antisemitismus angeht, schon nicht unbotmäßig weit aus dem Fenster gelehnt haben wird. Die Welt vom Samstag, den 17. Oktober 2015 frühstückt das recht passend mit einer einzelnen Notiz als „Zahl des Tages“ im Feuilleton ab, sinnigerweise rechts unten.

——— Emanuel Geibel:

O hätt‘ ich Drachenzähne statt der Lieder

1846:

O hätt‘ ich Drachenzähne statt der Lieder,
Daß, sät‘ ich sie auf diese dürre Küste,
Draus ein Geschlecht von Kriegern wachsen müßte,
Im Waffentanz zu rühren Eisenglieder.

Sie alle sollten Deutschlands Heerschild wieder
Erhöhn, unnahbar jedem Raubgelüste,
Und nimmer fragen nach des Kampfes Rüste,
Bis Hauch des Siegs umspielt‘ ihr Helmgefieder.

Nun hab‘ ich Worte nur, allein wie Saaten
Will ich sie streun in deutsche Seelen wacker,
Ob hier und dort mag eine Frucht geraten.

Doch soll draus aufgehn nicht ein Zorngeflacker,
Nein, ruhig ernst ein Mut zu großen Taten.
Du aber, Herr, bereite selbst den Acker!

Ausgefeilter kann man kaum „Jeder wie er kann“ sagen. Er kann auch eine Frühform von „Deutschland, erwache!“ in Bezug zum antiken Griechenland setzen:

Deutschland, bist du so tief vom Schlaf gebunden

1846:

Deutschland, bist du so tief vom Schlaf gebunden,
Daß diese fremden Zwerge sich getrauen,
Mit frechem Beil in deinen Leib zu hauen,
Als könntest du nicht spüren Streich und Wunden?

Ist deine Ehre so dahingeschwunden
Im Mund der Völker, daß sie keck drauf bauen,
Mit teilnahmloser Ruhe würden schauen
Die Schmach des kranken Gliedes die gesunden?

Erwach‘ und steig empor in Zornes Lohen!
Laß aus der Brust, die nicht umsonst sich brüstet,
Die Riesendonner deiner Stimme drohen!

Da werden, die nach deinem Raub gelüstet,
Entsetzt zerstäuben, wie die Troer flohen
Beim Ruf Achills, noch eh‘ er sich gerüstet.

Formal bleibt gerade in seinen Sonetten kein Wunsch offen, und Geibel hat viele davon. Einwandfreies Reimschema, Versmaß Ehrensache, die Quartette sind thematisch von den Terzetten unterschieden, und beide Teile fließen mühelos in ein Ganzes — nichts dagegen zu sagen. Seine bevorzugten Inhalte allerdings breitet er auch in formal weniger festgezurrten Epigrammen aus und konnte mit einem Fazit davon leider in den deutschen Sprichwortschatz eingehen:

Deutschlands Beruf

1861:

Philipp Veit, Allegorie der Germania, 1834--1836, Wandbild Altes Städelsches Institut Frankfurt am MainSoll’s denn ewig von Gewittern
Am umwölkten Himmel braun?
Soll denn stets der Boden zittern,
Drauf wir unsre Hütten baun?
Oder wollt ihr mit den Waffen
Endlich Rast und Frieden schaffen?

Daß die Welt nicht mehr, in Sorgen
Um ihr leichterschüttert Glück,
Täglich bebe vor dem Morgen,
Gebt ihr ihren Kern zurück!
Macht Europas Herz gesunden,
Und das Heil ist euch gefunden.

Einen Hort geht aufzurichten,
Einen Hort im deutschen Land!
Sucht zum Lenken und zum Schlichten
Eine schwerterprobte Hand,
Die den güldnen Apfel halte
Und des Reichs in Treuen walte.

Sein gefürstet Banner trage
Jeder Stamm, wie er’s erkor,
Aber über alle rage
Stolzentfaltet eins empor,
Hoch, im Schmuck der Eichenreiser
Wall‘ es vor dem deutschen Kaiser.

Wenn die heil’ge Krone wieder
Eine hohe Scheitel schmückt,
Auf dem Haupt durch alle Glieder
Stark ein ein’ger Wille zückt,
Wird im Völkerrat vor allen
Deutscher Spruch aufs neu‘ erschallen.

Dann nicht mehr zum Weltgesetze
Wird die Laun‘ am Seinestrom,
Dann vergeblich seine Netze
Wirft der Fischer aus in Rom,
Länger nicht mit seinen Horden
Schreckt uns der Koloß im Norden.

Macht und Freiheit, Recht und Sitte,
Klarer Geist und scharfer Hieb
Zügeln dann aus starker Mitte
Jeder Selbstsucht wilden Trieb,
Und es mag am deutschen Wesen
Einmal noch die Welt genesen.

Na gut, „Kaiser“ auf „Eichenreiser“, darauf muss man kommen, und das ist nicht ganz ohne Charme. 2014, als das Jubiläum noch ohne Geibel-Jahr abging, hat der nicht genug zu lobende Silvae eine Ehrenrettung Geibels zum 130. Todestag versucht — und sogar geschafft, ihm eine nicht ganz so bluttriefende, eisenrasselnde Seite abzugewinnen, mit der Zusammenfassung:

Wenn man die Gedichte liest, die sich hier im Goethezeitportal finden, dann lernt man einen anderen Geibel kennen. Auf jeden Fall einen ohne Drachenzähne.

