Archive for the ‘Expressionismus’ Category
Akzisaufseher Goethe aus der Karmelitergasse
Update zu Krieg is nur für reiche Lajte,
Ich trinke ein Glas Burgunder!,
Hört zu und berstet vor Langerweile:
und Dornenstück 0009: Die Kinder verdarben (Schauderhaft, höchst schauderhaft):
Was der nachmalige Schwejk-Hašek seiner Stammzeitung Karikatury 1911 noch als Satire auf der eher gutmütigen Seite verkaufen konnte, wird so ja gar nicht mehr wahrgenommen. Vielmehr ist heute der Bibliophile der Depp. Und da weiß ich, wovon ich rede. Gedeihliches neues Jahr mitsammen.
——— Jaroslav Hašek:
Unter Bibliophilen
id est Mezi bibliofily, in: Karikatury, velké vydání 3, 19. Juni 1911,
übs. Rudolf Feigl, Artia-Verlag Prag,
cit. nach Rudolf Chonawetz, Hrsg.: Von Spaßvögeln, Witzbolden und Schelmen,
Verlag Neues Leben, Ostberlin 1983, Seite 300 bis 303:
Das Allerschlimmste, was jemandem zustoßen kann, ist, in die Hände einer Literaturfreundin zu fallen, die in ihrem Salon Bibliophile versammelt und Literaturabende veranstaltet, bei denen Tee gereicht wird und wo auf jeden Literaturfreund zwei Stückchen Kuchen entfallen.
Es ist wahr, daß ich diese Literaturabende bei Frau Herzan nicht besuchen mußte, aber ich wollte der Einladung meines Freundes Folge leisten, dem ich weisgemacht hatte, zu Hause eine originelle, in Menschenhaut gebundene, persische Ausgabe der Gedichte von Hafis zu haben. Mein Freund verbreitete das unter Bibliophilen und Literaturfreunden. Das genügte, daß ihre Mäzenin, Frau Herzan, den Wunsch äußerte, mich kennenzulernen.
Im Salon blickten mich zwölf aufrichtige Gesichter an, aus denen die gesamte Weltliteratur auf mich sah. Mein Kommen wurde lebhaft begrüßt, und ein Besucher mit den in Menschenhaut gebundenen Gedichten von Hafis hatte wohl Anspruch auf vier Stückchen Kuchen.
Ich nahm, mir also aus der Schüssel vier Stückchen Kuchen, und für das Fraäulein mit der Brille neben mir blieb nicht ein einziges übrig. Das betrübte sie so, daß sie über Goethes „Wahlverwandtschaften“ zu sprechen begann.
Neben mir saß irgendein Literaturhistoriker und wandte sich an mich mit der Frage: „Belieben Sie den ganzen Goethe zu kennen?“
„Vom Scheitel bis zur Sohle“, ewiderte ich ernst, „er trägt gelbe Schnürschuhe und auf dem Kopf einen braunen Filzhut, ist Akzisaufseher und wohnt in der Karmelitergasse.“
Die Bibliophilen blickten mich traurig und vorwurfsvoll an. Um die allgemeine Verlegenheit zu maskieren, fragte mich die Gastgeberin: „Haben Sie großes Interesse für Literatur?“
„Gnädige Frau“, erwiderte ich, es gab Zeiten, da ich viel las. Ich habe ‚Die drei Musketiere‚, ‚Die Maske der Liebe‘, den ‚Hund von Baskerville‚ und andere Romane gelesen. Bei den Nachbarn hob man für mich die Romanbeilage der ‚Politika‚ auf, und jedesmal am Wochenende hab ich dann alle sechs Fortsetzungen auf einmal gelesen. Das lesen hat mich immer sehr interessiert, und so konnte ich es zum Beispiel gar nicht erwarten, ob die Gräfin Leona den Zwerg Richard heiratet, der ihretwegen den eigenen Vater ermordetet, der wiederum ihren Verlobten aus Eifersucht erschossen hatte. Ja, ein Buch kann wirklich Wunder wirken. Als es mir sehr schlecht ging, las ich den ‚Jüngling von Messina‘. Mit neunzehn Jahren wurde jener junge Mann Räuber. Er hieß Lorenzo. Ja, damals las ich noch. Heute aber lese ich nicht viel. Es interessiert mich nicht mehr.“
Die Literaturfreunde wurden blaß. Ein baumlanger Mensch mit durchdringendem Blick fragte mich kurz und streng wie ein Untersuchungsrichter: „Interessieren Sie sich für Zola?“
„Ich weiß über ihn sehr wenig“, erwiderte ich, „ich hörte über ihn nur, daß er während des Deutsch-Französischen Kriegs bei der Belagerung von Paris gefallen ist.“
„Kennen Sie Maupassant?“ fragte mich jener Mann recht wütend.
„Ich hab von ihm ‚Die sibirischen Erzählungen‘ gelesen.“
„Da irren Sie sich“, rief das Fräulein mit der Brille neben mir aufgebracht aus. „‚Die sibirischen Erzählungen‚ sind von Korolenko und Sieroszewski. Maupassant ist doch Franzose.“
„Ich dachte, er ist Holländer“, sagtet ich ruhig. „Ist er aber Franzose, sp hat er vielleicht ‚Die sibirischen Erzählungen‘ ins Französische übersetzt.“
„Aber Tolstoi kennen Sie?“ fragte die Gastgeberin.
„Ich habe sein Begräbnis im Kino gesehen. Aber ein Chemiker wie Tolstoi, der das Radium entdeckte, hat ein würdigeres Begräbnis verdient.“
Für einen Augenblick verstummten alle. Der Literaturhistoriker mir gegenüber blickte mich mit blutunterlaufenen Augen an und fragte ironisch: „Aber die tschechische Literatur kennen Sie doch bestimmt durch und durch?“
„Ich habe zu Hause das ‚Dschungelbuch‘, das wird Ihnen vielleicht genügen“, sagte ich mit Nachdruck.
„Aber das ist doch ein Engländer, dieser Kipling“, sagte ein wortkarger Herr, der sein Gesicht in beiden Händen verbarg, als würde er weinen.
„Von Kipling habe ich nicht gesprochen“, rief ich beleidigt aus, „ich sprach doch über das Dschungelbuch von Tuček.“
Ich vernahm, wie sich zwei Herren so, daß ich es hören konnte, zuflüsterten, ich sei ein Rindvieh.
Ein blasser junger Mann mit langem Haar faltete die Hände und brachte mit zarter Stimme vor: „Sie erfassen nicht die Schönheiten der Literatur, gewiß verstehen Sie auch nicht den Stil, den brillanten Satzbau zu würdigen, nicht einmal Gedichte begeistern Sie. Kennen Sie von Liliencron jene Stelle, wo Sie in den Wolken die Schönheit der Natur erfüheln, erahnen: Wolkenschäfchen ziehen, fliegen, blaue Wölkchen fliegen und fliegen, über Berg und Tal, über der Wälder grüne Streifen?“
Er erhob die Stimme, stützte sich auf die Schulter eines Literaturfreundes, der neben ihm saß, und fuhr fort: „Und ‚Das Feuer‘ von D’Annunzio? Wenn Sie die wunderschöne treffende Schilderung venezianischer Feste gelesen hätten und dabei diese Liebesgeschichte …“
Er betrachtete den Auerstrumpf, fuhr sich mit der Hand über die Stirn und wartete, was ich dazu sagen würde.
„Ich habe Sie nicht genau verstanden, warum hat denn der D’Annunzio bei diesen Festen Feuer gelegt? Wieviel Jahre hat er dafür gefaßt?“
„D’Annunzio ist der beühmteste italienische Dichter“, erklärte mir das Fräulein mit der Brille unermüdlich.
„Da ist merkwürdig“, bemerkte ich unschuldig.
„Was ist daran Merkwürdiges“, brüllte im wahrsten Sinne des Wortes ein Herr, der bisher den Mund nicht aufgemacht hatte, „kennen Sie überhaupt irgendeinen italienischen Dichter?“
„Ich erwiderte würdevoll: „Gewiß, Robinson Crusoe.“ Bei diesen Worten blickte ich mich um.
Zwölf Literaturfreunde und Bibliophile wurden in diesem Augenblick grau, und zwölf vorzeitig ergraute Literaturfreund und Bibliophile warfen mich durch das Parterrefenster auf die Straße hinaus.
Bild: Josef Lada für Jaroslav Hašek: Mezi bibliofily, Karikatury, 19. Juni 1911.
Soundtrack als abermaliger Versuch für einen neuen Anfang:
Anti Cornettos: Korsakov Syndrom, aus: Dohuggandedeoiweidohuggan, 2014:
Bewahr uns, Herr, zu lüften den Schleier von Gräbern und Grüften (O ewich is so lanck)
Update zu Frohnleichnamsfahnen wehen
und Zum Tanz, den sie schauderlich führen:
Was uns Frank T. Zumbach online von Georg Ruseler in sein dankenswertes Archiv stellt, ist leider ein formales Desaster, in seinem fast noch dankenswerteren Balladenbuch kommt Ruseler auch mit einem Beispiel vor, nur eben mit einem anderen, wo er das in seinem Online-Archiv anno 2010 gefunden hat, weiß er auf Anfrage im dahinsiechenden 2022 auch nicht mehr, und die Version im Projekt Gutenberg ist halt, nun ja, die Version im Projekt Gutenberg.
Heute ruht Ruseler geistig in der Abteilung Oldenburg am Niedersächsischen Landesarchiv und körperlich auf dem Oldenburger Gertrudenfriedhof, wo sein Grab neben denen von Horst Janssen und Wilhelm Heinrich Schüßler – der mit dem gleichnamigen Salz – etwas untergeht.
Das im Dunkeln funkelnde Highlight in souverän tanzendem ABABCCDD-Reimschema des „Heimatdichter[s], Schriftsteller[s] und Schulrektor[s]“ (Wikipedia), der sich gern op Platt äußerte, müssen wir selber retten. Dafür sind wir ja da.
——— Georg Ruseler:
Das zweite Gesicht
aus: Der rauschende Garten. Aus dem Nachlass zusammengestellt,
Friesen-Verlag A.-G., Bremen-Wilhelmshaven 1922:
Ehrwürden Pfarrer Henrikus Brand,
Seinen Küster ruft er herbei
Und reicht ihm den silberbeschlagenen Band:
„Dies, Alter, zur Sakristei!
Zwar düstert auf allen Pfaden die Nacht,
Doch wenn seine Fackel der Mond entfacht,
Dann geht er um Mitternacht heute
Ja doch zum Neujahrsgeläute.“Stumm schüttelt den Kopf der Küster von Marx.
„Was? Reit‘ ihn der Kuckuck! Nein?
Er kehrt wohl, Er Hasenfuß Siebrand Tiarks,
Des Nachts beim Herrgott nicht ein?“ –
„Ich geh‘ allein zum Geläut auf den Turm,
Und rüttelt ihn auch der Wirbelsturm,
Doch nimmer zu Chor und Altare
In der letzten Nacht im Jahre.Silvester, Ehrwürden, das ist die Zeit,
Da reichen zwei Jahr‘ sich die Hand
Und finden den Bösen zum Spuk bereit
Und die Hölle aus Rand und Band.
Wenn dann die Glocke zwölfe schlägt,
Ein Schleier sacht sich wegbewegt
Und läßt mit Augen sehen,
Was künftig soll geschehen.Zwei Jahr sind’s heut. Grad‘ war ins Land
Der Neujahrsglockengruß
Mit vollem Klang hinausgesandt;
Da tast‘ ich mit Hand und Fuß
Die Stufen hinab im Treppenraum,
Und plötzlich treibt’s mich, wie, weiß ich kaum –
Mir dröhnt im Ohr noch das Läuten –
Abseits durch die Kirche zu schreiten.Durchs Fenster senkt sich auf braunes Gestühl
Des Mondes ruhiger Glanz.
An weißen Wänden ein leichtes Spiel
Von Schatten und Lichtern im Tanz.
Lebendig wird mit der Dornenkron‘
Der Heiland vor Pilatus'[*] Thron,
Und Judas packt in der Ecke
Des Altars silberne Decke.Da seh‘ ich, hilf Gott, so schattenhaft grau,
Rings durch das Gestühle verstreut,
Hier Kind und Greis, dort Mann und Frau,
Viel schweigende, harrende Leut‘.
Sie beten nicht, sie singen nicht,
In ihren Augen ist kein Licht;
Es starren erloschene Sterne
Glanzlos weithin in die Ferne.Menko Mennen stiert von der Prieche her,
Okko Tannen trieft von Blut,
Jantje Bomreman trägt ein Pelzkleid schwer,
Kea Rykena strohernen Hut.
Ich kneif‘ mir den Arm, es ist kein Traum,
O Grausen, allein ganz hinten im Raum
Mein Schwiegersohn Edzard Onnen, –
Da bin ich vor Schrecken entronnen.Und alle, die damals mein Auge gesehn,
Die sah ich im selben Jahr
Im schwarzen Holz auf der Diele stehn
Und dann auf der Todtenbahr.
Drum, Ehrwürden, diesmal gebt Ihr mich frei
Und schickt mich morgen zur Sakristei.
Mir Alten frommt nicht, zu lüften
Den Schleier von Gräbern und Grüften.“~~~\~~~~~~~/~~~
Die Uhr schlägt zwölf; um Mitternacht
Der Mond lugt still herfür,
Da schreitet vorbei an Gräbern sacht,
Ganz sacht zur Kirchentür
Ehrwürden Pfarrer Henrikus Brand,
Schlüssel und Bibel in seiner Hand, –
Aufschließt er und schreitet verwegen
Dem harrenden Spuk entgegen.Er schreitet und sieht im braunen Gestühl
Des Mondes ruhigen Glanz,
An weißen Wänden ein leises Spiel
Von Schatten und Lichtern im Tanz,
Doch starr verharrt mit der Dornenkron‘
Der Heiland vor Pilatus‘ Thron,
Auch läßt sich in Winkeln und Ecken
Kein Menschenantlitz entdecken.’s ist totenstill im weiten Raum,
Die Schritte verhallen im Gang,
In schimmernden Pfeifen ruht ein Traum
Von brausendem Orgelklang.
Erhobenen Haupts am Altar vorbei
Die Bibel trägt er zur Sakristei,
Und war ihm das Herz beklommen,
Der Bann ist fortgenommen.Schon ist es getan; nun tritt er heraus.
Dumpf grüßt ihn das Neujahrsgeläut‘. – –
Da sitzen in Stühlen, o Schreck und Graus,
Viel schweigende, harrende Leut‘.
Sie beten nicht, sie singen nicht,
In ihren Augen ist kein Licht,
Sie starren, das Antlitz erhoben,
Zur Kanzel hinauf nach oben.Hilf Himmel, der Küster sprach keine Mär,
Sie sind’s, die der Tod erkor!
Ach, pocht ihm das Herz! Sein Kopf wird schwer,
Und zitternd möcht er vom Chor.
Da setzt mit wundersamem Klang
Die Orgel ein und tönt so bang,
Und jäh hat er nach oben
Zur Kanzel den Blick erhoben.O Jesus, mit ausgestreckter Hand,
Eigen und sonderbar,
Steht er dort selbst, Henrikus Brand,
Ragend im dunkeln Talar,
Und spricht auch sein Mund kein einziges Wort,
O Schrecken, Schrecken! es gleicht ihm dort
Der Schemen in jedem Stücke
Bis auf Beffchen und Perücke.Kein Trug, er sieht sein eigen Gesicht!
Von fern mit leisem Klang
Tönt „Jesus meine Zuversicht“,
Sein eigener Grabgesang.
Sein Herz will stocken, er ächzt nach Luft
Und hastet, daß er der harrenden Gruft
Mit schnellem Fuß entrinne, –
Da schwinden ihm die Sinne. – –Ehrwürden Pfarrer Henrikus Brand,
Im Morgendämmerschein
Siebrand Tiarks, sein Küster, fand
Ihn tot auf kaltem Stein.
Noch sah das Antlitz bleich vom Chor
Mit gebrochenem Auge zur Kanzel empor. –
„Bewahr‘ uns, Herr, zu lüften
Den Schleier von Gräbern und Grüften!“
Bilder: Ansichtskarte von Oldenburg nach Haldem, 1906 mit dem Gertrudenfriedhof zwischen Alexanderstraße, die in den Stadtteil Dietrichsfeld führt, und Nadorster Straße im Stadtteil Nadorst.
Der scheinbar alte Stein mit dem Text „O ewich is so lanck“ scheint eine erst kurz vor dem Fototermin entstandene Replik eines alten Steines zu sein. Noch 2020 ist der Stein in der Außenmauer zu finden:
Oldenburg, den 6. 9. [September] 1906. Lieber Fritz. Ich bin gerade wieder hingewesen / zum Arzt. Es hat sich gut gebessert. / Er hatte es nicht ganz getroffen / und hat heute noch etwas weg / geschnitten. Freitag Nachmittag / sollte ich wieder hin. Der Arzt / sagt, mit Reisen sollte ich / bis Sonnabend warten. / Dann fahre ich Sonnabend / Morgen um 11,26 Min. [Minuten] in / Oldenburg ab, denn bin ich / 12,24 in Bremen und / fährt von Bremen ½ 2 Uhr / ab, dann bin ich ½ 4 Uhr / in Lemförde. Abholen braucht Ihr mich nicht. Weiter auf der Bildseite: Ich komme dann mit den Wieh[… ?]./. zu Euch. Ich darf jetzt alles essen, ich /. Bin [… ?] die Milch immer ordentlich flau / geworden. Viele Grüße an Eltern Deine Emma Helling. [Zusatz am Rand der Bildseite:] Bin Donnerstag Nachmittag zuerst aufgestanden.
Grabstätte Georg Ruseler: Alt-Oldenburg …entdecken!.
Soundtrack: Pine Box Boys/Lester T. Raww’s Graveside Quartet: Dancing On Your Grave, 2016:
As soon as you gave up the ghost
They argued who loved you the most,
But I won’t change my tune,
I’ll be dancing to it soon.
Die Seligkeit, wo ich zusammenbrechen darf
Update zu Was übrig blieb von grünem leben,
Ach Kind, wenn du ahntest, wie Kunitzburger Eierkuchen schmeckt!,
Und wenn’s im Rücken mal weh tut, wird jede Bewegung zur Qual
und Morgenstern über Greifswald (und keiner schaut hin):
Das Reclambuch sah so überhaupt nicht aus wie ein Reclamheft: schwarz statt gelb, sogar mit Goldprägungen, und weil man das 1904 so gemacht hat, alles in Fraktur. Eigentlich hätte ich es photographieren sollen, aber bis mir das eingefallen ist, hatte ich es schon zum Kuckuck gehauen, nein: in gute Hände weitergereicht.
Das Antiquariat, in dem es zuletzt gewohnt hat, ist dermaßen aufgelöst, dass es seine schmuckschwarzen goldgeprägten Reclambücher und sonstiges angemodertes Altpapier ohne Ladenaufsicht zum Räubern freigegeben hat, und ich weiß nicht, was trauriger war: dass nicht die Bücherfreunde mit leuchtenden Augen kamen, sondern ein paar abgestellte Packer in Camouflage-Kluft mit Rucksäcken – oder dass die abwesenden Antiquare ihre Ladentür tagelang auffordernd geöffnet halten mussten, bis endlich ein nennenswerter Schwund einsetzte.
Zur Verbreitung besagten Reclambuchs berichtet Robert Wohlleben für das höchst schätzbare fulgura frango: Das Regiment Sassenbach (1897 bis 1903). Lyrik aus der literarischen Werkstatt um Arno Holz:
Zu ihrer Zeit sind die Gedichte des „Regiments Sassenbach“ durchaus vom literarischen Publikum wahrgenommen worden. Eine Reihe von Gedichten hat zum Beispiel Hans Benzmann in seine recht verbreitete Anthologie „Moderne Deutsche Lyrik“ aufgenommen; sie erschien bei Reclam, vermutlich 1904.
Aus dem schönen Stück zurückbehalten habe ich eins von Reinhard Piper, 1879 bis 1953, damals Buchhandelsgehilfe, später Verleger unter dem Pseudonym Ludwig Reinhard:
——— Reinhard Piper:
Aus „Meine Jugend“
aus: Meine Jugend I, Johann Sassenbach, Berlin 1899,
cit. nach Hans Benzmann, Hrsg.: Moderne Deutsche Lyrik, Philipp Reclam jun., Leipzig 1904, Seite 419:
Die Lampe will mir ausgehn.
Todmüde ziehe ich meine Taschenuhr:
Nach Mitternacht.
Plötzlich sehe ich den Sekundenzeiger rennen.
Entsetzen packt mich.
Halt! Halt!
Er tickert merin ganzes Leben herunter!
Unaufhaltsam verläuft meine Zeit ins Nichts.*
Auf der glühenden Landstraße, die nach dem Himmel führt,
schleppe ich mich vorwärts.
Ich sehe kein Ende.
Schmächtige Pappeln stehen am Weg.
Ihre vertrockneten Blätter
beben.
Mit einem dünnen Schatten um den andern
komme ich der Seligkeit näher,
wo ich zusammenbrechen darf!
Zur Einordnung dieses Denkmals aus Im- wie Expressionismus und Postmoderne lernen wir weiter bei fulgura frango a. a. O.:
1898 und 1899 erschienen im Verlag von Johann Sassenbach, Berlin, unter anderem sieben Hefte mit Gedichten: „Neues Leben“ von Georg Stolzenberg in zwei Heften (1903 folgte ein drittes), „Farben“ von Robert Reß, „Meine Jugend I“ vom späteren Verleger Reinhard Piper unter dem Pseudonym Ludwig Reinhard, „Befreite Flügel“ von Rolf Wolfgang Martens, „Phantasus“, erstes und zweites Heft, von Arno Holz. Alle Gedichte darin sind ohne Reim und ohne festes Versmaß, ihre Zeilen sind auf Mittelachse angeordnet.
[…] Ab 1897 kam um Arno Holz eine Gruppe schreibender Freunde zusammen. Der Gesangslehrer Robert Reß (1871 bis 1935) sowie der Klavierlehrer und Komponist Georg Stolzenberg (1857 bis 1941) gehörten als Kern dazu. Ferner Rolf Wolfgang Martens (1868 bis 1928), den Reinhard Piper in seinen Erinnerungen einen „Beinahe-Millionär“ nannte. Der junge Buchhandelsgehilfe und spätere Verleger Reinhard Piper (1879 bis 1953) wurde hinzugezogen. Auch der Dichter Paul Ernst (1866–1933) gehörte zeitweise dazu.
Die Gruppe traf sich regelmäßig in der Dachkammer von Arno Holz. Sie war auf die Prinzipien der Holzschen Lyrikkonzeption eingeschworen. Für Arno Holz war sie seine „Schule“. Reinhard Piper nannte die Gruppe umgangssprachlich „Corona“.
Bilder: via Robert Wohlleben für fulgura frango: Das Regiment Sassenbach (1897 bis 1903). Lyrik aus der literarischen Werkstatt um Arno Holz:
- Innenplakat von W. Jordan via Zur Topologie der Motive beim Regiment Sassenbach;
- Gruppenbild um 1900:
Stehend v.l.n.r.: Oskar Jerschke, Robert Reß, Reinhard Piper.
Sitzend rechts: Arno Holz; daneben Emy Reß.
Soundtrack: Lael Neale: Acquainted with Night, aus: Acquainted with Night, 2021.
Fall sich jemand wundert: Das auf dem ganzen Album allfällige Omnichord kennt unsereins noch aus Turaluraluralu aus der Bye Bye 1983 von Trio:
Die leichtfüßige passive Aggression der Revolution
Update zu Charakter ist nur Eigensinn. Es lebe die Zigeunerin!
und Ich lese jedes Wort von Dir. Die Andern liefern nur Geschmier. (Also sprach der kleine Mops):
Dergleichen wächst ja heute viel zu selten: Verspielte Phantasten, die den Ehrgeiz ihrer schreibfreien Zeiten unter anderem in Glasarchitektur und das Perpetuum mobile setzen. In diesen heil’gen Hallen haben wir Paul Scheerbart schon mit seiner vollständigen Katerpoesie 1909 und der ähnlich gearteten Mopsiade 1920 erlebt, aus welchen uns erhellt: Man liest ein Gedicht, eine Geschichte, ja eine ganze Sammlung von beidem gerne zu Ende, wenn sie sich übermütig genug gebärdet. In Kunst egal welcher Ausrichtung sollte es immer was zu lachen geben, sonst ist sie auf staatstragende Miesnickel und zu ihrer Rezeption verdonnerte Zöglinge als Publikum angewiesen.
Natürlich kann ich da von nichts anderem als meiner eigenen Erfahrung ausgehen, aber wenn die Geschichte leichtfüßig daherkommt, begleitet man sie gern bis zu Ende. Wenn sie es dabei schafft, eine Botschaft zu transportieren, nimmt man sie dankbar mit.
Als Beispiel dient uns Paul Scheerbarts Satire Eine Gerichtssitzung im Jahre 1901. 1897 niedergeschrieben, war die nach 1901 vorausverlagerte Handlung tatsächlich Science-Fiction in einer vagen Zukunft des folgenden Jahrhunderts. Das Thema ist im 21. Jahhundert bitter aktuell geblieben, ja eigentlich erst geworden. Und passive Aggression halte ich ohnehin schon viel zu lange für ein probates rhetorisches Mittel, da können Sie jederzeit meine Frau fragen.
Warum dergleichen so selten wächst? Wenn wir Scheerbarts zeitweisen Wegbegegleiter Erich Mühsam befragen, finden wir im Kapitel Scheerbartiana seiner Unpolitischen Erinnerungen 1931: „Während des Krieges ist Paul Scheerbart gestorben; er hat sein Leben lang zuwenig gegessen und zuviel getrunken.“
O ja, das würde einiges erklären.
——— Paul Scheerbart:
Eine Gerichtssitzung im Jahre 1901
Zukunftsnovellette
aus: Ich liebe dich! Ein Eisenbahn-Roman mit 66 Intermezzos, Schuster & Loeffler, Berlin 1897,
in: Das Lachen ist verboten … Grotesken, Erzählungen, Gedichte und Schnurren,
See-Igel-Verlag Fritz Nuernberger, Berlin-Wilmersdorf 1929:
Adolfine, die Tochter des reichen Fabrikanten Beisel, spielt gelassen auf der Mundharmonika. Das junge Mädchen hat bereits zwei Stunden hindurch Musik gemacht und ist noch immer nicht müde.
Plötzlich erschallt ein Hilferuf auf der Straße.
Die Adolfine läßt das Blasen auf der Mundharmonika ein bißchen sein, wendet zur Seite das zierliche Köpfchen und sagt dabei ganz verwundert:
„Ei! Ei! sollt’ ich diese Stimme nicht schon mal gehört haben?“ Schnell eilt die gute Kleine ans Fenster, öffnet’s und — erblickt — erblickt — Friedrich Schumm, einen ehemaligen Buchhalter ihres Herrn Vaters.
Die Fine sinnt — denkt schließlich nach — und erinnert sich allmählich, daß sie Friedrich einst — liebte — liebte!
Das hatte ihn, den Geliebten, so verwirrt gemacht, daß er als Buchhalter sehr bald nicht mehr zu gebrauchen war.
Friedrich ward deshalb vor einigen Monaten entlassen, denn Vater Beisel kannte in Geschäftsangelegenheiten keinen Spaß.
Und jetzt — gerechter Himmel! — jetzt wird der Friedrich am hellen lichten Tage auf offener Straße „verhaftet“.
Das gnädige Fräulein sieht, wie der Schutzmann den geliebten Friedrich an den Ohren herumreißt, ihm die Handschellen anlegt und ihn wütend weiterstuckst.
Das gnädige Fräulein wendet sich unangenehm berührt — fast beleidigt — ab.
Finchen Beisel spielt wieder auf der Mundharmonika, um bloß nicht die häßlichen Straßenszenen zu sehen.
Die Rohheiten sind im vornehmen Beiselschen Hause verpönt.
„Pfui!“ ruft Beisels Töchterlein, „wie ekelhaft sah das aus!“
Die Sonne brennt heiß auf das Straßenpflaster.
Schutzmann und Friedrich verschwinden.
Das vornehme Beiselsche Haus durchhallen die lieblichen Töne der Mundhamonika.
Einige Tage nach diesem peinlichen Auftritt befindet sich Friedrich Schumm auf der Anklagebank.
Die Richter machen ein sehr ärgerliches Gesicht. Der Staatsanwalt schmeißt bereits zum fünften Mal wutschnaubend seinen Federhalter auf den grünen Tisch, denn der Fabrikant Beisel sagt als Zeuge ganz eigentümliche Sachen über den Angeklagten Schumm aus.
Der reiche Beisel schließt seine Rede, in der er den Friedrich Schumm ganz gehörig schlecht gemacht, ihm sein albernes verliebtes Wesen vorgehalten, ihm seinen Größenwahn gehörig aufgemutzt, ihm wegen seiner frechen Gesinnungslosigkeit tüchtig den Kopf gewaschen hatte — mit den folgenden furchtbaren Worten:
„Und verrechnet hat er sich jeden Tag zwei Mal. Gewissenloser Friedrich, kannst Du das leugnen?“
Friedrich weint und schüttelt wehmütig den Kopf.
Der Staatsanwalt erhebt sich und spricht mit donnernder Stimme:
„Angeklagter, Sie sind wegen unmotivierter Mittellosigkeit verhaftet worden, Der Schutzmann Knillke hatte sich am fünfzehnten Juli Ihr Portemonnaie zeigen lassen, wie das seine Pflicht ist bei allen verdächtigen Individuen. Was fand der Schutzmann Knillke in Ihrem Portemonnaie?“
Angeklagter erwidert weinerlich:
„Eine Mark und fünf und fünzig Pfennige.“
Staatsanwalt: „Und davon wollten Sie noch weitere drei Monate leben? Bis in den Oktober hinein? Herr, was fiel Ihnen ein? Sie wissen doch, daß jeder Staatsbürger verpflichtet ist, jederzeit das für die nächsten drei Monate nötige Geld zum Lebensunterhalt bereit zu halten. Angeklagter, wissen Sie das?“
Angeklagter: „Jawohl!“
Staatsanwalt: „Nun also — wovon wollten Sie denn leben? Wovon? Sagen Sie’s nur! Wie dachten Sie sich die Bestreitung des Lebensunterhalts? Werden Sie nun bald antworten? Was?“
Angeklagter: „Ach, Herr Staatsanwalt, ich hoffte ganz bestimmt, ich würde eine neue Stellung bekommen. Ich bin doch Buchhalter.“
Staatsanwalt: „Ob Sie Buchhalter oder Schornsteinfeger sind — das ist vor Gericht ganz egal. Sie sind verpflichtet, Geld zu besitzen, Sie scheinen das Leben noch nicht zu kennen. Sie wissen doch, daß die Zahl der Vakanzen immer kleiner wird. Ich beantrage drei Monate Zuchthaus mit verschärftem Fasten — wegen unmotivierter Mittellosigkeit. Mein Lieber, wir werden Sie schon kleinkriegen. Ich versteh’ es einfach nicht, wie ein ziemlich gebildeter Mensch sich ohne das nötige Kleingeld auf die Straße wagen kann — eine ganz unglaubliche Frechheit!“
Der Staatsanwalt schließt sein Plädoyer und setzt sich auf seinen Stuhl.
