Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Archive for the ‘Grünzeug & Wunderblätter’ Category

Blumenstück 008: Zartes, weißes Knospenblümlein, hebe dein Herz

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Update zu Wer hätte da sich um Blumen bekümmert?,
Blumenstück 007: Das Blümchen, das dem Tal entblüht (wenn Krampf dir durch die Nerven glüht)
und Fruchtstück 0004: Der heil’ge Rhythmus in Verselein und Rimelein:

Der Lyrik des Postironismus hinterherspürend kann einem aufmerksamen Leser auffallen, wie rückständig sich eigentlich die Lyriker des Novecento gebärdeten: kein Reim und kein Rhythmus nicht aus Not, sondern als Ideal, der Inhalt nach beliebigen Kriterien in Verse aufgeteilt, und wenn gerade kein Inhalt zur Hand war, umso besser.

Sotane Ansicht klingt heute noch viel rückständiger, als Jörn Pfennig jemals war, aber von der umgekehrten Begeisterung, wie modern uns die alten Recken der wichtigen Jahrhunderte heute noch zu sagen haben, kommt auch nicht mehr Erkenntniswert ums Eck.

Veranschaulichen wir’s am vorgefallenen Beispiel: Auf die Überlegung konnte ich über dem Versuch verfallen, mir Rolf Dieter Brinkmann anzueignen – vorerst antiquarisch, nicht geistig –, und bin dann bei den Polymetern von Jean Paul hängen geblieben.

Was nämlich tut der Aufklärer, Klassiker und Romantiker in einem Jean Paul? Jean Paul geht her und erfindet und kultiviert die halblyrische Form des Streckverses oder Polymeters: rhythmische Prosa, die auf keine Zeilenaufteilung angewiesen ist und sich, wie anarchisch verwildert auch immer, in den sehr viel größeren Rahmen der Romane einfügt. Dem Manne sieht man sogar ein „unbeschreiblich-lieblich lächelnd“ als parodistische Absicht nach. Am Ende hat da die erst später mit Ansage einsetzende Lyrik sogar schon angefangen. Deutschlehrer, übernehmen Sie. Dafür ein paar Schuljahre lang ein, zwei Stunden weniger Erich Fried, ja?

An Bildmaterial waren nur Blümchen mit immerhin weißen Blütenblättern und gelber Mitte aufzutreiben, die thematisch vorgegebenen Convallaria majalis waren zu speziell, flechten sich aber zusammen mit dem Soundtrack der ersten Fun-Punk-Band Deutschlands, den Nürnberger Carsons, doch wieder zum berückendsten Jungfernkranz – … denn ›Wallflower‹ heißt »Goldlack« und Lily of the valley heißt Maiglöckchen.

Try Intimacy, De profil. Mon fils m'a cueilli cette fleur hier, 13. Mai 2014

——— Jean Paul:

Nr. 59. Notenschnecke

angeblich aus dem Poeten-Winkel eines Haslauer Blattes
in: Flegeljahre, Viertes Bändchen, 1805, Cotta, Tübingen 1804 f.:

Sie bat auch um das Setzen des Gesangs; Walt schwur wieder. „Aber sogar um die Verse dazu muß ich Ihren werten Freund angehen“, setzte sie unbeschreiblich-lieblich lächelnd hinzu, „da ich ihn aus unserer Zeitung als einen weichen Dichter des Herzens kenne.“

Ganz froh erstaunt fragte Walt, was Vult darin gemacht. Sie sagt‘ ihm – mit der den Literatoren noch gewöhnlichern Verwechslung gleicher Namen – folgenden Polymeter von ihm selber her:

Das Maiblümchen

Weißes Glöckchen mit dem gelben Klöppel, warum senkst du dich? Ist es Scham, weil du, bleich wie Schnee, früher die Erde durchbrichst als die großen stolzen Farbenflammen der Tulpen und der Rosen? – Oder senkst du dein weißes Herz vor dem gewaltigen Himmel, der die neue Erde auf der alten erschafft, oder vor dem stürmenden Mai? Oder willt du gern deinen Tautropfen wie ein Freuden-Träne vergießen für die junge schöne Erde? – Zartes, weißes Knospenblümlein, hebe dein Herz! Ich will es füllen mit Blicken der Liebe, mit Tränen der Wonne. O Schönste, du erste Liebe des Frühlings, hebe dein Herz!

Walten waren unter dem Zuhören vor Freude und Liebe und vor Dichtkunst die Augen Übergegangen – und Wina hatte mit geweint, ohne es zu merken –; darauf sagt‘ er: „Ich habe wohl den Vers gemacht.“

Try Intimacy, Un peu de dos. Mon fils m'a cueilli cette fleur hier, 13. Mai 2014

Erste Liebe des Frühlings, hebe dein Herz: Try Intimacy: Mon fils m’a cueilli cette fleur hier:
De profil und Un peu de dos, beide 13. Mai 2014, in Flickr erloschen.

Sie bat auch um das Setzen des Gesangs: Carson Sage and the Black Riders:
Red is the Rose, irische Variante eines Scottish Tradtional, arrangiert von M. Nawroth,
aus: Skirl O’Carson, 1991, wiederverwendet in: Walk With an Erection, 1993:

Written by Wolf

13. Mai 2022 at 00:01

Not quite inexistent/nicht ganz abhanden

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Update zu Wumbaba,
Beiträge zur deutsch-englisch-arabischen Freundschaft,
Break in college sick bay und
The tale of the powerful penis:

Die Berliner Künstlerin Carolin Gutt — man unterstütze sie zahlreich! — bringt aus ihrem und unser aller Lieblingsland Schottland ein Gedicht zu uns und illustriert es gleich passend.

John Burnside war zuerst Hilfsarbeiter bei den Autozulieferern im ungeliebten England, entwickelte folglich eine Schizophrenie, Alkohol- und Drogensucht, studierte in Cambridge Englisch und europäische Sprachen, was ihn zum Software-Entwickler qualifizierte, und wurde 1996 nach seinen ersten fünf Gedichtbänden und ersten drei Literaturpreisen, die ihm seit 1988 in einem etwa zweijährigen Rhythmus zukommen, freischaffender Schriftsteller, kurzzeitig Writer in Residence an der University of Dundee und dauerhaft Professor für creative writing, amerikanische Literatur und Kultur sowie Literatur im Zusammenhang mit Ökologie in St Andrews, nach Oxford und Cambridge der ältesten Uni bei den Anglophonen, weil er seine Süchte nach Substanzen durch eine Schreibsucht zu kurieren verstand.

Carolin hat The Good Neighbour in ihrem Golden Treasury of Scottish Verse 2021 gefunden, eine Würdigung des gleichnamigen Gedichtbandes stand am 9. Juli 2005 als The shape of the wind in The Guardian. In seiner überlegenen Ruhe voller Bedeutungsebenen hat es das Zeug zum Lieblingsgedicht. In Blankversen wird sich ohnehin seit langem zu selten geäußert.

Gegen Iain Galbraiths Übersetzungen für die deutsche Auswahl Anweisungen für eine Himmelsbestattung 2016 wendet Gregor Dotzauer in der Zeit ein:

Von der freirhythmischen Elastizität der Originale gibt Iain Galbraiths Übersetzung leider keinen Eindruck. Es ist, als hätte er sich gar nicht die Mühe gemacht, Burnsides Prägnanz Silbe um Silbe wägend zu erreichen. Man muss eben nicht die Ausgangssprache, sondern die Zielsprache perfekt beherrschen. Das wenig klangvolle Ergebnis kann immerhin als Hilfestellung zum Verständnis dienen.

Es ist nicht raus, ob Galbraith schon 2011 in der Auswahl Versuch über das Licht etwas anderes als eine solche Hilfestellung beabsichtigt hat. Wir werden sie deshalb dankbar nutzen.

——— John Burnside:

The Good Neighbour

from: The Good Neighbour,
Jonathan Cape, 2005:

Somewhere along this street, unknown to me,
behind a maze of apple trees and stars,
he rises in the small hours, finds a book
and settles at a window or a desk
to see the morning in, alone for once,
unnamed, unburdened, happy in himself.

I don’t know who he is; I’ve never met him
walking to the fish-house, or the bank,
and yet I think of him, on nights like these,
waking alone in my own house, my other neighbours
quiet in their beds, like drowsing flies.