Nicht einmal übliche Verdächtige werden sich heute mehr als Geibel-Fans outen (im Gegenteil: die wahrscheinlich als letzte), da wird man den Mann wohl noch rehabilitieren dürfen. Wenn Herr Silvae sich am runden Todestag so wohlwollend gezeigt hat, wollen wir am noch runderen Geburtstag erst recht mal nicht so sein, und so „wird im Völkerrat vor allen deutscher Spruch aufs neu‘ erschallen“. Gereimt sind sie ja wirklich gut.

Christian Köhler, Erwachende Germania, 1849

Deutsche Wesen: Lorenz Clasen: Germania auf der Wacht am Rhein, Düsseldorfer Malerschule, 1860
via Die holde Germania wacht jetzt in Leipzig, Westdeutsche Zeitung, 8. August 2013;
Philipp Veit: Allegorische Figur der Germania, 1834–1836, Wandbild aus dem alten Städelschen Institut, rechtes Seitenbild: Die mit Eichenlaub bekrönte Germania ist umgeben von mehreren Symbolen, die in der Romantik mit Deutschland verbunden waren (Reichskrone, Wappen des Heiligen Römischen Reichs, die Wappen der Kurfürsten, Reichsschwert und die Rheinlandschaft);
Christian Köhler: Erwachende Germania, 1849,
Öl auf Leinwand, 220 cm × 280 cm, New York Historical Society:
Vor Germania erscheint der Genius der Freiheit, während Knechtschaft und Zwietracht in den Abgrund stürzen.

Soundtrack: Emanuel Geibels unverfänglicher Smash-Hit Der Mai ist gekommen 1841, geschrieben im Biergarten des Lübecker Gasthofs, der später dem YouTuber gehörte, der die Rezitation von Frank Arnold veröffentlichen sollte.

Written by Wolf

23. Oktober 2015 at 00:01

Die Tage wurden trüber (wie von grober Mettwurst geschmiert)

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Das muss man sich auch einmal klar gemacht haben: Sommersonnenwende bedeutet, dass die Tage seit 21. Juni kürzer und im Ausgleich dazu die Nächte länger werden. Rechnerisch ist Sommeranfang schon Winteranfang. Die gute Nachricht ist: Mit dem gleichen Argument ist Sommeranfang kurz vor Weihnachten.

Das Lästige zum sommerlichen wie zum winterlichen Anlass sind die Literatur-Specials der Zeitungen, einmal für die „Strandlektüre“, einmal für die „Geschenkideen“ – beides so nützlich und zeitgemäß wie Käse- und Mettigel.

Aber gut, in der Welt stehen sie wenigstens dazu, dem Buchhandel – florieren soll er! – scheint es nicht zu schaden, und solange einer von 16 Redakteuren Heine empfiehlt, dürfen sie auch so tun, als ob sie jemals ein Reclam-Heft von Giacomo Leopardi gelesen hätten.

Ich bringe diese 2 relevanten von 16 Empfehlungen im Volltext und lasse den bezahlten Journalisten ihre Rechtschreibung; dafür darf jetzt ich eigenmächtig die Zitate hervorheben.

——— Frédéric Schwilden:

Frédéric Schwilden friert mit Heinrich Heine

aus:

Wir packen unsere Koffer und nehmen mit …

Pauschalreisen für unter zehn Euro? Gibt’s nur in der Literatur. Wir empfehlen für diesen Lesesommer: Kreuzfahrten über das Gleismeer, Paddeltouren durch die Pools der Nachbarn, Hiking im Haulewald oder eine Kutschfahrt nach Hagen. Reisen Sie! Lesen Sie! Buchen Sie!

in: Die Welt, Samstag/Sonntag, 27./28. Juni 2015, Literarische Welt, Seite 2:

George Clark Stanton, Death and the MaidenDass Heines „Wintermärchen“ (Insel, 6,50 €) nichts als die Wahrheit ist, zeigt der Zusatz „Märchen“ und die Tatsache, dass es damals als satirisches Gedicht herausgegeben wird. 1844 ist das. Auf Heines in Versform gestalteter Reise (literarische Kutschfahrt) von Frankreich über Köln, Hagen (Hagen?!), Paderborn, Minden bis nach Hamburg, gleitet der junge Autor wie von grober Mettwurst geschmiert durch ein Deutschland der Restaurationszeit. Das Irre daran ist, es scheint, als habe sich nichts verändert. Denken wir an Europa, an Deutschland heute und lesen Heine:

Die Jungfer Europa ist verlobt
Mit dem schönen Geniusse
Der Freiheit, sie liegen einander im Arm,
Sie schwelgen im ersten Kusse.

Deswegen, fahren Sie nach Ischia, gehen Sie ins Hotel „Miramar“ und bestellen Sie die große Leberwurststulle. Es wird ein merkelhafter Urlaub.