Der Gerichtshof verurteilt den Angeklagten dem Antrage des Staatsanwaltes gemäß.
Der Angeklagte bricht laut weinend auf der Anklagebank zusammen, er ruft dabei schluchzend:
„O Gott, was wird meine arme Mutter dazu sagen? Ihr Sohn Friedrich — ein Verbrecher!“
Lautes Heulen durchhallt den Saal.
Der Herr Präsident bemerkt aber sehr streng:
„Angeklagter Schumm! Was weinen und heulen Sie denn? Machen Sie sich doch nicht zum Narren, Sie lächerlicher Mensch! Seien Sie doch froh, daß wir Ihnen für volle drei Monate die Gelegenheit, Diebstähle zu begehen, genommen haben. Sie wissen doch, daß Diebstahl mit täglichem Durchprügeln bestraft wird!“
Angeklagter: „Ja, hoher Herr Gerichtshof, ich dank’ auch schön für die drei Monate, nehmen Sie mir mein Weinen nicht weiter übel. Ich wollte auch nur zeigen, daß ich noch kein,verstockter’ Verbrecher bin! Aber, hoher Herr Gerichtshof, werd’ ich, wenn ich rauskomm’, auch gleich wieder bestraft werden?“
Staatsanwalt: „Sie sind ein naseweiser dummer Junge! Wegen unmotivierten Fragens beantrage ich einen Monat Prügel!“
Angeklagter sieht sich erstaunt um — setzt sich — und sagt langsam, so als wenn plötzlich ein neuer Geist in ihn gefahren wäre:
„Meine Herren, ich glaube, Sie sind sämtlich — wirklich — ganz und gar verrückt geworden.“
Nach diesen Worten des Angeklagten Friedrich Schumm bricht zum Glück für ihn auf der Straße wieder eine Revolution aus.
Der Präsident und alle Richter laufen rasch nach Hause — der Staatsanwalt und die übrigen Beamten desgleichen.
Schumm bleibt auf seiner Anklagebank verdutzt, ganz ruhig sitzen.
Er ist im nu ganz allein im Gerichtssaal — tatsächlich allein — ein Vergessener!
Er weiß gar nicht, wie er sich benehmen soll.
Inzwischen entwickelt sich die Revolution ganz programmgemäß und zielbewußt.
Schumm versteckt sich später unter seiner Anklagebank, da die Kugeln der Revolutionäre den oberen Teil des Gerichtssaales nur so durchsausen.
Adolfine Beisel denkt währenddem recht freundlich an ihren geliebten Friedrich, verzeiht ihm im Stillen und bläst dazu wieder auf der Mundharmonika.
Die August-Revolution kommt der jungen Dame diesmal genau so langweilig vor, wie die letzte April-Revolution.
Bilder: a. a. O., 1897.
Bläst gelassen auf der Mundharmonika: Big Mama Thornton: Rooster Blues, Ball & Chain, Hound Dog,
about 3 months before she died und nachhaltiges Fernseherlebnis in der ZDF-Matinée, 1984:
Filetstück 0006: Gelehrsamkeit war Hinnerk sein Fall nicht
Update zu Und vierzehn Gräser formen ein Sonett,
Filetstück 0004: Lieber ein bissel zu gut gegessen, als wie zu erbärmlich getrunken (Eduard schnarche nicht so!)
und Filetstück 0005: Was erst verdrießlich schien, war schließlich gut für ihn:
Die Welt vermisst schnurrige Geschichten, in denen zwölfjährige Bengel mit aller gebotenen Selbstverständlichkeit Pfeife rauchen.
Wenden wir uns zu seinem 190. Geburtstag an Wilhelm Busch (* 15. April 1832, Wiedensahl). Die ersten beiden seiner Prosawerke – wir haben auf Eduards Traum 1891 und den Schmetterling 1895 aufmerksam gemacht – sind immerhin noch in der gut zugänglichen zweibändigen „Gesamt“-Ausgabe von Rolf Hochhuth 1960 vorhanden, nach seinem letzten Prosastück Meiers Hinnerk 1905 sucht man selbst dort vergebens.
Begründet oder auch nur begründbar ist das nicht, aber dafür gibt es ja uns. Es ist offenbar eins der Werke, die Busch nicht selbst illustriert hat, was uns den Spielraum verschafft, modernes Bildmaterial dazu in Beziehung zu stellen. Es stammt deshalb nicht aus dem Wilhelm-Busch-Museum in Buschs Geburtsort Wiedensahl, sondern aus seinem Sterbeort Mechtshausen mit dem Wilhelm-Busch-Haus, weil anzunehmen ist, dass er bei der Niederschrift die Landschaft mit Blick auf den Heber vor Augen hatte: nicht mehr ganz in der Heimat seiner Kindheit bis in die mittleren Jahre, noch nicht ganz im Harz. Großstädter war er trotz Lebensstationen in Düsseldorf, Frankfurt und München nie: Mechtshausen, das Busch sich wissend und gerne als Alterssitz ausgesucht hat, zählte auf dem Stand von 2018 satte 371 Einwohner und anno 1898 bestimmt nicht viel mehr; die Landschaft müsste ihm also entsprochen haben.
Man braucht etwa eine Viertelstunde zum Vorlesen, wie es nicht zuletzt Andreas Muthesius auf Spotify – als Rausschmeißer aus dem Hörbuch Wilhelm Busch: Poesie & Prosa 2012, und das in sehr angemessenem Tonfall – vormacht. Die o. g. „Gesamt“-Ausgabe, an der mir nach all den Jahrzehnten erst 2022 dieser eine Fehlbestand aufgefallen ist, gehört trotzdem in jeden Haushalt.
——— Wilhelm Busch:
Meiers Hinnerk
Manuskript datiert als „Mechthausen December 1905“,
Niedersächsisches Kalenderbuch Der Heidjer, 1907,
in: Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bde. I–IV, Band 4, Hamburg 1959, Seite 332 bis 336:
Grad ausgestreckt in der Ebene und Hof an Hof lag das alte friedliche Dorf, die Häuser mit Stroh gedeckt. Und jedes Haus hatte rückwärts sein Gärtchen und hinter jedem Gärtchen sein Ackerfeld, und durch jedes Feld ging ein Grasweg, ein breiter, nach der heckenumgrenzten Wiese, und hinter sämtlichen Wiesen stand der hohe schattige Wald.
Es war ein heiterer Tag zu Anfang des Herbstes, wenn durch die Luft schon die silbernen Mettken schweben. Aus allen Gehöften, wie nachmittags gewöhnlich, kamen die kleinen Hirten und Hirtinnen mit ihren Kühen.
Auch Meiers Hinnerk hatte zwei, eine schwarze und eine braune, am Strick, um sie, zunächst den Grasweg beweidend, allmählich der Wiese entgegenzuführen. Zwölf Jahre war er alt, flachshaarig und wohlgenährt. Längst war ihm die verblaßte leinene Hose zu eng und zu kurz geworden. Hinten drauf, einander gegenüber, gleich einer blauen Brille, saßen sogar schon, zu seinem Verdruß, zwei zirkelrunde dunklere Flicken; ein Werk der nehrigen Mutter, die immer behaupten wollte, in alten Hosen sähen Jungens am strammsten und gesundesten aus.
Gelehrsamkeit war Hinnerk sein Fall nicht. Dennoch, während die beschränkten Tiere am Boden ihr Futter suchten, zog er sofort seinen Katechismus aus der zugeknöpften Jacke hervor. Mit helltönender Stimme, in steter Wiederholung, prägte er die Aufgabe für den folgenden Schultag in den widerspenstigen Schädel. Seine Kollegen im Felde, weithin vernehmlich, übten dieselbe Lektion. Sie wußten warum. Küster Bokelmann, der Meister der Schule, besaß einen kniffigen Rohrstock, der die schlummernden Seelenkräfte, selbst im voraus, vorzüglich zu ermuntern verstand.
Nachdem das dringende Geschäft der Bildung des Geistes somit glücklich erledigt war, widmete sich unser Hinnerk einer mehr freien gemütvollen Tätigkeit.
Auf dem Rücken der schwarzen Muhkuh, an geeigneter Stelle, begann er Haare zu zupfen und bildete so auf der entblößten Haut ein großes lateinisches L. Hierbei, sinnig vertieft, sang er leise den Namen Lina vor sich hin, indem er auf dem i besonders lange quinquillierend verweilte.
Mittlerweile hatte er die Wiese erreicht, schloß das Tor, nahm den Kühen den Strick ab und ließ sie grasen nach Belieben.
Wo ein Kuhjunge hütet, muß natürlich ein Feuer sein. An sich schon dem Auge ergötzlich, bei kühlem Wetter auch willkommen der Wärme wegen, ist es geradezu unentbehrlich für das Braten der Kartoffeln.
Demnach vor allen Dingen sammelte Hinnerk feine Spricker und brach dünne Knüppel aus der Hecke. Da es zur Zeit noch keine Reibhölzchen gab, mußte er erst emsig pinken, bis an den Zunder der richtige Funken sprang. Einen Topp Hede hatte er mitgebracht. In ihn ward der glimmende Schwamm gehüllt, durch Weifen und Pusten die Flamme entfacht, zunächst dünnes, dann dickes Holz regelrecht drüber geschichtet, und hochauf loderte bald ein erfreulicher Scheiterhaufen.
Beiseit, schon früher aus Zweigen und Plaggen erbaut, stand Hinnerks zwar enge, doch trauliche Hütte. Aus dieser entnahm er das von ihm selber geflochtene Weidenkörbchen, begab sich ins Feld hinaus und kehrte zurück mit zwei Dutzend der dicksten Kartoffeln und fünf jungen Mäusen, die er beizu im Neste erwischt und getötet hatte. „Dat sind fief fette Happen vär use Kättkens terhus“, dachte er schmunzelnd.
Noch waren zum Einlegen der rötlichen Knollen nicht Kohlen genug reif. Infolgedessen kriegte Hinnerk sein Messer heraus, ein wertvolles Werkzeug, für drei Mariengroschen hat’s ihm der gute Vater gekauft auf dem Markt in der Stadt. Das kleine Öhr am Heft, um’s mit einer Schnur an der Hosentasche zu befestigen, war übrigens eine Sicherheitsvorrichtung, die Hinnerk verschmähte. Er flötete, prüfte am Daumen die Schneide, fällte eine stattliche Doldenpflanze und verfertigte aus ihren hohlen Stengeln ein niedliches Schmökepfeifchen; denn sich täglich ein wenig im Rauchen zu üben, hielt er für nötig, und was den Tabak betrifft, so schien ihm recht trockenes Haselnußlaub für den Anfang nicht übel.
Sein gestopftes Pfeifchen zu entzünden, näherte sich Hinnerk der Feuerstätte.
„Hutt bäh!“ rief eine Mädchenstimme, und Nachbars Gretliesche, ein munteres hübsches rothaariges Kind von elf Jahren, kroch durch ein Loch in der Hecke.
„Wat wutt du denn hier?“ fragte Hinnerk sehr kühl.
„Helpen!“ erwiderte sie kurz und keck. Ohne weiteres legte sie die Kartoffeln ins Feuer, hielt dem Hinnerk einen glühenden Span auf die Pfeife, setzte sich aufs Rasenbänkchen in der Hütte und lud ihn ein, zu ihren Füßen sich niederzulassen, wozu er sich nach einigem Zögern auch wirklich entschloß.
Liebkosend nahm sie ihn beim Kopf und unterzog denselben alsbald einer genauen Besichtigung.
„Eck finne jo nix!“ rief sie enttäuscht.
„Dat löw eck woll“, meinte er, „hat gistern use Grotmeuhme all’e knicket.“
Aber Gretliesche, ganz leise leise, krabbelte weiter im Haar. Ein wonniges Rieseln lief ihm den Rücken hinunter. Die Pfeife entsank seiner Hand, die Augen schlossen sich halb. In solch einem dämmerigen Zustand sagt der Mensch manches, was er sonst wohl verschwiegen hätte.
„Segg eis, Hinnerk“, fragte sie behutsam, „haste denn ok all ’ne Brut?“
„Swarte Haare hat se und glinstertswarte Ogen un“ – er stockte.
„Oh, nu weet eck et all!“ rief Gretliesche, „Kösters Lina is et, de is jo tein Jahre öller ans du.“
„Dat deit nix“, sagte er, „und wenn se ok dusend Jahr öller is.“
„Ja“, meinte Gretliesche dagegen, „wenn man Verwalter Klütke mit sinen langen Snurrbart nich wöre.
„Den Kerl sla eck dot!“ rief er heftig.
„Und denn komet se her un hänget di upp!“ entgegnete sie.
„Erst hebben!“ lachte er. „De längeste Mettwost hal eck un lope weg und vestäke mi baben in der Schüne int Hei.“
„Oh, wat’n Nare!“ Mit diesen Worten gab ihm die Gretliesche einen verächtlichen Schubbs und sprang aus der Hütte.
„Kiek na den Kartuffeln!“ rief Hinnerk ihr nach.
„Do et sülbenst!“ Und weg war sie durch die Hecke.
Er versuchte auszuspucken. Es ging aber nicht recht.
„Van den Smöken werd’n ok so dröge in’n Halse“, murmelte er in sich hinein.
Eben graste die rote Kuh mit dem strotzenden Euter vorüber. Er strich ihr sanft über den Rücken.
„Woha!“ Das gute Tier stand still. Dicht hinter ihr setzte er sich in die Hurke, zog eine Zitze zu sich her und melkte einige Spritzer in den weit geöffneten Mund, daß es strullte.
Im selben Augenblick – so war es vorher bestimmt im Laufe der Dinge – hob die Kuh ihren Schwanz, indem sie ihn, des größeren Nachdruckes wegen, zugleich schraubenförmig verkrümmte; nicht ohne warmen Erfolg.
„Hahaha, dat is di jüst recht!“ lachte und rief wer von seitwärts herüber. Oben in einer hainbuchenen Hucht saß die Gretliesche und sah zu mit Vergnügen.
„‚Ole Ape!“ war alles, was Hinnerk drauf sagte.
Vermittels eines Grasbüschels, ohne sich sehr zu erregen, brachte er die Sache bald wieder, sozusagen, ins reine.
Und nun ging’s an die Kartoffeln. Sie schmeckten ihm trefflich; auch mußte er sich schneuzen mitunter, auf natürliche Art; daher wurde er um Mund und Nase schön schwarz übermusselt.
Jetzt aber fiel ihm was Wichtiges ein. Aus dem Murk, dem heimlichen Versteck unter der Rasenbank, entnahm er ein absonderlich merkwürdiges Schießeding; einen ausgehöhlten Ast, mit Draht umflochten, seitlich mit Zündloch versehen. Eine Tute voll Pulver, das er beim Krämer gegen Eier sich eingetauscht – er wußte die verborgensten Hühnernester – kam gleichfalls zum Vorschein. Kräftig wurde geladen, und mächtig war der Knall.
Das schüchterne Reh, das kurz vorher aus dem Wald in die Wiese getreten, entfloh in Eile. Angelockt durch den Schuß dagegen wurden drei andere Hütejungens: Kord, Krischan und Dierk.
Zum zweiten Male ward das Geschütz geladen, zum zweiten Male ballerte weithin das Echo im Walde entlang.
Hiernach setzten sich die vier behaglich ans Feuer, alle schwarz um die Mäuler.
Krischan besaß einen richtigen Tonpfeifenstummel, gefüllt mit echtem Bauernkanaster, den er direkt, doch unter der Hand, von seinem Alten bezog. Jeder, der Reihe nach, tat einen tüchtigen Zug daraus.
Kord danach gab einen saftigen weinsauren Apfel zum besten. Jeder, der Reihe nach, tat einen tüchtigen Biß hinein.
Dierk aber führte bei sich einen knorrigen Eichenstock, dessen Griff ein menschliches Antlitz vorstellte, von Dierk selber geschnitzt. Der Knittel, zur Besichtigung, ging gleichfalls reihrund. Besonders genau sah Krischan das Bildnis sich an.
„Dönnerslag“, rief er, „dat is jo de Köster. Ehrgistern hat he mi hauet, un vandage deit mi de Lenne noch weih!“
Und ehe Dierk es verhindern konnte, brach Krischan den künstlichen Stock vor dem Knie ab und übergab ihn den Flammen.
„Hurra!“ jubelten die Jungens, tanzten ums Feuer, häuften grüne Ellernzweige darauf und erzeugten so einen großen herrlichen Dampf, der als duftiger Schleier die Gegend umhüllte.
Die Sonne ging unter. Vom Dorfe her tönte die Abendglocke.
„Et is Tiet“, mahnte Hinnerk, „de Bäklocke lutt.“
Jeder eilte zu seinen Kühen, um sie am Strick nach Hause zu geleiten.
Angenehme Gerüche, die Vorboten des Abendessens, wehten ihnen entgegen und erregten die Gemüter zu Jauchzen und Gesang.
Küster Bokelmann, die lange Pfeife im Munde, führte an seiner Gartenpforte mit Verwalter Klütke ein gemütliches Dämmergespräch.
„Es gibt ander Wetter“, sprach er, „die Kuhjungens schreien heut so im Felde.“
„Ganz recht, Herr Kanter; vor der Sonne stand eine verdächtige Wolke“, stimmte Klütke ihm bei.
Indem kam Lina gesprungen.
„Papa“, rief sie schon von weitem, „der Pfannkuchen wartet. Ei sieh da, Herr Verwalter, wollen Sie nicht mitessen bei uns?“
„Wer könnte einer Einladung von solch reizender Seite widerstehen?“ erwiderte Klütke, verbindlich den Schnurrbart streichend.
„Dat di de Düwel wat backet!“ knurrte Hinnerk, der gerade vorüberzog, mit einem grimmigen Seitenblick.
Als er den elterlichen Hof erreichte, strich schon leise miauend die Katze an ihm hin. Dankbar nahm sie ihre fünf kleinen Mäuse in Empfang.
An der Tür stand die Großmutter, ihren Liebling erwartend.
„Minsche, wo swart sühst e ut!“ rief sie bei seinem Anblick erschrocken.
Eilig führte sie ihn in den Hintergrund des Hauses, wo das Küchengerät stand, rieb ihm Kopf und Gesicht mit dem feuchten, geschmeidig fettigen Schüsseltuch und trocknete ihn ab mit der Schürze.
In der Döntze baumelte bereits der brennende Trankrüsel an dem verstellbaren Haken. Auf der Tischplatte lag ein Haufen dampfender Kartoffeln; daneben, auf rundem Brett, stand das köstliche Pannenstippelse, bereitet aus geglühtem Rüböl und gebratenen Zwiebeln. Vater und Mutter tunkten schon ein. Hinnerk nahm dicht bei der Großmutter Platz. Sie pellte ihm sauber die schönsten Kartoffeln ab. Zwei verzehrte er, nicht eben geschwind. Dann klappte er entschieden sein Messer zu.
„Wo vele hast e denn all bipacket in der Wisch?“ fragte sorglich die Großmutter.
„En stücker twölwe, mehr nich“, erwiderte er gähnend.
Die Großmutter befühlte ihm den Leib.
„No“, meinte sie beruhigt, „denn konnste wol faste liggen düsse Nacht.“
Das tat er denn auch. –
Überhaupt, seine Herzenssorgen waren nicht so bedrückend, daß sie ihm jemals die nächtliche Ruhe störten; selbst dann nicht, als drei Monate nachher Verwalter Klütke, der ein kleines Gütchen gepachtet hatte, sich mit der schönen Lina vermählte.
Und so geht’s zu in dieser neckischen Welt: zehn Jahre später hat die Gretliesche ihren Hinnerk doch noch gekriegt.
Fachfilm: Wilhelm-Busch-Haus Mechtshausen e. V., 2015:
Bilder: Mechtshausens Homepage, Ortsbilder … eines der schönsten Dörfer am Harzrand, ca. 2015;
Wilhelm-Busch-Haus aus harzlife.de, der Online-Reiseführer.
Soundtrack, damit am Geburtstag was aus dem Geburtsort und am Karfreitag was Österliches dabei ist:
Handglockenchor Wiedensahl in Gestalt von Thomas Eickhoff: Dona nobis pacem am 9. April 2020:
Grabberland (Sein Maul ist beiß, sein Griff ist bohr)
Update zu The rhythm of our rowing
You’ll learn to sprechen Deutsch mein kind, ash fast ash you tesire
und And to watch it dwindle gave him Kugelkopfschwindel:
Wenn man vom Enkel- bis ins Großvateralter nie von den zwei Alice–Büchern von Lewis Carroll losgekommen ist, fällt auf, mit wie vielen deutschen Sachen diese englischsten aller Bravourfeuerwerke verwoben sind.
Um nicht auf die zahllosen gelehrten, bei tieferer Betrachtung schon gar nicht mehr kindgerechten – wohl aber jugendfreien – Sprachkapriolen einzugehen, sei mit aller dringenden Wärme auf The Annotated Alice. Alice’s Adventures in Wonderland and Through the Looking-Glass von Martin Gardner verwiesen, die seit 1960 in ihren häufigen Auflagen immer nur besser, ausführlicher und penibler geworden ist. Speziell den Jabberwocky aus Through the Looking-Glass, and What Alice Found There hat Carroll seit einer einstrophigen Urfassung in einem der Dodgson’schen Familienmagazine Mischmasch mit sich herumgetragen, um ihn 1871 erweitert, illustriert und zurechtgeputzt an prominenter, kommerziell bedeutsamer Stelle zu verwenden.
Was aus dem Mischmasch als Setzling gedieh, interpretiert Alice 1871 textimmanent:
„Somehow it seems to fill my head with ideas——only I don’t exactly know what they are! However, somebody killed something: that’s clear, at any rate——“
Etwas zu töten wird ohnehin in viel zu weiten Teilen der Welt als typisch deutscher Vorgang angesehen; in diesem Fall zurecht, weil das Motiv des heldenhaften Drachentötens stark mit der erzdeutschen Siegfried-Sage konnotiert ist. Was wunder also, dass man sich in der Welt ab 1933 auf grundlegenden Nonsens und speziell den Jabberwocky zu besinnen anfing, als es zur kollektiven Seelenhygiene und politischen Aufarbeitung notwendig wurde, den deutschen Nationalsozialismus zu parodieren. Was nicht einmal die reichhaltigen Jabberwocky Variations bringen, war einst Gegenstand in der Lewis Carroll Group, als es statt Facebook-Gruppen noch quicklebendige Yahoo-Gruppen gab: Grabberwocky. Zu rekonstruieren war etwa zwei Jahrzehnte nach Löschung der Diskussionsgruppe:
According to Jabberland it was originally published as „Grabberwochy“. Set to music by Max Saunders and Max Kester and used as a prologue to Adolf in Blunderland by James Dyrenforth and Max Kester, produced by the BBC Oct 6, 1939 and Feb 12, 1940. Both scripts spelled Grabberwochy. Not included in the published play. The spelling was changed when Barsley used it in „Grabberwocky and Other Flights of Fancy“ pub. John Murray, 1939. The four versions are essentually the same with some punctuation differences, the title spelling and the last word of the first stanza: julestreich (probably for Jules Streicher—nazi editor of Der Sturmer) first BBC script had it as pilestreich, perhaps for British General Sir Frederick Alfred Pile, but this was crossed out and changed to judestreich. Then in the book form it was anglicized to jewstreich. One other thing: ‚my rhenish boy‘ (original) changed to ‚my schemish boy‘ in BBC version.
I did not do the research on this but I remember tons of email back and forth and this endnote had the most revisions in the book due to the many versions.
Hope any of this helps.
DaynaI’ve found it in my research about „Adolf in Blunderland“, about which I once asked some info (always welcome!)
Das ist eine ausführlichere und dankenswertere Forschung, als sie für die Parodie einer Parodie jemals zu erwarten wäre. – Volltext:
——— Michael Barsley:
Grabberwocky
from: Time and Tide July 1939:
‘Twas Danzig, and the Swastikoves
Did Heil and Hittle in the Reich
All Nazi were the Lindengroves
And the Neurat Jewstreich.Beware the Grabberwock, my Son
The Plans that spawn, the Plots that hatch,
Beware the JewJew Bird, and shun
The führious Bundesnatch.He took his Aryan Horde in Hand
Long Time the Gestapo He taught
Then rested He by the Baltic Sea
And stood awhile in Thought.And as a Polish Oath they swore
The Grabberwock, with Lies aflame
Came Goering down the Corridor
and Goebbled as it came.Ein, Zwei! Ein, Zwei! One in the Eye
For Polska Folk. Alas, alack!
He left them dread and as their Head
He came Meinkampfing back.And hast thou ta‘en thy Liebensraum?
Come to my Arms, my schemish Boy
Oh grabjous Day, Sieg Heil, be Gay
He strengthened through his Joy.‘Twas Danzig, and the Swastikoves
Did Heil and Hittle in the Reich
All Nazi were the Lindengroves
And the Neurat Jewstreich.
And hast thou slain the Jabberwock? Nicht ganz. Nicht nachweisen konnte ich eine Vertonung von Max Saunders, der ein „British academic and writer specialising in modern literature“ des späten Geburtsjahrgangs 1957 ist, und Max Kester nur dort, wo sich auch die Illustration findet: bei Alice in the Internet vom 29. Mai 2016. Nach den vier Versionen mit und ohne Anklänge an meinen ungeliebten Landsmann Julius Streicher (leider wohnhaft in der Pirckheimerstraße beim Stadtpark ums Eck), und ob der „Lebensraum“ dort wirklich als „Liebensraum“ erscheint, würde ich gerne mal Grabberwocky and Other Flights of Fancy selbst durchblättern. Und auch sonst.
Vorerst versammle ich ohne Anspruch oder Aussicht auf Vollständigkeit einige deutsche Übersetzungen von Jabberwocky. Das dient dem Vergleich, ich bin nämlich mit dem Thema noch lange nicht durch.
Die erste deutsche Übersetzung war schon ein Sprachenscherz auf mindestens drei Ebenen: von einem Engländer. der sich als Deutscher ausgab:
Der Jammerwochübs. Robert Scott als Hermann von Schwindel
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Die schönste Version finde ich bis auf weiteres die vom „Enzensbergerbruder„: „Verdaustig“ für „brillig“ eröffnet in seiner künstlerischen Freiheit recht überraschend, und der Satz „Sein Maul ist beiß, sein Griff ist bohr“ hat ja wohl das Zeug zum Volksgut. Vor allem, wenn man mal Katzenwelpen aufgezogen hat.
Der Zipferlakeübs. Christian Enzensberger, Insel 1963:
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Die DDR hat aus den meisten fremdsprachigen Klassikern ihre eigenen, ideologisch nach ihren Bedürfnissen aufbereitete Ausgaben gemacht, meistens ganz und gar unverächtliche und wissenschaftlich zuverlässigere als bei den westdeutschen Brüdern und Schwestern. 1967 durfte man da noch in aller Unschuld mit dem Schwert „schwuchteln“. Als Übersetzungsarbeit erfreulich genau zugeschmiedet:
Brabbelbackübs. Lieselotte & Martin Remané, Reclam Berlin 1967 (nicht 1976):
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Schön auch zu sehen, dass ein Kinderbuchverlag für seine Klassiker eine eigene Übersetzung angefertigt hat:
Der Schlabberworkübs. Barbara Teutsch, Cecilie Dressler Verlag, Hamburg 1989:
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Die meisten heutigen Leser, die sich für Alice in ihrer Eigenschaft als linguistische Spielerei, weniger als Kinderbuch interessieren, werden sich an die Reclam-Ausgabe wenden:
Legende vom Schebberroch
übs. Günther Flemming, Reclam 1999:
’s war britzlich, und der schlinke Totz
Zerschirrt‘ und drilberte ’s Geweech;
Ganz jimmrig war’s dem Borgoglotz,
Und die traute Schratte schreech.Hüt Dich, mein Sohn, vorm Schebberroch,
Des Maules Biß, der Klauen Krall!
Nah weder öm Sabbsabb-Vogel
noch Wutschnaufgem Geißelprall!‘Er nahm’s vorpale Schwert zur Hand:
Nach dem kattmanen Feind er spürt‘ –
Als unterm Tamtam-Baum er stand
Und Selbstgespräche führt‘,In zwidrer Stimmung, da kam bald
Der Schebberroch mit Flammenblick
Laut jiffelnd durch den tulgen Wald:
Senkt burbelnd das Genick!Eins, zwo! Eins, zwo! Und so! Und so!
Die Klinge führt er schnacke-schnick!
Schlug ab den Kopf, ergriff den Schopf,
Und galumphiert‘ zurück.Erschlugst den Schebberroch?
Dann ach: Strahlischer Knab‘ an meine Brust!
Fantabler Tag! Ich juch! Ich jauch!‘
Gluckst der in seiner Lust.’s war britzlich, und der schlinke Totz
Zerschirrt‘ und drilberte ös Geweech;
Ganz jimmrig war’s dem Borgoglotz,
Und die traute Schratte schreech.
Aus dieser Ausgabe folgen beispielhaft die Anm. d. Übs. Günther Flemming aus dem Anhang, um klarzumachen, dass ein Nonsens-Gedicht nicht aus weiterem beliebigen Nonsens zusammengestoppelt werden darf, und dass dafür sehr wohl künstlerische Kriterien bestehen:
Schebberroch: aus schebbern (mit stimmhaftem sch) =
sabbeln, tratschen, übel nachreden, und aus roch von riechen ‚Rache, ruchbar, Rauch, Rochen‘.
Britzlich: von britzeln, aus brutzeln und brenzlich, nach i hin abgefärbt.