He watches what I watch, tastes what I taste:
on winter nights, the snow; in summer, sky.
He listens for the bird lines in the clouds
and, like that ghost companion in the old
explorers‘ tales, that phantom in the sleet,
fifth in a party of four, he’s not quite there,
but not quite inexistent, nonetheless;

and when he lays his book down, checks the hour
and fills a kettle, something hooded stops
as cell by cell, a heartbeat at a time,
my one good neighbour sets himself aside,
and alters into someone I have known:
a passing stranger on the road to grief,
husband and father; rich man; poor man; thief.

Der gute Nachbar

Übs.: Iain Galbraith, aus: Versuch über das Licht, Edition Lyrik Kabinett, Hanser 2011:

Irgendwo in dieser Straße, mir völlig unbekannt,
hinter einem Labyrinth aus Äpfeln und Gestirn,
steht er auf, zu früher Morgenstunde, nimmt ein
Buch: Er lässt sich nieder, am Schreibtisch oder Fenster,
begleitet den Sonnenaufgang, endlich allein –
ohne Namen, ohne Last, glücklich in sich selber.

Ich weiß nicht, wer er ist; ich bin ihm nie begegnet
unterwegs zum Fischmarkt, auf dem Weg zur Bank,
doch denke ich an ihn in Nächten so wie diese, wach
in meinem eignen Haus, die Nachbarn ringsum ruhig
in ihren Betten: schlummernden Fliegen gleich.

Er sieht, was ich sehe, und was ich schmecke, schmeckt er,
in Winternächten: Schnee; im Sommer: den Himmel.
Er lauscht den Vogelzügen in den Wolken
und – wie jener unheimliche Begleiter in Geschichten
alter Forschungsreisender, wie jenes Phantom im Eisregen,
der Fünfte in dem Viererbunde – ist nicht ganz da,
doch auch nicht ganz abhanden.

Und wenn er sein Buch hinlegt, wenn er nach der Uhrzeit
schaut und Wasser kocht, lauert auf einmal nichts,
während Zelle für Zelle, mit jedem Herzensschlag
mein einzig guter Nachbar sich beiseite schiebt
und sich in einen verwandelt, den ich früher kannte:
einen Fremden, der vorüberging, den es zu trauern trieb;
Ehemann und Vater, Reicher, Armer, Dieb.

Carolin Gutt, Shrub, 2020

Bild: Carolin Gutt: Shrub, schottische Westküste, Anfang Januar 2020.

Soundtrack: Michael Marra: Hermless, aus: On Stolen Stationery, 1991,
vom Künstler als alternative schottische Nationalhymne und von Carolin als Vertonung vorgeschlagen:

Written by Wolf

4. Februar 2022 at 00:01

Blumenstück 007: Das Blümchen, das dem Tal entblüht (wenn Krampf dir durch die Nerven glüht)

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Update zu Blumenstück 005: Versprich du es auch:

Welchen Wert legen eigentlich die Verstorbenen auf Geschenke zu ihren Gedenktagen? Naturgemäß fällt ihnen deren Annahme schwer, sosehr manche Leute, an die man sich forterinnert, ein Geschenk verdient hätten: Sie haben genug gelitten. Es geht um Heinrich von Kleist, geboren nach eigener Angabe 10. oder laut Kirchenbuch 18. Oktober 1777 zu Frankfurt an der Oder — und 21. November 1811 erweiterter Selbstmord am Stolper Loch.

Von mir bekommt er zum unrunden Geburtstag nur seine eigene Mehrfachverwertung: 1808 ging das folgende Gedicht von Kleist an seine „liebe treffliche Freundlin“ (cit. Kleist, 18. November 1811) Sophie von Haza, ein Jahr später — wohl als eine Art Dokumentation eines Gelegenheitsgedichts — in sein Kunstjournal Phöbus, 203 Jahre später am 26. d. M. als Gedicht des Monats März 2011 vom Haus der deutschen Sprache an jeden, der es wissen will, heute müsste der Verfasser Kleist selber damit leben, wenn er nicht seit 210 Jahren am Kleinen Wannsee ruhte.

——— Heinrich von Kleist:

An S. v. H.

(als sie die Camille besungen wissen wollte.)

Albumblatt, Dresden 1808,
Druck in: Phöbus. Ein Journal für die Kunst. Erster Jahrgang. Neuntes und Zehntes Stück,
im Verlage der Waltherschen Hofbuchhandlung, Dresden, September und October 1808, Seite 89:

Das Blümchen, das, dem Thal entblüht,
Dir Ruhe giebt und Stille,
Wenn Krampf dir durch die Nerve glüht,
Das nennst du die Camille.

Du, die, wenn Krampf das Herz umstrikt,
O Freundin, aus der Fülle
Der Brust, mir so viel Stärkung schickt,
Du bist mir die Camille.

H. v. K.

Jean-Baptiste Greuze, La simplicité, 1759Die Gelegenheit zu diesem Einzelblatt — ausschließlich posthum als Faksimile im Jahrbuch der Kleist-Gesellschaft 1927/1928 erhalten — berichtet Sophiens Tochter Johanna von Haza am 26. November 1816 brieflich an Ludwig Tieck:

Hat Ihnen meine Mutter, ein Gedicht „an die Kamille“ und das „an den König“ geschickt, das für seinen im Frühjahr 1809 erwarteten Einzug bestimmt war? Beides waren nur Gelegenheitsgedichte, aber wie alles von ihm doch von Bedeutung; er dichtete das erste für meine Mutter, die sich einst über die Dichter beklagte, welche alle Blumen nur die Kamille nicht besängen, die doch denen so heilsam sey die, wie sie, an Krämpfen litten Ihr und meiner kleinen Person zu Ehren, wurden sie denn nebst den Vergißmeinnicht und Veilchen im Traum des Käthchen erwähnt.

Frau von Haza kolportiert hier die Gedichtüberschriften ungenau, was wir ihr ebenso formlos nachsehen wollen, wie sie sich äußert. Interessant ist ihr Verweis auf einen „Traum des Käthchen“ — in welchem eine Kamillenblume bei Kleist zum zweiten Mal als ausdrücklicher Gefallen für die ältere Frau von Haza vorkommt.

Stimmt und wird bis heute zahlreich aufgeführt. Heinrich von Kleist, Das Käthchen von Heilbronn, 1810, vierter Akt, zweiter Auftritt:

Graf vom Strahl. Wo bist du denn, mein Herzchen? Sag mir an.

Käthchen.
Auf einer schönen grünen Wiese bin ich,
Wo Alles bunt und voller Blumen ist.

Graf vom Strahl. Ach, die Vergißmeinnicht! Ach, die Kamillen!

Käthchen. Und hier die Veilchen; schau! ein ganzer Busch.

Brust, die so viel Stärkung schickt: Jean-Baptiste Greuze: La Simplicité, 1759,
Öl auf Leinwand, 71,1 cm auf 59,7 cm, Kimbell Art Museum, via Gartenbuch.

Soundtrack: Blitzen Trapper: Furr, aus: Furr, 2008:

Written by Wolf

22. Oktober 2021 at 00:01

Wer hätte da sich um Blumen bekümmert?

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Update zu Pflanzenähnlichkeit der Weiber:
Novalis und die Frau als Königin, Mineral und Nahrungsmittel
:

Klar bleibt allein, dass der Begriff der Blauen Blume der deutschen Romantik von Novalis in die „hohe“ Literatur eingeführt wurde.

Allenfalls findet sich ein vager Hinweis auf „eine alte Volkssage, lange vor der Romantik“ in der „jemand zufällig eine blaue Wunderblume“ findet; „durch sie erlangt er Zugang zu verborgenen Schätzen“ — näher werden wir nicht zur Quelle geführt. Schlüssig nachweisbar ist nur Novalis‘ Roman Heinrich von Ofterdingen von 1800, posthum 1802 erschienen. Darin liegt „der Jüngling“ gleich zu Anfang des ersten Kapitels

unruhig auf seinem Lager, und gedachte des Fremden und seiner Erzählungen. Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir geweckt haben, sagte er zu sich selbst; fern ab liegt mir alle Habsucht: aber die blaue Blume sehn‘ ich mich zu erblicken. Sie liegt mir unaufhörlich im Sinn, und ich kann nichts anders dichten und denken. So ist mir noch nie zu Muthe gewesen: es ist, als hätt‘ ich vorhin geträumt, oder ich wäre in eine andere Welt hinübergeschlummert; denn in der Welt, in der ich sonst lebte, wer hätte da sich um Blumen bekümmert, und gar von einer so seltsamen Leidenschaft für eine Blume hab‘ ich damals nie gehört.