——— Dirk Schümer:

Dirk Schümer kühlt sich mit Giacomo Leopardi

a.a.O.:

Henri Lévy, Death and the Maiden, detail, 1900Warum zur Sommerzeit nicht mit dem größten Dichter des Nichts in den Süden reisen? Giacomo Leopardi stammt aus dem langweilig-schönen Recanati im Hinterland der Adria. Hier stopfte sich der Kranke – ein von Knochentuberkulose zerfressener Gnom mit zwei Buckeln – mit Europas Bücherwissen voll. Ein Vierteljahrhundert lang erstickte er an Lieblosigkeit, Isolation, Schmerzen und unerfüllter Sehnsucht. Dann ein paar Reisen quer durch Italien; schließlich 1837 mit noch nicht mal Vierzig der Tod in Neapel. In seinem Leiden dichtete Leopardi erbarmungslose „Gesänge und Fragmente“ (Reclam, 7,80 €) über die insektenhafte Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz:

Und so ertrinkt in Unermesslichkeit mein Geist. Und Scheitern ist mir süß in diesem Meer.

Mit diesem Bad im Wörtersee wird selbst der allerheißeste Mittelmeersommer wieder kühl.

Bilder: George Clark Stanton: Death and the Maiden;
Henri Lévy: Death and the Maiden, Detail, 1900.

Written by Wolf

2. Juli 2015 at 00:01

Mit Blumen, mit verdorrten

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Nachträglich vorausgreifendes Update zu Angebinde:

Lieber Frühlingsanfang als Märzunruhen. Man beachte die beziehungsreichen Pflanzennamen.

——— August Freiherr von Seckendorff: ’s ist wieder März geworden, März 1848,
Erstdruck als August Dorff in: Leuchtkugeln, Verlag von Emil Roller, München, Mitte April 1849, Seite 150 f.:

Alfred Rethel, Allegorie auf die Niederschlagung der Revolution von 1848, 1849, Deutsches Historisches Museum Berlin’s ist wieder März geworden,
vom Frühling keine Spur.
Ein kalter Hauch aus Norden
erstarret rings die Flur.

’s ist wieder März geworden —
März, wie es eh’dem war:
Mit Blumen, mit verdorrten
erscheint das junge Jahr.

Mit Blumen, mit verdorrten?
O nein, doch das ist Scherz —
gar edle Blumensorten
bringt blühend uns der März.

Seht doch die Pfaffenhütchen:
den Rittersporn, wie frisch!
Von den gesternten Blütchen —
welch farbiges Gemisch!

Der März ist wohl erschienen.
Doch ward es Frühling? — Nein!
Ein Lenz kann uns nur grünen
im Freiheitssonnenschein.

Seht hier den Wütrich thronen
beim Tausendgüldenkraut,
dort jene Kaiserkronen,
die Königskerze schaut!

Wie zahlreich die Mimosen,
das Zittergras wie dicht!
Doch freilich rote Rosen,
die kamen diesmal nicht.

Bild: Alfred Rethel: Allegorie auf die Niederschlagung der Revolution von 1848, 1849,
Deutsches Historisches Museum Berlin.

Written by Wolf

21. März 2014 at 00:01

Moral, das ist wenn man moralisch ist, versteht Er. (Kartoffeln schmälzen)

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Unseins ist doch einmal unselig in der und der andern Welt, ich glaub wenn wir in Himmel kämen, so müßten wir donnern helfen.

Woyzeck, 1836.

——— Wilhelm Büchner:

Erinnerung an meinen Bruder Georg! Pfungstadt, Juni 1875

Nachlass:

Das blaue Aug, sein lockig Haar,
Die kühne Stirn mit dem Apollo-Bogen,
Ein schlanker, großer junger Mann,
geziert mit roter Jakobiner-Mütze,
Im Polen-Rock, schritt stolz er durch die Straßen
Der Residenz, die Augenweide seiner Freunde!

Es sind immer die Revoluzzer unter den Dichtern, über die zu den Jubiläen verbreitet wird, sie hätten uns „heute noch viel zu sagen“. Leider ist über den ganzen Feierlichkeiten zu Jean Paul, Richard Wagner und Giuseppe Verdi ein Georg-Büchner-Jahr gar nicht groß ausgerufen worden. So geht es einem Revolutionär, der hinterlässt: „Ruhm will ich davon haben, nicht Brod“: dass am Ende nur noch sein Bruder ihn mag.

——— Karl Vogt:

Aus meinem Leben

Stuttgart 1896:

Offen gestanden, dieser Georg Büchner war uns nicht sympathisch. Er trug einen hohen Zylinderhut, der ihm immer tief unten im Nacken saß, machte beständig ein Gesicht wie eine Katze, wenn’s donnert, hielt sich gänzlich abseits, verkehrte nur mit einem etwas verlotterten und verlumpten Genie, August Becker, gewöhnlich nur der „rote August“ genannt. Seine Zurückgezogenheit wurde für Hochmut ausgelegt, und da er offenbar mit politischen Umtrieben zu tun hatte, ein- oder zweimal auch revolutionäre Äußerungen hate fallen lassen, so geschah es nicht selten, daß man abends, von der Kneipe kommend, vor seiner Wohnung still hielt und ihm ein ironisches Vivat brachte: „Der Erhalter des europäischen Gleichgewichtes, der Abschaffer des Sklavenhandels, Georg Büchner, er lebe hoch!“ — Er tat, als höre er das Gejohle nicht, obgleich seine Lampe brannte und zeigte, daß er zu Hause sei. In Wernekincks Privatissimum war er sehr eifrig, und seine Diskussionen mit dem Professor zeigten uns andern bald, daß er gründliche Kenntnisse besitze, welche uns Respekt einflößten. Zu einer Annäherung kam es aber nicht; sein schroffes, in sich abgeschlossenes Wesen stieß uns immer wieder ab.