Schlink: aus schlank und flink.
Zerschirren: von scharren, nach i hin abgefärbt.
Drilbern: von Drillbohrer, nach i hin abgefärbt.
Geweech: von Weg und aufgeweicht.
Jimmrig: von jämmerlich und wimmern, nach i hin abgefärbt.
Borgoglotz: von Burg und glotzen, nach o hin abgefärbt.
Trau: von traurig.
Schratte: von Ratte.
Schreech: von niederdeutsch schrieen (‚schreien‘).
Sabbsabb: von sabbeln.
Wutschnuffig: schnaubend vor Wut, nach u hin abgefärbt.
Vorpal: so auch im Original, möglicherweise ein Portmanteau-Wort aus
vorago und palabra.
Kattman: von Katze (niederdeutsch Katt) und der Insel Man.
Jiffeln: lautmalerische Annäherung an whiffling.
Schnack und schnick: lautmalerische Annäherung an das englische snicker-snack.
Strahlisch: Variante zu strahlend (wie beamish zu beaming).
Fantabel: aus fantastisch und fabelhaft.
Jachen: Parallelbildung zu juchen, von jach = jäh, auch jappen ‚vor Überraschung nach Luft schnappen‘.
Glicksen: aus gnickern und glucksen
Bilder: Michael Barsley: Grabberwocky and Other Flights of Fancy, illustrated by Osbert Lancaster, John Murray, 1939, third printing 1941;
Julia Margaret Cameron: Photographic study „Pomona“ (Alice Liddell as a young woman), 1872,
via Lewis Carroll and Alice Lidell, 14. Novemeber 2010.
Soundtrack: Marianne Faithfull: Jabberwoc, aus: Come My Way, 1965:
Bonus Track: Donovan: Jabberwocky, aus: HMS Donovan, 1971:
Du bist dämlich, Mensch, bist du dämlich
Update zu Schwatzen nach der Welt Gebrauch,
Des eigenen Herzens süße Melodie,
Kotzmaterial (Ein Hoch auf deine Bildung du vollidiot)
uns Du aber bist beim Amtsgericht:
Darauf kann man kommen, wenn man zu viel dem „Aufgestanden ist er, welcher lange schlief“ hinterherforscht: gleiches Entstehungsjahr, gleiche Marokkokrise, gleiche Existenzangst. In einen Krieg konnte der jungische Georg Heym da noch nicht verwickelt werden, weil er schon 1912 beim Versuch, seinem Kumpel das Leben zu retten, 25-jährig beim Schlittschuhlaufen verstarb. Seine einbändige Werkausgabe hat 1340 Seiten, von denen 7 auf eine Aufarbeitung davon entfallen, dass er 1911 als Aktenwälzer beim Amtsgericht noch nicht zu seiner Lebensstellung gefunden hatte, gelinde gesagt (von mir) und brillant ausgedrückt (von ihm).
Der parodistische bis zynische Inhalt erschließt sich – ungewöhnlich beim symbolträchtig herumdunkelnden Georg Heym – leicht. Die Form ist ein Zyklus von Sonetten mit abschließenden Vierzeilern als Exitus, das Versmaß geht vom Blankvers aus, um ihn frei zu handhaben und gegebenfalls sogar zu verlassen. Eine erste tiefergehende Interpretation versucht erst Gerhard Rademacher in: Von Eichendorff bis Bienek. Schlesien als offene literarische „Provinz“. Studie zur Lyrik schlesischer Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts im transregionalen Kontext, Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 1993, im Kapitel X. Oderkahn, Eisenkahn, Fließband, Abschnitt Nur Arbeiter statt Menschen. Wie die Überschriften nur halbherzig zu verschleiern suchen, hebt Rademacher auf marxistisch motivierte Weise – venceremos, Genosse! – die dargestellten Missstände über das individuelle Einzelschicksal des lyrischen Ich hinaus.
Das Amtsgericht Berlin-Lichterfelde in der Ringstraße 9, Ecke Söhtstraße 7–7a, in dem Heym von den Verhältnissen festgehalten werktäglich einsaß, wurde 1902 bis 1906 als Gericht und Gefängnis der damals unabhängigen Villenkolonie Lichterfelde erbaut. Seit 1973 ist es eine Zweigstelle des Amtsgerichts Schöneberg und immer noch zuständig für Grundbuchangelegenheiten.
Heym äußert sich nicht nur für Kaisers Zeiten, in denen Defätismus und Lästerung von Obrigkeiten leicht als gravierende Straftaten ausgelegt werden konnten, gefährlich invektiv, dazu noch kunstvoll, also mit Plan und Vorsatz, sondern auch für eine Gesellschaft mit weitgehender Redefreiheit: Solange ich Zivilfeigling auf Lebensunterhalt unter Umständen angewiesen bin, unter denen ich nichts anderes als Arbeit zu vergeben habe, wollte ich im ausgehenden Kapitalismus dergleichen nicht als meine Verantwortlichkeit entdeckt wissen.
Der Schmerz ist also echt.
——— Georg Heym:
Das Grundbuchamt
EIn Blütenkranz deutscher Lülülürik
Herrn Dr. Hiller zur Erbauung an stillen Sonntagen
Amtsgericht Berlin-Lichterfelde, Mai 1911,
in: Dichtungen und Schriften, Gesamtausgabe, Band 1: Lyrik,
Verlag Heinrich Ellermann, Hamburg 1964, Seite 265 bis 275,
erreichbar in: Das Werk, Zweitausendeins 2005, Seite 864 bis 870:
I Introitus
Hinaus, ins Amt! Und wie ein Delinquent
Schleichst du schon leise in das Haus hinein
Verblödet, ganz verdummt, ein armes Schwein,
Das nach dem Trog im Grundbuchamte rennt.Ein großer Nagel stochert dir im Hirn.
Auf deiner Schulter reitet ein Dämon,
Ein alter Aktenbock, ein Höllensohn,
Der treibt den Nagel tief in deine Stirn.Bis daß dir dein Schädel wie ein Backofen scheint,
In den jemand fortwährend glühende Steine reinschmeißt,
Ohne aufzuhören. Dein ganzer Kopf brummt.Du bist damlich, Mensch, bist du dämlich. Du bist blind,
Du rennst einen alten Gerichtsvollzieher an,
Und schließlich fällst du in die Tür des Grundbuchamtes.
II Das Grundbuchamt
1
Des Grundbuchamtes winterliche Trauer,
Wenn in dem Märzwind wilde Vögel schrein,
Und durch die Fenster schaut der Tag herein.
Einäugig lehnt er an der Mauer.Und seine Hand, die durch die Scheiben bricht,
Die nicht zerbrechen, wandert durch den Saal,
Wo viele Schläfer ruhn mir Häuptern kahl,
Staub auf der Glatze, Staub auf dem Gesicht.O düstrer Aktenstaub im Amts-Gericht,
Des dicker Rauch die alte Decke schwärzt,
Und der erstickt das graue Morgenlicht.Polheim, der Richter, der einBündel herzt
Uralter Akten. Halob im Schlaf der Dicht-
Er. Kollege Stahl, er verzt.
~~~~~~~~~~/~~~
2
Der Alte kommt mit seinem Pracht-Popo,
Wie immer schmierig-freundlich. „Guten Morgen,
Können Sie nicht den Kollegen Heym borgen?
Er soll protokollieren. Übrigens, à propos,Er fabriziert Gedichte. Ja. Ein Buch
Kommt jetzt heraus. Ha, ha. Berühmte Leute
Haben wir in unserer Justiz heute.
Er schreibt auch Novellen. Ein zweiter Wildenbruch.“Er geht, wie immer schleimig-jovial,
Und winkt noch einmal freundlich mit der Hand:
„Adieu, Herr Polheim. Adieu, Herr Stahl.“Und Polheim stottert aus dem Sau-Gesichte:
„Zu ko … komisch. War mir nicht bekannt,
Herr Ko … Kolleje. Sie machen auch Jedichte?“
III Die Leichenkammer
1
Seht hier die Leichen all der Referendare,
Die Polheims Stumpfsinn langsam umgebracht.
Nun schlummern sie in schwarzer Gräber Nacht,
Wie Mumien dürr und trocken auf der Bahre,Auf hohen Grundbuchakten unter Tage
Mit großen Aktenballen überhäuft.
Des Todes Schweigen. Eine Ratte läuft
Raschelnd davon im Staub der Sarkophage.Ihr Kopf ward dürr, ihr Hals ein magrer Schrumpf,
Der einst an einem Wust Papier erstickt.
Nur ihre Brillen glänzen manchmal noch,Die einstmals Polheims stolzes Haupt erblickt.
Nun wahren sie sein Bild im Gräber-Loch,
‚Ward‘ es auch trübe schon und mählich stumpf.
~~~~~~~~~~/~~~
2
Doch nachts, wenn Uhu krächzt, und Mäuse pfeifen,
Und wenn der Mond durch ihre Knochen scheint,
Dann hebt sich auf das stille Volk vereint,
Durch Treppen und durch Gänge fortzuschweifen,Mit weißem Talglicht in zerfranster Hand,
Mit großen Federn hinterm morschen Ohre,
Wenn dumpf der Mitternächte dunkle Hore
Vom Turme langsam hallt ins stumme Land.Dann sitzen sie im Grundbuchamt in Scharen
Am langen Tisch. Sie schmieren Protokolle.
Und riesig häuft es sich von Formularen.Kataster, Reinertrag, mit Windesschnelle.
Abteilung III. Grundsteuermutterrolle,
Und fröhlich wächst Parzelle auf Parzelle.
IV Die Paragraphen
1
Mit tausend Ellen Leinewand umwunden,
Die alten Greise, mit den Haaren dünn
Und große Totenbänder um das Kinn,,
Den Kranz von Siegeln um die Stirn gebunden,Kriechen sie abends aus dem Aktenspind,
Riesige Mehlwürmer, eine schreckliche Horde
Ringel sie sich über alle Borde
Und schweben in dem goldnen Licht geschwind.Sieheben ihre Knochen leicht im Takt,
Und tanzen einen Cancan durch den Saal,
Daß ihre magre Wirbelsäule knackt.Dann sitzen sie am Tisch und halten Mahl.
Die Akten fressen sie, die Polheim kackt
An jedem Morgen hoch in das Regal.
~~~~~~~~~~/~~~
2
Doch manchmal, mittags, wenn die Flure stille,
Und eine Fliege an die Scheiben summt,
Der Kastellan mit seiner großen Brille
Aktenbeladen durch die Türe kommt,Und Waschfraun mit den großen Scheuerlapppen
Die Fliesen draußen schwemmen, hörst du kaum
Ein zartes Flüstern in dem leeren Raum
Durch fernes Echo von Pantoffelklappen.Dann sitzen sie in ihren staubigen Winkeln,
Ein feuchter Tropfen fällt dir ins Genick,
Wenn sie ihr Wässerchen herunterpinkeln,Wie Silber dünn, ein feiner Sonnenstrahl.
Du drehst dich um, und fängst noch einen Blick
Durch Spinneweben aus dem Leben schmal.
~~~~~~~~~~/~~~
3
Variation
In gelbe Spitzenschuhe, rot mit Bändern,
Versteckt den Knochenfuß, auf allen Treppen
Den königlichen Fall der weißen Schleppen
In tulpenüberstickten FestgewändernZiehen sie auf in knarrenden Brokaten,
Wie Könige voraus. An ihren Glanz
Hängt hinten sich ein ungeheurer Schwanz,
Ameisen gleich, der Chor der Bürokraten.Alle Amtsrichter mit ausgebeultem Arsch,
Dazwischen friedlich Hämorrhoiden hängen,
Flattern einher zu frohem Hochzeitsmarsch.Im Überswchwang der braunen Lockenhaare
Assessoren, leichtfüßig, auf allen Gängen,
Ganz hinten krumm die grauen Aktuare.
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4
Du nur mußt abseits sitzen in der Klause.
Du stahlest Akten, greulich und perfid.
Nun zittert blaß die Träne dir am Lid.
Unteilhaftig bist du dem vergnügten Hause.Du vergrubest im Schranke eine Expedition,
Du hofftest, sie würde vergessen werden.
Aber Gott sieht alles auf dieser Erden.
Und er sah die Akte vom Himmelsthron.Und er holte sie vor mit einer langen Stange.
Er brachte das Verbrechen an den Tag.
Unheil waltete. Schweigen lastete lange.Du standest schnell vor dem Areopag
Des finsteren Alten. Und er schalt dich lange,,
Daß dir sein Zorn in allen Gliedern lag.
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V Die Strafe
Ich werd euch beide noch am Galgen sehen,
Rudolphi, dich,k und Polheim, dich, du Schurke,
An eines Galgenarms bemooster Gurke,
Im wilden Sturm der Wetternacht zu wehen.Wenn grell der Blitz erscheint und Donner hallen,
Von schrecklich fahlem Lichte überschweißt,
An euren ausgedörrten Schwänen reißt
Ein Flatterdämon mit den Eisenkrallen.Dann schreit: „Hu, hu“ und brüllet: „Herr Kollege,
Man reißt den Schwanz mir aus. Genuch, genuch.“
Indes auf einem schwarzen WolkenstegeSatanas schwankt auf seinem Pferdefuß,
Von eures Schwanzes saurem Schweißgeruch
Ohnmächtigkeit fast, und garstig voll Verdruß.
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VI
Der liebe Gott in goldner Badehose,
Kühn im Zylinder, der schon grau gefleckt,
Er schwingt in feister Hand die Tugendrose,
Die zart er Polheim in das Knopfloch steckt.„Habt Dank, mein Polhreim, daß ihr treu wie immer,
Im Dienst des Staates euch herumgehetzt,
Daß Ihr der Hosen herbstlich fahlen Schimmer
Mit Fleiß und Anstand endlich durchgewetzt.“Polheim, er wedelt froh mit seinem Schwanze,
Und grüßt des Lieben Gottes Majestät.
Der sanft umstrahlt von himmlisch-süßem GlanzeDie Stiege langsam schon heruntergeht,
Er fährt davon, wie eine weiße Wanze,
Im Omnibus, der um die Ecke dreht.
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VII Exitus
Wie Wandrer wissen, die in ferne Meere
Vom Hafen führt ein schnelles Schiff hinaus,
So weine ich verstohlen eine Zähre
An deiner Türe noch, geliebtes Haus.Zum letzten Mal in diesem Erdenleben
In deinen Hallen ward ich heut gesehn.
Und meiner Seele schmerzliches Erbeben,
Mein Amtsgericht, ich muß es dir gestehn.Zum letzten Mal sah ich die Richter sitzen
Wie schwarze Hennen in dem Staub und Qualm
Und ihre kleinen Schädel blähn und schwitzen
Wie leere Seifenblassen auf dem Halm.Sie kratzten sich den Rauch mit dürrer Kralle
Der schwarz und zottig wie ein Maulwurf schien.
Ihr dicker Hals war von verdorbner Galle
Wie eine ‚farbige‘ Leiche gelb und grün.Aus ihrem Munde kam ein fahles Stinken
Das manchmal rülpsend aus dem Bauche gor.
Halbtot in einen Winkel hinzusinken,
Floh ich hinaus zum leeren Korridor.Da sah ich den Justizanwärter Kummer
der onanierend in dem Keller stand,
Und an dem Schwanze eine Solo-Nummer
Mühselig klopfte ab mit magrer Hand.
Bilder: Sebastian Panwitz:
- Historistisch, 15. April 2014;
- 10th Week of the stairs (5/7), 15. April 2014;
- Tod!, 29. April 2014: „Dieses Fenster im Erdgeschoß stammt aber sicher nicht aus der Erbauungszeit 1902-1906, sondern dürfte ein Produkt der Nachkriegszeit sein.“;
- Something special: Kreuzrippengewölbe, 1. Februar 2010;
- Na dann!, 16. Mai 2014: „Una ex hisce morieris – ‚In einer dieser Stunden wirst du sterben‘ – war schon früher in der lateinischen Form auf Grabsteinen und im Barock auch auf Uhren zu finden. Die deutsche Fassung ist vor allem aus dem Gedicht ‚Una ex hisce morieris‚ von Detlev von Liliencron bekannt. Obige Uhr findet sich allerdings nicht in Friedhofsnähe, sondern im Amtsgericht Berlin-Lichterfelde!“
Soundtrack: Cliff Martinez: Kafka Suite, aus: Kafka, 1991:
Filetstück 0005: Was erst verdrießlich schien, war schließlich gut für ihn
Update zu Ach Himmel, wie sich die Menschen täuschen können!,
Andere Leute, die auch Bretter tragen müssen,
Uns eine Drehorgel kaufen und unsere eigene Geschichte auf eine Leinwand malen lassen und ein Lied davon machen und es absingen auf allen Gassen des Vaterlandes! und
Filetstück 0004: Lieber ein bissel zu gut gegessen, als wie zu erbärmlich getrunken (Eduard schnarche nicht so!):
Was bin ich als Kind erschrocken, dass Wilhelm Busch nicht ausschließlich in Reimen reden konnte. Überzeugt war ich erst, als ich die Bilder dazu gesehen hab, die waren eindeutig der Strich aus Max und Moritz und wie sie alle heißen. Außerdem lügt der angeblich vollständige Doppelknuffel nicht, auch wenn er bis heute das Vorwort von Theodor Heuss mit sich herumschleppt. Frühe Auflagen können Sie heute für den Gegenwert von zwei Bier haben, bloß dass sie nicht so schnell abgestanden werden. Also: Klick!
Es war Zeit, dass der Text mit den richtigen Bildern in richtiger Qualität an den richtigen Stellen online steht.
——— Wilhelm Busch:
Der Schmetterling
Bassermann Verlag, München 1895:
Kinder, in ihrer Einfalt, fragen immer und immer: Warum? Der Verständige tut das nicht mehr; denn jedes Warum, das weiß er längst, ist nur der Zipfel eines Fadens, der in den dicken Knäuel der Unendlichkeit ausläuft, mit dem keiner recht fertig wird, er mag wickeln und haspeln, so viel er nur will.
Vor Jahren freilich, als ich eben den kleinen Ausflug machte, von dem weiter unten berichtet wird, da dacht ich auch noch oft darüber nach, warum grad mir, einem so netten und vorzüglichen Menschen, das alles passieren mußte. Jetzt sitz ich da in sanfter Gelassenheit und flöte still vor mich hin, indem ich kurzweg annehme: Was im Kongreß aller Dinge beschlossen ist, das wird ja wohl auch zweckgemäß und heilsam sein.
Mein Name ist Peter. Ich bin geboren anno dazumal, als man die Fräuleins Mamsellchen nannte und die Gänse noch Adelheid hießen, auf einem einsamen Bauerngehöft, gleich links von der Welt und dann rechts um die Ecke, nicht weit von der guten Stadt Geckelbeck, wo sie alles am besten wissen.
Daselbst in der Nähe liegt auch der unergründliche Grummelsee, in dem bekanntlich der Muddebutz, der langgeschwänzte, sein tückisches Wesen treibt. Frau Paddeke, die alte zuverlässige Botenfrau, hat ihn selbst mal gesehn, wie er den Kopf aus dem Wasser steckte; und scharf und listig hat er sie angeschaut, mit der überlegenen Ruhe und Kaltblütigkeit eines vieltausendjährigen Satans.
Meine Mutter starb früh. Der Vater und der brave Knecht Gottlieb bestellten fleißig die Felder. Mein hübsches Bäschen Katharine führte die häusliche Wirtschaft.
Da ich meinerseits, obwohl ich ein stämmiger Schlingel geworden, weder zum Pflügen noch zum Häckerlingschneiden die mindeste Neigung zeigte, schickte mich mein Vater in die Stadt zu Herrn Damisch, dem gelehrten Magister, der mich jedoch bereits nach ein paar Jahren, als nicht ganz zweckentsprechend, bestens dankend zurückgab.
Hierauf, nachdem ich so ein Jährchen verbummelt hatte, kam ich zu dem hochberühmten Schneidermeister Knippipp in die Lehre nebst Kost und Logis.
„Auch ein vornehmes Metier!“ meinte der Vater. „So ein Schneider kann sein Brot im Trocknen verdienen, wie der feinste Schulmeister, ob’s regnet oder schneit.“
Schon nach neun Monaten spülten mich die dünnen Wassersuppen der dicken Frau Meisterin wieder der Heimat zu.
Ich hatte mich feingemacht. Strohhut, himmelblauer Schniepel; stramme gelbe Nankinghose; rotbaumwollenes Sacktuch. Aber diesmal war der Vater wirklich sehr ärgerlich. Er griff zum Ochsenziemer; und er hätte sein böswilliges Vorhaben auch sicherlich ausgeführt, wenn ihn der brave Gottlieb und das gute Kathrinchen, er vorne, sie hinten, nicht entschieden gehemmt hätten.
Den Winter blieb ich zu Haus. Ohne grad viel aufs Essen zu geben, stand ich doch gern hinter dem hübschen Bäschen in der Küche herum. Mitunter nahm ich ihr eine Stecknadel weg und stach sie mir kaltblütig durchs Ohr. Auch tanzte ich zuweilen waghalsig auf dem gefährlichen Brunnenrande, und wenn das Kathrinchen zusah und es grauste ihr tüchtig, das war mir grad recht. Dann wieder konnt ich dastehn in tiefster Versimpelung, wie ein alter Reiher im Karpfenteich. Ein besonders hoher Genuß war mir’s aber, so des Abends auf der Bank hinter dem Ofen zu liegen und zuzusehn, wie das Kathrinchen Bohnen aushülste und der Gottlieb Körbe flocht. Bei dem Anblick dieser kleinen, krausen, krispeligen Tätigkeit überkam mich immer so ein leises, feines, behagliches Gruseln. Oben in den Haarspitzen fing’s an, kribbelte den Rücken hinunter und verbreitete sich über die ganze Haut, während meine Seele gar sanft aus den Augen hinauszog, um ganz bei der Sache zu sein, und mein Körper dalag, wie ein seliger Klotz. Eines Abends stieg ich auch mal heimlich in den Lindenbaum, weil ich gern mal sehen wollte, wie das Kathrinchen zu Bette ging. Sie betete grad ihren Rosenkranz. Als sie aber anfing sich auszuziehn und die Geschichte bedenklich wurde, macht ich Ahem! und Phütt! war die Lampe aus. Am andern Nachmittag wurde an einer grünen Gardine genäht.
Mein Stübchen lag oben im Giebel. In einem dicken Legendenbuche las ich bis spät in die Nacht hinein. Wenn dann der Wind sauste und der Schnee ans Fenster klisperte, fühlt ich mich so recht für mich als ein behaglicher Herr.
Die Hexen hatten ihren Strich da vorbei; sie zügelten zuweilen ihre Besen und lugten durch die Scheiben; meist alte Hutzelgesichter, als wären sie gedörrt worden am höllischen Feuer. Mal aber war’s eine junge hübsche. Sie hatte eine Schnur von Goldmünzen ins Haar geflochten. Sie blinzelte und lachte. Ihre weißen Zähne blitzten, wie ihr das Licht ins Gesicht schien, gegen den dunklen Hintergrund.
Als der Sommer kam, als die Welt eng wurde von Laub und Blüten, macht ich mir ein Netz und jagte nach Schmetterlingen. So herumzustreifen in leichtsinniger Freiheit, oder mich niederzulegen zu beliebiger Ruhe, das war mein Fach; und hupfen, wie der rührigste Heuschreck, das konnt ich auch.
Eines Sonntagsmorgens, während die andern zur Messe waren, macht ich mich hübsch und ging aus der Hintertür, das Netz in der Hand, den Frack voller Pflaumen. Hell schien die Sonne. Vom Garten ins Feld, vom Feld in die Wiesen dämelt ich glücklich dahin. Schmetterlinge flogen in Menge. Von Zeit zu Zeit erhascht ich einen, besah ihn und ließ ihn fliegen, denn von der gewöhnlichen Sorte hatt ich längst alle Kasten voll.
Aber jetzt, in der Ferne, flog einer auf, den kannt ich noch nicht.
Ich los hinter ihm her über Hecken und Zäune, wohl zwei, drei Stunden lang in einer Tour, bis mir’s schließlich zu dumm wurde. Unwillig warf ich mich ins Gras. Oben in der Luft schwebte ein Habicht. Vertieft in seine sanften Bogenzüge, war ich bald eingedämmert. Als ich erwachte, wollte die Sonne schon untergehn, und da es die höchste Zeit war, nach Hause zu eilen, kletterte ich auf einen Baum am Rande des Waldes, um zu sehn, wo ich denn eigentlich wäre. Nichts als unbekannte Gegend in der Weite und Breite. Erst verdutzt, dann heiter und gleichgültig, ergab ich mich in mein Schicksal. Ich stieg herab, suchte einen gemütlichen Platz, setzte mich und fing an, Pflaumen zu essen. Plötzlich, mir stockte der Atem vor freudigem Schreck, kam er angeflattert, der reizende Schmetterling, geschmückt mit den schönsten Farben der Welt, und ließ sich frech auf der Spitze meines Fußes nieder. Leise hob ich das Netz; ich zielte bedachtsam. Witsch! dort flog er hin. Aber gut gezielt war’s doch, denn mit dem eisernen Netzbügel hatt ich richtig die kleine Zehe gestreift, genau da, wo sie am allerempfindsamsten war. Ich sprang auf, tanzte auf einem Bein und pfiff dazu.
„Ähä!“ lachte wer hinter mir. „Aufs Auge getroffen!“
Ein hübscher blasser Bursch, gekleidet wie ein Jägersmann, saß unter einer Buche.
„Ich bin der Peter!“ sag ich und setze mich zu ihm.
„Und ich der Nazi!“ sagt er.
Um seinen linken Arm ringelte sich eine silberglänzende Schlange, die auf dem Kopf ein goldenes Krönchen hatte, und auf seinen Knien hielt er ein Vogelnest mit kleinen blaugrünen Eiern darin.
„Ein verdächtiges Vieh!“ sagt ich mißtrauisch. „Es beißt wohl auch?“ „Mich nie. Gelt, Cindili!“ sprach er, indem er ihr ein Ei hinhielt.
Ich trug auf der bloßen Brust ein Medaillon, eine Goldmünze, das Geschenk eines Paten. Die Schlange machte sich lang danach.
„Sie wittert das Gold“, sagte der Jäger.
„Teufel, duck dich!“ rief ich und gab ihr mit dem Stiel meines Netzes einen kurzen Hieb über die Nase.
Zornig zischend fuhr sie zurück, wickelte sich los und schlüpfte raschelnd ins Gebüsch. Der Jäger, nachdem er mir vorher noch schnell einen Stoß auf den Magen versetzt hatte, daß ich die Beine aufkehrte, lief hinter ihr her.
Allmählich wurde es im Walde pechteertonnendunkel. Die Luft war mild. Ich lehnte mich an den Baumstamm und entschlief augenblicklich, ja, ich kann wohl sagen, noch eher.
Überhaupt, schlafen, das konnt ich ohne jede Mühwaltung; und fest schlief ich auch, fast so fest wie die Frau mit dem guten Gewissen, der die Ratten über Nacht die große Zeh abfraßen, ohne daß sie was mer ken tät.
Erst die Mittagssonne des nächsten Tages öffnete mir die Augen. Und wahrhaftig! da saß er schon wieder, drei Schritt weit weg, mein kunterbunter Schmetterling, auf einem violetten Distelkopfe, und fächelte und ließ seine ausgebreiteten Flügel verlockend in der Sonne schimmern. Mit kunstvoller List schlich ich näher. Vergebens. Genau eine Sekunde vorher, eh ich ihn erreichen konnte, flog er ab wie der Blitz, und dann noch einmal und noch einmal, und dann Fiwitz! mit einem eleganten Zickzackschwunge weg war er über eine haushohe Dornenhecke.
„Zu dumm!“ dacht ich laut, denn ich war sehr erhitzt. „So ein klein winziges Luder; will sich nicht kriegen lassen; ist extra zum Wohle des Menschen geschaffen und verwendet doch seine schönen Talente nur für die eigenen selbstsüchtigen Zwecke. Es ist empörend!“
Im Eifer der Verfolgung hatt ich den einen Stiefel im Sumpf stecken lassen, und zwar tief, so daß ich erst eine Zeitlang tasten und grabbeln mußte in der schwarzen Suppe, eh ich ihn wiederfand. Ich schüttete den Froschlaich heraus, wusch mich und ging nun, nachdem ich mich abgekühlt und besänftigt hatte, in gemäßigtem Bummelschritt einem fernen Hügel entgegen, über den sich als heller Streifen die Landstraße hinzog. Hier hofft ich ortskundige Leute zu treffen, die mir sagen konnten, wie ich nach Hause käme.
Auf einem Meilensteine saß ein älterer Mann, der eine ungewöhnlich breitschirmige Mütze trug. Zwischen seinen Knien hielt er einen grauhaarigen Hund.
„Guter Vater!“ sprach ich ihn an. „Ich möchte gern nach der Stadt Geckelbeck.“
„Genehmigt!“ gab er zur Antwort.
„Könnt Ihr mir vielleicht zeigen, wo der Weg dahin geht?“
„Ne! Ich bin rundherum blind.“
„Schon lange?“ fragt ich teilnahmsvoll.
„Fast neunundfünfzig Jahr; nächsten Donnerstag ist mein dreiundfünfzigster Geburtstag.“
„Was? Schon sechs Jahre vor Eurer Geburt?“
„Sogar sieben, richtig gerechnet. Ich wollte schon damals gern in die Welt hinein, tappte im Dunkeln nach der Tür, fiel mit dem Gesicht auf die Hörner des Stiefelknechts, und das Unglück war geschehn.“
„Dann laßt Euch raten, Alter!“ sagt ich. „Und schielt nicht zu viel nach hübschen Mädchen, denn das hat schon manchen Jüngling zu Fall gebracht.“
„Faß!“ schrie der Blinde und ließ den Hund los.
Ich aber nahm die Frackschöße unter den Arm, steckte mein Schmetterlingsnetz nach hinten zwischen den Beinen durch, wedelte damit und ging so in gebückter Stellung meines Weges weiter; eine Erscheinung, die dem Köter so neu und unheimlich vorkam, daß er mit eingeklemmtem Schweife sofort wieder umkehrte.
Vor mir her schritt ein Bauer, der weder rechts noch links schaute, und da er einen ernsten, nachdenklichen und vertrauenerweckenden Eindruck machte, beschloß ich, an ihn meine Frage zu richten.