Heinrich, würde man heute sagen, verarbeitet also im Halbschlaf seinen Tag. Nicht viel später im Text „träumte ihm erst von unabsehlichen Fernen, und wilden, unbekannten Gegenden“:

Berauscht von Entzücken und doch jedes Eindrucks bewußt, schwamm er gemach dem leuchtenden Strome nach, der aus dem Becken in den Felsen hineinfloß. Eine Art von süßem Schlummer befiel ihn, in welchem er unbeschreibliche Begebenheiten träumte, und woraus ihn eine andere Erleuchtung weckte. Er fand sich auf einem weichen Rasen am Rande einer Quelle, die in die Luft hinausquoll und sich darin zu verzehren schien. Dunkelblaue Felsen mit bunten Adern erhoben sich in einiger Entfernung; das Tageslicht das ihn umgab, war heller und milder als das gewöhnliche, der Himmel war schwarzblau und völlig rein. Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die zunächst an der Quelle stand, und ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von allen Farben, und der köstlichste Geruch erfüllte die Luft. Er sah nichts als die blaue Blume, und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stengel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blüthenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte. Sein süßes Staunen wuchs mit der sonderbaren Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme seiner Mutter weckte, und er sich in der elterlichen Stube fand, die schon die Morgensonne vergoldete.

Halten wir fest: Der romantisch verträumte Jüngling Heinrich erfährt in der Exposition unvermittelt durch einen nicht näher bezeichneten Fremden — vielleicht dem erst später auftretenden Klingsohr — von einer blauen Blume, die gleichfalls nicht genauer denn „lichtblau“ und impilzit von auffallender Schönheit beschrieben wird. Gegen Ende desselben ersten Kapitels tritt zutage, dass auch Heinrichs Vater einst von einer Blume geträumt hat, sich aber nicht an deren Farbe und sonstige Beschaffenheit erinnert:

Ach! liebster Vater, sagt mir doch, welche Farbe sie hatte, rief der Sohn mit heftiger Bewegung.

Das entsinne ich mich nicht mehr, so genau ich mir auch sonst alles eingeprägt habe.

War sie nicht blau?

Es kann seyn, fuhr der Alte fort, ohne auf Heinrichs seltsame Heftigkeit Achtung zu geben. Soviel weiß ich nur noch, daß mir ganz unaussprechlich zu Muthe war, und ich mich lange nicht nach meinem Begleiter umsah. Wie ich mich endlich zu ihm wandte, bemerkte ich, daß er mich aufmerksam betrachtete und mir mit inniger Freude zulächelte. Auf welche Art ich von diesem Orte wegkam, erinnere ich mir nicht mehr. Ich war wieder oben auf dem Berge. Mein Begleiter stand bey mir, und sagte: du hast das Wunder der Welt gesehn. Es steht bey dir, das glücklichste Wesen auf der Welt und noch über das ein berühmter Mann zu werden. Nimm wohl in Acht, was ich dir sage: wenn du am Tage Johannis gegen Abend wieder hieher kommst, und Gott herzlich um das Verständniß dieses Traumes bittest, so wird dir das höchste irdische Loos zu Theil werden; dann gieb nur acht, auf ein blaues Blümchen, was du hier oben finden wirst, brich es ab, und überlaß dich dann demüthig der himmlischen Führung. Ich war darauf im Traume unter den herrlichsten Gestalten und Menschen, und unendliche Zeiten gaukelten mit mannichfaltigen Veränderungen vor meinen Augen vorüber. Wie gelöst war meine Zunge, und was ich sprach, klang wie Musik. Darauf ward alles wieder dunkel und eng und gewöhnlich; ich sah deine Mutter mit freundlichem, verschämten Blick vor mir; sie hielt ein glänzendes Kind in den Armen, und reichte mir es hin, als auf einmal das Kind zusehends wuchs, immer heller und glänzender ward, und sich endlich mit blendendweißen Flügeln über uns erhob, uns beyde in seinen Arm nahm, und so hoch mit uns flog, daß die Erde nur wie eine goldene Schüssel mit dem saubersten Schnitzwerk aussah. Dann erinnere ich mir nur, daß wieder jene Blume und der Berg und der Greis vorkamen; aber ich erwachte bald darauf und fühlte mich von heftiger Liebe bewegt. Ich nahm Abschied von meinem gastfreyen Wirth, der mich bat, ihn oft wieder zu besuchen, was ich ihm zusagte, und auch Wort gehalten haben würde, wenn ich nicht bald darauf Rom verlassen hätte, und ungestüm nach Augsburg gereist wäre.

Der Verlust, ja die Missachtung der Erinnerung an die blaue Blume macht den Vater zu einem Vertreter der Klassik, die jener Romantik voranging, für deren Werte die Blume steht, jedenfalls zu einem nüchternen, strebsamen, der Welt zugewandten, nicht eben schlechten, aber doch prosaischen Menschen.

Ohne die eine oder andere Epoche auf- oder abzuwerten, habe ich es immer für einen Verlust in der Auslegung und Bewertung beider unbestreitbar wichtigen Epochen gehalten, dass niemand weiß: von was für einer Blume Novalis eigentlich redet, die er vielleicht aus einer „Volkssage, lange vor der Romantik“ oder vielleicht aus einem Bild seines Freundes Friedrich Schwedenstein herleiten mag — oder vielleicht auch nicht.

Am 2. Juni 2019 habe ich mich in dieser Angelegenheit an die Mitglieder der Facebook-Gruppe Deutsche Romantik gewandt, wo ich einige Experten für solche Belange vermutete:

Mal eine Frage, die geradezu in die Substanz der deutschen Romantik lappt: Was ist eigentlich die Blaue Blume für eine Blume?

Cicely Mary Barker, The Heliotrope Fairy, 1923, 1944Das klingt so trivial — aber was genau sollte man sich darunter bildlich vorstellen? In Wikipedia finde ich: „Als reale Vorbilder der blauen Blume werden oft heimische Pflanzen angesehen, in Mitteleuropa etwa die Kornblume oder die Wegwarte; Novalis spricht vom blauen Heliotrop.“

Und zwar finde ich das ausschließlich in Wikipedia. Deshalb hab ich mir die Mühe gemacht nachzuschauen, seit wann diese Zuschreibung des Heliotrops kursiert: Eingeführt hat das erst unter der alten Version ein Nutzer namens NikePelera am 7. Januar 2010 um 14:01 Uhr — verbessert aus seiner eigenen, genau 2 Minuten älteren Version mit dem noch nicht verlinkten „Heliothrop“.

Man wird also seit Anfang 2010 an den Heliotrop als Blaue Blume glauben, was man auch öfter so verbreitet findet. Allerdings beziehen sich nach meiner Einschätzung sämtliche Stellen, genannt oder ungenannt, auf diese Wikipedia-Erklärung von einem Nutzer, der nicht erreichbar ist. Das Wikipedia-Bild dazu zeigt eine Kornblume mit der unbelegten Vermutung in unbegründetem Konjunktiv: „Die Kornblume könnte Vorbild für das Symbol gewesen sein“.

Ohne dem unbekannt bleibenden NikePelera zu nahe treten zu wollen, finde ich das in dieser Verbindung wenig glaubwürdig. Dass Novalis von einem Heliotrop, von mir aus auch von der Sonnenwende (Heliotropium) spricht, stelle ich weder in meiner Gesamtausgabe noch irgendwo online fest — abgesehen davon, dass es laut dem Ofterdingen „eine hohe lichtblaue Blume“ sein soll, was ich aus der Zeit und der Stilebene als „hellblau“ übersetzen möchte, und Sonnenwenden eher dunkelblau gedeihen — allerdings auf heutigem Stand der Botanik: „Sowohl krautige Pflanzen, Halbsträucher als auch Bäume kommen vor“, sagt wiederum Wikipedia über die „rund 250 Arten“, was durchaus als „hohe“ Pflanze durchgehen kann, und na gut, dann kannte Novalis vielleicht ja auch hellblaue.