Steckbrief Georg Büchner, 1835Sein Gesamtwerk, das auf 200 Seiten Reclamheftgröße passt, hat gerade erst im Sommer seine erste bahnbrechende historisch-kritische Ausgabe seit 1972 erlebt; die Theaterspielpläne bersten nicht gerade vor Neuinterpretationen seiner Dramen, drei an der Zahl; seine einzige Erzählung Lenz über dengleichnamigen Stürmer und Dränger qualifizierte ihn fürs Junge Deutschland, zu dem er partout nicht gehören wollte, solange die Kategorie Vormärz noch nicht erfunden war; seine paar Übersetzungen französischer Dramen werden in den gängigen Ausgaben aus Platz- und Relevanzgründen unterschlagen; Lyrik konnte er gar nicht; vor seinem politischen Verdienst, dem Hessischen Landboten, ist er schon zu Lebzeiten bis Straßburg und Zürich davongerannt — als klar wurde, dass eine verständnislose Bauernschaft sich für das Verteilen von 1500 Exemplaren selber an die Obrigkeit wandte, vor der sie gerettet werden sollte, und das im Deutschland der Karlsbader Beschlüsse für die Todesstrafe reichte — und forschte den Rest seines anrührend kurzen Lebens über die Schädelnerven von Rotbarben. — Von seinen Reden, „der materielle Druck, unter welchem ein großer Teil Deutschlands liege, sei eben so traurig und schimpflich, als der geistige; und es sei in seinen Augen bei weitem nicht so betrübend, daß dieser oder jener Liberale seine Gedanken nicht drucken lassen dürfe, als daß viele tausend Familien nicht im Stande wären, ihre Kartoffeln zu schmälzen u. s. w.“ (August Becker: aus Georg Büchners Verhör, posthum veröffentlicht 1. September 1837) ist er deswegen noch lange keinen hessischen Zollbreit abgerückt.

Zwischen den vorhergesehenen Gedenktagen für seinen 175. Todes- und 200. Geburtstag ließ sich der Weltgeist in Gestalt von Prof. em. Dr. Günter Oesterle gerade einmal herbei, auf einem Gießener Dachboden eine mutmaßlich neue, bis ausgerechnet jetzt verschollene Portraitzeichnung von ihm ans öffentliche Licht zu heben. Ob Georg Büchner oder seinen kleinen Bruder Wilhelm abbilden sollte, was frappierend wie Georg Büchner oder der junge Erroll Flynn aussieht, wird noch diskutiert.

Genau das trägt uns zu dem, was er uns „heute noch zu sagen“ hat: Ob es betrübender ist, dass dieser oder jener Internet-Nutzer seine Gedanken der Regierung übermittelt, oder dass viele tausend Familien Pfandflaschen aufsammeln gehen müssen, um ihre Kartoffeln zu schmälzen, bleibt ein eher gradueller Unterschied — und dabei immer noch unverhohlen der politische Wille. Nur dass beides heute nicht mehr im Namen des Feudalismus, sondern der Demokratie geschieht.

Wie feiert man so jemanden? — Indem man ein anständiger Mensch bleibt, egal ob einen hinterher noch einer mag. Wenigstens mal einen Tag lang, wäre das ein Vorschlag? Der Typhus kann einen ja schon mit 23 holen, darum ist heute ein guter Tag dafür. Genau wie morgen.

——— Georg Büchner:

Stammbuchblatt für Heinrich Ferber

3. September 1835, nach dem Schinderhanneslied (Schluss),
wiederverwendet in Dantons Tod, 1835:

Die da liegen in der Erden
Von de Würm gefresse werden,
Besser hangen in der Luft,
Als verfaulen in der Gruft.

Mutmaßlich Georg Büchner 1833

Bilder: Steckbrief Georg Büchner, 1835 via Silvae, 17. Okotber 2013;
August Hoffmann via Volker Breidecker:
Errol Flynn für Germanisten. Mutmaßliches Georg-Büchner-Bildnis entdeckt,
Süddeutsche Zeitung 27. Mai 2013, 30 cm x 20 cm, 1833.

Soundtrack: Hannes Wader: Trotz alledem, aus: Volkssänger, 1975.
Zitate nach der Münchner Ausgabe, hg. Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm, Edda Ziegler, Hanser 1988.

Written by Wolf

17. Oktober 2013 at 00:01

So herzerwärmend dreist

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Heinrich Heine, 13. Dezember 1797–17. Februar 1856: 215. Geburtstag.

„Ach du je“, meint die Wölfin, „und du musst es feiern, stimmt’s?“

„Was ein Mann tun muss“, sage ich entschlossen, „wenn es sonst niemand tut.“

Marc Charles Gabriel Gleyre, Der kranke Heinrich Heine, Bleistiftzeichnung 1851„Dann ist es ja gut, dass Heine dich hat.“

„Der Buchhandel tut’s jedenfalls nicht. Gernhardt hat’s getan, aber der ist inzwischen selber tot.“

„Gernhardt?“ überlegt die Wölfin, „den kenn ich. Auch eher aus der Zauselzunft, aber der hat doch immer gelebt?“

„Bis 2006. So schnell kann’s gehen.“

„Und der hat Heine gefeiert?“

„Sogar anhand eines Gedichts, das du auch kennst, Zur Teleologie.“

„Stimmt, hast du mir mal vorgelesen, weiß ich noch.“

„Seit wann erinnerst du dich an solche Zauselitäten?“

„War so schön süffig. Und ist ja dann noch ein recht schöner Abend geworden.“ Die Wölfin stemmt sich auf die Zehen, um mir einen Kuss auf den Mund heraufzureichen.