„He!“ rief ich. Er gab nicht acht darauf. „He!“ rief ich lauter. Er ließ sich nicht stören in seinen Betrachtungen. Jetzt, als ich dicht hinter ihm war, klappt ich ihm mein Netz über den Kopf. Oh, wie erschrak er da. Ich hörte deutlich, wie ihm das Herz in die Kniekehle fiel.
„Könnt Ihr mir nicht sagen, guter Freund, wo Geckelbeck liegt?“ fragt ich und hob das Netz.
Er hatte sich umgedreht. Er kniff die Augen zu, riß den Mund auf, so daß seine dicke belegte Zunge zum Vorschein kam, steckte die Daumen in die Ohren, spreizte die Finger aus und schüttelte traurig mit dem Kopfe.
„Döskopp!“ rief ich in meiner ersten Enttäuschung, sah aber dabei ungemein freundlich aus.
Der Taubstumme, der dies wohl für einen verbindlichen Abschiedsgruß hielt, zog ergebenst seine Zipfelkappe, obgleich er eine bedeutende Glatze hatte.
Der Abend kam. Auf einem Acker rupft ich mir ein halb Dutzend Rüben aus, und da ein starker Tau den Boden benetzte, stieg ich in eine Tanne, band mich fest mit den Frackschößen und machte mich sodann über die saftigen Feldfrüchte her, daß es knurschte und knatschte. Von der letzten, bei der ich entschlummert war, hing mir die Hälfte nebst dem Krautbüschel noch lang aus dem Munde heraus, als ich am andern Nachmittag wieder erwachte. Schnell stieg ich herab, erfrischte mich in einer Quelle und kehrte auf die Landstraße zurück. Ich befand mich in der heitersten Laune; ich wußte es, eine innere Stimme sagte es mir: Dir wird heut noch besonders was Gutes passieren.
In diesen angenehmen Vorahnungen störten mich die Klagelaute eines Bettlers, der, den Hut in der Hand, auf mich zukam.
„Junger Herr!“ bat er. „Schenkt mir doch was. Ich habe sieben Frauen – ach ne! sieben Kinder und eine Frau, und meine Eltern sind tot, und meine Großeltern sind tot, und meine Onkels und Tanten sind tot, und ich hab niemanden in dieser weiten, harten, grausamen Welt, an den ich mich wenden könnte, als grad Euch, schöner Herr.“
Bei diesen Worten erwärmte sich meine angeborene Großartigkeit. Ich hatte siebzehn einzelne Kreuzer im Sack. Mit dem Gefühl einer behaglichen Erhabenheit warf ich zehn davon in den Filzhut des Bettlers.
Kaum war dies geschehn, so nahm er einen Kreuzer wieder heraus und legte ihn mir vor die Füße.
„Hier, mein Bester“, sprach er, „schenk ich Euch den zehnten Teil meines Vermögens. Seid dankbar und vergeßt den edlen Geber nicht, der sich bescheiden zurückzieht.“
Nach kurzer Erstarrung lief ich hinter dem Kerl her, um ihm einen Tritt auf die Wind- und Wetterseite zu geben. Aber er hatte die Tasche voller Steine. Er traf so geschickt damit, daß mir, trotzdem ich das Netz vorhielt, schon beim zweiten Wurf ein ganz gesunder Vorderzahn direkt durch den Hals in die Luftröhre flog, worauf ich wohl eine Stunde lang husten mußte, ehe ich ihn wieder herauskriegte.
Ich pflückte mir Felderbsen in mein Netz, ließ die grünen, angenehm kühlen Pillen durch die entzündete Gurgel rollen und füllte mir so zugleich den begehrlichen Leib mit jungem Gemüse. Dann zog ich mich in ein Gehölz zurück und legte mich, das Gesicht nach oben, schlichtweg zur Ruhe nieder.
Den folgenden Tag hätt ich sicher verschnarcht, wär mir nicht gegen Mittag ein Maikäfer in den weitgeöffneten Mund gefallen. In dem Augenblick, als er sich anschickte, in die Tiefe meines Wesens hinunterzukrabbeln, erwacht ich. Der Wind schüttelte die Wipfel.
Übrigens knurrte mein Magen wegen fader Beköstigung, und so macht ich mich denn auf und ruhte nicht eher, bis ich in ein Wirtshaus gelangte, wo ich mir eben für meine letzten Kreuzer etwas Derbes bestellen wollte, als ein wohlgemästeter Bauer, der sehr lustig aussah, in die Stube trat und sich zu mir an den Tisch setzte.
„Euch ist wohl!“ sag ich.
„Mit Recht!“ sagt er. „Hab den Schimmel verkauft auf dem Markt.“
„Brav’s Tier vermutlich.“
„Das grad nicht. Alle Woche mal, oder wenn’s ihm grad einfällt, haut er die Sterne vom Himmel herunter und den Kalk aus der Wand.“
„Da habt Ihr den Käufer jedenfalls gewarnt.“
„Was!“ entgegnete der Bauer und wurde ganz traurig und niedergeschlagen. „Gott erhalte jedem ehrlichen Christenmenschen seinen gesunden Verstand. Seh ich wirklich so dumm aus?“
„Hört mal!“ sag ich. „Dann seid Ihr ja einer der größten Halunken, die auf den Hinterbeinen gehn zwischen Himmel und Hölle.“
„So hör ich’s gern!“ rief der Bauer und sein Gesicht klärte sich auf.
„Gelt ja? Ich bin ein Teufelskerl. – He, Wirt! Gebt diesem netten Herrn ein belegtes Butterbrot und ein Glas Bier auf meine Rechnung.“ Während ich aß, fiel es mir auf, daß der Mann beständig durchs Fenster schielte. Plötzlich schien ihm was einzufallen. Er zahlte und sagte, er müßte notwendig mal eben hinaus, aber käme gleich wieder. Kaum war er fort, so hörte man ein hastiges Pferdegetrappel von der Landstraße her. Ich trat vor die Haustür.
Ein Schimmelreiter ohne Hut war angekommen und fragte ganz außer Pust:
„War kein Bauer hier mit einem dicken Bauch, einem dicken Stock und einer dicken Uhrkette?“
„Das stimmt!“ sag ich. „Er ging nur mal eben zur Hintertür hinaus.“
„So ein Hundsfott!“ schrie der Reiter. „So ein Mistfink! Lobt und preist mir der Kerl den Schimmel an, der den Teufel und seine Großmutter im Leib hat.“
„Ja!“ sag ich gelassen: „Dummheit muß Pein leiden.“
Krebsrot vor Zorn hob der Schimmelreiter die Peitsche. Ich schwenkte mein Schmetterlingsnetz.
Auf dieses Zeichen schien der Schimmel gewartet zu haben. Er vergrellte die Augen, spitzte die Ohren, ging verquer, ging rückwärts, er drückte ein Fenster ein unter starkem Geklirr, er wieherte hinten und vorn, und dann, mit einem riesigen Potzwundersatze, weg war er über die Planke.
Ich lief, um nachzusehn, vor den Hof. Der Schimmel war nur noch ein undeutlicher Punkt ganz in der Ferne; der Reiter hing deutlich im Pflaumenbaum ganz in der Nähe.
Die folgende Nacht verschlief ich unter einer Wiesenhecke. Eine Grasmücke, das graue Vöglein mit schwarzem Käppchen, weckte mich in der Früh durch seinen lieblichen Gesang. Ich blieb noch liegen und horchte. Durch Zweige und zierliche Doldenpflanzen sah ich in die sonnige Welt. Heuschrecken geigten an ihren Flügeln, indem sie die Hinterbeine als Bogen benutzten. Schwebefliegen blieben stehn in der Luft und starrten mich an aus ihren Glotzaugen. Endlich erhob ich mich und nahm in einem klaren Wassertümpfel mein Morgenbad. Natürlich, grad wie mir’s am wohlsten drin ist, kommt mein ersehnter Schmetterling dahergeflogen und flattert mir neckisch vor der Nase herum. Ich heraus, zieh mich an, eile ihm nach, von Wiese zu Wiese, den ganzen Tag, bis dicht vor ein Städtchen. Hier schwang er sich über die Stadtmauer, hoch in die Lüfte, nach dem Wetterhahn hin auf der Spitze des Kirchturms.
Der Abend dämmerte bereits. Auf dem Walle lief ein Mann hin und her, einsam und unruhig. Er hatte den Zeigefinger an die Stirn gelegt und sagte in einem fort das Abc her, bald vor-, bald rückwärts. Ehe ich ihm ausweichen konnte, stieß er mir mit dem Kopf vor die Brust. Nun riß er die Augen weit auf und schrie mich an:
„Ha! Wie heißt er?“
„Ich heiße Peter!“ sag ich.
„Nein, Er, Er, mit dem ich vor zehn Jahren im Monat Mai drei Wochen lang herumgewandert bin an der polnischen Grenze.“
„Gewiß ein Herzensfreund.“
„Nein, gar nicht.“
„Oder er ist Euch was schuldig.“
„Keinen Heller.“
„Na!“ sag ich. „Dann nennt ihn Hans und laßt ihn laufen, wohin er will.“
„Mensch!“ rief er. „Ich bin Ausrufer in dieser Stadt. Lesen kann ich nicht; meine Frau sagt’s mir vor, bis ich’s auswendig kann; läßt’s Gedächtnis nach, ist der Dienst verloren. Neulich, beim Kaffee, ich stecke die Pfeife an, da, so beiläufig, denk ich: Der, der, wie heißt er nur gleich? Und da hat’s mich gehabt. Und ich sah ihn doch so deutlich vor mir, als wär’s heut oder übermorgen. Er war links und kratzte sich auch so; er zwinkerte immer mit dem linken Auge, und sein linkes Bein war krumm, und im linken Ohrläppchen trug er einen Ring von Messing, und Schneider war er auch. Oh, der Name, der Name!“
Die Beschreibung paßte genau auf meinen früheren Meister.
„Hieß er nicht Knippipp?“ sag ich so hin.
Ein heller Freudenblitz zuckte über sein blasses Angesicht. Mit den Worten: „Knippipp, ich habe dich wieder!“ fiel er mir um den Hals und weinte einen Strom von Freudentränen hinten in meinen Kragen, daß es mir ganz heiß den Rücken hinabrieselte.
In der Fülle der Dankbarkeit ersuchte er mich, ihn nach Hause zu begleiten und bei ihm zu übernachten; und oh! wie freuten sich seine Frau und seine Kinder, als sie sahen, daß sie wieder einen vergnügten und brauchbaren Vater hatten.
Zu Abend gab es Zichorienkaffee mit den üblichen Zutaten. Die Kinder tranken sehr viel, und ich meinte, es sei wohl nicht ratsam, wenn sie kurz vor dem Schlafengehn so viel Dünnes kriegten; aber die Eltern waren der Ansicht, man müsse dem Drange der Natur freien Lauf lassen.
Als wir fertig waren, baten die drei Kleinsten: „Nicht wahr, Papa? Wir schlafen bei dem fremden Onkel!“
So geschah es denn auch. Die Nacht, die ich unter diesem gastlichen Dache zubrachte, war eine der unruhigsten, wärmsten und feuchtesten Sommernächte, die ich jemals erlebt habe.
Bei Anbruch des Tages tranken wir wieder gemeinsam Kaffee und aßen Brot mit Zwetschenmus dazu. Die Kinder waren sehr zutunlich; besonders der Zweitjüngste spielte gar traulich zwischen meinen Frackschößen herum.
Daß meine einfachen Gastgeber, von denen ich einen zärtlichen Abschied nahm, über die Lage von Geckelbeck auch nicht die mindeste Auskunft zu geben vermochten, hatt ich mir gleich gedacht. So beschloß ich denn, eh ich wieder ins Weite zog, mich in der Stadt etwas näher zu erkundigen.
Ohne Erfolg befragt ich einen Lehrjungen, der die Läden aufmachte; einen Betrunkenen, der nach Hause ging; einen Großvater, der die Hand aus dem Fenster hielt, um zuzufühlen, ob’s regnete. Zu guter Letzt wollt ich noch mal eben an eine vertrauenerweckende Haustür klopfen. Im selben Moment wurde sie aufgestoßen, und ein Dienstmädchen goß den Spüleimer aus. Hätt ich nicht flink die Beine ausgespreizt und einen ellenhohen Hupfer getan, so wär mir der vermischte Inhalt direkt auf den Magen geplatscht. Auf meine Anfrage wischte sich das gesunde Mädchen freilich mit seinem roten Arm ein paarmal nachdenklich unter der Nase her; indes von Geckelbeck wußte sie nichts, und einen, sagte sie, der es wüßte, oder einen wüßte, der es wüßte, wüßte sie auch nicht.
Ich schlenderte zum Tor hinaus. Von der Morgensonne beschienen, mitten auf der Chaussee, war eine Gesellschaft von Sperlingen mit der Obsternte beschäftigt. Es waren jene bemerkenswerten Früchte, genannt Roßäpfel, welche Winter und Sommer reifen. Dieser Anblick erinnerte mich lebhaft an meine ländliche Heimat.
Jetzt, dacht ich, sitzen sie wohl da um den Tisch herum und verzehren ihr Morgensüppchen und denken: Wo mag der Peter sein? Und der Vater wischt sich schweigend den Mund ab mit dem Rockschlappen, und der Gottlieb geht hin und mistet den Pferdestall, und mein gutes Kathrinchen füttert die Hühner, und das schwarze mit der Holle frißt ihr das Brot aus der Hand, aber das gelbe ohne Schwanz will nicht mitfressen, sondern steht traurig und aufgeblustert abseits, auf einem Bein, denn es hat noch immer den Pips.
Einige dicke heimwehmütige Tränen, ich muß es gestehn, rannen mir langsam über die Backen herunter. Ich zog das Taschentuch und rieb mir gründlich mein Angesicht. Es wurde mir so sonderbar schwarz vor den Augen, und jetzt merkt ich, was los war. Das kleine liebevolle Söhnchen meines vergeßlichen Gastfreundes hatte dem fremden Onkel, eh er Abschied nahm, noch heimlich in sein rotes baumwollenes Sacktuch einen tüchtigen Klecks Zwetschenmus eingewickelt und mit auf die Reise gegeben. Ich sah mich nach Wasser um. Ei sieh! Am Stamm eines Kastanienbaumes saß mein neckischer Schmetterling.
„Sitz du nur da!“ murmelte ich verächtlich aus dem linken Mundwinkel. „Ich will dich nicht, und ich möchte dich nicht, und wenn du die Prinzessin Triliria selber wärst und brächtest bare fünfhundert Gulden mit in die Aussteuer und keine Schwiegermutter.“
Aber schon war ich in Schleichpositur und gleich drauf in vollem Galopp. Inmitten eines kleinen Teiches endlich ließ sich das bunte Flattertier auf einem Schilfbüschel nieder und klappte seelenruhig die Flügel zusammen.
Mindestens zwei Stunden lang saß ich am Ufer und wartete. Vergebens macht ich öfters Kischkisch! Und Steine zum Werfen waren nicht da. Endlich zog ich mich aus, nahm das Netz quer in den Mund und schwamm vorsichtig näher.
Unterdes machte ich eine Entdeckung, die mich veranlaßte, in Eile wieder umzukehren. Es war ein Blutegelteich. Bereits waren meine Beine und sonstigen Körperteile gespickt mit begierigen Säuglingen, und wohl mir, daß eine Grube voll Streusand in der Nähe lag, worin ich mich wälzen konnte. Als die Viecher den Sand zwischen die Zähne kriegten, was ja niemand gern hat, ließen sie sofort locker und purzelten rücküber in den Staub, welcher sie dermaßen austrocknete, daß sie bald zehnmal dünner waren als vorher und tot obendrein.
Währenddem saß mein Schmetterling auf seinem Schilfstengel, als wollt er daselbst in aller Ruhe den Rest seiner Tage verleben mit voller Pension.
Schnell zog ich mich an und eilte in den Wald, um mir einen dürren handlichen Ast zu holen. Einer lag da, der war ganz morsch; ein zweiter lag da, der war mir zu zackicht; ein dritter saß noch am Baume fest. Ich hätte übrigens gar nicht so stark dran zu reißen brauchen, denn schon beim ersten Ruck gab er nach, so daß ich mit unerwarteter Geschwindigkeit auf den zweiten zackichten zu sitzen kam, der glücklicherweise ebenso morsch war wie der erste.
In der Hand den erwählten Knittel, lief ich nun unverzüglich an den Teich zurück, um durch einen wohlgezielten Wurf den hinterlistig geruhsamen Schmetterling aus seiner Sicherheit aufzuscheuchen. Sein Platz stand leer. Ich legte mich hin, wo ich stand, und schlief sofort ein, trotz meines Ärgers und des vernehmlichen Gebells meines unbefriedigten Magens.
Ausnahmsweise recht früh, schon im Laufe des Vormittags, erwacht ich. Nachdem ich mir das Zwetschenmus, das inzwischen zu einer harten Kruste erstarrt war, mit Sand aus dem Gesichte gerieben, denn ich zog doch eine Reinigung auf trockenem Wege einer solchen mit dem Wasser des verdächtigen Teiches vor, begab ich mich auf die Suche nach einem Rübenacker, wo ich zu frühstücken gedachte. Ich fand einen Landmann dasitzend, der eben sein Sacktuch aufknüpfte und für den Morgenimbiß ein erhebliches Stück Speck entwickelte. Sofort sammelte sich in meiner Mundhöhle die zur Verdauung so nützliche Feuchtigkeit. Ich bot ihm drei Kreuzer, wenn er mir was abgäbe. Er tat’s umsonst, fügte noch eine knusprige Brotrinde hinzu und wünschte mir gute Verrichtung.
Munter dreinhauend spaziert ich weiter. Den letzten Rest der Mahlzeit, nämlich die treffliche, zähe, salzige Schwarte, schob ich hinter die Backenzähne, so daß ich die Freude hatte, noch eine Zeitlang dran lutschen zu können.
Dicht vor einem Dörflein begegneten mir zwei unbeschäftigte Enten, die lediglich zum Zeichen ihres Vorhandenseins durchdringend trompeteten. Da ich nunmehr die Schwarte bis aufs äußerste ausgebeutet hatte, nach menschlichen Begriffen, warf ich sie hin. Die geistesgegenwärtigste der zwei Schnattertaschen erwischte sie und eilte damit, vermutlich weil sie nichts abgeben wollte, durch das Loch einer Hecke. Die zweite, die wohl auch keinem andern was gönnte, wackelte emsig hinterher. Ich, natürlich, als Naturbeobachter, legte mich auf den Bauch und steckte den wißbegierigen Kopf durch die nämliche Öffnung. Mir gegenüber, an einer gemütlichen Pfütze, sah ich zwei Häuschen stehn, und jedes Häuschen hatte ein Fenster, und hinter jedem Fenster lauerte ein Bub, ein roter und ein schwarzhaariger, und vor jedem Häuschen erhob sich ein beträchtlicher Düngerhaufen, und auf jedem Düngerhaufen stand ein Gockel, ein dicker und ein dünner, inmitten seiner Hühner, die eben ihre Scharrtätigkeit unterbrachen, um gespannt zuzusehn, was die zwei Enten da machten.
Vergebens bemühte sich die erste, durch Druck und Schluck die Schwarte hinter die Binde zu kriegen; sie war grad so um ein Achtelzöllchen zu breit. Hiernach durfte die zweite, die mit neidischer Ungeduld dies Ergebnis erwartet hatte, ans schwierige Werk gehn. Schlau, wie sie war, tauchte sie das widerspenstige Ding zuerst in die Pfütze, um’s glitschig zu machen, und dann streckte sie den Schnabel kerzengrad in die Höhe und ruckte und zuckte; aber es ging halt nicht; und dann kehrten die beiden Enten kurz um und rüttelten verächtlich mit den Schwänzen, als sei ihnen an der ganzen Sach überhaupt nie was gelegen gewesen.
Kaum hatten dies die Hühner erspäht, so rannten sie herbei und versuchten gleichfalls ihr Glück, eins nach dem andern, wohl ihrer zwanzig; indes alle Hiebe und Stöße scheiterten an der zähen Hartnäckigkeit dieser Schwarte. Zuletzt kam ein munteres Schweinchen dahergetrabt und verzehrte sie mit spielender Geläufigkeit; und so blieb sie doch in der Verwandtschaft.
Während dieser Zeit hatten sich die beiderseitigen Gockel unverwandt angeschaut mit teuflischen Blicken; ohne Zweifel, weil sie sich schon lange nicht gut waren von wegen der Damen. Plötzlich krähte der Dicke im Cochinchinabaß:
„Kockerokoh!“
Dieser verhaßte Laut gab dem Dünnen einen furchtbaren Riß. Mit unwiderstehlichem Vorstoß griff er den Dicken so heftig an, daß sich dieser aufs Laufen verlegte um die Pfütze herum. Der Dünne kam nach. Gewiß zehn Minuten lang liefen sie Karussell; bis der Dicke, dem vor Mattigkeit schon längst der Schnabel weit offen stand, unversehens unter Aufwand seiner letzten Kräfte seitab auf das Dach flog, wo er ein mächtiges Kockerokoh! erschallen ließ, damit nur ja keiner glauben sollte, er hätte den kürzeren gezogen.
Sofort schwang sich der Dünne auf den Gipfel des feindlichen Düngerhaufens; jedenfalls mit der Absicht, von dieser Höhe herab durch ein durchdringendes Kickerikih! im Tenor der Welt seinen Sieg zu verkünden.
Ehe er noch damit anfangen konnte, sah er sich veranlaßt, laut krächzend in die Höhe zu fliegen.
Der rothaarige Knabe, heimlich heranschleichend mit der Peitsche, versetzte ihm einen empfindlichen Klaps um die mageren Beine. Aber schon, aus dem Nachbarhaus, war der Schwarzkopf mit einer Haselgerte als Rächer des seinerseitigen Gockels herbeigekommen und erteilte dem Rothaarigen, grad da, wo die Hose am strammsten saß, einen einschneidenden Hieb. Hell pfiffen und klatschten die Waffen. Man wurde intimer; man griff zu Haar und Ohren; man wälzte sich in die Pfütze; aus dem Kampf zu Lande wurde ein Seegefecht. Für mich ein spannendes Schauspiel. Ich war so begeistert, daß ich ermunternd ausrief: „Fest, fest! Nur nicht auslassen!“
Im selben Augenblick ruhte der Streit. Mein Kopf wurde bemerkt; eilig zog ich ihn zurück. Aber sogleich waren die Schlingel hinter mir her. Sie warfen mich mit Erdklößen; ich drehte mich um und ermahnte sie, artig zu sein, sie schimpften mich Stadtfrack! Ich verwies sie ernstlich zur Ruhe, und nun schrien sie Haarbeutel! Haarbeutel! als ob ich betrunken wäre. Schleunige Flucht schien mir ratsam zu sein. Bald war ich weit voraus. Im Gehölz fand ich einen Baum, der von oben her hohl war. Umgehend saß ich drin, wie der Tobak im Pfeifenkopf, nicht zu fest und nicht zu locker.
Zwar die bösen Knaben folgten mir und kicherten und flüsterten sogar noch eine Zeitlang um den Baum herum; aber ich war ihnen zu schlau gewesen, denn ohne mich weiter zu belästigen zogen sie ab. Mein Platz schien mir so recht geeignet zum Übernachten, und eben war ich im Begriff, recht behaglich zu entschlummern, als ich unten was krabbeln fühlte.
„Zapperment!“ dacht ich gleich. „Das sind Ameisen.“
Schleunigst sucht ich mich emporzuarbeiten, um mir eine anderweitige Schlafstelle zu suchen; aber der Frack unterhalb mußte sich festgehakt haben und ließ mich nicht hochkommen, und ausziehn konnt ich ihn auch nicht, denn der Spielraum für die Ellenbogen war zu gering.
Indem, so hört ich Stimmen. Wie ich durch einen Spalt bemerken konnte, waren es zwei Kerle, die einen Esel am Strick hatten. Sie banden ihn an einen Ast dicht vor meiner Nase.
„Haha!“ lachte der eine. „Den hätten wir ihm mal listig wegstibitzt.“
„Wird keine Sünd sein!“ meinte der andere. „Der alte Schlumann hat Geld wie Heu.“
Dann öffneten sie ihren Quersack, setzten sich und fingen an, fröhlich zu Nacht zu essen.
Unterdes hatten die Ameisen ihre Heerscharen vollzählig entwickelt. Sie krabbelten nicht bloß, sie zwickten nicht bloß, nein, sie ätzten mich auch mit ihrer höllischen Säure, und zwar an den empfindlichsten Stellen. Alle sonstigen Besorgnisse beiseite setzend, brüllt ich um Hilfe.
Die Spitzbuben, aufs äußerste erschreckt durch die gräßlichen Laute, um so mehr, als sie kein gutes Gewissen hatten, flohen eilig, ohne den Esel erst loszubinden, in das tiefste Dickicht des Waldes hinein. Ich schrie unaufhörlich, und der Esel fing auch an.
In diesem Augenblick kam ein Mann mit einer Laterne. Er streichelte den Esel und beleuchtete ihn von allen Seiten, und dann beleuchtete er auch mich in meiner Bedrängnis.
„Komm hervor aus dem Rohr!“ sprach er ernst.
„Der Frack, der Frack!“ schrie ich. „Der leidt’s halt nicht.“
„Da werden wir mal nachsehn!“ sprach er gelassen. „Ja, dies ist erklärlich; denn hier aus dem Astloch steht er heraus, zu einem Knoten verknüpft, und ein Stäbchen steckt als Riegel dahinter.“
„Das haben die verdammten Bengels getan!“ rief ich entrüstet.
Es war die höchste Zeit, daß ich loskam. Wie ein Pfropfen aus der Flasche flog ich zum Loch heraus, und der alte Schlumann, denn der mußte es sein, brach einen Zweig ab und klopfte mich aus, wie ein Sofakissen, wo die Motten drinsitzen.
Er trug Rohrstiefel, einen Staubmantel von Glanztaffet und einen breitkrempigen Hut. Es war ein ansehnlicher Herr von fünfzig bis sechzig Jahren mit graumeliertem Bart und Augen voll ruhiger Schlauheit. Wohlwollend grüßend, bestieg er seinen Esel, ermunterte ihn mit den Worten: „Hü, Bileam!“ und ritt langsam in der Richtung des Dorfes fort.
Die Diebe hatten unter anderm ein kaltes Hühnchen zurückgelassen. Ich ging damit abseits, verzehrte es, wühlte mich in trockenes Laub, legte mich aufs Gesicht, damit mir nicht wieder was in den Mund fiel, und schlief unverzüglich ein.
Es mochte halbwegs Mittag sein, als ich durch ein empfindliches Schmerzgefühl an beiden Seiten des Kopfes geweckt wurde. Zwei Schweine waren eben dabei, mir die Ohren, die sie vermutlich für Pfifferlinge hielten, vom Kopfe zu fressen, hatten aber erst ganz wenig heruntergeknabbert. Im Kreise um mich her wühlte die übrige Herde.
Der Hirt, ein kleiner alter Mann mit einem dreieckigen Hut, strickte an einem blauen Strumpfe; und bei diesem treuherzigen Naturmenschen beschloß ich mich noch mal ernstlich zu erkundigen, ob er nicht wüßte, wo die Stadt Geckelbeck läge.
Das, sagte er, könnte er mir ganz genau sagen, denn vor dreißig Jahren hätte er dort mal siebzehn Ferkel gekauft, und sie wären auch alle gut eingeschlagen bis auf eins, das hätten die andern immer vom Troge gebissen, und da hätt es vor lauter Hunger am Montag vor Martini einen zinnernen Löffel gefressen und am Dienstag eine Kneipzange und am Mittwoch dem Sepp sein Taschenpistol, den Lauf zuerst, und wie es an dem Zündhütchen geknuspert hätte, wär der Schuß losgegangen, mitten durch die inneren Teile und noch weit hinten hinaus.
„Seht!“ fuhr er fort. „Dort zwischen den Bäumen hindurch, grad wo ich mit diesem Strickstock hinzeige, da liegt Dösingen, und zwei Stunden hinter Dösingen kommt Juxum, und dann kommt sechs Wochen lang nichts, und dann kommt der hohe Dumms, wo’s oben immer so neblig ist, und von da sieht man erst recht nichts, und – –“
„Danke, lieber Mann!“ unterbrach ich ihn. „Und, bitte, haltet Euch bedeckt!“
Hierbei trieb ich ihm mit der flachen Hand seinen dreieckigen Hut über Nase und Ohren, und als er schimpfen wollte, konnte er es nicht, weil ihm die Nase über das Maul gerutscht war.
Als ich den Wald verließ, lag die angenehmste Landschaft vor mir ausgebreitet; Wiesen, von Hecken umgeben; ein See; ein Dorf im Dunst der Ferne. Die Nacht war schwül gewesen; der Tag wurde es noch mehr. Die Schwalben flogen tief; und eine graue Wolke, wie ein Sack voll Bohnen, stand lauernd am Horizont. Die Sonne verfinsterte sich; ein Schatten machte sich über der Gegend breit; die Wolke, nunmehr mit einer langen gelblichen Schleppe geziert, war drohend heraufgestiegen. In ihrem Innern grollte es bereits; ein Wind erhob sich, und dann kam rauschend und prasselnd die ganze Bescherung.
In der Wiese, wo ich mich befand, war Heu gemacht; an der Hecke bemerkt ich eine kleine Hütte von Zweigen; ich schlüpfte spornstreichs hinein.
So geht’s, wenn man nicht erst zusieht! Ich fiel direkt in zwei offene Weiberarme und wurde auch umgehend so heftig gedrückt und abgeküßt, daß ich, der so was nicht gewohnt war, in die peinlichste Angst geriet.
„Hö! Hö!“ schrie ich aus Leibeskräften. „Satan, laß los!“
Gleichzeitig schlug ein blendender Blitz in den nächstliegenden Heuhaufen, und ein Donnergepolter folgte nach, als wäre das Weltall von der Treppe gefallen.
Meine zärtliche Unbekannte ließ mich los und sprang vor die Hütte. „Ätsch! Fehlgeschossen! Hier saß ich!“ rief sie spottend in die Wolken hinauf, und dann tanzte sie lachend um den brennenden Heuschober.
Die blitzenden Zähne; das schwarze Haar, durchflochten mit goldenen Münzen; unter dem grauen, flatternden Röcklein die zierlichen Füße; dies alles, kann ich wohl sagen, schien mir äußerst bemerkenswert.