Und dann doch wieder: „Die Blüthenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte“ — wohingegen Sonnenwenden nicht breit, sondern mit doldenähnlichem Blütenstand blühen.

Kurz gesagt bin ich also unglücklich mit der Vorstellung der Blauen Blume als Heliotrop, weil ich mir das weder bildlich vorstellen noch aus der Primär- oder Sekundärliiteratur herleiten kann. Eine bessere Lösung weiß ich auch nicht.

Kann hier jemand sagen, ob ich was übersehen hab oder was denn die Blaue Blume sonst sein könnte?

Darauf erhielt ich noch am selben Tag die Antwort vom Gruppen-Administrator Michael D. Schmid:

Ja, an dem Artikel habe ich auch schon rumgebastelt. :) Zur botanischen Deutung der blauen Blume: Ich persönlich würde die Ansicht vertreten, dass eine allzu einengende Definition der träumerisch-rauschhaften Traumerzählung Heinrichs etwas zuwider läuft. Die Passage appelliert doch an die assoziative Phantasie, und das Symbol der blauen Blume als Inbegriff der Sehnsucht muss sich einer aufklärerisch-wissenschaftlichen Vermessung (Vermessung = Vermessenheit?) entziehen. Oder mit Novalis gesprochen: „Die Aussenwelt ist die Schattenwelt, sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich.“ Ich für meinen Teil kann und will die Blaue Blume nicht erkennen, nur erahnen.

Das trug Herrn Schmid fünf Likes und ein „So ist es!“ ein, die wir ihm herzlich vergönnen wollen, allerdings auf seine durchdachte, engagierte und unbestreitbar wahre Antwort, die mir dennoch nicht genügen wollte:

Das gibt Sinn und entspricht wohl auch dem romantischen Geiste :) Ich würde die Blume gern auch benennen wollen. Der Heliotrop scheint mir dann doch aus der Luft gegriffen — und deshalb an einer Stelle, die so ziemlich jeder Interessierte als erstes ansteuern wird, zu vermeiden. Schon klar, Wiki-Artikel verbessern kann jeder, ich selber sogar unter registriertem Nutzernamen; da überlege ich gerade, ob das ersatzlos zu streichen ist, oder wodurch man’s denn verbessern sollte…

Bei meiner Unzufriedenheit mit der Forschung, ja Verderbtheit des allgemeinen Wissensstandes, ist es bis auf weiteres geblieben. Noch fünf Wochen danach wurde mein Facebook-Thread nach oben geholt durch den nicht vollends geistlosen Kalauer anderer Hand:

Ganz einfach: Es handelt sich um eine blûme in pla-tôn.

Ein konstruktiver Versuch wurde noch unternommen durch den ergänzenden Einwurf:

ich würde sagen, gustav mahler hat wie kein anderer die suche nach der blauen blume in musik umgesetzt, zumindest in seinen wunderhorn-symphonien 1-4.

Das war’s. Im übrigen sind wir geworfen auf Ricarda Huch: Die Romantik. Ausbreitung, Blütezeit und Verfall Blütezeit der Romantik: Erstdruck: Leipzig, Haessel, 1899. Ausbreitung und Verfall der Romantik: Erstdruck: ebenda, 1902.

Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.

Ja, genau:

Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott!
Ich habe keinen Nahmen
Dafür! Gefühl ist alles;
Name ist Schall und Rauch,
Umnebelnd Himmelsgluth.

Bild: Cicely Mary Barker: The Heliotrope Fairy, aus: Flower Fairies of the Garden; Blackie, 1944:

Heliotrope’s my name; and why
People call me „Cherry Pie“,
That I really do not know;
But perhaps they call me so,
’Cause I give them such a treat,
Just like something nice to eat.
For my scent—O come and smell it!

How can words describe or tell it?
And my buds and flowers, see,
Soft and rich and velvety—
Deepest purple first, that fades
To the palest lilac shades.
Well-beloved, I know, am I—
Heliotrope, or Cherry Pie!

Soundtrack: wie auf Facebook empfohlen, Gustav Mahler: 4. Sinfonie in G-Dur, 1901,
unter Leonard Bernstein, Mai 1972 im Wiener Musikvereinssaal; Sopran: Edith Mathis:

Written by Wolf

13. November 2020 at 00:01

Blumenstück 006: Sie weinten nicht, sie klagten nicht, sie starben sonder Laut

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Update zum Wunderblatt 11: Die blühenden Narkosen und
Ein alter Moortopf, der auf seinem eigenen Herd sitzt und sich selbst kocht:

Wer sich Schnittblumen in die Wohnung stellt, kann tagelang dem Tod bei der Arbeit zuschauen. Soviel zur Romantik von Blumensträußen.

Eins der traurigsten Gedichte der Freifrau von Droste zu Hülshoff, vulgo Frau Nette, handelt von so einer vorzeitigen Folter zum Tode. Die Umstände, unter denen der Strauß am Hof zu Bökendorf gepflückt wurde, sind komplizierter als das heutige Vorsprechen in einem Blumenladen, vielmehr eingebunden ins nachmals so bezeichnete Arnswaldt-Straube-Erlebnis — eine verwickelte Liebesaffäre der Droste mit August von Arnswaldt und Heinrich Straube, deren genauerer Verlauf sich bei fortbestehender Forschungslage der Rekonstruktion entziehen wird.

Drostes Entwurf lässt sich aufgrund eines Stammbucheintrags ihrer Tante Sophie vom Haxthausen auf Juni 1820 datieren, von der die Situation beschrieben wird:

Im Juny 1820 als Nette auf dem Hof in Bökendorf mit Anna unter der Akazie saß und einen Blumenstrauß, den ihr Anna gebracht, zerrissen.

Anna ist Drostes andere, vier Jahre jüngere und eng vertraute Tante Anna von Haxthausen, die sich ihrerseits in ihrem Stammbuch erinnert:

Wir saßen auf einer Bank, auf dem Hof unter der Linde die Ludowine gepflanzt, und sie zerpflückte einen Blumenstrauß, den ich ihr gebracht; nach einem ernsten Gespräch, das wir führten, diktierte sie mir das Gedicht, was ich in eine Brieftasche schrieb.

Anna pflückt also den Strauß, schenkt ihn Annette, dieselbe zerpflückt ihn. Es folgt ein ernstes Gespräch. Eine Auseinandersetzung unter adligen jungen Fräulein, die sich vermutlich um adlige junge Männlein dreht. So genau will man’s am Ende gar nicht wissen.

Die üblich gewordene Überschrift Blumentod hat die große Schwester „Hans“, eigentlich Jenny, in den Entwurf dazugeschrieben. In der rohen, nur leicht modernisierten Fassung mit ganz wenigen Satzzeichen, in der die Haxthausen das Diktat der Droste aufgenommen haben muss, und wie sie der Deutsche Klassiker Verlag in den Sämtlichen Werken bringt, wirkt das Gedicht aber erst richtig verzweifelt und archaisch.

——— Annette von Droste-Hülshoff:

Blumentod

Schloss Bökerhof, Juni 1820:

John William Waterhouse, Narcissus, 1912Wie sind meine Finger so grün
Blumen hab ich zerrissen
Sie wollten für mich blühn
Und haben sterben müssen
Wie neigten sie um mein Angesicht
Wie fromme schüchterne Lieder
Ich war in Gedanken, ich achtets nicht
Und bog sie zu mir nieder
Zerriß die lieben Glieder
In sorgenlosem Mut
Da floß ihr grünes Blut
Um meine Finger nieder
Sie weinten nicht, sie klagten nicht,
Sie starben sonder Laut
Nur dunkel ward ihr Angesicht
Wie wenn der Himmel graut
Sie konnten mirs nicht ersparen
Sonst hätten sies wohl getan, —
Wohin bin ich gefahren!
In trüben Sinnens Wahn!
O töricht Kinderspiel!
O schuldlos Blutvergießen!
Und gleichts dem Leben viel,
Laßt mich die Augen schließen,
Denn was geschehn ist, ist geschehn
Und wer kann für die Zukunft stehn!