„Siehste. Gernhardt mag ihn auch.“

Hat ihn gemocht …“

„… und baut die Teleologie dermaßen um, dass man sogar noch was Neues lernt.“

„Sogar du?“

„Aber hallo. Mir war zet Be gar nicht klar, dass die Teleologie zur Matratzengruft zählt.“

„Mir schon, nachdem du’s vorgelesen hast …“

„So war das nicht gemeint.“

„Jetzt bin ich neugierig.“

——— Robert Gernhardt: XII. Er liest den späten Heine
in: Klappaltar, I. Linker Flügel: Lied der Bücher oder Juni mit Heine, 1998:

Robert Gernhardt, Klappaltar. Aufsteller Antikbuch24Augen hat uns zwei gegeben
Gott der Herr, daß wir erleben,
Wie das jahrelange Sterben
Heines Witz nicht konnt‘ verderben.
Augen gab uns Gott ein Paar,
Zu erkennen rein und klar:
Dieses Menschen Todesröcheln
Überstrahlte noch sein Lächeln.
Gott gab uns die Augen beide,
Daß wir schauen und begaffen,
Wie er jemanden erschaffen
Zu des Menschen Großhirnweide.
Jemand sonder Licht und Luft,
Der in der Matratzengruft
Lahm und leidend niederschrieb,
Was ihm noch zu sagen blieb.
Klagen, sicher, Flüche, freilich,
So verständlich wie verzeihlich,
Doch zugleich auch wunderbare,
Völlig losgelöste Sachen,
Teils zum Schaudern, meist zum Lachen,
Leichte Früchte schwerster Jahre:

„Gott gab uns nur einen Mund,
Weil zwei Mäuler ungesund“,
Schieb der Kranke unerschrocken
Und rät munter nachtarocken:
„Mit dem einen Maule schon
Schwätzt zuviel der Erdensohn.
Wenn er doppelmäulig wär,
Fräß und lög er auch noch mehr.
Har er jetzt das Maul voll Brei,
Muß er schweigen unterdessen,
Hätt er aber Mäuler zwei,
Löge er sogar beim Fressen.“

So was auf des Todes Schwelle
Hinzuschreiben auf die Schnelle
Ist so herzerwärmend dreist,
Weil es zweierlei beweist.
Erstens: Vor der letzten Nacht
Hat sich’s noch nicht ausgelacht.
Zweitens: Wahrer Dichtermund
Tut noch sterbend Wahrheit kund.
Heine bleibt dabei unfaßbar:
Spielt den Wachtmeister, den Kasper,
Spielt die Grete, spielt den Drachen,
Spielt den Starken, spielt den Schwachen,
Spielt den Herrgott, spielt den Teufel,
Macht in Glauben, macht in Zweifel,
Spielt und macht: So, wie er lebte,
Jauchzte, liebte, haßte, bebte,
Lachend litt und schreibend fühlte,
Also starb er. Nie erkühlte
Trotz der jahrelangen Leiden
Heines Doppelliebe. Beiden
Hielt er unbedingt die Treue
Ohne Zweifel, ohne Reue:
Den Geschwistern Witz und Wahrheit
Alias Helligkeit und Klarheit.
Heines Witz erhellt noch heute.
Heines Wahrheit klärt noch. Leute!
Diesen Mann zu ehren heißt,
Daß man eignen Witz beweist.

Gott gab uns zwar nur ein Hirn,
Doch dies Hirn beschützt die Stirn.
Ergo mangeln den Geschöpfen
Keine Bretter vor den Köpfen,
Und vor solchem Bretterwesen
Schützt verschärftes Heine-Lesen.
Jede Seite macht vom Brett
Einen Millimeter wett,
So daß auf dem Sterbebette
Der den vollen Durchblick hätte,
Der beizeit so klug gewesen,
Beispielsweise dies zu lesen:

„Was dem Menschen dient zum Seichen,
Damit schafft er seinesgleichen.
Auf demselben Dudelsack
Spielt dasselbe Lumpenpack.
Feine Pfote, derbe Patsche,
Fiddelt auf derselben Bratsche,
Durch dieselben Dämpfe, Räder
Springt und singt und gähnt ein jeder,
Und derselbe Omnibus
Fährt uns nach dem Tartarus.“

„Auf dem Sterbebett endlich den vollen Durchblick haben. Sehr erstrebenswert. Ist das so ein Männerding oder ein Symptom?“ fragt die Wölfin.

„Jeder wie er kann.“

„Lang soll er leben, der Heine“, sagt die Wölfin.

„Wollt ich auch sagen.“

Marguerite Gisele, Sleepy, 22. November 2012

Bilder: Marc Charles Gabriel Gleyre: Der kranke Heinrich Heine, Bleistiftzeichnung 1851,
erloschenes Angebot via Antikbuch24.

Matratzengruft: Marguerite Gisele: Rosarot, 22 November 2012.