Mit dem letzten Krach war das Wetter vorübergezogen. Vergnüglich und unbefangen, als sei zwischen uns beiden nichts vorgefallen, setzte sich das Mädel wieder zu mir in die Hütte. Sie machte die Schürze auf. Es waren gedörrte Birnen drin, meine Lieblingsfrüchte, und als ich sie essen sah, wollt ich auch zulangen. Aber jedesmal kniff sie die Knie zusammen, zischte mich an und gab mir neckisch einen Knips vor die Nase. Schließlich erwischt ich doch eine beim Stiel. Sofort krümmte sich diese Birne und biß mich in den Finger, daß das Blut herausspritzte. Ich hatte eine Maus beim Schwanze. „Au!“ rief ich und schlenkerte sie weit weg. „Wart, Hex, jetzt krieg ich dich!“
Aber schon war die hübsche Zauberin aufgesprungen und hatte mir sämtliche Birnen vor die Füße geschüttet. Dies Mäusegekrabbel! Die meisten liefen weg; nur eine war mir unter der Hose hinaufgeklettert, das Rückgrat entlang, bis an die Krawatte, wo sie nicht weiter konnte, und nagte hier wie verrückt, um herauszukommen, und bevor ich mich noch ausziehen konnte, hatte sie auch schon, wie sich später zeigte, ein zirkelrundes Loch durch Hemd, Weste und Frack gefressen.
Als ich mich von dieser Aufregung wieder einigermaßen gesammelt hatte, sah ich mich um nach dem Blitzmädel, der Hexe; denn ich hatte Mut gefaßt und wollte ihr mal recht ins Gewissen reden von wegen der Zauberei, und darnach, so nahm ich mir vor, wollte ich ihr zur Strafe für ihre Schändlichkeit einige herzhafte Küsse geben. Ich suchte und suchte, in der Hütte, in der Hecke. Nichts Lebendiges war zu bemerken, außer ein Laubfrosch, ein Zaunigel, viele Maikäfer und der Schwanz einer silbergrauen Schlange, die grad in einem Mausloch verschwand.
Weiterhin schlich der Jägernazi herum, als ob er was verloren hätte. Er sah recht verstört aus und ging an mir vorbei, ohne mich zu beachten.
Auch ich war etwas trübselig geworden; denn nicht nur spukte mir das Mädel im Schädel, sondern als ich Frack, Hemd und Weste ablegte, um den Mäuseschaden zu besichtigen, fehlte mir auch mein goldenes Medaillon, das ich bisher immer so sorgsam bewahrt hatte.
Nach dem Gewitter hatte sich die Luft empfindlich abgekühlt, so daß mir abends die Zähne im Munde klapperten. Daher schien es mir ratsam, mich nach einem Quartier umzusehn, wo ich unter Dach und Fach übernachten konnte. Ich versteckte mein Netz, näherte mich einem einsamen Bauernhofe und besah die Gelegenheit. Aus einer offenen Luke im Giebel hing Stroh heraus; eine Leiter stand davor. Zu Nacht, als alles still geworden, stieg ich hinauf. Es war ein einfacher Bretterboden. Ich machte mich so leicht wie möglich. Kracks! da brach ich schon durch.
Ich fiel weich, auf ein Bett, wie ich merkte! Aha! dacht ich. Das trifft sich gut! Dies ist sicher die Fremdenkammer! und wollte mir’s bequem machen. Aber neben mir rührte sich was.
„Kunrad!“ rief eine Weiberstimme. „Kunrad, der Sack ist durch die Decke gefallen.“
„Dummheit! Du träumst! Dreh dich um!“ gab eine schläfrige Männerstimme zur Antwort.
„Kunrad!“ kreischte die Frau. „Der Sack hat Haar auf dem Kopf!!“
„Ich komm schon!“ klangs munter aus dem anderen Bett herüber. Es schien mir nicht ratsam, noch länger zu verweilen. Ich trat klirrend in ein Gefäß voll Flüssigkeit; ich tappte mit den Händen in fünf, sechs offene Mäuler. Die Kinder heulten, die Frau schrie: Ein Dieb! Ein Dieb! und der Bauer fluchte und schwur, daß er ihn schon kriegen und durch und durch stechen wollte, wenn er nur gleich einen Säbel hätte. Zum Glück fand ich eine Tür, die in den Nebenraum führte. Hier kriegt ich den Kopf einer Kuh zwischen die Arme, und als ich das haarige Gesicht und die zwei harten Hörner fühlte, erschrak ich und dachte schon, es sei der kräftige Knecht mit der Heugabel. Das bekannte Hamuh! gab mir die Besonnenheit zurück. Ich sprang aus der Klappe und schlich mich hinter dem Schweinestall herum durch den Gemüsegarten ins Feld. Alles was Stimme hatte, war wach geworden: Hund, Hühner, Schweine, Kühe, Ziegen und Gänse; aber am längsten hört ich noch die leidenschaftlichen Äußerungen der Familie, die aus weitgeöffneten Mäulern und Fenstern hinter mir herschimpfte.
Ohne erst mein Netz zu holen, lief ich und lief die halbe Nacht hindurch, bis ich einen Teich erreichte, in dessen Nähe ein Mühlrad rauschte.
Schön gelb und rund, gleich dem Eierkuchen in der Pfanne, ehe er völlig gereift ist, schwebte der Mond im Himmelsraum. Ich war ungemein wach und warm geworden. So setzt ich mich denn auf das Wehr und hörte zu, was sich die Frösche erzählten, die ihre gesellige Unterhaltung, worin sie durch meine Ankunft gestört waren, alsbald wieder anknüpften.
„Frau Mecke! Frau Mecke!“ fing die eine Fröschin zur andern an.
„Was ba-backt Ihr denn morgen?“ „Krapfen! Krapfen! Frau Knack!“ entgegnete die Frau Mecke.
„Akkurat mein Geschmack!“ quackte die Frau Knack.
Und kaum, daß sie diese Ansicht geäußert hatte, so stimmten sämtliche Frösche ihr bei und erklärten laut und einstimmig, die Frau Knack-ack-ack-ack hätte den wahren Geschmack-ack-ack-ack, und da blieben sie bei und hörten nicht auf, bis ich gegen Morgen einen dicken Stein holte und mitten ins Wasser plumpste.
Inzwischen hatt ich allerlei in Erwägung gezogen. Durch die vorwiegend pflanzliche Nahrung war meine Natur doch sehr merklich ermattet. Auch bedurfte meine Wäsche, die nur aus 1/12 Dutzend Hemden und 1/12 Dutzend Paar Strümpfen bestand, recht dringend der Ergänzung. Daher beschloß ich, mir in der Mühle einen Dienst zu suchen.
Auf meine Anfrage, ob’s nichts zu flicken und zu stopfen gäbe, gab der Müller die freudige Antwort:
„Nur herein, mein Sohn; es ist ein gesegnetes Mäusejahr; kein Sack ohne Löcher!“
Drei Wochen lang hantiert ich emsig mit Nadel und Zwirn; aber die sitzende Lebensweise gab mir auch die beste Gelegenheit, in aller Stille an die reizende Hexe zu denken und allerlei Pläne zu schmieden, wie ich sie wieder erwischen könnte. Unwiderstehlich erwachte die Wanderlust; die Beine fingen an zu zappeln, wie fleißige Weberbeine, und eines schönen Morgens stand ich reisefertig da, mit einem neuen Netz in der Hand, und sprach:
„Meister! Ewig können wir nicht beieinander sein. Gehabt Euch wohl!“
Nachdem ich meinen Lohn erhalten, spaziert ich mit munteren Schritten den Bach entlang. Ich war ordentlich plus und prall geworden. Und pfeifen tat ich, und zwar schöner als je, denn grad durch das ärgerliche Loch, was mir der Strolch in die Zähne geworfen, bracht ich nun die kunstvollsten Töne hervor.
Die Landschaft, in die ich zuerst gelangte, sah sehr einförmig aus. Die Kartoffeln standen gut; indes ungewöhnlich viele Schnecken gab es daselbst, die, wie mir schien, noch viel langsamer krochen als anderswo. Bald erreicht ich ein idyllisches Dörflein. Alle Häuser hingen gemütlich schief auf der Seite; desgleichen die Wetterhähne auf den Dächern. Auf den Türschwellen im warmen Sonnenschein hockten die Mütter und besahen so beiläufig den Kindern die Köpfe, während die Mannsbilder draußen auf der Bank saßen und versuchten, in dieselbe Stelle zu spucken, was, wenn es gelingt, ja den Ehrgeiz befriedigt. Nur einer machte sich etwas Bewegung auf der Gasse. Er ließ seinen Stock fallen. Mühsam und seufzend hob er ihn auf; aber dann ging er auch gleich ins Wirtshaus zu seiner Erholung.
Ein Dickwamps sah schläfrig zum Fenster heraus.
„Ihr da, mit dem Dings da!“ sprach er mich an. „Ihr könntet mir zu etwas behilflich sein.“
Ich trat ins Haus. In langgedehnter, zähflüssiger Rede tat er mir kund, um was es sich handelte: Er hätte eine Kanarienvogelhecke oben unter dem Dach, die möchte er gern, von wegen des lästigen Treppensteigens, nach unten verlegen, aber das Viehzeug, um es einzufangen, sei gar zu flüchtig für ihn, und da wär ich mit meinem Netz grad recht gekommen.
Ich stieg voran die Treppe hinauf. Er ließ sich nachschleppen, indem er meine Frackschöße erfaßte, und es wundert mich nur, daß dieselben bei der Gelegenheit nicht ausgerupft und entwurzelt sind. Trotzdem, als wir die Dachkammer erreichten, mußte ich ihm erst lange den Rücken klopfen, bis er wieder zu Atem kam; so dick war der Kerl.
Mit Leichtigkeit, vermittels meines Netzes, erhascht ich sämtliche Vögel, es mochten ihrer zwanzig bis dreißig sein, und steckte sie in einen Beutel, den ich auf einen Stuhl niederlegte. Nur ein altes schlaues Weibchen konnt ich noch immer nicht kriegen.
Der Dicke, der starr und träge zugesehn, wie ich so herumfuchtelte, mochte davon wohl etwas schwindlig und müde geworden sein. Mit dem Seufzer Achja! ließ er sich in voller Sitzbreite, auf den Stuhl niedersinken, wo der Beutel drauf lag. Keinen Ton gaben sie von sich, die armen Vöglein.
Er merkte auch nichts, sondern saß friedlich da mit halbgeschlossenen Augen, und als ich ihm ängstlich mitteilte, daß fast sein ganzer Singverein unter ihm läge, sprach er langsam und seelenruhig:
„Dann pfeifen’s nimmer, das weiß ich gewiß!“
„Na!“ rief ich. „So bleibt meinetwegen sitzen bis Ostern übers Jahr. Wünsch angenehme Ruh!“
Das alte Kanarienweibchen hatte sich ihm frech auf den Kopf gesetzt und pickte an dem Quast seiner Zipfelmütze. So verließ ich die zwei.
Am Ende des Orts war ein stattlicher Neubau im Werden. Drei Zementtonnen lagen da; aus zwei derselben schaute je ein Paar Stiefel hervor. Ein einziger Maurer stand auf der Leiter mit dem Lot in der Hand und visierte lange mit großer Genauigkeit. Hierbei entglitt ihm die Schnur. Langsam stieg er herab; langsam wickelte er sie auf; langsam stieg er wieder nach oben. Als er bis zur Mitte der Leiter emporgeklommen, entfiel ihm das Lot zum zweiten Male. Er nahm eine Prise, sah in die Sonne, wartete fünf Minuten vergeblich auf die Wohltat des Niesens, stieg langsam herab, machte Schicht und alsbald schaute auch aus der dritten Tonne ein Paar Stiefel hervor.
Um alles dies mit Muße in Betrachtung zu ziehn, hatt ich auf einem Steinhaufen Platz genommen. Ein Hausierer, der einen Packen mit Wollwaren trug, setzte sich zu mir.
„Merkwürdiger Ort, dies Dösingen!“ fing er an. „Den Flachsbau haben sie längst aufgegeben; war ihnen zu langwierig; flicken die Schweinställe mit den Hecheln, die Zacken nach innen gekehrt; Rüsseltiere wühlten sonst immer die Wände durch; Gänsezucht vorherrschend jetzt, der Bettfedern wegen. Bequeme Leute; wenn sie gähnen, lassen sie meist gleich das Maul offen fürs nächste Mal. Hier verkauf ich die meisten Nachtmützen.“
„Was wird denn das für ein Haus da?“ fragt ich.
„Trottelheim. Der reiche Schröpf läßt’s bau’n, der Klügste im ganzen Dorf, seit er das große Los gewann. Diese wohltätige Anstalt, pflegt er zu sagen, ist nicht bloß für andere, sondern eventuell auch für mich, nach meinem Tode natürlich; denn, sagt er, wenn man auch als gescheiter Kerl stirbt, man weiß nie, ob man nicht als Trottel wieder auflebt.“
Der Hausierer erhob sich. Ich erhob mich gleichfalls und fragte ihn, wie das nächste Dorf hieße.
„Juxum!“ gab er zur Antwort. „Lustiges Nest.“
Schon von weitem konnte man sehn, daß es ein fröhliches Dörfchen war. Die Saaten standen üppig; auf jeder Blume saß ein Schmetterling; in jedem Baum saß ein zwitscherndes Vöglein; rot schimmerten die Dächer und hellgrün die Fensterläden.
Ein munterer Greis gesellte sich zu mir. Auf meine Frage, wie er es angefangen, so alt zu werden, erwiderte er schmunzelnd:
„Regelmäßig weiterleben ist die Hauptsache. Ich esse, trinke, schlafe regelmäßig, und wenn meine Frau stirbt, so heirate ich regelmäßig wieder. Jetzt hab ich die fünfte. Ich bin der Bäcker Pretzel. Dort liegt das Wirtshaus. Gleich komm ich nach.“
Auf Grund meiner Ersparnisse in der Mühle konnt ich mir schon was erlauben. Ich kehrte ein. Da der lange Stammtisch, bis auf den Ehrenplatz, schon besetzt war, drückt ich mich auf die Bank hinter der Tür. „Frau Wirtin!“ sprach ich bescheiden. „Ich hätte gern ein Butterbrot mit Schlackwurst.“
„Schlackwurst? Das glaub ich schon. Schlackwurst ist gut!“ rief laut lachend die dicke Wirtin. „Aber unsere Schlackwurst, mein Schatz, die essen wir selber!“
Dieser Scherz erregte bei der anwesenden Gesellschaft das herzlichste Gelächter. Alle bestätigten es, daß die Schlackwurst sehr schmackhaft, ja, die Königin unter den Würsten sei. Da die Wirtin ferner erklärte, sie habe es sich zur Regel gemacht, auch ihre Butter lediglich selbst zu genießen, so mußt ich mit einem Stück Hausbrot und einem kleinen Schnapse vorliebnehmen.
Die Schwarzwälder Uhr hakte aus, um fünf zu schlagen.
„Gleich wird Bäcker Pretzel kommen!“ bemerkte die Wirtin. „Seit nun bereits fünfzig Jahren, präzis um Schlag fünf, setzt er sich hier auf seinen Platz und trinkt regelmäßig seine fünf Schnäpse.“
„Das ist wie mit den ewigen Naturgesetzen!“ erklärte der schnauzbärtige Förster. „Nicht wahr, Herr Apotheker?“
„Jawohl!“ bestätigte dieser. „Man weiß, wie’s war, also weiß man, wie’s kommt. Was sagt Ihr dazu, Küster?“
„Tja tja tja!“ sprach der bedenkliche Küster. „Ich hoffe, es gibt Ausnahmen von der Regel. Seit fünfzig Jahren hab ich sechzig Taler Gehalt; vielleicht – –“
„Ah drum!“ lachten alle.
Die Uhr schlug fünf. Es faßte wer draußen auf die Türklinke.
„Hurra!“ hieß es. „Da kommt Pretzel. Jetzt wird’s lustig!“
Die Tür ging auf. Ein Bäckerjunge trat ein und teilte mit, daß der alte Pretzel soeben gestorben sei.
Auf einen Augenblick des Schweigens folgte ein allgemeines Gelächter. Man lachte über sich selber, daß man so dumm gewesen war zu glauben, es gäbe was Gewisses in dieser Welt, und am End, meinte man, hätte der Küster doch vielleicht recht gehabt.
Am heftigsten lachte ein grau gekleideter Gast, so heftig, daß er ins Husten kam.
„Na freilich!“ rief man. „Bäcker Prillke kann wohl lachen; jetzt hat er die Kundschaft allein.“
Die Fröhlichkeit steigerte sich noch, als jetzt im Nebensaal ein Klarinettenbläser und eine Harfenistin sich hören ließen. Die Burschen und Dirnen aus der Nachbarschaft drängten herein; bald wogte der Tanz; ich kriegte auch Lust dazu. Besonders eins von den Mädeln konnt ich nicht aus den Augen lassen; denn obgleich sie ein Kopftuch bis fast auf die Nase trug, kam es mir doch so vor, als müßte es die reizende Zauberin sein, die mich letzthin so empfindlich geneckt hatte. Beim nächsten Walzer schwang ich mich mit ihr im Kreise herum.
„Meinst, ich kenn dich nicht?“ sprach ich flüsternd. „Du bist ’ne Hex. Aus Hutzelbirnen kannst Mäuse machen.“
„Haha!“ lachte sie. „Das ist wohl meine Bas aus dem Gebirg. Die kann Künste. Aber gib acht. Lucindili heißt sie, wer kein Geld hat, den beißt sie.“
Mein anmutig schwungvolles Tanzen, mein flatternder Schniepel, das rote Sacktüchel weit hinten hinaus, hatten indes ein freudiges Aufsehen erregt. Der Walzer ging zu Ende. Aufgeregt und übermütig warf ich den Musikanten ein Guldenstück zu, damit sie mir extra eins aufspielten. Aber als ich mich umsah nach dem Blitzmädel, hopste sie bereits dahin, umschlungen von den dürren Armen eines kleinen putzigen Kerlchens mit Buckel hinten und Buckel vorn, die Weste gepflastert mit Silbermünzen, die Finger voll goldener Ringe und puppenlustig die Beine schlenkernd. Das wurmte mich. Ich trank zwei Schnäpse hintereinander und fing Krakeel an. Zwei Minuten später flog ich draußen, zu allgemeinem Vergnügen, sehr rasch die Treppe hinunter.
Anstatt mich nun alsbald so weit wie möglich von diesem lustigen Ort zu entfernen, stellt ich mich hinter den Zaun und paßte auf, bis das Mädel nach Hause ging. Es war schon Abend geworden, als sie kichernd über die Straße eilte, das Buckelmännchen dicht hinter ihr. Gleich darauf machte sie Licht im Haus gegenüber, oben am offenen Fenster. Schmachtend blickt ich hinauf. Sie sah mich stehn, so schien’s, und winkte mir zu.
Schnell nahm ich einen Schubkarren, der dienstwillig dastand, richtete ihn an die Mauer, kletterte hinauf und streckte meine Arme über die Fensterbrüstung, um einzusteigen. Es war eins von jenen niederträchtigen Schubfenstern, die man von oben herunterläßt. Mit Gerassel fiel es zu; die Scheibe, dicht vor meinem Gesicht, sprang klirrend entzwei; ein Pflock wurde vorgeschoben; ich saß mit beiden Armen fest bis über die Ellenbogen.
„Er sitzt in der Klemme! Lauf, Cindili, und sag Bescheid, daß sie kommen!“
Dies rief eine heisere Männerstimme; und wenn meine Lage an sich schon ängstlich genug war, so wurde sie jetzt gradezu peinlich, als ich zu meinem Schrecken bemerkte, daß aus dem Hintergrunde des Zimmers mein bucklichter Nebenbuhler höhnisch grinsend, mit dem Talglicht in der Hand, auf mich zukam.
„Du Leichtfittig!“ rief er und leuchtete mir in die Augen. „Du Mädchenverführer! Was denkst du dir nur, du abscheulicher Racker?“ Unterdes hatte er einen Korkstöpsel in die Flamme gehalten und machte mir damit erst mal einen schwarzen glühendheißen Schnauzbart von einem Ohr bis zum andern, und dann hielt er mir das Licht unter die Nase, daß sie darin lag wie ein Lötkolben, was sehr weh tat.
Aber das Schlimmste kam erst noch, denn jetzt kriegte er seine große Horndose aus der Tasche und rieb mir zwei tüchtige Portionen Schnupftabak in die Naslöcher, so daß ich fürchterlich niesen mußte, und dabei stieß ich mit meiner armen Nase fortwährend auf den harten Fensterrahmen, bis ich schließlich nicht mehr wußte, ob’s Sonntag oder Montag war.
Inzwischen ging hinter mir auf der Gasse ein Kichern und Gemurmel los, und nicht bloß dies. Ein Klatschhieb nach dem andern fiel tönend auf meine gespannte Rückseite, darunter mancher von bedeutender Kraft; und Kniffe waren auch dabei, vermutlich von Weibern. Und dann hieß es: He, Philipp! He, Christoph! Herbei mit dem Pusterohr!
Ach, wie empfindlich stach das, wenn diese spitzen Geschosse, phütt! phütt! so plötzlich sich einbohrten in meine strammen Gesäßmuskeln, die durch die leichte Bekleidung so gut wie gar nicht geschützt waren. Und jetzt erhob sich ein allgemeines Freudengeschrei: „Apotheker Pillo kommt mit dem Feuerwerk!“
Sie zogen mir den Schubkarren unter den Füßen weg. Bei prachtvoller bengalischer Beleuchtung, bald rot, bald grün, hing ich strampelnd an der Wand herunter.
Erst als das Feuerwerk sich seinem Ende nahte, schob man das Fenster hoch. Ich tat einen harten Fall; ich war geneigt zu harten Worten; aber die Genugtuung, mich ärgerlich zu sehn, wollt ich dem Publikum doch nicht bereiten; daher rappelt ich mich flink auf und verließ sorglos tänzelnd, im lustigsten Hopserschritt, den Schauplatz meiner Qual und Beschämung. Die heiteren Bewohner von Juxum sandten mir ein tausendstimmiges Bravo! nach.
Zur dauernden Erinnerung an dies Erlebnis hab ich die rote geschwollene Kartoffelnase behalten, die verdächtig genug aussieht, obgleich ich seit jenem Tanzvergnügen den Schnapsgenuß immer sorgfältig vermieden habe. Was die anderseitigen Verletzungen anbelangt, so haben sie, so sehr dies zu befürchten stand, doch auf meine spätere Sitzfähigkeit keinen nachteiligen Einfluß ausgeübt.
Nachdem ich in dem nunmehr eifrigen Bestreben, das lustige Juxum baldmöglichst weit hinter mir zu lassen, die ganze Nacht durch auf den Beinen geblieben, gelangt ich bei Sonnenaufgang in ein schattiges Waldgebirge.
Vor einer kleinen Höhle stand ein knorriger Baum. In ziemlicher Höhe, an einem langen Aste desselben, hatte sich einer aufgehängt. Da er das linke Bein noch rührte, kletterte ich mit einiger Mühe und Gefahr nach oben, kriegte mein Messer heraus und schnitt eilig den Strick ab.
Der Unglückliche, der sich durch Verlängerung des Halses sein Leben zu verkürzen gedachte, war noch elastisch und hüpfte daher, als er den Boden berührte, ein paar mal auf und nieder, ehe er umfiel. Bei näherer Besichtigung fand ich, es war der Jägernazi, der Schlangenfreund, der mir ehemals einen so empfindlichen Stoß unter die Rippen versetzte.
Ohne Groll und Zögern jedoch macht ich mich dran, ihn in den verlorenen Zustand eines bewußten Vorhandenseins wieder zurückzubringen. Ich knöpfte ihm die Joppe auf; ich knetete ihm mit Händen und Füßen die Magengegend; ich kitzelte und feilte mit einer stacheligen Brombeerranke seine lange weiße Nase; ich holte groben Kies und eine Handvoll Ginster und schabte ihm Brust, Hals und Angesicht, um die erlahmten Gefühle zu reizen und aufzumuntern. Endlich hatt ich Erfolg. Mit den schmerzlich hingehauchten Worten: Oh, Schlange! riß er die Augen auf, setzte sich, befühlte seine Kehle, nieste, spuckte aus und sah mich lange schief, aber scharf, von der Seite an. Jeden Augenblick erwartete ich einen Ausbruch seiner Dankbarkeit gegen mich, der ihm so mühsam das Leben gerettet. Aber ich irrte sehr.
„Malefiztropf!“ plärrte er mir entgegen. „Nie meiner Lebtag hab ich mich so gut unterhalten, wie diese letzten zehntausend Jahre, als ich nirgends zugegen war; und da geht der Narr her und verleidt und zerschneidt mir mein‘ Freud, und da sitz ich nun wieder in der schlechtesten Gesellschaft, die sich nur denken läßt, in meiner und deiner, du langweiliger Peter, du!“
Allmählich indes fing er an, die Gegenwart dieser Welt wieder erträglich zu finden. Er wurde sogar heiter und mitteilsam.
„Eigentlich sollt ich ein Klosterbruder werden“, hub er an zu erzählen. „Allein die edle Entsagung, die hierzu erforderlich ist, fehlte mir gänzlich. Ich lief weg und ließ mich anwerben bei den Soldaten; aber parieren mocht ich auch nicht gern. Da, wie’s der Zufall so fügte, starb ein alter Vetter, der mir zehntausend Gulden vermacht hatte. Wunderlicher Kauz, das! Hatte fünfhundert Gulden bestimmt für sein Grabmonument. Bildhauer ausdrücklich mit Namen genannt. Verständiger Künstler; ließ mit sich reden; nahm hundert Gulden für nichts; und der tote Herr Vetter wartet noch heut auf sein Denkmal.“ „Das war nicht gut!“ meint ich.
„Wieso?“ fuhr der Nazi fort. „Sind vierhundert Gulden was Schlechts? Kurzum, ich wurde flott. Ich lernte ein Mädel kennen; fein, schlank, wundersam; ein verteufeltes Frauenzimmer. Zog mir spielend die Seel aus dem Leib und das Geld aus der Tasche. Mit dem letzten Dukaten, weg war sie. Ha, du Hex! Ha, du Schlange!“
Schon glaubt ich, er wollte sich zum zweitenmal aufhängen vor Wut und Gram; aber er besann sich, lachte grimmig und lud mich ein, mit in seine Höhle zu gehn, wo er sich häuslich eingerichtet hatte; allerdings nur sehr mangelhaft, denn eine vielversprechende Flasche, die er, ein Auge zugekniffen, gegen das Licht hielt, erwies sich als inhaltlos. In der Ferne fiel ein Schuß.
„Weißt du was, Freund Peter?“ sprach der Nazi etwas hastig. „Am besten ist’s, wir gehn fechten bei den Bauern, damit wir was Warmes kriegen.“
Vorsichtig voranschleichend, führte er mich nach der andern Seite aus dem Walde hinaus, quer durch die Felder, bis wir zum nächsten Dörflein gelangten.
Gleich im ersten Hause fand unser Anliegen eine günstige Aufnahme. „Grad kommt ihr recht, ihr Herrn!“ sagte die gemütliche Bauernfrau. „Heut mittag hat’s Erbsenbrei mit Speck gegeben; der Speck ist alle; aber Brei gibt’s noch in Hülle und Fülle.“
Sie brachte jedem einen aufgehäuften Napf voll, und der hölzerne Löffel stak drin. Freudig setzt ich den letzteren in genußreiche Bewegung. Freund Nazi dagegen, dem die Kost nicht behagte, pustete nur immer, als ob’s ihm zu heiß wäre; und kaum daß die gute Bäuerin den Rücken drehte, um wieder in die Küche zu gehn, so erhob er sich und entleerte seine Schale in das Innere eines grünen baumwollenen Regenschirms, der hinter der Tür stand.
„Danke für gute Verpflegung!“ rief er in die Küche hinein und entfernte sich eilig.
Ein warnendes Vorgefühl überschlich mich. Ich machte, daß ich fertig wurde, und stand grad auf, als der ehrwürdige Hausvater aus der Stube trat. Er langte sich den Schirm, weil es draußen zu regnen begann, und spannte ihn auf. Groß war seine Überraschung, als ihm der zähe Brei über das Haupt und die Schultern rann. Dennoch besaß er so viel Geistesgegenwart, daß er mir, eh ich vorbeischlüpfte, den Schirm ein paarmal um die Ohren schlug, so daß ich auch von diesem Brei noch ziemlich was abkriegte.
Der Nazi sah es von ferne und wollte sich schief lachen. Ich wär ihm fast bös geworden darum; da er aber fleißig putzen half und trostreiche Worte sprach, ging ich wieder zu Wohlwollen und Heiterkeit über.
Um die Vesperzeit drang mein Freund darauf, daß wir, jedoch am andern Ende des Dorfes, einen zweiten Besuch machten.
Ein kleiner Unglücksfall kam uns zustatten. Ein Knabe von etwa fünf Jahren fiel aus einem Apfelbaum ins weiche Gras. Er war mit einem Anzug bekleidet, den man „Leib und Seel“ benennt; hinten zugeknöpft. Dadurch, daß sich beim Fallen ein Ast in den Schlitz gehakt hatte, war der Verschluß von unten bis oben vollständig gelockert. Die besorgte Mutter trat aus der Haustür. Wir suchten die abgesprungenen Knöpfe auf. Ich zog Nadel und Zwirn aus der Tasche. Der weinende Knabe wurde über den Schoß der Mutter gelegt; der Nazi hielt ihm die Beine, daß er nicht strampeln konnte. Bald waren nach allen Regeln der Kunst die Knöpfe wieder befestigt und „Leib und Seele“ verschließbar, soweit das, nach unten hin, bei diesem Kleidungsstücke der unmündigen Jugend überhaupt ratsam erscheint.
Erstaunt und glücklich über diese rasche und erfolgreiche Kur, lud uns die Mutter zum Vesperbrot ein.
Ein mächtiges Hausbrot, ein Teller mit dunklem Zwetschenmus, eine beträchtliche eben nur angebrochene Butterwälze, eine Schlackwurst von anderthalb Ellen, standen alsbald zu unserer Verfügung. Am schnellsten nahm der Nazi Platz, denn er hatte tagsüber nur rohe Pflaumen gegessen. Er tat einen tüchtigen Hieb in die Butter.
„Die Butter ist schon hier am andern Ende angeschnitten!“ sagte die Frau, die sehr ordnungsliebend zu sein schien.