Schloss Bökerhof bei Brakel im nordrhein-westfälischen Landkreis Höxter ist heute Gedenkstätte für den Bökendorfer Romantikerkreis mit Literaturmuseum, mithin eine touristische Unternehmung wert. Wer mir durch Bild und/oder lebende — also nicht etwa sinnlos ausgerupfte — Präparate schlüssig nachweisen kann, aus welchen Pflanzenarten anno 1820 ein Blumenstrauß von unter Ludowinens Linde bestanden haben mag, gewinnt was richtig Schönes. Ein Buch, wie ich mich einschätze.

Bild: John William Waterhouse: Narcissus, 1912.

Soundtrack: John Mayall: Don’t Pick a Flower, aus: Empty Rooms, 1970:

Written by Wolf

9. Oktober 2020 at 00:01

Blumenstück 003: Holdselige Ranunkel

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Update zum Wunderblatt 7: Die Vegetation ist der negative Lebensprozeß. Vom ursprünglichsten Gegensatz zwischen Pflanze und Tier — und Emily und Emily
und Wunderblatt 9: Dies ist das Kaktusland:

Wenn die Reben wieder glühen,
Rühret sich der Wein im Fasse,
Wenn die Erbsen wieder blühen,
Weiß ich nicht, wie mir geschieht.

Ludwig Tieck, a. a. O., Seite 95.

Einmal hab ich’s versucht: Es ist gar nicht so einfach, mit Absicht ein wirklich abgrundmieses Gedicht zu schreiben. Am zweitschwersten sind ordentliche Gedichte in aufsteigenden Qualitätsgraden, so mittel werden sie von selber; siehe auch: Kathryn und Ross Petras: Very Bad Poetry, Vintage Books 1997 (Kaufempfehlung!).

Die Muskete, 1941, via AbecedarianArno Schmidt, der alles weiß, lässt genau vier „echte“ deutsche Romantiker gelten: Clemens Brentano, Friedrich de la Motte Fouqué, E.T.A. Hoffmann und Ludwig Tieck. Am wenigsten verwundert Fouqué, weil Schmidt über denselben 1958 die immer noch gültige Standard-Biographie geliefert hat; das Skandalöse an seiner extraknapp gehaltenen Liste ist eher noch, wen er alles nicht erwähnt: Eichendorff, Hölderlin, Novalis, beide Schlegels, Uhland, von Arnim – also die meisten, die unsereinem, die wir nicht gerade „zweimal zehntausend Arbeitsstunden“ (Selbstauskunft; das wären etwa zehn Arbeitsjahre) an eine abseitige Biographie gewandt haben, spontan einfallen mögen.

Ebenso unterschätzt wie vernachlässigt finde ich darunter Ludwig Tieck, der allemal mehr Spaß macht als, sagen wir, der überschätzte, überpräsente und dazu noch heillos überlebte Novalis, wenn man denn wirklich einmal auf Teile seines Werks stößt.

Sehr vereinzelt findet man noch den bedauernden Hinweis: „Eine umfassende Werkausgabe, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen könnte, gibt es nicht. Zum Teil muss man auf die Einzelausgaben oder die von Tieck selbst besorgte Ausgabe der Schriften zurückgreifen.“ Letztere ist von 1828 bis 1854. Selbst der Deutsche Klassiker Verlag hat bezeichnender Weise die auf zwölf Bände – und auf weitgehende Vollständigkeit – angelegte Gesamtausgabe von Ludwig Tieck nach fünf Bänden abgebrochen. Halbwegs aufzutreiben ist antiquarisch die vierbändige Winkler-Ausgabe von Marianne Thalmann, auch schon wieder von 1963 bis 1966. Die ist verdienstreich und wunderschön, beansprucht aber gar nicht erst, vollständig zu sein; unter anderem lässt sie die Gedichte weg.

Gerade Ludwig Tiecks Gedichte sind ein Verlust. Die gute Nachricht ist: Ruprecht Wimmer konnte vor dem Abbruch für die Bibliothek Deutscher Klassiker die Gedichte als siebten Band veranstalten, der sogar noch lieferbar ist; Verlagsbeschreibung: „Band 7 der neuen Tieck-Ausgabe versammelt erstmals alle Gedichte Tiecks und erschließt sie durch einen umfassenden Kommentar.“ Die schlechte Nachricht ist: Der Band kostet verlagsfrisch in Leinen mal kurz 76 Euro, in Leder 138. Irgendwas ist ja immer.

Paul Galdone für Margaret G. Otto, The Man in the Moon, detail, via AbecedarianUm Arno Schmidts Einschätzungen über Ludwig Tieck nicht vollends ungenutzt liegen zu lassen, hören wir auf ihn und bemerken: Der Mann empfiehlt in seinem gesamten Werk spätestens aller „gefühlte“ fünfzig Seiten einmal Die Vogelscheuche von 1835 aufs allerwärmste. Im Druck ist diese „Mährchen-Novelle in fünf Aufzügen“ praktisch nicht vorhanden – außer in der Reihe Haidnische Alterthümer von Zweitausendeins 1979, die man erwischen muss – dafür als Einzel-Kindle 0 Euro, fragt sich nur, in was für einem Zustand. Online steht der Originaltext mindestens fünfmal (na gut, und in bekannter Zuverlässigkeit auf Gutenberg):

Was wiederum Die Vogelscheuche im Zusammenhang mit Gedichten angeht, schlagen wir unser Haidnisches Alterthum von 1979 auf Seite 97 auf, um unsere kulturellen Verluste leichter zu verschmerzen. Wo Schmidt recht hat mit seiner nimmermüden Empfehlung, die er in jedem nur entfernt sich anbietenden Zeitungsartikel und Radiodialog unterbringt: Das Ding ist schon rein formal die reine Freude, weil die erzählende Prosa, aufgeteilt in die Akte und Szenen eines Theaterstücks, allerlei Auftritte wie Duette, Trios oder Chöre durchdekliniert. Die „Novelle“ zwischen realistischer und phantastischer Handlung umfasst ausführliche 400 Druckseiten, will also ausreden – aber nicht in nach allen Richtungen zerfasernden Assoziationen wie Jean Paul – ein anderer, höchst berechtigter Liebling von Schmidt –, sondern dicht mit wahren Kabinettstückchen vollgepackt.

Mit der auf Seite 98 besungenen Ranunkel ist vermutlich eine domestizierte Spielart des Asiatischen Hahnenfußes Ranunculus asiaticus) gemeint, dessen Wildform im östlichen Mittelmeerraum vorkommt, der aber im 19. Jahrhundert als mitteleuropäische Gärtnerpflanze beliebt war und auf den die Beschreibung „fein geblättert, sinnig, mit allen Farben prangend, und dennoch so bescheiden“ passt, und eben nicht die allzu artenreiche Gattung des Hahnenfuß Ranunculus innerhalb der schier unüberschaubaren Familie der Hahnenfußgewächse Ranunculaceae. Die Figur des Herrn Ledebrinna, ein ledergesichiger Unsympath und rücksichtsloser Emporkömmling, trägt vor:

——— Ludwig Tieck:

Große musikalische Gesellschaft.

Zweiter Aufzug. Dritte Scene,
aus: Die Vogelscheuche. Mährchen-Novelle in fünf Aufzügen. Erster Theil, Reimer, Berlin 1835,
cit. nach: ders.: Die Vogelscheuche. / Das Alte Buch und Die Reise ins Blaue hinein.
Mit einem Nachwort von Ulrich Wergin, Textredaktion Hanne Witte,
Reihe: Michael Bock, Hrsg.: Haidnische Alterthümer. Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, Band 4,
Zweitausendeins, Frankfurt am Main 1979, Seite 97 bis 100:

The Link, 1970, via Abecedarian[…] Ich wüthe eigentlich nur, fuhr Ledebrinna fort, gegen die Rose, so wie gegen die Verehrer dieser ganz nichtsnutzigen Blume. Was ist denn Schönes oder Preiswürdiges an dieser Kreatur? Selbst die wild an den Zäunen wachsende ist nichts Vorzügliches, und doch liefert sie uns wenigstens noch die Hanbutte, die freilich auch, mit Zucker aufgekocht, oder eingemacht, nichts Sonderliches der gebildeten Zunge bietet. Glauben Sie aber nicht, daß ich so ganz einseitig nur einem wilden engherzigen Systeme folge. Ich weiß wohl Unterschiede zu machen, und einer Blume, die auch nichts weiter als eine solche ist, zolle ich meine unbedingte Huldigung, und möchte sie als Königin auf den Thron der Blüthenwelt setzen, den die unwürdige Rose schon seit lange usurpirt hat.