Written by Wolf

13. Dezember 2012 at 00:01

Feine Pfote, derbe Patsche

with one comment

Die Wölfin und ich liegen mitsammen zu Bette und treiben, was wir dort mit Vorliebe treiben: ein Buch lesen.

„Was liest’n da?“ fragt die Wölfin.

„Heine“, sag ich.

„Du mit deinen ganzen alten Zauseln. Kennst du die Lorelei nicht bald auswendig?“

„Doch, die Loreley schon — nur echt mit dem e-ypsilon am Schluss. Und mehr als die Harzreise hast du aus den Reisebildern bestimmt nicht mal in der Schule durchgenommen.“

„Ächz“, sagt sie. Ihre Comicsprache ist vorsätzlich.

„Das ist Band 6/I der Hanser-Gesamtausgabe von Klaus Briegleb, also zeig mal etwas Respekt bitte.“

„Stöhn“, setzt sie drauf.

Ich hebe den Blick aus dem Buch.

„Nicht was du denkst“, sagt sie. „Hopphopp, lies mir doch mal was Respektgebietendes vor.“

Ich blättere. „Zur Teleologie, wie wär’s?“

„Zur was? Na gut, whatever.“

Zur Teleologie

Beine hat uns zwei gegeben
Gott der Herr, um fortzustreben,
Wollte nicht, daß an der Scholle
Unsre Menschheit kleben solle.
Um ein Stillstandsknecht zu sein,
Gnügte uns ein einzges Bein.

„Echt, das soll Heine sein? Nicht Wilhelm Busch?“

„Siehste. Soviel weißt du aber von der Loreley, dass man Heine auch ohne Germanistikstudium liebhaben kann.“

„Ist ja gut, ich glaub’s dir ja, du Liebhaber.“

Augen gab uns Gott ein Paar,
Daß wir schauen rein und klar;
Um zu glauben was wir lesen,
Wär ein Auge gnug gewesen.
Gott gab uns die Augen beide,
Daß wir schauen und begaffen
Wie er hübsch die Welt erschaffen
Zu des Menschen Augenweide;
Doch beim Gaffen in den Gassen
Sollen wir die Augen brauchen
Und uns dort nicht treten lassen
Auf die armen Hühneraugen,
Die uns ganz besonders plagen,
Wenn wir enge Stiefel tragen.

Die Wölfin hebt ein Bein aus ihrer Bettdecke hervor, henkelt es in der Luft herum, schnipst mit den Zehen und begutachtet ihre Schenkelrasur vorne und hinten.

„Enge Stiefel“, sinnt sie. „Wenn Gott gewollt hätte, dass wir enge Stiefel tragen, hätte er uns dann barfuß erschaffen?“

„Dich nicht“, sag ich und gehe schnell ihr Bein von unten bis oben auf Makel durch: immer noch keine.

Mit der Wölfin ist es nämlich so: Ihre schönsten Stellen fangen mit Z an. Ihre Zähne sind reines Perlmutt, ihre Zehen rosenreine Elfenglieder. Das hört sie nicht gern, weil sie es weiß, soweit man sie durchschauen kann; darum bringt sie trocken einen Insider unter:

„Zausehaare.“

„Ein Wunder angesichts der ganzen Stellen, an denen du rasiert bist.“

„Jedenfalls gründlicher als du“, sagt sie, „fühl mal.“ Sie schnappt sich meine Hand und führt sie ihren Schenkel entlang.

Gott versah uns mit zwei Händen,
Daß wir doppelt Gutes spenden;
Nicht um doppelt zuzugreifen
Und die Beute aufzuhäufen
In den großen Eisentruhn,
Wie gewisse Leute tun –
(Ihren Namen auszusprechen
Dürfen wir uns nicht erfrechen –
Hängen würden wir sie gern.
Doch sie sind so große Herrn,
Philantropen, Ehrenmänner,
Manche sind auch unsre Gönner,
Und man macht aus deutschen Eichen
Keine Galgen für die Reichen.)

„Oha. Da zündelt wieder einer mit der Zensur.“

„Gut aufgepasst. Wann er das genau geschrieben hat, weiß keiner, da hat er sich sogar gleich selber zensiert. Muss aber nach 1845 gewesen sein, also jedenfalls Spätwerk.“

„Wie alt ist Heine eigentlich geworden?“

„1797 bis 1856.“

„Oh, keine sechzig. Steinalt sieht anders aus. Totgesoffen oder Hungertod?“

„Syphilis.“

„Für Geschlechtskrankheiten ist 59 wiederum recht junggeblieben.“

„Eben. Dabei hat er seine erste Gesamtausgabe erst 1863 gekriegt. Die Teleologie war sogar erst 1912 ungekürzt gedruckt, davor immer nur einzelne Strophen. Die harmlosen.“

„Harmlose hat das auch?“

„Wie man’s nimmt. Heine ist eigentlich wegen der Redefreiheit nach Paris ausgewandert. Und nicht, um sich bei den Coquotten sonstwas einzufangen.“

„Wenn er auch immer solche Dinger krachen lässt …“

Gott gab uns nur eine Nase,
Weil wir zwei in einem Glase
Nicht hineinzubringen wüßten,
Und den Wein verschlappern müßten.