„Macht nichts!“ erwiderte der Nazi. „Da kommen wir auch noch hin!“
„Hier ist auch schwarze Butter!“ erinnerte die Bäuerin.
„Danke! Die weiße ist gut genug für uns!“ sagte der Nazi und tat einen zweiten und dritten Hieb.
So fuhren wir rührig fort. Die Schlackwurst verkürzte sich zusehends. Die Frau wurde besorgt.
„Man kann auch zu viel essen!“ meinte sie.
„So leicht wohl nicht!“ erwiderte der Nazi.
„Man kann sich auch krank essen!“ sagte sie bald darauf.
„Kommt auch wohl vor!“ gab er zur Antwort.
„Man kann sich auch totessen!“ sprach sie endlich, als die Wurst immer kürzer wurde.
Jetzt legte der Nazi das Messer nieder und sprach im ernsten Ton allertiefster Bedenklichkeit:
„Wenn Ihr das meint, gute Frau, dann will ich sie lieber mitnehmen!“
Flugs erhob er sich, schob die Wurst in die Rocktasche, aus der sie noch ein gutes Stück weit hervorstand, nahm das Brot unter den Arm, drückte der Frau herzlich die Hände, versprach bald wieder zu kommen und empfahl sich mit einem zierlichen Bückling. Tief beschämt über dieses unverschämte Benehmen meines Freundes, drückt ich mich stumm aus der Tür.
Abends kehrten wir in dem Nazi seine Höhle zurück, wo wir uns die Nacht und den folgenden Tag der Ruhe, der stillen Betrachtung und dem Genuß unserer Vorräte widmeten.
Als Brot und Wurst zu Ende waren, suchten wir wiederum eine Stätte auf, die von Wesen bewohnt wurde, welche kochen.
Wir traten durch die Hintertür in eine Küche. Die Köchin war nicht zugegen. Zwei Töpfe dampften auf dem Herde. Der Nazi hob die Deckel auf. In dem einen brodelten Pellkartoffeln, in dem andern, zärtlich zu Pärchen verknüpft, ein Dutzend Paar Bratwürste. Der Nazi, gewandt und kurz entschlossen, gabelte sie auf seinen Stecken. „Besorg du die Kartoffeln! Schnell!“ rief er mir zu und war schon zur Tür hinaus.
Nebenan im Keller hustete wer. Ohne mich lange zu besinnen, ergriff ich mit jeder Hand ein paar der dicksten Kartoffeln und lief gleichfalls hinaus. Sie waren glühend heiß; im Stich lassen wollt ich sie nicht; in meiner Verwirrung und ängstlichen Eile steckt ich sie in die Hosentaschen. Hier war der Teufel los. Ich fing an zu klopfen. Aber jetzt, als die Knollenfrüchte zerplatzten, kam ihre Höllenhitze erst recht zur vollen Entwicklung. Ich lief immer schneller und stieß dabei durchdringende Schmerzenslaute aus. Der Nazi, mit seinem Stecken voller Würste, sah sich nicht um. Schließlich gelangten wir an einen Bach. Ich nahm ein Sitzbad bis unter die Arme; meine Schmerzen und Klagen besänftigten sich. Unterdes ließ sich mein Freund am Ufer nieder und aß recht gemütlich. Er meinte, es machte sich hübsch, wie ich so dasäße, und sei sehr gesund, und ich sollte nur sitzen bleiben, bis er fertig wäre. Dies gab mir Veranlassung, meine Badekur schleunigst zu unterbrechen, und das war gut, denn als ich ans Land stieg, waren nur noch drei Paar Würstel vorhanden, an denen ich mich beteiligen konnte.
Auf unserem Wege zum Walde hin trafen wir eine schlafende Bauernfrau, die vermutlich zu Markte wollte. Leise und geschickt zog ihr der Nazi ein Päckchen Butter aus der Kiepe und legte dafür einen tüchtigen Feldstein von mindestens zwanzig Pfund Gewicht an die Stelle. Als wir uns umsahn gleich nachher, erwachte sie grad und hockte die Kiepe auf mit Seufzen und großer Beschwerde, und unten rann eine gelbe Sauce heraus, und fünf Schritt weiter brach der Boden durch. „Schad um das Rührei!“ meinte der Nazi. „Ich sag’s immer: Wer Steine und Eier verpackt, soll die Steine nach unten legen.“
Mir war nicht ganz wohl bei der Sach; allein der Schlingel machte das alles so lustig und wohlgemut, daß ich schließlich doch lachen mußte.
So lebten wir denn wochenlang tagsüber von unserer Betriebsamkeit in den Dörfern und bei Nacht in unserm traulichen Heim in tiefer Waldeinsamkeit.
An einem regenreichen Spätnachmittage, als wir eben dahin zurückgekehrt waren und der Nazi grad angefangen hatte, eine seiner besten Geschichten zu erzählen, fielen in der Nähe zwei Schüsse. Ein Rehbock lief vorüber; im nächsten Augenblick liefen auch wir, der Nazi voran, in der nämlichen Richtung. Es sei dem Grafen sein Förster, ein guter alter Bekannter, der da geschossen hätte, sagte später der Nazi, als wir uns etwas verschnauften.
Wir waren in die Nähe eines einsam liegenden Wirtshauses gekommen. Es wurde sehr dunkel und regnete so heftig, daß mein Freund behauptete, wir müßten unbedingt ein Quartier nehmen für die Nacht. Ich erwähnte unsere Mittellosigkeit.
„Man muß nur parterre wohnen!“ meinte er sorglos. „Dann macht’s nichts!“
Wir traten ein und setzten uns, und er, mit vornehmer Sicherheit, bestellte einen reichlichen Abendimbiß nebst Bier vom besten. Nachdem er drei Maß mehr getrunken als ich, rief er den Wirt herbei.
„Gebt uns ein gutes Schlafzimmer, aber zu ebener Erde, wenn ich bitten darf, denn aus Dachfenstern zu springen, im Fall daß Feuer ausbricht, und den Hals zu brechen, das tun wir nicht gern.“
Der Wirt steckte einen Talgstummel an und führte uns höflich in die Kammer. Wir entkleideten uns. Der Wirt sah zu.
„Gute Nacht, Herr Wirt!“ sagte der Nazi. „Bemüht Euch nicht länger!“
„Bitte um die Beinbekleidung!“ entgegnete der gefällige Gastgeber.
„Bürsten wir selber aus!“ sagte der Nazi.
„Um die Welt nicht!“ rief der Wirt. „Solch anständige Herrn? Wäre gegen meine Reputation. Werde in der Frühe die Ehre haben, mich persönlich nach dero Befinden zu erkundigen.“
Sorgfältig legte er die beiden Kleidungsstücke über den Arm und entfernte sich, indem er uns wohl zu ruhn und angenehme Träume wünschte.
Der Nazi schnitt mir ein langes Gesicht zu. Ohne viel Worte zu machen, voll mißlicher Ahnungen, kroch ein jeder in sein bescheidenes Lager.
Mein Bett stand an einer Bretterwand. Kurz vor Tage weckte mich ein Lichtschimmer, der durch eine Spalte mir grad übers Gesicht streifte. Verstohlen blickt ich hindurch. Es war ein Stall, neben dem ich schlief.
Ein Esel stand mit der schwänzlichen Seite dicht vor der Spalte. Der alte Schlumann, den ich sofort wiederkannte, näherte sich ihm mit der Laterne, streichelte ihm dreimal den Rücken und sprach dreimal hintereinander die Worte:
„Tata, tata! Mach Pumperlala!“
Damit stellte er ihm seinen Hut unter und ging ruhig beiseit und blätterte bis auf weiteres in seinem geschäftlichen Notizbuche.
Alsbald hob der Esel den Schwanz auf; und nun kam ich dahinter, wo der alte Kerl das viele Geld herkriegte, von dem die Spitzbuben geredet hatten.
In ununterbrochener Folge, plink! plink! fielen die blanken Dukaten in den bereitstehenden Hut hinein. Die Versuchung war zu groß für mich. Ich steckte die hohle Hand durch die Spalte und schöpfte dicht an der Quelle.
„Tata, Bileam!“ rief Schlumann, ohne aufzublicken. „Tata, mach Pumperlala!“
Ich zog meine Hand, die aufgehäuft voll war, zurück und entleerte sie auf die Bettdecke. Dann hielt ich sie zum zweitenmal hin. Wieder rief der Alte, dem sogleich die Unterbrechung des Stromes zu Ohren kam: Tata, Bileam! indem er dadurch den Esel zu ermahnen und zu ermuntern suchte, in seiner ersprießlichen und scheinbar unterbrochenen Tätigkeit fortzufahren.
Eben hatte ich die zweite Handvoll in Sicherheit gebracht, als der alte Schlumann nähertrat, um das, was inzwischen ausdrücklich erfolgt war, zu besichtigen und einzuheimsen.
„Weis her, Bileam!“ sprach er. „Was haste gemacht? Wenig haste gemacht! Pfui, schäme dich!“
Nicht ohne ein gelindes Kopfschütteln füllte er den glänzenden Inhalt seines Hutes in die geräumige Geldkatze, sattelte sein wundersam ergiebiges Tierlein, das den Namen des geldgierigen Propheten trug, und führte es zum Stall hinaus in den Hof.
Der Morgen dämmerte durchs Fenster. Ich zählte meine Dukaten, die ich sorgfältig zu verbergen und aufzubewahren gedachte, denn sie schienen mir das einzige Mittel zu sein, jene reizende Hexe zu gewinnen, deren Bildnis mir so lebhaft im Herzen spukte. Mißtrauisch blickt ich nach meinem Kameraden hinüber, ob er auch nicht bemerkte, welch ein wertvolles Geschenk, gewissermaßen warm aus dem Prägstock der Natur, mir ein gütiges Geschick grad eben in die Hand gelegt hatte. Zu meinem Ärger mußt ich sehen, er blinzelte schon.
„Gold!“ rief er plötzlich und sprang vor mein Bett. „Natürlich gestohlen! Halbpart, oder ich sag’s wieder!“
Was sollt ich machen? Ich gab ihm die Hälfte ab und steckte das übrige in mein Beutelchen; und dann erzählt ich ihm wortwörtlich die ganze Geschichte. Ich zeigte ihm auch den alten Schlumann, der auf sei nem Esel eben vom Hofe ritt.
Freund Nazi, im Gefühl seiner Barmittel, wurde jetzt aber laut. Er bollerte mit der Faust und dem Stiefelknecht gegen die Tür und verlangte Bedienung. Der Wirt erschien.
„He, die Hosen! Frühstück! Eier! Schinken! Franzwein! Flink, marsch!“ schrie ihn gebieterisch der Nazi an und kniff dabei einen Dukaten ins linke Auge; ein Anblick, der den zuerst trägen und bedenklichen Herbergsvater gleich dienstbeflissen und munter machte.
Wir aßen gut und ließen uns Zeit dabei, und nachdem sich der Nazi ein Fläschlein extra in die Brusttasche gesteckt hatte, setzten wir einträchtig unsere Wanderschaft fort. Es wunderte mich nur, daß mein Freund, der sonst so gesprächig war, sich heute allmählich in ein völliges Schweigen hüllte. Endlich sprach er wieder:
„Verdammt zähes Zeug in dem Schinken. Klemmt sich immer grad zwischen die hohlen Backenzähne, natürlich! Uh, Teufel, der Schmerz! Bitte, sieh eben mal nach, bester Freund!“
Wir befanden uns weit draußen auf der einsamen Landstraße. Er riß jammernd das Maul auf. Da ich vorn nichts sehen konnte, als zwei Reihen arbeitsfähiger Zähne, nahm ich den Zeigefinger zu Hilfe, um weiter hinten mal nachzufühlen. Sofort, mit furchtbarer Gewalt, wie eine Marderfalle, schnappten die Kiefer zusammen. Meine Besinnung verließ mich. Als ich wieder zu mir kam, war mein Freund Nazi verschwunden; mein Geldbeutel desgleichen. Und so war denn das goldene Gewebe, womit ich die Geliebte zu umstricken gedachte, für immer entzweigeschnitten. Gebeugt und erschüttert durch dieses grausame Ereignis, ohne Freund, ohne Geld, zog ich mich in die tiefsten Schatten des Waldes zurück, wo mich sogleich ein erquickender Schlaf in seine tröstlichen Arme schloß.
Es war eine herrliche Mondnacht, als ich erwachte. Hinter den Felsen, im zitternden Silberlicht, schimmerte ein See. Ich hörte was plätschern. Eine Nixe, so schien es, badete sich. Neugierig schlich ich näher. Auf einem Stein lag ihr graues Gewand, auf dem Gewand ein Haarband von Goldmünzen.
„Aha!“ dacht ich. „Bist du’s? Jetzt sollst du mich schön bitten, bis du’s wiederkriegst.“
Geschwind steckt ich’s hinten in die Fracktasche; daß aber hinter mir, an den Baum gelehnt, ein Reiserbesen stand, hatt ich nicht beachtet.
Dieser, als säße der Teufel drin, setzte sich plötzlich in Bewegung und machte Sprünge wie ein Böcklein, und stieß nach mir, bald links, bald rechts, bald hinten, bald vorn, und dann nahm er einen Anlauf und fuhr mir zwischen die Beine, und fort ging’s hoch in die Luft und weg über die Wipfel; und ich mußte zuerst ordentlich lachen, als wir so dahintrabten, hopp hopp, unter dem zurückfliehenden Gewimmel der Sterne, und wie im geschüttelten Frackzipfel gar lustig die Münzen klirrten; aber schon nach fünf Minuten hatt ich es satt gekriegt, denn mein Rößlein war ein harter Traber und warf mich auf und nieder auf seinem hölzernen Rücken, daß mir’s war, als würd ich durchgestoßen und aufgespalten bis an den Nabel.
Endlich, nach Verlauf einer Ewigkeit von mindestens zwanzig Minuten, kehrte der verflixte Besengaul den Kopf nach unten und den Schweif nach oben und fuhr senkrecht in den geräumigen Schlot eines Hauses, welches einsam in der Wildnis lag.
Unter großem Gerassel fiel ich auf den Herd zwischen allerlei Küchengeschirr. Der Besen strich mir mit seinem dürren Reiserschweife noch ein paarmal durchs Gesicht, und dann stand er, in der Ecke am Kamin, stocksteif, wie ein gewöhnlicher Schrupper, der nie was von selber tut.
Durch ein Fenster mit runden Scheiben schien der Vollmond herein. Müd und kaputt, besonders inmitten, ließ ich mich in einen hölzernen Lehnstuhl fallen. Ach, wie weh tat das! Aber hinlegen, auf den kalten Fußboden, mocht ich mich auch nicht, weil ich zu erhitzt war; schließlich setzt ich mich auf die offene Seite eines leeren Eimers. Das ging so leidlich, und bald war ich eingenickt.
Schon graute der Morgen, als ich durch das Knarren der Außentür geweckt wurde. Ein krummes steinaltes Mütterchen, in grau vermummt bis unter die Augen, kam hüstelnd in die Küche gewackelt. Sie stieß einen kurzen erschrockenen Quiekser aus, als sie mich sitzen sah; doch ganz gefährlich mußt ich wohl nicht aussehn, denn sie sammelte sich bald und sprach mich an mit gewinnender Freundlichkeit:
„Ei, sieh da, mein Söhnchen! Wo kommst denn du schon her?“
„Ach, Mütterchen!“ klagt ich. „Ich bin geritten die halbe Nacht durch auf einem mageren bockichten Pferdchen, daß ich so steif bin, wie ein hölzerner Sägebock. Habt Ihr nicht zum Einreiben irgendeine geschmeidige Salbe, die wohltut?“
„Na, freilich, mein Kind!“ entgegnete sie dienstbeflissen. „Und was für eine!“
Sie öffnete den Wandschrank, kramte zwischen Gläsern und Töpfen und wählte schließlich eine zinnerne Büchse aus, die sie mir mit den traulichen Worten überreichte:
„Nimm hier, mein Sohn! Und schmier, mein Sohn! Paß auf, es wird schon anders werden!“
Bloß, um die Salbe mal vorläufig zu besichtigen, schrob ich den Deckel auf.
„Hu!“ machte die Alte und hielt sich schamhaft die Augen zu. „Bitte, nicht hier! Wenn ich’s nur denk, werd ich rot!“
Sie drängte mich nebenan in ihr Schlafzimmer, wo ich mich denn auch gleich, sobald ich allein war, gewissenhaft und emsig bemühte, eine baldmöglichste Linderung meiner Leiden herbeizuführen.
Und jetzt passierte mir was, worüber ich nur mit dem höchsten Widerstreben und der tiefsten Beschämung zu berichten vermag.
Kaum hatt ich mit der Salbung begonnen, so ging durch mein ganzes Wesen ein auffälliges, nie empfundenes Drücken, Drängeln und Krabbeln. Die Nase dehnte sich nach vorn, steif richtete sich der Frack nach hinten auf. Schon ging ich auf allen vieren, und als ich zufällig in den Spiegel blickte, der neben dem Bette stand, fing ich ärgerlich zu bellen an, denn ich sah mein nunmehriges Ebenbild vor mir in Gestalt eines Pudels, blau, wie der Schniepel, und mit gelben Hinterbeinen, wie die Nankinghose.
Ich – muß ich mich noch so nennen, nach dem, was vorangegangen? Oder darf ich Er sagen zu mir? Leider nein! so gern ich auch möchte; denn das fühlt ich genau: Die sämtlichen alten Bestandteile meiner Natur hatten sich nur verschoben und etwas anders gelagert als zuvor, und während der untergeordnete Teil meines Verstandes zur Herrschaft gelangte, war mein höheres Denkvermögen gewissermaßen auf die Leibzucht gezogen, ins Hinterstübel, von wo aus es immer noch zusah, wie die neue Wirtschaft sich machte, wenn es auch selbst nichts mehr zu sagen hatte.
Ich machte einige ängstliche Seitensprünge. Dicht hinter mir klirrte es. Es waren die Goldmünzen, die vorher im Frack, aber nunmehr im Schweife steckten. Dies Geräusch regte mich dermaßen auf, daß ich, um es loszuwerden, so lange im Kreise herumlief, bis mir die Zunge aus dem Halse hing. Dann setzte ich mich mitten in die Kammer, hielt die Nase hoch, rundete das Maul ab und stieß die kläglichsten Laute aus.
Die Tür öffnete sich, und wer steckte den Kopf herein? Meine reizende Hexe.
„Bist da, Peterle?“ rief sie lachend. „Hab ich dich erwischt, du Dieb, du Beutelschneider, du pudelnärrisches Hundsvieh, du?“
Es wurde mir wunderlich zu Mut. Mein Gefühl für dies Teufelsmädchen war nicht mehr Liebe, sondern einfach hundsmäßige Unterwürfigkeit. Ich kroch ihr zu Füßen; und wie ich so demütig mit dem Schwanze wedelte, klirrte es wieder drin, als wär es eine Sparbüchse für Kinder.
„Aha! Da sitzt die Musik!“ lachte die Hex. „Nur Geduld! Wenn der nächste Vollmond ist, dann wollen wir schnippschnapp! machen.“
Um ihr eine Aufmerksamkeit zu erweisen, stellt ich mich auf die Hinterbeine und versuchte mit den Vorderfüßen eine bescheidene Umarmung; aber eine wohlgezielte Maulschelle, die mir ein schmerzerfülltes Tjaujau! auspreßte, trieb mich scheu in den Hintergrund.
Zu Nacht wollt ich natürlich gern mit in die Kammer. Man schnappte mir die Tür vor der Nase zu. Mein Scharren und Winseln half mir nichts. Ich mußte einsam heraußen bleiben, rollte mich seufzend zusammen und verfiel endlich in einen unruhigen, oft unterbrochenen Schlummer, denn sämtliche Flöhe des Hauses, so schien es, hatten sich verabredet zu einem Stelldichein und munteren Jagdvergnügen in den dichten Wäldern meines lockichten Pelzes.
Morgens durft ich eintreten und meine Aufwartung machen und der Gnädigen die hübschen Pantöffelchen bringen, und jetzt, dacht ich, dürft ich mir wohl einiges herausnehmen und sprang, während sie sich die Zähne putzte, geräuschlos ins Bett, um mich nach der kühlen Nacht ein wenig zu erwärmen. Behaglich schloß ich die Augen. Doch sogleich wurde ich aufgescheucht mit harten Worten und ausgetrieben mit harten Schlägen vermittels der Pantoffeln, die sehr spitze Absätze hatten, und dann goß sie mir ein Glas eiskaltes Wasser über den Rücken, daß ich bellte vor Schreck und jammernd hinausrannte in den Hof, wo ich mich zitternd auf ein sonniges Plätzchen legte und ärgerlich nach jeder Fliege schnappte, die mich neckisch umschwärmte.
Mein Hunger war groß. Zu fressen kriegte ich nichts. Ich scharrte eine Maus aus dem Loch und verzehrte sie mit vielem Behagen; ich fing Käfer, ja sogar einen Gartenfrosch, und verzehrte sie mit dem äußersten Widerwillen.
Meine Gebieterin lebte sehr mäßig. Am Hause hingen ein paar Nistkästchen, aus denen sie täglich drei Sperlingseier nahm, die sie gar zierlich ausschlürfte, das war alles, und dabei blieb sie gesund und lustig und boshaft dazu.
Eines Abends, als sie strickend am offenen Fenster saß, wurde etwas hereingeworfen, was klingend zu Boden fiel. Es waren Dukaten.
„Je, der Nazi!“ rief sie freudig und lief und riegelte ihm die Haustür auf.
Mein ehemaliger Reisegefährte, bekleidet mit einem neuen Jagdanzuge, trat stolz herein und wurde begrüßt mit stürmischer Zärtlichkeit ihrerseits, aber meinerseits mit gehässigem Knurren.
An seiner Jagdtasche hing eine Reihe toter Rotkehlchen. Sie wurden gerupft und gebraten für ihn; und anmutig sah es aus, wie auch das Hexlein ein ganz klein wenig dran knusperte mit den weißen blitzenden Zähnen. Ich kriegte die Gerippe. Der Nazi legte mir jedes zuerst auf die Nase und ließ mich aufwarten, eh ich es nehmen durfte. Am liebsten wär ich ihm an die Kehle gesprungen; da aber meine Gestrenge bedrohlich den Finger erhob, ließ ich mir’s gefallen, indem ich nur durch ein dumpfes Grollen und grimmiges Augenrollen meinem Unwillen Luft machte.
Diese Herrlichkeit zwischen den beiden mochte wohl so acht Tage gedauert haben, als ein unerwarteter Besuch kam; der alte Schlumann nämlich. In aller Stille hatte er draußen seinen Esel angebunden und trat nun unbefangen in die Küche, wie ein wohlbekannter Hausfreund, mit der Begrüßungsfrage:
„Wie schaut’s, Lucinde?“
„Ah, der Onkel!“ rief sie. „Ah, der Goldonkel! Wie herrlich, daß du kommst. Du bist doch der Beste von allen!“
Er mußte Platz nehmen im Lehnsessel. Sie warf sich ihm auf den Schoß, sie knöpfte ihm den Rock auf, sie schnallte ihm die Geldkatze ab und lief hin und entleerte sie klirrend in ihre Truhe. Er schmunzelte dazu.
Indes hatte der Nazi ein Gesicht gekriegt, blaßgelb, wie Ziegenkäs. Plötzlich sprang er auf und schrie, die Sach wär ihm zu dumm, und er wollt’s nicht leiden, und raus müßt der Kerl, und wenn’s der Teufel wär. Und damit zog er den Hirschfänger und fuchtelte grausam in der Luft herum. Der alte Schlumann rührte sich nicht; aber die Hex, flink wie der Blitz hatte sie zwischen den Knöcheln ihres Mittel- und Zeigefingers dem Nazi seine Nasenspitze eingeklemmt und drehte eine schmerzensreiche Spirale daraus.
Der Hirschfänger entfiel seiner Hand. Plärrend, wie ein Kalb, ließ er sich willenlos wegführen. Ich riß ihm noch ein tüchtiges Stück aus seiner neuen Hose; dann wurde die Tür hinter ihm zugeriegelt. Draußen tobte er fürchterlich und drohte, das sollte sich schon zeigen, ob eigentlich das Hexen noch erlaubt sei in einem christlichen Reiche deutscher Nation.
Auf einmal schwieg er still. Der Goldonkel und die Nichte legten sich ins Fenster; ich stellte mich auf die Hinterbeine und sah gleichfalls hinaus.
Was den Nazi so plötzlich zum Schweigen veranlaßt hatte, war der Esel, dem er jetzt näher trat, um ihn zweckentsprechend zu behandeln. Er strich ihm dreimal über den Rücken und wiederholte dreimal die Worte:
„Tata, tata! Mach Pumperlala!“
„Nur gut!“ schmunzelte Schlumann, „daß ich heut den echten zu Hause ließ.“
Der Esel, durch das Streicheln angeregt, hob wirklich den Schwanz auf. Der Nazi hielt den Hut unter; aber es erfolgte nichts Wunderbares, sondern nur das, was in solchen Fällen bei gewöhnlichen Eseln allgemein üblich ist.
„Armer Nazi!“ rief lachend die Hex. „Es ist ja der Rechte nicht! Hehe!“
Wütend schlenkerte der Nazi seinen Hut aus und verschwand im Gebüsch.
Übrigens war dieser Schlumann auch mir recht zu wider; die fortgesetzten Liebkosungen zwischen Onkel und Nichte machten mich eifersüchtig, wie Hunde sind; als daher dieser Verhaßte, bedeckt mit den zärtlichsten Abschiedsküssen, eines schönen Morgens wieder wegritt auf seinem Esel, vollführt ich vor lauter Vergnügen, trotz meiner Magerkeit, ringsum im Hof einen lustigen Dauerlauf.
Ich war allmählich in meinen Manieren ganz Hund geworden. Ich gähnte ganz ungeniert in Gegenwart meiner Herrin, ich kratzte mich, ich wälzte mich schamlos auf dem Rücken, ich drehte mich stets dreimal herum, ehe ich mich niederlegte zum Schlummern, ich bellte, um mich wichtig zu machen, wenn auch nichts los war, und wo ich einen alten Strumpf oder Schuh fand, nagt ich dran herum.
Meine Behandlung, obgleich ich mich der äußersten Demut befliß und meine schöne Tyrannin beständig im Auge hatte, wurde nicht besser. Ich mußte mich damit begnügen, von weitem zu wedeln und hündisch zu lächeln, was ich jedesmal tat, wenn sie zufällig mal hersah. In die Nähe wagt ich mich nicht, denn meine Rippen mußten in beständiger Furcht sein vor den spitzen Absätzen der zierlichen Pantoffeln. Endlich, zur Verzweiflung getrieben vor Hunger und Kummer, brannt ich durch.
Ich lief bis zum nächsten Städtchen, wo mich eine alte Jungfer vermittels Zucker und zärtlichen Zungenschnalzens zu sich hereinlockte. Hier lebt ich in Überfluß. Sie wusch und kämmte mich, sie knüpfte mir ein rosa Bändchen um, sie häkelte mir einen himmelblauen Paletot, sie nannte mich unter tausend Küssen ihren süßen, einzigen Herzensfreund. Den ganzen Tag lag ich auf dem Kanapee, und des Nachts durft ich sogar als Wärmflasche zu ihren jungfräulichen Füßen liegen. Bald war ich so faul und wurde so fett, daß die Verdauung stockte.
Statt froh und dankbar zu sein, zeigt ich mich grämlich und unzufrieden, und kurz und gut, als meine Wohltäterin, deren Zärtlichkeit mir auch nicht recht passen wollte, mal wieder, wie gewöhnlich, zur Frühmesse ging, schlich ich mich fort, immer dicht an den Häusern hin, und drückte mich schließlich in die erste Tür, die ich offen fand. Ich war in die Apotheke geraten.
„Ha!“ rief der Provisor. „Delikat! Das gibt Hundsfett, um die Bauern damit anzuschmieren. Sehr ergiebig für den Handverkauf.“
Er bot mir eine Pille an. Sie roch verdächtig; mein Instinkt warnte mich, sie anzunehmen. Ich fletschte die Zähne, knurrte, machte kehrt und rannte und rannte bis draußen vors Tor; denn mein Fett, so lästig mir’s war, wollte ich doch auf diese Art nicht gern los werden. Nicht weit vor der Stadt fing mich ein Milchmann ein, der grad einen Zughund brauchte. Dies war die richtige Kur für mich; schon nach wenigen Tagen fühlt ich mich leichter. Nur etwas war peinlich dabei. Die fremden Hunde, wenn ich den Karren zog, nachdem sie mich prüfend berochen hatten, bellten mich an und bissen mich fürchterlich; ich biß sie wieder; wodurch denn der Verlauf des Geschäfts allerlei bedenkliche Störungen erlitt. Geistig angeregt durch diese Verdrießlichkeiten, machte mein Herr eine praktische Erfindung. Er brachte unterhalb des Fuhrwerks einen nur nach unten offenen Kasten an, worin ich angespannt wurde und ziehen mußte; er selbst brauchte nur die Deichsel zu regieren.
So war ich allerdings einerseits wohl geschützt gegen alle Versuchungen und Anfechtungen der Außenwelt, indes anderseits, je mehr ich Muße hatte, mich inwendig zu besehn, um so deutlicher trat nun wieder das Bildnis der zuerst verlassenen Herrin, so bös sie auch war, vor die untertänigst ergebene Sklavenseele.
Ich wurde abends im Hof angebunden vor der Hundshütte. Ich käute den Strick entzwei und eilte so rasch wie möglich dem Walde zu, um wieder in der Nähe derjenigen zu sein, die mich so grausam behandelt hatte; ich kratzte an der Tür, und sogleich wurde aufgemacht. Ungewohnt liebenswürdig wurd ich empfangen; ich gabs Pfötchen; sie kraute mir Kopf und Rücken. So selig und zufrieden war ich noch nie.
„Grad kommst recht!“ sagte sie schmeichelnd. „Gleich geht der Vollmond auf. Da wird’s gemütlich!“
Hierauf machte sie ein lustiges Feuer an und schürte es mit der Zange, die sie, wie ich arglos bemerkte, drin liegen ließ; und dann holte sie aus dem Schrank ein gebratenes Vögelchen, das nach meinem damaligen Geschmack grad so recht angenehm anrüchig war, hielt es mir unter die Nase, warf es in die neben dem Herde stehende offene Truhe und forderte mich auf, es zu suchen. Freudig wedelnd mit dem Klapperschwanz, an dessen Geräusch ich mich längst gewöhnt hatte, taucht ich mit Kopf und Vorderbeinen in die Tiefe des Kastens, um mir den leckeren Bissen zu Gemüte zu führen.