Und wer wäre das? fragte der Apotheker in der höchsten Spannung.

Kann es jemand anders seyn, erwiederte Ledebrinna, als die einzige, fein geblätterte, sinnige, mit allen Farben prangende, und dennoch so bescheidene Ranunkel?

Des Apothekers Gesicht erglühte hochroth in freudiger Ueberraschung. Ledebrinna aber zog ein Blatt mit Goldschnitt aus dem Busen und las:

Dir sei Preis, holdselige Ranunkel,
Denn du bist nach meinem Sinn
Doch der Blumen Königin,
Deiner tausend Farben Lichtgefunkel
Glänzt wie Frühling durch den Garten hin,
Du bedarfst nicht, nur die Rose sucht das Dunkel,
Thau und Feuchtigkeit der Nacht bringt ihr Gewinn,
Wenn es hell wird, bleicht die Röthe bald dahin:
Wozu also noch vom Rosenlob Gemunkel?
Es ist doch nur eiteles Geflunkel,
Lieber selbst ist mir die Rübe, Runkel,
Nein, Ranunkel,
Du bist aller Blumen Kaiserin,
Ros‘ und Lilie dienen höchstens nur als Kunkel-
Frauen deinem Thron, du bist und bleibst nach meinem schlichten Sinn
Die Königin
Der ganzen Blumenwelt, vielstrahlende Ranunkel!

Mit dem letzten Worte verbeugte er sich und übergab dem Apotheker sein Gedicht. Dieser schloß den Dichter heftig in seine Arme und weinte laut. Die meisten wußten nicht, was sie von dieser Scene denken sollten, doch da Wilhelm bemerkte, wie sich Alexander und Amalie anlächelten und eine satirische Miene machten, hielt er sich nicht länger zurück, sondern lachte laut auf, da ihm das Gedicht, die Umarmung, Ledebrinna und der Apotheker äußerst komisch erschienen. Der Apotheker drehte sich unwillig um, und Ledebrinna warf nach seiner Art den Kopf schnell nach der Seite und rollte die dunkeln Augen. indem er mit den Armen schlenkerte. Der Magister Ubique, der das Lachen nicht bemerkt hatte, sagte mit seinem glatten Ton: Wahrlich, Herr von Ledebrinna, höchstverehrtester Freund, Sie haben uns da ein eben so originelles als großartiges Gedicht mitgetheilt, es erinnert an die schönsten Zeiten unsrer Poesie, ja auch durch den schlichten Vortrag an die Antike, und hätten Sie das elegische Sylbenmaaß, den Hexameter und Pentameter, beliebt, so zweifle ich, ob etwas in der Anthologie stehe, welches dieser lichten Geistesblüthe vorzuziehen sei. Auch an Göthe’s schönste Jugend-Periode erinnert uns dieser wahrhaft lyrische Schwung; die kühnen Uebergänge sind ganz in seiner besten Manier.

Reden Sie mir von Göthe nicht! rief Ledebrinna entrüstet aus, ich verbitte es mir, mit diesem Weichling, der unsere Moralität von allen Seiten untergraben hat, in irgend eine Parallele gestellt zu werden. […]

Fliegende Blätter, 1924, via Abededarian

Bilder: via Abecedarian:

  1. Die Muskete, 1941;
  2. Paul Galdone für Margaret G. Otto: The Man in the Moon, 1957, detail;
  3. The Link, 1970;
  4. Fliegende Blätter, 1924.

Soundtrack: Tom Waits: Hold On, aus: Mule Variations, 1999:

Written by Wolf

22. November 2019 at 00:01

Wunderblatt 11: Die blühenden Narkosen

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Update zu Angebinde
und Mit Blumen, mit verdorrten:

Ich mag ja immer Pflanzen, die irgendwas können.

Adi Dekel Photography featuring Alexandra, 7. April 2016

——— Georg Rodolf Weckherlin:

Gartenbulschaft oder krantlieb

(25. September 1584 bis 23. Februar 1653):

Ich war in einem schönen garten,
da der Braunellen ich must warten;
alsbald sie kam und sah mich an,
empfanden wir das herzgespan.
„Ach, was empfind ich in dem herzen!“
sprach sie; ich antwort: „laß uns scherzen!
je läng’r je lieber bist du mir,
ja tag und nacht lieb bin ich dir.
laß uns mit maß und ohn maß lieben,
laß uns das nabelkraut verschieben,
das so süß, under deinen schurz.“
„Ja, knabenkraut und ständelwurz„,
sprach sie, „mir allzeit wol zuschlagen:
Liebstöckel mögen wir auch wagen,
dieweil sie gut für die, die bleich,
so steck es tief in das glidweich.
glidkraut mein glid mit lust durchdringet,
wan es kein mutterkraut mir bringet.
auch lieb und süß ist die manstreu,
mit zapfenkraut die freud wird neu,
Dan seine tugend stets passieret.
so bald es kützelnd tief berühret
die zarte nackend huren haut,
so wird es gleichsam seifenkraut.“
„Es ist gnug, laß nun ab zu scherzen,
bis wir einander wider herzen,
vergißmein nicht und bleib doch weis
mein augentrost, mein ehrenpreis.“

——— Ferdinand Hardekopf:

Angebinde

(15. Dezember 1876 bis 26. März 1954):

Ich stell sie dir hin, die blassen Herbstzeitlosen,
Den letzten Schierlingszweig trag ich herbei
Und will, Canaille, wieder mit dir kosen,
Wie im Zigeunerkraut am dritten Mai.

Den Taumel-Lolch, dies nette Giftgetreide,
Den zarten Schwindelhafer rupf ich aus
Und winde dir, infame Augenweide,
Aus Hundstod und aus Wolfsmilch einen Strauß.

Im Fingerhut das reichliche Volumen
Digitalin (mein Herz, du kennst es schon),
Das pflück ich dir und Belladonna-Blumen
Und Bittersüß und dunkelroten Mohn.

Kennst du des Bilsenkrautes böse Gnaden?
Der Beeren Scharlachglanz am Seidelbast?
Und die Betäubung, dreimal fluchbeladen,
Die stachlig die Stramin-Frucht in sich faßt?

So nimm sie hin, die blühenden Narkosen,
Aus Nacht und Haß ein Duft-Arrangement,
Und stell es zwischen deine Puderdosen
Und die Parfumflacons von Houbigant.

Gescheitert bin ich daran, eine „Stramin-Frucht“ oder auch nur eine Pflanze ähnlichen Namens nachzuweisen. Dafür ist es schon der halbe Spaß, zu wissen, dass die pro Gedicht je einmal vorkommende Herbstzeitlose bei Weckherlin „nackend hure“ heißt und im übrigen Volksglauben noch ganz andere Sachen.

Die Wölfin meint: „Ich vermisse Mädesüß und Phallus impudicus.“

„Ich auch“, sag ich, „ich auch.“

Adi Dekel Photography featuring Samantha Evans, 4. April 2015

Bilder:

  1. Adi Dekel Photography featuring Alexandra, 7. April 2016:

    Now I travel alone, I live in woods, alone I have no fear anymore. There’s light at the end, always…

  2. Adi Dekel Photography featuring Samantha Evans, 4. April 2015:

    Her hair reminded me of Ariel from the little mermaid, so I went with it just a bit.“

  3. Ella Ruth Photography: The Botanist, 19. Juni 2016

    A favourite from the day beautiful Anna and I filled the downstairs of my house with plants. I had so much fun creating this set!

Ella Ruth Photography, The Botanist, 19. Juni 2016

Soundtrack: Tom Waits: Little Drop of Poison, aus: Orphans, 2006,
Bilder aus Jean-Luc Godard: Vivre sa vie, 1962:

Written by Wolf

15. Juni 2018 at 00:01

Wunderblatt 10: Herzensbrand und der eisige Westwind

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Update zu Und Beethoven so: WTF??!!! (Aufmerksam hab‘ ich’s gelesen):

Das letzte Wunderblatt ist ja auch schon gleich ein Jahr her (Wunderblatt 9: Dies ist das Kaktusland), das letzte, für das die Kategorie überhaupt eingerichtet wurde (Wunderblatt 6: Die Reimer und die Dichter), vom November 2014; so weit kann gar kein Mensch im Kopf zurückrechnen.