„Das erfindest du jetzt!“ ruft die Wölfin. „Nie im Leben steht da ‚verschlabbern‘!“

„Doch“, sag ich, „mit Doppel-p. Da, schau.“ Ich halte ihr die Buchseite hin und lege den Finger auf ‚verschlappern‘.

Die Wölfin kann es nicht fassen.

Gott gab uns nur einen Mund,
Weil zwei Mäuler ungesund.
Mit dem einen Maule schon
Schwätzt zu viel der Erdensohn.
Wenn er doppeltmäulig wär,
Fräß und lög er auch noch mehr.
Har er jetzt das Maul voll Brei,
Muß er schweigen unterdessen,
Hätt er aber Mäuler zwei,
Löge er sogar beim Fressen.

„Yeah, Rock ’n‘ Roll, Alter!“ Die Wölfin lacht sich kaputt.

„Trefflich formuliert. Der Mann lässt echt nichts aus.“

„Stimmt. Ist das unter irgendwas gesammelt? Bestimmt nicht unterm gleichen Kapitel wie deine Loreley, oder?“

„Keine Spur, das Buch der Lieder war Frühwerk, da konnte er sich noch halbwegs in Deutschland blicken lassen. Die Teleologie steht meistens unter ‚Vermischtes‘.“

„Pf, vermischt. So eine Systematik kann ich auch.“

„Kannst du nicht. Du würdest nicht mal merken, dass es eine Langversion überhaupt gibt. Das geht nur übers Manuskript, du hättest bestimmt nur in der jeweils letzten Druckversion nachgeschaut.“

„Welchselbiges Manuskript bis dahin genau wo rumgeflattert ist?“

„In den Giftschränken der Literaturwissenschaft. Meistens ist sowas dann das Archiv einer Unibibliothek.“

„Klar, wo sonst. Führst du auch einen Giftschrank?“

„Sicher. Ich nenne ihn Bücherregal.“

„Dann verzeih meine Präpotenz.“

„Gern geschehen. Neuerdings steht’s immer unter ‚Zeitgedichte‘. Hier im Briegleb zum Beispiel.“

„Also mit dem mehr Blick auf die Kapitalismuskritik als auf die Schulbubengaudi.“

„Und den Gedanken der Teleologie bei Hegel.“

„Teleologie, Teleologie …“

„Zielgerichtetheit.“

„Hab ich doch gesagt.“

„Die Überschrift ist gar nicht von Heine, beiläufig.“

„Och? Sondern von wem?“

„Adolf Strodtmann.“

„Ächz, stöhn, jaul, Jammer, Not!“

„Der mit der ersten Gesamtausgabe.“

„1863.“

„Yeah, Rock ’n‘ Roll.“

Mit zwei Ohren hat versehn
Uns der Herr. Vorzüglich schön
Ist dabei die Symmetrie.
Sind nicht ganz so lang wie die,
So er unsern grauen braven
Kameraden anerschaffen.
Ohren gab uns Gott die beiden,
Um von Mozart, Gluck und Hayden
Meisterstücke anzuhören –
Gäb es nur Tonkunst-Kolik
Und Hämorrhoidal-Musik
Von dem großen Meyerbeer,
Schon ein Ohr hinlänglich wär! –

„Au weh. Die muss ich nicht alle kennen, oder?“

„Die kennst du alle, außer Meyerbeer.“

„Gut genug, um zu wissen, dass Haydn sich ohne e hinten schreibt.“

„Schon okay, das sollte reichen.“

„Und was, meint Heine nochmal, soll sich da auf ‚Tonkunst-Kolik‘ reimen?“

„‚Hämorrhoidal-Musik‘.“

„Na! Aber nur ausnahmsweise.“

„Was lernen wir daraus? Wölfin?“

„Dass Heine Meyerbeer nicht mag?“

„Richtig und gut. Und dass um 1850 ‚Kolik‘ noch auf der Ultima betont wurde, wie ‚Musik‘.“

„Oder dass er mit seinem Gedicht bald fertig werden wollte.“

„Wieder richtig. Das lässt du im Literaturseminar aber lieber weg.“

„Was reimt sich dann auf ‚anzuhören‘?“

„…“

„Ja, hab ich mir schon gedacht …“

„Anscheinend wollte er da langsam zum Höhepunkt kommen.“

„Bitte??“

„Zum unterdrückten Finale. Fertig werden, wie du sagst.“

„Wer unterdrückt denn sowas? Dein Strodtmann?“

„Ja, der auch: ‚Der skabröse Schluß des Gedichtes ‚Zur Teleologie‘ konnte hier aus Schicklichkeitsgründen nicht mitgeteilt werden‘, meint er. Alle bis Karl Schüddekopf.“

„Der von 1912?“

„Spickst du?“ Ich verstecke die Buchseite vor ihr.

„Nein, ich bin nur eine aufmerksame Zuhörerin.“

„Je nach Thema.“

„Das musst du sagen!“ Sie boxt mich unter der Bettdecke mit dem Knie. Ich fange ihr Bein mit gedankengeschwindem Griff ein und behalte es in der freien Hand. Sie lässt es geschehen.

„Oh là là, piquant, piquant“, strahlt sie mir ins Gesicht und schmiegt sich meine Seite entlang. Mir fällt noch einmal kurz ein, wie sehr ich von Anfang an ihre Zähne und ihre Zehen mochte.

„Nein, skabrös, skabrös“, antworte ich.