Einer der peinlichsten Augenblicke meines Lebens war gekommen.
Im Nu schnappte die Hexe den Deckel zu. Und jetzt, plötzlich, ungefähr da, wo einst die Frackschöße ihren gemeinsamen Ursprung nahmen, ein Kniff, ein Schmerz, unsäglich brennend, ein Scharren mit allen vieren, ein gräßlicher Klageton, dumpf widerhallend in der Höhlung des Koffers, ein krampfhaftes Zucken – ich mache mich los, ich erhebe mich. Wahrhaftig, ich stand wieder aufrecht da auf meinen menschlichen Hinterfüßen.
Mein erster Griff war nach hinten; der Frack war zur Jacke geworden. Ein brenzlichter Geruch erfüllte die Küche; die Feuerzange lag noch dampfend am Boden, ein Frackzipfel daneben; den andern hielt die Hex in der Hand und schüttelte lachend ihr goldenes Haarband heraus.
„Hol dich der Satan auf der Ofengabel, verwünschte Zauberin!“ rief ich wütend. „Mich siehst halt nimmer!“
Ich griff nach der Türklinke; aber eh ich noch draußen war, hatte das boshafte Geschöpf schon den Blasbalg vom Herde genommen und blies mir damit eiskalt ins Genick. Von diesem „Hexenschuß“ steht mir noch heute der Kopf so schief, daß Leute, die mich nicht kennen, oft schon gemeint haben, ich müßte ein rechter Scheinheiliger und Heuchler sein.
In hohen Sprüngen, obgleich mir bei jeder Erschütterung ein Stich durchs Genick fuhr, verließ ich den Wald, und erst lange nachher ging ich langsamer und sammelte mich und zupfte die Krawatte zurecht, bei welcher Gelegenheit ich eine überraschende Entdeckung machte. Mein Medaillon war wieder da; bei der aufgeregten Strampelei in der Truhe mußte es sich mir um den Hals geschlungen haben. Sofort fiel mir die Heimat ein; das stille Gehöft, der getreue Vater, das hübsche Kathrinchen, der biedere Gottlieb, an die ich solange nicht gedacht, die ich so leichtfertig verlassen hatte. Was hatt ich gefunden heraußen in dieser verlockenden Welt, als Schmerz und Enttäuschung; wie tief, durch meine unsteten Begierden, war ich gesunken! Ein Streuner war ich geworden, ein Faulenzer, ein Gauner beinah, und schließlich ein Pudel, ein kriechender Hund mit dem Pelz voller Flöhe, der verächtliche Sklav einer geldgierigen, ruchlosen Hexe.
Der Himmel hatte sich in Wolken gehüllt, ich stand ratlos da in völliger Düsterheit. Indem, so fächelte mir was, wie mit unsichtbarem Flügelschlage, um Nase und Ohren herum, und auf einmal fing es an aufzuleuchten. Er war’s. Im eigenen Lichtglanz seines grün juwelenhaft funkelnden Hinterteils schwebte er dicht vor mir her, mein alter Schmetterling, dem ich niemals zugetraut hätte, daß er solch eine schöne Laterne besaß. Die Jagdlust regte sich wieder. Ich zog den Hut, ich haschte vergebens. Immer schneller und schneller mußt ich laufen; ich stolperte über kleine Erhöhungen des Bodens; ich kam zu Fall. Das Licht erlosch.
Als ich mich aufgerappelt hatte, brach grad der Mond durch die Wolken, erhellte flüchtig eine Kirche mit spitzem Turm und versteckte sich wieder. Ich saß auf dem einen Ende eines Grabhügels; mir gegenüber auf dem andern Ende saß ein Geist, nebelhaft weiß, gleichsam nur ein faltiges Bettlaken in menschenähnlicher Gestalt.
Er sah ungemein betrübt aus und sprach hohl und schaurig, indem er rings um sich her blickte:
„Kein Monument! Noch immer kein Monument! Fünfhundert Gulden ausgesetzt, und doch kein Monument! Wann, oh wann krieg ich ein Monument?“
„Aha!“ sag ich. „Ihr seid gewiß dem Nazi sein Vetter! Diesen Nazi kenn ich. Die Sach ist erledigt, das Geld verputzt, und auf Euer Denkmal könnt Ihr gefälligst lauern, bis Ihr schwarz werdet.“
Der Geist, als er dies vernahm, legte sich in tiefe Querfalten und stöhnte fürchterlich.
„Ich muß mich wirklich über Euch wundern!“ fuhr ich fort. „Längst tot und doch noch eitel? Schämt Euch, Alter, und legt Euch ruhig aufs Ohr, wie’s guten Geistern geziemt.“
Mit dieser wohlgemeinten Ermahnung hatt ich, wie man zu sagen pflegt, das Kalb ins Auge geschlagen; nie hätt ich geglaubt, daß ein Geist sich so ärgern könnte.
Das Gespenst machte sich lang, schwebte eilig herüber zu mir, saß mir am Buckel, nahm mich beim Kragen, schleifte mich dreimal um die Kirche und hob sich dann in die Luft mit mir, so hoch wie die Spitze des Kirchturms.
Baum! Da schlug es eins. Der Geist ließ mich los. Ich fiel und ich fiel – und ich fiel – –.
Schon nach drei Sekunden befand ich mich in einem Zustande der tiefsten Unwissenheit.
Ein närrischer Zustand, das! Wenn’s kein Wieso? mehr gibt und kein Aha! Wenn Gulden und Kreuzer, wenn Vetter und Base, wenn Onkel und Tante, wenn Butter und Käse gleich Wurst und ganz egal und ein und dasselbe sind; wenn’s einem auf ein paar tausend Jahre mehr oder weniger nicht ankommt; wenn – doch genug darüber! Am gescheitesten wird’s sein, man macht es wie die eigentlich Sachverständigen, denen es grad passiert: Sie sitzen, liegen oder hängen da in verständiger Schweigsamkeit. Was ich zunächst nur sagen möchte, obgleich’s auch überflüssig wäre, ist dies: Ich erwachte wieder; ich besann mich wieder auf mein Vorhandensein als lebendiger Teil dieses sogenannten Weltsystems, dessen Übersicht im ganzen ja schwierig ist.
Nachdem ich eine sitzende Stellung angenommen, mir die Augen gerieben und mich behaglich gedehnt und gereckt hatte, als hätt ich nach einer längeren Fußtour einen gesunden erquickenden Schlaf getan, bemerkt ich erst, daß ich mich in einem geräumigen Garten befand, den eine hohe Mauer umgab.
Dicht vor mir lag ein Feld mit Kohl bebaut, lauter Kappisköpfe von beträchtlicher Dicke. Auf den Blättern saßen zahllose Raupen und fraßen und verpuppten sich mit großer Geschwindigkeit, und schon im nächsten Augenblick brachen die Hüllen auf, und ein buntes Gewimmel von Schmetterlingen erfüllte die Luft.
Aber auch ein Baum stand da von erstaunlicher Höhe, ganz dicht besetzt mit Nestern, aus denen unaufhörlich ein Schwarm von Vögeln herausflattert, so schwarz wie Raben und so flink wie Fliegenschnäpper.
Und, was mich am meisten wunderte, der Kohl wuchs zusehends vor meinen Augen, und im Umsehn wurden allerlei Menschen daraus, und jeder Kappismensch hatte ein Netz in der Hand, und die Schmetterlinge flogen über die Mauer und die Vögel und die Menschen hinterher.
Das Feld links neben mir war noch nicht bestellt. Zwei Männer waren beschäftigt, es umzugraben. Sie machten eine Pause, lehnten sich auf ihre Spaten und sahen sich um; und jetzt bemerkt ich erst, daß es gar keine richtigen Mannsbilder waren, sondern zwei riesige Käfer, der eine in einem schwarzgelbbunten Röcklein, ein Totengräber, der andere blauschwarz, von der Sorte, die wir, wenn wir unter uns sind, schlechtweg mit dem Namen Mistkäfer bezeichnen.
Die Sonne senkte sich schon. Trotzdem sagte der Totengräber zu mir:
„Guten Morgen! Grad hatten wir vor, dich unterzugraben!“
„Oho!“ rief ich.
„Na!“ sagte er. „Sieben Jahre gelegen, ist doch wohl lange genug!“
Ich lächelte, wie einer, der Spaß versteht.
„Wir wollen Dumme säen!“ fuhr er fort. „Gleich einen ganzen Acker, damit sie nicht alle werden.“
„Man braucht halt Dünger!“ meinte der Mistkäfer.
Um auf etwas anderes zu kommen, sagt ich:
„Ihr habt hier mehr schwarze Vögel als bunte Schmetterlinge, wie ich sehe.“
„Ganz richtig!“ erwiderte der Mistkäfer. „Erst drüben, jenseits der Mauer, merkt man es recht. Für jede angenehme Erwartung gibt’s mindestens drei unangenehme Möglichkeiten.“
„Also leg dich und halt uns nicht auf!“ mahnte ungeduldig der Totengräber.
„Nur schad um den schönen Bart!“ meinte der andere.
Ich griff ans Kinn. Es war so. Ich hatte einen ellenlangen Bart gekriegt.
Sollte denn wirklich, dacht ich – –. Aber eh ich noch weiterdachte, flatterte aus dem Kohlfelde mein Schmetterling auf, in verjüngter Herrlichkeit, so munter und farbenschön, wie ich ihn noch niemals gesehen hatte.
„Ein Netz!“ schrie ich. „Ich will hinaus!“
„Wer will, der darf!“ brummten die Käfer.
Der eine gab mir ein Netz, der andere einen Schlag mit der flachen Schaufel hinten vor zur Nachhilfe; und dort hupft ich hin, über die Mauer, mit übernatürlicher Leichtigkeit, in hohen Bogensätzen, gleich wieder emporschnellend, sobald ich nur eben mit der Spitze des Fußes den Boden berührte, wie’s zuweilen in unbehinderten Träumen geschieht, wenn die Sohlen so elastisch sind, als säßen Sprungfedern drunter. Auch würd ich den Schmetterling sicher erwischt haben, denn ich war fast noch schneller als er, hätte ihn mir nicht einer von den schwarzen Vögeln grad weggeschnappt, als ich eben den entscheidenden Hieb tun wollte. Ärgerlich warf ich das Netz fort, hupfte gleichgültig weiter und machte erst, als es lange schon Nacht geworden und ich in der Ferne was Helles sah, wieder höhere Sprünge. Alsbald befand ich mich in einem Park, dicht vor den Fenstern eines hell erleuchteten Schlosses, wo es lustig drin zuging bei den Klängen der herrlichsten Blechmusik.
Es war eine vornehme Gesellschaft. In allen Sälen wurde gespielt. Mein erster Blick fiel auf Lucinde, die lachend am Spieltisch saß. Eine fünf Ellen lange silbergestickte Schleppe ringelte sich neben ihr auf dem Teppich, wie eine glitzernde Schlange. Sie hatte einen Haufen Gold vor sich liegen. Ihr Gegenpart war ein jovialer Herr, schon ziemlich bei Jahren, dessen Hände und Gesicht ganz schwarz aussahen. Seine Nägel waren sehr lang, seine Ohren sehr spitz, seine Nase sehr krumm, und auf der Stirn hatte er zwei niedliche vergoldete Bockshörnchen sitzen. Der alte Schlumann war auch da. Er blitzte von Diamanten, spielte aber nicht mit, sondern ging nur schmunzelnd von Tisch zu Tisch. Er schien der Gastgeber zu sein.
Gern hätt ich noch länger zugesehn, wär nicht ein schwarzer Hund mit feurigen Augen um die Ecke gekommen, der fürchterlich bellte, so daß ich mit einem einzigen Satze hinaus vor das Schloßtor hupfte. Hier hielten bereits die Equipagen, um die Herrschaften abzuholen. Die Lakaien, die herumstanden, machten einen soliden, vertrauenerweckenden Eindruck. Sie waren weiß gepudert, glatt rasiert, dick und fett, und jeder trug in großen goldenen Buchstaben einen trefflichen Wahlspruch auf der Livree, der eine „Gut“, der andre „Schön“, der dritte „Wahr“, der vierte „ora“, der fünfte „labora“, und so ging’s weiter.
„Es freut mich“ – sagt ich –, „solch biedere Leute zu sehn!“
„Mit Recht!“ sprach der dickste von allen, dem „Treu und Redlich“ am Buckel stand. „Wir sind die guten Grundsätze.“
Gerührt wollt ich ihm die Hand drücken, aber sie war weicher als Butter, und als ich ihm auf die Schulter klopfte, sackte der Kerl zusammen, wie ein aufgeblasener Schlauch, wobei ihm die ausströmende Luft geräuschvoll durch sämtliche Knopflöcher pfiff.
„Ha, Windbeutel!“ rief ich. „Seid ihr denn alle so?“
Eh ich dies noch genauer untersuchen konnte, kamen Diener mit Fackeln vom Schlosse her.
„Platz für Seine Durchlaucht, den Fürsten dieser Welt!“ hieß es.
„Mach dich fort, du Lump!“
Eilig hupft ich die Chaussee entlang. Eine Karosse, hellglühend wie feuriges Gold, kam hinter mir hergerasselt. Drinnen, in die schwellenden Polster gelehnt, saß traulich schäkernd der schwarze Herr bei der Hexe Lucinde. Hintenauf stand „Treu und Redlich“, der fette Lakai, und wurde gerüttelt, daß ihm alle vier Backen wabbelten; und, was das Drolligste war, zwischen den Schößen seines Bedientenfracks baumelte neckisch ein Kuhschwanz.
Der Anblick reizte mich. In plötzlichem Übermut, mit raschem Griff, erfaßt ich den Wedel und schwang mich, den rechten Fuß voran, aufs Kutschenbrett. Ebensogut hätt ich auf die Platte des höllischen Bratofens springen können, wenn grad zugekocht wird für Großmutters Geburtstag.
Ein Gelächter von seiten Lucindens, als ob sie gekitzelt würde; ein Schrei meinerseits, als ob ich am Spieße steckte; ein Purzelbaum nach hinten; und unten war ich auf der platten Chaussee, in der unglücklichen Lage eines auf den Rücken gefallenen Maikäfers.
Ächzend kroch ich seitab in den Graben. Der Brandschaden war beträchtlich; doch braucht ich, um ihn näher zu besichtigen, den Stiefel nicht auszuziehn, denn mein rechter Fuß stand frei zutage, in Gestalt einer einzigen Blase. Infolgedessen hegt ich den lebhaften Wunsch, es möchte wer kommen, der mich mitnähme.
Endlich, im Morgennebel, näherte sich langsam rumpelnd ein ländliches Fuhrwerk. Vorn, auf einem Bund Stroh, saß das Bäuerlein und sang bereits in aller Früh gar fröhlich und wohlgemut:
Gretelein hupf in die Höh,
Daß ich deine Strümpfle seh,
Weiß wie der Schnee alle zwee,
Hopsa, huldjeh!und hinter ihm, als einziges Gepäckstück, stand ein langer schlichter Kasten von Tannenholz.
Kaum bemerkte der gemütvolle Fuhrmann meinen leidenden Zustand, so hielt er still und war mir behilflich, seinen Wagen zu besteigen, wo ich denn auch auf dem Kasten einen recht passenden Sitz fand.
Wir waren noch nicht lange gefahren, als sich mein freundlicher Kutscher zu mir umdrehte und sprach:
„Ihr habt Glück! Grad fahr ich zum Doktor Schnorz in die Stadt. Der versteht’s. Da heißt’s ritschratsch! und damit gut. Ich bringe ihm den da, von Amts wegen.“
Bei den letzten Worten klopfte er mit dem Peitschenstiel auf die Kiste, und weil mir nicht recht klar war, was er meinte, hob ich den Deckel auf.
„Der Nazi!“ schrie ich entsetzt.
„Vielleicht heißt er so!“ meinte das Bäuerlein. „Jedenfalls hat ihn eine Natter gebissen, draußen im Wald, und jetzt muß er zum Doktor, und damit gut!“
„Er ist ja tot!“ rief ich.
„Eben drum! Und um so besser für ihn, und damit gut!“ erwiderte der Wagenlenker.
Er nahm sein munteres Lied wieder auf, aber diesmal ohne Worte, bloß vermittels seines mündlichen Flötenspiels, worin er, wie sich zeigte, eine bedeutende Fertigkeit hatte.
Ich, inzwischen, saß etwas unruhig. Ein gewisses eisiges Mißbehagen, in der Richtung von unten her, lief mir den Rücken hinauf bis unter den Hut, so daß ich froh war, kann ich wohl sagen, als wir endlich, so etwa um elf, vor der Behausung des Doktors hielten.
Nicht ohne ängstliche Vorurteile begab ich mich langsam humpelnd in das Empfangszimmer. Doktor Schnorz war schon in Tätigkeit. Er sah übrigens gar nicht so grausam aus, wie ich mir vorher gedacht hatte. Im Gegenteil. Seine frische Farbe, seine schwellenden Lippen, seine dicken schalkhaften Augen, die aufgekrempelten Hemdsärmel, die Arbeitsschürze über dem rundlichen Bäuchlein, das alles machte durchaus den Eindruck eines sauberen Metzgermeisters, den jedermann gern hat.
Grad war er dabei, einen Landmann auszuforschen, in dessen Zügen sich tiefe Besorgnis malte.
„Wie alt ist denn Euere Frau?“
„Na!“ meinte der Bauer. „So fünfzig bis sechzig.“
„Schlagt das alte Weib tot. Mit der ist nichts mehr zu machen. Adieu!“
Als der Bauer, dessen Züge sich völlig erheitert hatten, an mir vorbeiging, hört ich ihn sagen:
„Das ist noch ein Dokter! Wenn er einsieht, es hilft doch nichts, so erspart er einem die Kosten.“
Jetzt kam eine dicke Madam an die Reih.
„Ach, Herr Doktor!“ fing sie zu klagen an. „Ich weiß nicht, ich bin immer so unruhig. Jede Stund in der Nacht hör ich den Wächter blasen, und ich fürcht mich so vor Mäusen und schlechten Menschen; das macht gewiß die Nervosität.“
„Ein neumodisch Wort!“ sprach der Doktor. „Sonst nannte man’s böses Gewissen. Ganz die Symptome. Halten Sie Ihre Zunge im Zaume, meine Gnädige. Seien Sie freundlich gegen Ihre Dienstboten. Viel Wasser! Wenig Likör! Gute Besserung, Madam!“
Diese Dame, als sie hinaussegelte, schien mir von den heilsamen Ratschlägen des Doktor Schnorz durchaus nicht befriedigt zu sein.
Und jetzt kam ich.
„Ah!“ rief Schnorz mit freudigem Erstaunen. „Seh ich recht? Erlaubt mal eben. Es ist bloß zur Probe.“
Während er diese Äußerungen hinwarf, hatte er mir auch schon die große Zehe abgeschnitten und legte sie unter sein Vergrößerungsglas.
„Hab’s gleich gedacht!“ sprach er befriedigt. „Der richtige Höllenbrand. Kurzab! ist das beste.“
„Ist’s lebensgefährlich?“ fragt ich ängstlich.
„Warum das nicht?“ erwiderte der Doktor. „Aber seid nur getrost; wenn’s schiefgeht, wird die Welt zur Not auch ohne Euch fertig werden. Da seht mich an. Heut wenn ich sterb, ist morgen ein anderer da, und ich freu mich schon drauf, daß die Juden kein Geld kriegen.“
Hiermit drückte er mich in einen behaglichen Lehnsessel, schnallte mich fest, ergriff ohne weiteres die Säge und ging eifrig ins Geschirr. Bei jedem Schnitt, den er tat, stieß er ein kurzes ächzendes Ha! aus. Erst ging es gnatsch! gnatsch! dann ging es ratz! ratz! Zuletzt ging es bump!
Da! Mein Fuß war mich losgeworden.
Auch fernerhin verlief die Sach sehr rasch und günstig, so daß der gute Doktor, der mir inzwischen zwei schöne Krücken hatte anfertigen lassen, schon nach vierzehn Tagen sich die Freude machen konnte, mich vor den Spiegel zu führen.
Der, den ich darin erblickte, gefiel mir nicht. Kopf kahl, Nase rot, Hals krumm, Bart struppig; ein halber Frack, ein halbes Bein; summasummarum ein gräßlicher Mensch. Und das war ich.
Aber ehe ich noch Zeit hatte zu weinen, rief der Doktor triumphierend:
„He? Wie? Was sagt Ihr nun? Schmucker Kerl fürwahr! Reiche Frau heiraten. Alles in Ordnung! Gratuliere! Und glückliche Reise!“
Gerührt und dankbar drückt ich dem Doktor, der alles umsonst getan, die fleischige Hand, verließ die Stadt und begab mich auf die Dörfer in der Absicht, mich langsam so weiterzubetteln, bis ich schließlich nach Hause käme.
Letzteres ging schneller, als ich dachte.
Der Spätherbst war gekommen; kalt wehte der Wind; an meinem einst so reizenden Anzuge flatterten die Lappen wie Espenlaub. Als ich daher in Erfahrung brachte, daß in einem Hause jemand das Zeitliche gesegnet hatte, schien mir das eine für meine Bedürfnisse sehr hoffnungsreiche Aussicht zu eröffnen, denn, wie bekannt, lassen gerade die Toten oft ganz brauchbare Kleider zurück, auf die niemand recht Anspruch macht.
Ich hatte mich nicht getäuscht. Der Großvater war gestorben. Die glücklichen Erben, denen der hochbetagte Mann begreiflicherweise schon längst ein wenig im Wege saß und die sich nun in einer sanftheiteren mildtätigen Stimmung befanden, schenkten mir, ohne daß ich lange zu bitten brauchte, sehr gern den drittbesten Anzug, den der Verstorbene bis an sein seliges Ende für gewöhnlich und mit Vorliebe zu tragen pflegte. Um ihn anzulegen, zog ich mich in den Kuhstall zurück. Allerdings, die Hose war bedeutend zu weit und der Flausrock bedeutend zu lang für mich, aber um so besser paßte mir die mollige, wollige, etwas fettige Pelzkappe, die sich tief über die Ohren ziehen ließ, ganz nach Bedarf. Solchermaßen wohlausgerüstet gegen die Unbilden der Witterung, setzte ich humpelnd meine beschwerliche Wanderfahrt fort.
Schon beim nächsten Hause erwischte mich der Bettelvogt und trieb mich mit seinem Spieß vor sich her in das dortige Ortsgefängnis, genannt „Hundeloch“, allwo man, nachdem man mich einem kurzen Verhör unterworfen, den Beschluß faßte, mich umgehend auf den Schub zu bringen.
Mein Schreck war heftig, und doch war’s mein Glück. Es bewährte sich auch an mir das treuherzige Sprichwort:
Was erst verdrießlich schien,
War schließlich gut für ihn.Da man mich mit Recht in keiner Gemeinde für einen ersprießlichen Mitbürger ansah, beeilte sich jede, mich möglichst prompt über die Grenze zur nächstfolgenden zu schaffen, bis ich endlich von der letzten mit unfehlbarer Sicherheit in aller Stille auf dem mir wohlbekannten Gebiete der Stadt Geckelbeck abgesetzt wurde, indem man hier das Weitere ganz meinem freien Ermessen anheimstellte.
Es war ein lustiges Schneegestöber bei nördlichem Winde, als ich abends mühselig auf zwei Krücken und einem Bein das väterliche Gehöft wieder betrat, das ich einst so leicht auf zwei Beinen verlassen hatte.
Ich sah erst mal schüchtern durchs Fenster. Im Sorgenstuhl saß der Gottlieb, der bedeutend behäbiger aussah als sonst, und hatte zwischen seinen Knien einen Knaben von drei, vier Jahren, dem er eine Peitsche zurechtmachte. Neben dem Kachelofen stand eine Wiege. Neben der Wiege saß die Kathrin und nährte einen runden Säugling an ihrer strotzenden Brust. Die Magd deckte den Tisch. Der Vater fehlte.
Mein Atem war bei diesem Anblick etwas ins Stocken geraten. Fast wäre ich wieder umgekehrt; aber das grausame Unwetter veranlaßte mich, einzutreten und um Herberge zu bitten für die Nacht.
Ohne viel Umstände wurde das Gesuch des unbekannten Fremdlings mit dem größten Wohlwollen genehmigt.
„Oder“ – fragte Gottlieb den Knaben – „sollen wir ihn lieber wieder hinausjagen in Wind und Wetter? Was meinst du, Peter?“
„Nein, nein!“ rief der gutherzige Junge. „Armer Mann hier bleiben; viel Wurst essen, daß Bein wieder wächst!“
Die Nacht schlief ich beim Knecht im Pferdestall, und von ihm erfuhr ich die ganze Geschichte.
Nach jahrelangem vergeblichen Warten hatte der Vater, der fest glaubte, mich hätte der Muddebutz hinabgezogen in den Grummelsee, sein Sach dem Gottlieb und der Kathrin verschrieben. Er war stiller und stiller geworden. Eines Morgens fand man ihn tot.
Während dieses Berichtes hatte sich, um es zart auszudrücken, meine Seele umgekrempelt nach innen. Ich wollte arbeiten; ich wollte geduldig ausessen, was ich mir eingebrockt hatte, und nie, mit diesem festen Gelübde schlief ich ein, sollten diese guten Leute, die mich so herzlich aufgenommen, in Erfahrung bringen, wer ich sei.
Früh stand ich auf. Einige schadhafte Kleidungsstücke des kleinen Peter, die auf dem Treppengeländer hingen in Erwartung des Weiteren, gaben meinem Tätigkeitsdrang die nötige Richtung. In der Stube im Tischkasten fand ich Nadel und Zwirn.
Als man sich versammelte, um die Morgensuppe zu essen, war mein Werk schon fix und fertig. Es wurde eingehend besichtigt und fand bei allen denen, die in solchen Dingen ein reiferes Urteil besaßen, den freudigsten Beifall.
Man ersuchte mich dringend, einige Tage noch dazubleiben. Aus Tagen wurden Wochen, aus Wochen sind Jahre geworden. Durch reichhaltige Übung steigerte sich meine Geschicklichkeit nicht bloß in der Wiederherstellung des Alten und Verfallenen, sondern ich schuf auch Neues nach eigener Maßnahme aus dem Vollen und Ganzen heraus. Der Ruf meiner Kunst drang bis nach Geckelbeck, und Frau Knippipp, meine ehemalige Meisterin, die schon seit einiger Zeit Wittib geworden, ließ mir sogar einen ehrsamen Antrag machen, sie zu ehelichen. – Kalt abgeschlagen! –
Auf Gottliebs Befragen hatte ich mich Fritz Fröhlich genannt. Der kleine drollige Peter, mein Liebling, nannte mich „Humpelfritze“; ein passender Name, mit dem ich seitdem allgemein angeredet werde, selbst von Leuten, die nicht die Ehre meiner näheren Bekanntschaft haben.
Und so leb ich denn allhier als ein stilles, geduldiges, nutzbares Haustier. – Schmetterlinge beacht ich nicht mehr. – Oben im alten Giebelstübchen hab ich mir eine gemütliche Werkstatt eingerichtet.
Noch immer reiten die Hexen da vorbei. Neulich, in der Walpurgisnacht, als ich saß und schrieb an dieser Geschichte, spähte Lucinde durchs Fenster herein. Sie lachte wie närrisch; sie war noch grade so hübsch wie ehedem.
Gelassen sah ich sie an, flötete, nahm eine Prise und machte Haptschih!! –
Das Manuskript der obigen Erzählung fand kürzlich ein Sommerfrischler auf dem Taubenschlage neben dem Giebelstübchen jenes nämlichen Gehöftes, wo der Verfasser seine Tage beschloß. Die Nachkommen von Gottlieb und Katharina lebten noch daselbst in gedeihlichen Verhältnissen. Wirklich war die Persönlichkeit des guten Peter erst festgestellt worden, als man nach seinem Ableben das Medaillon bei ihm fand. Sein ungekünstelter harmloser Stil, seine rücksichtslose Mitteilung selbst solcher Erlebnisse, die für ihn äußerst beschämend gewesen, drücken seinem Berichte den Stempel der Wahrheit auf, und nur der Halbgebildete, dem natürlich die neueren Resultate der induktiven Wissenschaft auf dem Gebiete des Wunderbaren nicht bekannt sind, wird Anstoß nehmen an diesem und dem, was man früher unmöglich nannte.
Bilder: WIlhelm Busch, a. a. O., 1895.
Soundtrack: Danyel Gérard: Butterlfly, 1971: Eins der allerersten Lieblingslieder in meinem Leben, dem ich mich bis heute nicht entziehen kann. Meine Mutter nannte es den „Schlager von dem mit dem komischen Deckel, der immer so ausländisch singt“, mein Vater meinte nur halb im Scherz, es gehe darin um jemanden, der sich vom Frisör die Haare waschen lässt, weil dann „Bader fleit“. Mir selbst ist bis heute nicht klar, warum ein Lied mit französischem Originaltext, von dem der Künstler selbst Cover-Versionen in ungefähr sieben Sprachen aufgenommen hat, nicht Papillon heißt, was bei gleicher Silbenzahl reibungsfrei auf dieselbe Melodie gepasst hätte. Aber meine Eltern haben wahrscheinlich auch nicht gemerkt, was sie für einen Mumpitz reden:
Und überall die Bitternis in jedem Kerne
Update zu Die Mondfrau sang im Boote:
Mit Theben meinte Else Lasker-Schüler nicht die „siebentorige“ Stadt in Böotien, die heute Thiva heißt, sondern die „hunderttorige“ in Oberägypten, die es überhaupt nicht mehr gibt; ihr alter ego ist der dortige Prinz — keine Prinzessin — Jussuf. Ihr gleichnamiges Buch ist 2002 neu aufgelegt. Aus der Druckauflage von 250 Stück hat die Lasker 50 Stück wertsteigernd handkoloriert und nummeriert, wobei das Exemplar 6 als „farbig besonders liebevoll gestaltet und gut erhalten“ der Herausgeberin Ricarda Dick für den Berliner Jüdischen Verlag zur Vorlage diente. Ernsthaft erschwinglich war das farbige Faksimile — 124 Euro für 64 Seiten — von Anfang an nicht, dafür schön luxuriös, transkribiert und mit Nachwort.