Das hat den kühlen Grund, dass mir das einst zugerüstete Wunderblatt samt dem zugesellten Brutblatt mit einer Zielstrebigkeit eingegangen ist, die an Trotz grenzt, und wenn mir schon das madegassische Wüstenunkraut unter den Fingern verreckt, trau ich mich nicht mehr.

Kalanchoen, 28. April 2018

——— Hendrik Hölzemann:

Nichts bereuen

2002. Film-Drehbuch nach dem gleichnamigen Buch von Benjamin Quabeck,
Regie: derselbe, Traumsequenz gesprochen von Sebastian Rüger:

Jaja, wir haben’s alle nicht leicht. Den ganzen Tag bist du nur von Abschaum umgeben. Es ist jeden Tag die gleiche Leier: Keiner ist es gewesen, keiner hat es gewollt, und wer ist schuld? Die Eltern, die anderen, der eisige Westwind. Und du bist also am Arsch, ja? Ich sag dir was, Junge: Die ganze Welt besteht nur noch aus Umfallern.

Kalanchoen, 28. April 2018Mythologisch heißt der Westwind Zephyr und steht für frühlingshaft feuchtes, den Saaten zuträgliches Wetter. Das Zitat aus NIchts bereuen wäre demnach mehr der Coolness denn der Mythologie verpflichtet, weil eher der Nordwind Boreas der Eisige von den Brüdern ist — was für so eine surreale Alptraumsequenz in Ordnung geht. In der orientalischen Poesie tritt der Westwind, im Falle des Divan nicht unerheblich, als Liebesbote auf.

Im Laufe der Jahrhunderte hat sich herumgesprochen, dass Goethe weite Teile seines West-östlichen Divan, der ohnehin nie zu seinen Bestsellern zählte, von Marianne von Willemer übernommen hat. Mit dieser schönen Müllerin des Jahrgangs 1784 — das sind 35 Jahre jünger als Herr Geheimrat — verband ihn eine Brieffreundschaft, die nach einem gemeinsam verbrachten Sommer ihre erotische Komponente nicht mehr ganz abschütteln konnte. Der Briefwechsel umfasst auch eine Art Poesie-Ping-Pong, dessen Dialogspiele dem Dichterfürsten vor allem für das Buch Suleika im Divan mit eher vorsichtigen Retuschen recht zupass kamen.

1815 waren noch nicht die Kalanchoen pinnata und daigremontiana die Goethepflanzen, vielmehr verglich Goethe seine Person noch mit dem Ginkgo biloba, siehe sein Gedicht Gingo biloba — am 15. September 1815 eben an Marianne von Willemer gerichtet, von der er nach der Sommerfrische noch kaum getrennt war:

Fühlst du nicht an meinen Liedern,
Daß ich Eins und doppelt bin?

Die lyrischen Spielzüge fielen sehr dicht in diesem September 1815: Mariannes Gedicht an den Ostwind, schon von 23. September, war nicht die erste direkte Antwort darauf, und am 25. d. M. schrieb sie schon ihr Gedicht an den Westwind in erster Fassung.

Das direkte Vorbild dafür war der Vierzeiler Vierzeiler von Hafis, an dessen erste deutsche Übersetzung (Joseph von Hammer, 1813) sie heranzuführen Goethe den Sommer lang sicher ausreichend Zeit gefunden hatte:

Ostwind sag‘, ich bitte dich, ihm ganz heimlich die Kunde
Hundertfache Zung‘ spreche den Herzensbrand aus,
Sprich es nicht traurig, um ihn nicht auch zur Trauer zu stimmen,
Sage zwar das Wort, aber du sag’s mit Bedacht.

Kalanchoen, 28. April 2018Und das ist jetzt interessant, wie ein altarabischer Vierzeiler unter Mariannens Händen zu fünf Schenkenstrophen heranwächst, ohne dass man auf Anhieb zu sagen wüsste, wo genau der Zuwachs an Beduetung liegt — was gar nicht gegen Frau von Willemer spricht, allenfalls für Hafis — abgesehen allein davon, dass sie Hafis‘ Original, das den Ostwind anspricht, an den Westwind umgewidmet hat, wahrscheinlich weil bei ihr der Ostwind ja erst vorgestern dran war.

So historisch jung die Begriffe des Urheber- und Autorenrechts sind, hätte Goethe bei der zielgerichteten Unverfrorenheit, mit der er eine verheiratete Frau unter den Augen ihres Ehemannes und des Neben-Hausfreundes als liebende Suleika gegenüber seiner eigenen Rolle als schmachtender Liebhaber verhaftete, wenigstens als Mitautorin benennen müssen — nicht als Frage eines wie auch immer aufgefassten Anstands, sondern der Pflicht, weil es nicht mehr um eine „Volksliedbearbeitung“ geht wie beim Heideröslein, das er dankbar seinem Freund Herder abgenommen hatte.

Umso mehr, als man nicht damit allein steht, wenn man Goethes Endfassung gelungen finden will: Der treue Eckermann meint 1824 in Beyträge zur Poesie, mit besonderer Hinweisung auf Goethe, Seite 278 f.:

Ist der Geist eines Gedichts frisch wie die anwehende Morgenluft, so ist es auch der Klang der Sprache:

Einer sitzt auch wohl gestängelt
Auf den Ästen der Zypresse,
Wo der laue Wind ihn gängelt
Bis zu Thaues luft’ger Nässe.

Solche Musterstellen geben uns eine Idee, wie der Character des Geistes bis auf Wort und Klang ausgeprägt werden müsse. Aber so etwas muß sich wie von selbst machen, die Leichtigkeit und Natur der Verse muß nicht darunter leiden, das Streben nach solcher Vollkommenheit muß nicht in Künsteley ausarten; vielmehr muß auch hier die Kusnt so erscheinen, daß sie kaum als Kunst bemerkt werde.

Auch bey Goethen finden wir solche Stellen nur selten, er scheint nie danach gestrebt zu haben.

In folgendem schönen Gedicht finden wir den milden Character durch und durch in Bewegung und Worten: […]

Kalanchoen, 28. April 2018Woraufhin Eckermann „Ach! um deine feuchten Schwingen“ Suleika anführt — also das Gedicht der Willemer mit den zarten Retuschen für den Divan: Eckermann, der Goethes Leben und Werk so unmittelbar und tiefgehend kannte wie sonst niemand, hielt diesen milden Character für eine genuine Goethe-Schöpfung. Der Meister selbst kannte die Beyträge zur Poesie von 1824 schon 1823 im Manuskript. Seine Entschuldigung an Frau Willemer lautete — unter der schon wieder genügend unverfrorenen Überschrift Auf ein in Liebe und Dichtung wetteiferndes Paar am 18. Oktober 1823:

Myrt‘ und Lorbeer hatten sich verbunden;
Mögen sie vielleicht getrennt erscheinen,
Wollen sie, gedenkend sel’ger Stunden,
Hoffnungsvoll sich abermals vereinen.

Sein Unrechtsbewusstsein scheint ein zu vernachlässigendes. Brieflich setzt er am 9. Mai 1824 sogar noch einen drauf:

Als ich des guten Eckermanns Büchlein aufschlug, fiel mir S. 279 zuerst in die Augen; wie oft hab ich nicht das Lied singen hören, wie oft dessen Lob vernommen und in der Stille mir lächelnd angeeignet, was denn auch wohl im schönsten Sinne mein eigen genannt werden durfte.

Lassen wir also mit unserem heutigen Wissen die Leistung für das schöne Stück, vor denen der West-östliche Divan, mit Verlaub, nicht gerade überquillt, bei Marianne von Willemer. Was Goethe hinzugefügt hat, ist in der Summe ein verschwindendes Maß: Als tiefsten Eingriff geht es um die Überschrift „Suleika“ — die gleiche wie für die meisten Rollengedichte innerhalb des Suleika Nameh auch.

——— Marianne von Willemer:

Westwind

26. September 1815:

Ach, um deine feuchten Schwingen,
West, wie sehr ich dich beneide,
Denn du kannst ihm Kunde bringen,
Was ich in der Trennung leide.

Die Bewegung deiner Flügel
Weckt im Busen stilles Sehnen,
Blumen, Augen, Wald und Hügel
Stehn bei deinem Hauch in Thränen.