„Das sowieso.“ Unter unserer Decke wippt sie erwartungsvoll mit dem Fuß.

Als zur blonden Teutolinde
Ich in solcher Weise sprach,
Seufzte sie und sagte: Ach!
Grübeln über Gottes Gründe,
Kritisieren unsern Schöpfer,
Ach! das ist, als ob der Topf
Klüger sein wollt als der Töpfer!
Doch der Mensch fragt stets: Warum?
Wenn er sieht, daß etwas dumm.
Freund, ich hab dir zugehört,
Und du hast mir gut erklärt,
Wie zum weisesten Behuf
Gott den Menschen zwiefach schuf
Augen, Ohren, Arm‘ und Bein‘,
Während er ihm gab nur ein
Exemplar von Nas und Mund –
Doch nun sage mir den Grund:
Gott, der Schöpfer der Natur,
Warum schuf er einfach nur
Das skabröse Requisit,
Das der Mann gebraucht, damit
Er fortpflanze seine Rasse
Und zugleich sein Wasser lasse?
Teurer Freund, ein Duplikat
Wäre wahrlich hier vonnöten,
Um Funktionen zu vertreten,
Die so wichtig für den Staat
Wie fürs Individuum,
Kurz fürs ganze Publikum.
Zwei Funktionen, die so greulich
Und so schimpflich und abscheulich
Miteinander kontrastieren
Und die Menschheit sehr blamieren.
Eine Jungfrau von Gemüt
Muß sich schämen, wenn sie sieht,
Wie ihr höchstes Ideal
Wird entweiht so trivial!
Wie der Hochaltar der Minne
Wird zur ganz gemeinen Rinne!
Psyche schaudert, denn der kleine
Gott Amur der Finsternis,
Er verwandelt sich beim Scheine
Ihrer Lamp – in Mankepiß.

„Teutolinde!“ ruft die Wölfin gedehnt, „ist das ein Name für einen Menschen?“

„Für einen deutschen Menschen weiblicher Herkunft ist Teutolinde ein sehr zulässiger Name.“

„Boah, da bin ich mit meinem doch noch ganz zufriedenstellend bedient.“

„Deinen Namen mag ich sogar gern.“

„Es hätte ‚Teutolinde‘ werden können! Sag mal, veröffentlichst du das alles in deinem Blogdingsda?“

„Selbstverständlich wirst du in meinem Weblog vorkommen. Ich komm ja auch vor, und du bist doch der beste Teil meiner bescheidenen Person.“

„Mit meinem Namen?“

„Ich sag: die Wölfin zu dir. Ist dir das genehm?“

„Geht so. Es gibt einen gewissen Sinn. Komm ich oft vor?“

„Gerade eben zum ersten Mal. Ich muss dich ja erst mal einführen.“

„Einführen. Gleich helf ich dir einführen.“

„Handreichung erwartungsvoll angenommen. Darf ich noch zu Ende vorlesen?“

„Mach ruhig, ich hab heut nix Besonderes mehr vor.“

Also Teutolinde sprach,
Und ich sagte ihr: Gemach!
Unklug wie die Weiber sind,
Du verstehst nicht, liebes Kind,
Gottes Nützlichkeitssystem,
Sein Ökonomie-Problem
Ist, daß wechselnd die Maschinen
Jeglichem Bedürfnis dienen,
Den profanen wie den heilgen,
Den pikanten wie langweilgen, –
Alles wird simplifiziert;
Klug ist alles kombiniert:
Was dem Menschen dient zum Seichen,
Damit schafft er seinesgleichen.
Auf demselben Dudelsack
Spielt dasselbe Lumpenpack.
Feine Pfote, derbe Patsche,
Fiddelt auf derselben Bratsche,
Durch dieselben Dämpfe, Räder
Springt und singt und gähnt ein jeder,
Und derselbe Omnibus
Fährt uns nach dem Tartarus.

„Ohhhhh! Lies das büddebüdde nochmal, das mit dem ‚Was dem Menschen dient‘.“

„Das war klar, dass dir sowas gefällt.“

„Wegen der Stelle hast du’s doch vorgelesen.“

„Und wegen dem ‚Omnibus‘.“

„Ja, stimmt: Heine kannte einen Omnibus?“

„Mit zwei vierbeinigen PS. Soviel Visionäres haftet der angewandten Poesie wiederum nur selten an.“

„Dann wende mal an, du zweibeinige PS.“ Die Wölfin breitet die Arme aus, dass die Bettdecke von ihr gleitet und großflächig eine skabrös nackte Wölfin freigibt.

„Mit dem Dudelsack?“

„Um Himmels willen nein, du Lumpenpack. Heute bitte leise, wir wollen ganz langsam zu unserem unterdrückten Finale kommen.“

„Mit dem einen Maule schon schwätzt zu viel der Erdensohn.“ Einhändig klappe ich das Buch zu und lege es unauffällig in sicherer Entfernung ab. Die Zunge der Wölfin schmeckt kühl, ihre Zausehaare kitzeln.

„Gefräßige Stille“, flüstert sie.

Brittney Bush Bollay, Skinny Legs and All, February 28, 2007

Beine hat uns zwei gegeben Gott der Herr: Nein, nicht die Wölfin.
Brittney Bush Bollay: Skinny Legs And All, 28. Februar 2007.

Written by Wolf

18. September 2012 at 00:01