Wir tun mal wieder, was wir können, indem wir das Exemplar 58 — also schon keins der kolorierten Unikate mehr — aus einer Wiedergabe lange vor der dankenswerten Neuausgabe von 2002 zugänglich machen. Die Transkriptionen sind übliche Fassungen, nicht zeichengenau die Fassung aus dem neuem, faszinierenden Ganzen, den der Text-Bild-Zyklus Theben bilden soll — aber sie helfen die eher geringfügigen Unterschiede entziffern.
Lasker-Schülers Originalzeichnungen und -handschriften sind auf gelblichem Telegrammpapier verfertigt, das man seinerzeit bei der Post gratis mitnehmen konnte. Es rückt meine Fotos also umso näher an die ursprüngliche Anmutung, wenn meine Vorlage von 1966 ihrerseits in Ehren vergilbt ist.
Danke an Hank Nagler für die Bereitstellung!
(Übrigens suche ich immer noch, wie Sie aus den Fotos schließen können, ein Hand-Model. Vorzugsweise weiblich, mindestens 18 — damit sich irgendwelche Zustimmungen von Erziehungsberechigten erübrigen — bis um die 40 Jahre, Raum München, und nicht, was Sie jetzt denken. Können auch mal andere Körperteile sein, aber keine, die Sie nicht freiwillig Ihrer Großmutter zeigen würden. Von mir aus kann Ihr „Freund“ oder Ihre Anstandsdame zuschauen oder am besten meine Frau, die war sogar mal in einem Fotografieseminar. Es winken belustigende kontaktarme Zusammentreffen mit schönen Büchern und meiner möglichst wenig herumstörenden Person sowie haufenweise lobende Erswähnungen. Als Model-Honorar geht vielleicht sogar mal ein Seidel Bier auf mich.)
——— Else Lasker-Schüler:
Theben
Gedichte und Lithographien
Querschnitt-Verlag, Frankfurt am Main/Berlin 1923, als 24. Flechtheim-Druck in einer Auflage von 250 Exemplaren,
cit nach: Friedhelm Kemp, Hrsg.: Else Lasker-Schüler: Sämtliche Gedichte.
Einmalige Sonderausgabe: Band 134 der Reihe Die Bücher der Neunzehn, Februar 1966, Kösel-Verlag München,
Seite 263 bis 288:
Gebet
Ich suche allerlanden eine Stadt,
Die einen Engel vor der Pforte hat.
Ich trage seinen grossen Flügel
Gebrochen schwer am Schulterblatt
Und in der Stirne seinen Stern als Siegel.Und wandle immer in die Nacht …
Ich habe Liebe in die Welt gebracht –
Dass blau zu blühen jedes Herz vermag,
Und hab ein Leben müde mich gewacht,
In Gott gehüllt den dunklen Atemschlag.O Gott, schliess um mich deinen Mantel fest;
Ich weiss, ich bin im Kugelglas der Rest,
Und wenn der letzte Mensch die Welt vergießt,
Du mich nicht wieder aus der Allmacht läßt
Und sich ein neuer Erdball um mich schließt.
Meine Mutter
War sie der große Engel,
Der neben mir ging?Oder liegt meine Mutter begraben
Unter dem Himmel von Rauch –
Nie blüht es blau über ihrem Tode.Wenn meine Augen doch hell schienen
Und ihr Licht brächten.Wäre mein Lächeln nicht versunken im Antlitz,
Ich würde es über ihr Grab hängen.Aber ich weiß einen Stern,
Auf dem immer Tag ist;
Den will ich über ihre Erde tragen.Ich werde jetzt immer ganz allein sein
Wie der große Engel,
Der neben mir ging.
Versöhnung
Es wird ein großer Stern in meinen Schoß fallen …
Wir wollen wachen die Nacht,In den Sprachen beten,
Die wie Harfen eingeschnitten sind.Wir wollen uns versöhnen die Nacht –
So viel Gott strömt über.Kinder sind unsere Herzen,
Die möchten ruhen müdesüß.Und unsere Lippen wollen sich küssen,
Was zagst du?Grenzt nicht mein Herz an deins –
Immer färbt dein Blut meine Wangen rot.Wir wollen uns versöhnen die Nacht,
Wenn wir uns herzen, sterben wir nicht.Es wird ein großer Stern in meinen Schoß fallen.
Mein Volk
Der Fels wird morsch,
Dem ich entspringe
Und meine Gotteslieder singe…
Jäh stürz ich vom Weg
Und riesele ganz in mir
Fernab, allein über Klagegestein
Dem Meer zu.Hab mich so abgeströmt
Von meines Blutes
Mostvergorenheit.
Und immer, immer noch der Widerhall
In mir,
Wenn schauerlich gen Ost
Das morsche Felsgebein,
Mein Volk,
Zu Gott schreit!
Senna Hoy
(Sascha)Seit du begraben liegst auf dem Hügel
Ist die Erde süß.Wo ich hingehe nun auf Zehen,
Wandele ich über reine Wege.O, deines Blutes Rosen
Durchtränken sanft den Tod.Ich habe keine Furcht mehr
Vor dem Sterben.Auf deinem Hügel blühe ich schon
Mit den Blumen der Schlingpflanzen.Deine Lippen haben mich immer gerufen,
Nun weiß mein Name nicht mehr zurück.Jede Schaufel Erde, die dich barg,
Verschüttete auch mich.Darum ist immer Nacht an mir
Und Sterne schon in der Dämmerung.Und ich bin unbegreiflich unseren Freunden
Und ganz fremd geworden.Aber du stehst am Tor der stillsten Stadt
Und wartest auf mich, du Großengel.
Marie von Nazareth
Träume, säume, Marienmädchen –
Überall löscht der Rosenwind
Die schwarzen Sterne aus.
Wiege im Arme dein Seelchen.Alle Kinder kommen auf Lämmern
Zottehotte geritten
Gottlingchen sehenUnd die vielen Schimmerblumen
An den Hecken
Und den großen Himmel da
Im kurzen Blaukleide!
Ein alter Tibetteppich
Deine Seele, die die meine liebet,
Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet.Strahl in Strahl, verliebte Farben,
Sterne, die sich himmellang umwarben.Unsere Füße ruhen auf der Kostbarkeit,
Maschentausendabertausendweit.Süßer Lamasohn auf Moschuspflanzenthron,
Wie lange küßt dein Mund den meinen wohl
Und Wang die Wange buntgeknüpfte Zeiten schon?
Ein Lied
Hinter meinen Augen stehen Wasser,
Die muß ich alle weinen.Immer möcht ich auffliegen,
Mit den Zugvögeln fort;Buntatmen mit den Winden
In der großen Luft.O ich bin so traurig – – – –
Das Gesicht im Mond weiß es.Drum ist viel sammtne Andacht
Und nahender Frühmorgen um mich.Als an deinem steinernen Herzen
Meine Flügel brachen,Fielen die Amseln wie Trauerrosen
Hoch vom blauen Gebüsch.Alles verhaltene Gezwitscher
Will wieder jubelnUnd ich möchte auffliegen
Mit den Zugvögeln fort.
Joseph wird verkauft
Die Winde spielten müde mit den Palmen noch
So dunkel war es schon um Mittag in der Wüste,
Und Joseph sah den Engel nicht, der ihn vom Himmel grüßte
Und weinte, da er für des Vaters Liebe büßte
Und suchte nach dem Cocos seines schattigen Herzens doch.Der bunte Brüderschwarm zog wieder nach Gottosten
Und er bereute seine schwere Untat schon
Und auf den Sandweg fiel der schnöde Silberlohn.
Die fremden Männer aber ketteten des Jakobs Sohn
Bis ihm die Häute drohten mit dem Eisen zu verrosten.So oft sprach Jakob inbrünstig zu seinem Herrn,
Sie trugen gleiche Bärte, Schaum von einer Eselin gemolken
Und Joseph glaubte jedesmal sein Vater blicke aus den Wolken
Und eilte über heilige Bergeshöhn, ihm nachzufolgen
Bis er dann ratlos einschlief unter einem Stern.Die Käufer lauschten dem entrückten Knaben,
Des Vaters Andacht atmete aus seinem Haare;
Und sie entfesselten die edelblütige Ware
Und drängten sich zu tragen, Canaans Prophet in einer Bahre,
Wie die bebürdeten Kameele durch den Sand zu traben.Egypten glänzte feierlich in goldenen Mantelfarben
Da dieses Jahr die Ernte auf den Salbtag fiel.
Die kleine Karawane, endlich nahte sie dem Ziel.
Sie trugen Joseph in das Haus des Potiphars am Nil.
An seinem Traume hingen aller Deutung Garben.
Gott hör ….
Um meine Augen zieht die Nacht sich
Wie ein Ring zusammen.
Mein Puls verwandelte das Blut in Flammen
Und doch war alles grau und kalt um mich.O Gott und bei lebendigem Tage,
Träum ich vom Tod.
Im Wasser trink ich ihn und würge ihn im Brot.
Für meine Traurigkeit gibt es kein Maß auf deiner Waage.Gott hör … In deiner blauen Lieblingsfarbe
Sang ich das Lied von deines Himmels Dach –
Und weckte doch in deinem ewigen Hauche nicht den Tag.
Mein Herz schämt sich vor dir fast seiner tauben Narbe.Wo ende ich? – 0 Gott!! Denn in die Sterne,
Auch in den Mond sah ich, in alle deiner Früchte Tal.
Der rote Wein wird schon in seiner Beere schal …
Und überall – die Bitternis – in jedem Kerne.
Ich schrieb die Verse dieses Buches und zeichnete die Bilder dazu auf den Stein bei A. Ruckenbrod in Berlin, der das Buch in 250 Exemplaren für die Querschnitt-Verlags Aktiengesellschaft in Frankfurt am Main druckte. Die Zeichnungen der ersten 50 Bücher colorierte ich mit der Hand. Das Buch erscheint als 24. Flechtheim Druck.
Dieses Buch trägt die Nummer
58Else Lasker-Schüler
Soundtrack: 17 Hippies: Frau von Ungefähr, aus: Ifni, 2004:
And to watch it dwindle gave him Kugelkopfschwindel
Update zu Der Fluch des Albatros und
You’ll learn to sprechen Deutsch mein kind, ash fast ash you tesire:
Damit Hans Wollschläger vor einer Übersetzung zurückschreckt, musste wohl einiges kommen: Der Mann hat eine der wenigen legendär gewordenen Großübersetzungen des 20. Jahrhunderts — dem Ulysses von James Joyce für Suhrkamp 1975 — geliefert, und dann erscheint in derselben Reihe der Gesammelten Gedichte samt Anna Livia Plurabelle 1981 in der Nachbemerkung durch die Joyce-Koryphäen „K. R., F. S.“, was wir sinnvoll als Klaus Reichert und Fritz Senn auflösen dürfen:
Der vorliegende Band bringt fast sämtliche Gedichte von James Joyce, also sowohl die von ihm selbst publizierten wie die zu Lebzeiten nichtpublizierten. Ganz wenige, unerhebliche Stücke sind weggelassen. Bedauerlich ist höchstens das Fehlen eines Gedichts – ‚A Portrait of the Artist as an Ancient Mariner‘ (1932). Dieses fast unverständliche Gedicht hat zum Thema einige Tücken der Ulysses-Publikation wie etwa die Piratendrucke; es hat als formales Gerüst Coleridges ‚Rime of the Ancient Mariner‚. Bis ins kleinste entwirren ließ das Gedicht sich nicht, und die formale Strukturierung wäre für deutsche Leser ohnehin nicht erkennbar. Der Arbeitsaufwand hätte in gar keinem Verhältnis gestanden zu einem irgendwie akzeptablen Resultat.
Den Scan eines Schreibmaschinendurchschlags mit — die Älteren entsinnen sich — Kohlepapier liefert uns heute im Gegensatz zu 1981 die National Library of Ireland, die James Joyce Collection der University at Buffalo merkt zusätzlich an:
Joyce gave this manuscript to Sylvia Beach (see Buffalo MS X.C.244; Joyce to Beach; 30 October 1932; JJSB, p. 185). There is carbon copy of this typescript, without corrections, and two further, different typescript copies in the Zurich James Joyce Foundation as part of the Jahnke Bequest.
There is a note with the manuscript in Sylvia Beach’s hand in blue ink that reads: „referring to the Albatross Press | edition of Ulysses“. The manuscript was folded twice horizontally and once vertically.
Indem wir weit von allen Situationen entfernt sind, in denen wir uns mit Hans Wollschläger messen können, die Suhrkamp-Ausgabe aber zweisprachig ist, tun wir das Unsrige zur Vollständigkeit und machen immerhin Joyces Original zugänglich, das nach den herausgeberischen Drohungen überraschend viel unbefangenen Spaß macht. Korrigiert nach der besagten carbon copy:
——— James Joyce:
A Portrait of the Artist an an Ancient Mariner
Oktober 1932:
1) I met with an ancient scribelleer
As I scoured the pirates‘ sea
His sailes were alullt at nought coma null
Not raise the wind could be.2) The bann of Bull, the sign of Sam
Burned crimson of his brow.
And I rocked at the rig of his bricabrac brig
With K.O. 11 on his prow.3) Shakesfears & Coy danced poor old joy
And some of their steps were corkers
As they shook the last shekels like phantom freckels
His pearls that had poisom porkers.4) The gnome Norbert read rich bills of fare
The ghosts of his deep debauches
But there was no bibber to slip that scribber
The price of a box of matches5) For all cried, Schuft ! He has lost the Luft
That made his U boat go
And what a weird leer wore that scribeleer
As his wan eye winked with woe.6) He dreamed of the goldest sands uprolled
By the silviest Beach of Beaches
And to watch it dwindle gave him Kugelkopfschwindel
Till his eyeboules bust their stitches.7) His hold shipped seas with a drunkard’s ease
And its deadweight grew and grew
While the witless wag still waved his flag
Jemmyrend’s white and partir’s blue.8) His tongue stuck out with a dragon’s drouth
For a sluice of schweppes and brandy
And but for the glows on his roseate nose
You’d have staked your goat he was Gandhi.9) For the Yanks and Japs had made off with his traps
So that stripped to the stern he clung
While increase of a cross, an Albatross
Abaft his nape was hung.
Die Nachbemerkung von Reichert und Senn fährt an der angegebenen Stelle fort:
Das gleiche gilt leider auch für das Pamphlet ‚From a Banned Writer to a Banned Singer‘: die zahllosen notwendigen Annotationen zu einer völlig ephemeren Geschichte und deren Verarbeitung in den Text hätten kaum die Doppelanstrengung des Übersetzens und des Lesens gerechtfertigt.
Wir müssen also später nochmal dran.
Bilder: James Joyces Typed carbon copy, via James Joyce Gazette, 19. April 2020;
Ottocaro Weiss: James Joyce in Zürich, 1915,
via Frank Delaney: Seeing Joyce, Public Domain Review, 12. Juni 2012.
Soundtrack: Fran O’Rourke & John Feeley: The Long Farewell,
auf Joyces frisch restaurierter Gitarre, Joyce’s Tower in Sandycove, Dublin, Juni 2013:
Bonus Tracks: BBC Radio 4: James Joyce’s Playlist, Juni 2012:
Flintenwerfen
Update zu O selige Epoche:
Da kann sich einer Christian Morgenstern aufgrund physischen Geburtstags und psychischen Alberfaktors persönlich so verbunden fühlen, wie er will, da können die lizenzfrei orientierten „Klassiker“-Verlage auf ihre Morgensterne Alle Galgenlieder draufschreiben, bis den Druckereien in Shenzhen die Schwärze ausgeht — die echten Geschichten über Morgenstern-Gedichte findet man nur in der halbwegs wissenschaftlichen Ausgabe. Wie bei allen Schreibern; bei Morgenstern ist das die Stuttgarter Ausgabe bei Urachhaus, und was bei den Kaufhof-Ausgaben — übrigens nichts gegen die gleichnamige, dokumentarisch bedeutsame Sammlung von Diogenes 1981 — Alle Galgenlieder heißt, ist darin der Band 3: Humoristische Lyrik von 1990.
In den Kommentar hat der Herausgeber Maurice Cureau die frühe Version eines gängigen Gedichts über Morgensterns kauziges Alter Ego Palmström versteckt: Die weggeworfene Flinte hieß in einer früheren Bearbeitung Palmström der Patriot. Wiederzuerkennen nur noch am Thema, gewiss nicht mehr an der Form, sind die Unterschiede zwischen den Fassungen groß genug, um sie mit Gewinn gegenüberzustellen. Angeblich wegen mangelnder Begeisterung beim Lesen der fertigen Korrekturbogen überarbeitete Morgenstern das Gedicht „poetischer, romantischer“ von Grund auf.
Es kann an mir liegen, aber in der allseits autorisierten Druckfassung vermisse ich die Reime. Und schon besitzen wir ein vertieftes, wenn nicht gar ein ganz neues Palmström-Gedicht.
——— Christian Morgenstern:
Palmström der Patriotfrühe Version, brieflich an Verleger Bruno Cassirer am 19. Februar 1910:
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Die weggeworfene FlinteDruckversion 22. Februar 1910, „Meiner lieben Margareta“:
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Bilder: Lera Vradiy: Field Stories, 21. Juli 2017;
Martin Bartholmy: Wo die Flinte im Korn liegt / Cropped Crop, 15. Juli 2018.
Soundtrack: Emily Barker & The Red Clay Halo with Frank Turner: Fields of June, 2012:
You’ll learn to sprechen Deutsch mein kind, ash fast ash you tesire
Update zu Die deutsche Sirene vom Zwirbel im Rhein in die Bronx,
Wein-Lese und
Was zusammengehört:
Charles Godfrey Leland wird von Wikipedia als Abenteurer, Künstler, Dichter, Kritiker, Folklorist, Mythenforscher, Philologe, Archäologe, Journalist, Humorist, Kolumnist, Soldat, Herausgeber, Reformer und Erzieher geführt, alles davon mit guter Begründung. Halten wir als seine wichtigsten Leistungen fest: Gründung der Zeitschrift The Continental Monthly und Weiterführung des Graham’s Magazine als Graham’s Illustrated Magazine samt dessen Terminierung; Entdeckung und Erstbeschreibung einer ausgestorbenen und einer rezenten keltischen Sprache namens Ogham und Shelta unter wissenschaftlicher Anerkennung der durchweg seriösen Forschung, nicht aber der Sprachen selbst; vollständige Übersetzung der Werke Heinrich Heines ins Englische; Veröffentlichung von über fünfzig Büchern, die meisten davon über europäische Zigeuner-Folklore, Wicca-Religion und Neopaganismus, darunter am bekanntesten Aradia, or the Gospel of the Witches, deutsch: Aradia oder das Evangelium der Hexen, 1899.
Über dieser Fülle von Kuriosa, auf einem einzigen, im Laufe der Zeit apokryph gewordenen Manne vereinigt, vergisst sich leicht der Zyklus seiner Hans Breitmann’s Ballads ab 1856, die seinen Ruhm zu Lebzeiten begründeten, aber inzwischen von seinen immer noch gültigen Leistungen auf dem Studiengebiet des vor allem italienischen Hexenzaubers überdeckt werden. Im Gegensatz zu Mark Twains bis heute verbreiteten und recht präsenten, allerdings punktuell entstandenen Essay The Awful German Language, deutsch: Die schreckliche deutsche Sprache 1880 wendet Leland in dem mehrere Jahrzehnte lang angewachsenen Zyklus eine eigens erfundene Mischung aus Englisch und Deutsch an, die eben kein Pennsylvaniadeutsch ist, sondern ein durchaus tragfähiges Makkaronisch.
Als anschaulichstes Beispiel für Lelands so durchschaubare Kunstsprache, dass sie für deutsche Leser nicht übersetzt werden muss, diene uns die Breitmann Ballad namens To a Friend Studying German von 1869, nachmals gewidmet an seinen Freund Johann Nicolaus, Nikolaus oder Nicholas Trübner — einen Buchhändler, Verleger, Linguisten und geborenen Heidelberger, daher deutschen Muttersprachler, der auf einem sich weltweit, vor allem nach Nordamerika ausbreitenden Buchmarkt zurechtkommen musste — als sozial interagierendes Individuum nicht zuletzt durch Fremdsprachenerwerb.
——— Charles Godfrey Leland:
To a Friend Studying German
1869 bis 1889, in: The Breitmann Ballads, by Charles G. Leland.
1889, to the memory of the late Nicholas Trübner.
This Work is Dedicated by Charles G. Leland, London, 1871.
A New Editon, Kegan Paul, Trench, Trübner & Co., London 1895:
Si liceret te amare
Ad Suevorum magnum mare
Sponsam te perducerem—Tristicia Amorosa.
Frau Aventiure,
von J. V. Scheffel.
VILL’ST dou learn die Deutsche Sprache?
Denn set it on your card,
Dat all the nouns have shenders,
Und de shenders all are hard.
Dere ish also dings called pronoms,
Vitch id’s shoost ash vell to know;
Boot ach! de verbs or time-words—
Dey’ll work you bitter woe.Will’st dou learn de Deutsche Sprche?
Den you allatag moost go
To sinfonies, sonatas,
Or an oratorio.
Vhen you dinks you knows ‚pout musik,
More ash any other man,
Be sure de soul of Deutschland
Into your soul ish ran.Will’st dou learn de Deutsche Sprache?
Dou moost eat apout a peck
A week of stinging sauerkraut,
Und sefen pfoundts of speck.
Mit Gott knows vot in vinegar,
Und deuce knows vot in rum:
Dis ish de only cerdain vay
To make de accents coom.Will’st dou learn de Deutsche Sprache?
Brepare dein soul to shtand
Soosh sendences ash ne’er vas heardt
In any oder land.
Till dou canst make parentheses
Intwisted-ohne zahl—
Dann wirst du erst Deutschfertig seyn,
For a languashe ideál.
Will’st dou learn de Deutsche Sprache?
Du must mitout an fear
Trink afery tay an gallon dry,
Of foamin Sherman bier.
Und de more you trinks, pe certain,
More Deutsch you’ll surely pe;
For Gambrinus ish de Emperor
Of de whole of Germany.Will’st dou learn de Deutsche Sprache?
Be sholly, brav, und treu,
For dat veller ish kein Deutscher
Who ish not a sholly poy.
Find out vot means Gemütlichkeit,
Und do it mitout fail,
In Sang und Klang dein Lebenlang,
A brick-ganz kreuzfidél.Willst dou learn de Deutsche Sprache?
If a shendleman dou art,
Denn shtrike right indo Deutschland,
Und get a schveetes heart.
From Schwabenland or Sachsen
Vhere now dis writer pees;
Und de bretty girls all wachsen
Shoost like aepples on de drees.Boot if dou bee’st a laty,
Denn on de oder hand,
Take a blonde moustachioed lofer
In de vine green Sherman land.
Und if you shoost kit married
(Vood mit vood soon makes a vire),
You’ll learn to sprechen Deutsch mein kind,
Ash fast ash you tesire.Dresden, January 1870.
Builders: via The Thinker’s Garden: Odd Truths: The Adventures of Charles Godfrey Leland, 14. Oktober 2016.
Tonspur: Mouth & MacNeal: How Do You Do?, aus: How Do You Do?, 1972,
natürlich zweisprachig. In einer nach der anderen:
Du Uhu du
Update zu Wölfchen Wulffs Weihnachten,
Des Maies Wonneschlingen,
Schön siebenzeilig Lurley,
Wie der Schnee so weiß, aber kalt wie Eis ist das Liebchen, das du dir erwählt
und Am selben Tag, da ich erfuhr, man habe mich entmündigt:
Dass ich mich nicht ernst genommen fühle, ist Default-Einstellung und wird seine Gründe haben. Deshalb muss ich in den verschiedensten Bewusstseinszuständen — damit mir geglaubt wird — wiederholen:
Ich sammle Gedichte mit siebenzeiligen Strophen. Wenn jemandem eins auffällt, mag er es mir um Himmels willen nicht verschweigen.
Die schiere Anzahl der Verse legt noch keine definierte Strophenform fest, und genau das ist das Schöne: Siebenzeilige Formen bleiben immer auf die eine oder Weise schwebend offen, ähnlich wie Melodien, die bezeichnenderweise mit einem Septakkord enden. Es ist nichts ausgesagt über das Reimschema: Da ist von AAAAAAA über erweiterte Limericks bis zum Klangreim alles drin.
Einige der besten und süffigsten Gedichte aller Epochen sind siebenzeilig: Erinnern wir uns an die Gemeinsamkeiten so unterschiedlicher Gedichte wie des überraschend raffinierten Frühlingsliedes Swie diu zît sich wil verkêren Sêren des Minnesängers Walther von Klingen, des übermütig makabren Gothic-Spaßes der Braut von Korinth von Goethe, der Bürgschaft von Schiller, der 1838er Version der Loreley von Friedrich Förster oder des ergreifenden Meisterstücks vom Mädchen mit dem Muttermal von Ringelnatz: Sie bestehen aus Strophen von je sieben Versen.
Den Liliencron kenne ich aus meinem Schullesebuch der 6. Klasse. Das Reimschema ist AAABAAB — in seiner strophenweisen Gleichförmigkeit schon fast meditativ und damit gerade passend für eine Schnurre über energische, lebenshungrige alte Männer.
——— Detlev von Liliencron.
Ballade in U-Dur
aus: Bunte Beute, Schuster & Loeffler, Berlin und Leipzig 1903:
Es lebte Herr Kunz von Karfunkel
mit seiner verrunzelten Kunkel
auf seinem Schlosse Punkpunkel
in Stille und Sturm.
Seine Lebensgeschichte war dunkel,
es murmelte manch Gemunkel
um seinen Turm.Täglich ließ er sich sehen
beim Auf- und Niedergehen
in den herrlichen Ulmenalleen
seines adlichen Guts.
Zuweilen blieb er stehen
und ließ die Federn wehen
seines Freiherrnhuts.Er war just hundert Jahre,
hatte schneeschlohweiße Haare
und kam mit sich ins klare:
Ich sterbe nicht.
Weg mit der verfluchten Bahre
und ähnlicher Leichenware!
Hol‘ sie die Gicht!Werd‘ ich, neugiertrunken
ins Gartengras hingesunken,
entdeckt von dem alten Halunken,
dann grunzt er plump:
Töw Sumpfhuhn, ick wil di glieks tunken
in den Uhlenpfuhl zu den Unken,
du schrumpliger Lump!Einst lag ich im Verstecke
im Park an der Rosenhecke,
da kam auf der Ulmenstrecke
etwas angemufft.
Ich bebe, ich erschrecke:
Ohne Sense kommt mit Geblecke
der Tod, der Schuft.Und von der andern Seite,
mit dem Krückstock als Geleite,
in knurrigem Geschreite,
kommt auch einer her.
Der sieht nicht in die Weite,
der sieht nicht in die Breite,
geht gedankenschwer.Hallo, du kleine Mücke,
meckert der Tod voll Tücke,
hier ist eine Gräberlücke,
hinunter ins Loch!
Erlaube, daß ich dich pflücke,
sonst hau‘ ich dir auf die Perücke,
oller Knasterknoch.Der alte Herr, mit Grimassen,
tut seinen Krückstock festfassen:
Was hast du hier aufzupassen,
du Uhu du!
Weg da aus meinen Gassen,
sonst will ich dich abschrammen lassen
zur Uriansruh‘!Sein Krückstock saust behende
auf die dürren, gierigen Hände,
die Knöchel- und Knochenverbände:
Knicksknucksknacks.
Freund Hein schreit: Au, mach ein Ende!
Au, au, ich lauf ins Gelände
nach Haus schnurstracks.Noch heut lebt Herr Kunz von Karfunkel
mit seiner verrunzelten Kunkel
auf seinem Schlosse Punkpunkel
in Stille und Sturm.
Seine Lebensgeschichte ist dunkel,
es murmelt und raunt manch Gemunkel
um seinen Turm.
Mit seiner verrunzelten Kunkel: The Consecrated Eminence. The Archives & Special Collections at Amherst College: Bloom Ephemera: Backcover Artwork in Real Free Press Illustratie Nr. 1, Antwerpen, undatiert,
2. Mai 2014, via Chris Goes Rock’s Music Site: Dancing Hippies, 30. Mai 2013.
Soundtrack: Gogolala Jubilee Jugband: Ich bin mein Opa,
aus: The Muppet Show, Staffel 1, Folge 113, 6. Dezember 1976:
Bonus Tracks: Jerome Potma: The Muppet Show Song Compilation, Staffeln 1 bis 5:
O selige Epoche
Christian Morgenstern hab ich von Anfang an gemocht. Diese, obwohl sie’s andauernd mit Galgen, Sterben und Verwesen hat, um rein gar nichts bekümmerte Mischung aus Dada, Surrealismus, Im- und Expressionismus ging schon klar — das muss wohl so kommen, wenn einer Morgenstern heißt. Umso mehr, als ich gemerkt hab, dass der Mann am gleichen Tag wie ich Geburtstag hat. Seine Bücher werden meistens viel zu leichtfertig verlegt: Er wird gerade mal als Lieferant einiger „komischer“ Klassiker ernst genug genommen, die im kollektiven Bewusstsein spuken; die Stuttgarter Ausgabe erscheint bei Urachhaus seit 1987 und wurde nicht einmal zum 100. Todestag fertig, nur eine Jubiläumsausgabe der Lyrik. Wird schon noch.
„Es lenzet auch auf unserm Spahn, o selige Epoche“ fällt mir unweigerlich ein, wenn schönes Wetter ist.
——— Christian Morgenstern:
Galgenbruders Frühlingslied
in: Galgenlieder, Verlag Bruno Cassirer, Berlin 1905:
Es lenzet auch auf unserm Spahn,
o selige Epoche!
Ein Hälmlein will zum Lichte nahn
aus einem Astwurmloche.Es schaukelt bald im Winde hin
und schaukelt bald drin her.
Mir ist beinah, ich wäre wer,
der ich doch nicht mehr bin …2. Vers, bessere Version: [1921]
Es strecket sich schon kecklings auf,
das wilde Galgengräslein.
Vergebens spähn nach ihm hinauf
hungrige Osterhäslein.
Für mein Verständnis leider zu tranig bekümmerte Vertonung:
Hanns Eisler, 1917, Mezzosopran Roswitha Trexler;
Umschlagbild von Karl Walser zur 3. veränderten und durch den Gingganz und anderes ums doppelte vermehrten Auflage, 1908 via DCMA.