Doch dein mildes, sanftes Wehen
Kühlt die wunden Augenlider;
Ach, für Leid müßt ich vergehen,
Hofft ich nicht zu sehn ihn wieder.

Gehe denn zu meinem Lieben,
Spreche sanft zu seinem Herzen,
Doch vermeid, ihn zu betrüben
Und verschweig ihm meine Schmerzen.

Sag ihm nur, doch sags bescheiden,
Seine Liebe sei mein Leben,
Freudiges Gefühl von beiden
Wird mir seine Nähe geben.

——— Goethe:

Suleika

aus: West-östlicher Divan, ab 1819, Seite 166:

Ach! um deine feuchten Schwingen,
West, wie sehr ich dich beneide:
Denn du kannst ihm Kunde bringen
Was ich in der Trennung leide.

Die Bewegung deiner Flügel
Weckt im Busen stilles Sehnen,
Blumen, Augen, Wald und Hügel
Stehn bey deinem Hauch in Thränen.

Doch dein mildes sanftes Wehen
Kühlt die wunden Augenlider;
Ach, für Leid müßt‘ ich vergehen,
Hofft‘ ich nicht zu sehn ihn wieder.

Eile denn zu meinem Lieben,
Spreche sanft zu seinem Herzen;
Doch vermeid‘ ihn zu betrüben
Und verbirg ihm meine Schmerzen.

Sag‘ ihm, aber sag’s bescheiden:
Seine Liebe sey mein Leben,
Freudiges Gefühl von beyden
Wird mir seine Nähe geben.

Das Bildmaterial dokumentiert meinen zweiten Versuch der Kalanchoenzucht auf dem Stand vom 28. April 2018, bevor mir die Dinger wie 2014 wieder in sich zusammensacken.

Kalanchoen, 28. April 2018

Lied an den Westwind: Claudio Monteverdi: Zefiro torna, 1632,
in der lustigsten Einspielung von F# Portraits, 2013:

Written by Wolf

18. Mai 2018 at 00:01

Veröffentlicht in Grünzeug & Wunderblätter, Klassik

Wie man sich eine Schrift besieht

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Update zu Ach Himmel, wie sich die Menschen täuschen können!:

——— Goethe:

Über den Granit

Januar 1784, aus dem Nachlass gedruckt 1878 in:
Goethes Werke. Nach den vorzüglichsten Quellen revidierte Ausgabe,
Hempel, Berlin, o. J. (1868–1879), Band 33–36: Zur Naturwissenschaft:

So einsam, sage ich zu mir selber, indem ich diesen ganz nackten Gipfel hinabsehe, und kaum in der Ferne am Fuße ein geringwachsendes Moos erblicke, so einsam, sage ich, wird es dem Menschen zu Mute, der nur den ältesten, ersten, tiefsten Gefühlen der Menschheit seine Seele eröffnen will. Ja, er kann zu sich sagen: Hier auf dem ältesten ewigen Altare, der unmittelbar auf die Tiefe der Schöpfung gebaut ist, bring ich dem Wesen aller Wesen ein Opfer. Ich fühle die ersten, festesten Anfänge unsers Daseins, ich überschaue die Welt, ihre schrofferen und gelinderen Täler und ihre fernen fruchtbaren Weiden, meine Seele wird über sich selbst und über alles erhaben und sehnt sich nach dem nähern Himmel. Aber bald ruft die brennende Sonne Durst und Hunger, seine menschlichen Bedürfnisse, zurück. Er sieht sich nach jenen Tälern um, über die sich sein Geist schon hinausschwang, er beneidet die Bewohner jener fruchtbareren quellreichen Ebnen, die auf dem Schutte und Trümmern von Irrtümern und Meinungen ihre glücklichen Wohnungen aufgeschlagen haben, den Staub ihrer Voreltern aufkratzen und das geringe Bedürfnis ihrer Tage in einem engen Kreise ruhig befriedigen. Vorbereitet durch diese Gedanken, dringt die Seele in die vergangene Jahrhunderte hinauf, sie vergegenwärtigt sich alle Erfahrungen sorgfältiger Beobachter, alle Vermutungen Feuriger Geister. Diese Klippe, sage ich zu mir selber, stand schroffer, zackiger, höher in die Wolken, da dieser Gipfel noch als eine meerumfloßne Insel in den alten Wassern dastand, um sie sauste der Geist, der über den Wogen brütete, und in ihrem weiten Schoße die höheren Berge aus den Trümmern des Urgebirges und aus ihren Trümmern und den Resten der eigenen Bewohner die späteren und ferneren Berge sich bildeten. Schon fängt das Moos zuerst sich zu erzeugen an, schon bewegen sich seltner die schaligen Bewohner des Meeres, es senkt sich das Wasser, die höheren Berge werden grün, es fängt alles an, von Leben zu wimmeln. – –

Green Sarah, Nothing in Nature Blooms All Year, 23. Oktober 2016Moose sind einnehmende Wesen. Sie ernähren sich von praktisch überhaupt nichts — außer ein paar spektakulären Ausbüchsern wie die fleischfressenden Arten namens Colura zoophaga, die maximal Wimperntierchen schafft, und Pleurozia purpurea, die nicht verdaut —, machen nichts kaputt — nein, nicht einmal Ihr Gartenpflaster, und wenn doch, war’s eine Flechte, weil Rhizoide sich nicht wie Wurzeln in Stein festfressen —, haben nichts und niemanden zum Fressfeind außer der Zeit, und dass sie tot sind, merkt man erst an der Änderung ihres Aggregatzustands.

Manche von ihnen leben ihre Sexualität erst dann aus, wenn sie gestorben sind: Einige der bescheidensten Ackermoose setzen ihre Sporen frei, indem sie verwesen. Wer jetzt spontan ins Überlegen kommt, soll sich nicht zu früh freuen: Alle 16000 bekannten Moosarten unterliegen einem Generationswechsel, der nichts einfacher macht. Bei uns selbst wohnten einst zwei genügsame Laubmoose von feuchter Luft und Liebe, weil sie die Menschen verbinden können:

Die Rolle der sexuellen Vermehrung zur Erhöhung der genetischen Vielfalt ist bei den Moosen erheblich eingeschränkt. Rund die Hälfte der Moose ist monözisch und überwiegend selbstbefruchtend (keine Selbstinkompatibilität). Zudem kommen viele diözische Arten nur in rein weiblichen oder rein männlichen Populationen vor und können sich nicht sexuell vermehren.

Verstorben sind sie dann vermutlich nicht an Liebesentzug, sondern am Mangel frischer Waldluft, weil ich dachte, schön grün sind sie ja selber. Na gut, die meisten in Deutschland (eine botanisch interessante, sehr eigenständige Moosfauna hat Amerika entwickelt). Dennoch erscheint einem so eine entspannte Bedürfnislosigkeit, mit der man seit 450 Millionen Jahren i Ruhe gelassen wird, mit fortschreitendem Lebenslauf immer erstrebenswerter.

Green Sarah, Nothing in Nature Blooms All Year, 23. Oktober 2016Ohne genau hinzuschauen, kann einer darauf verfallen, Moos gäbe es eigentlich gar nicht. Die bekannten Isländisch und Eichenmoos sind Flechten (Cetraria islandica und Evernia prunastri):

Wenn, trifft es, Moos und Flechten
Scharf miteinander fechten,
Stets wird die Flechte siegen,
Das Möslein unterliegen.

Karl Friedrich Schimper, 1857, siehe unten.

Spanisches Moos ist sogar eine blühende Ananas — jedenfalls eine Bromeliacea —, das Zeug in den Pflasterritzen sind Kreuzblütler (Sagina) und das an Bäumen und alten Fensterrahmen Grünalgen. Ohne einen Trick, mit dem man einfache und doppelte Chromosomensätze nachzählen kann, ist man bei der Bestimmung aufgeschmissen. Im Felde eine Lupe, zu Hause ein Miskroskop und die wichtigsten Reagenzien aus der Apotheke helfen aber schon weiter.

Zu Ehren dieser stillen Gewächse rette ich (nicht zum ersten Mal) aus dem Netz zwei Gedichte: eins von Karl Friedrich Schimper und eins von Siegfried von Vegesack.

Das Gedicht von Schimper umfasst vermutlich 143 Strophen, wurde nie vollständig gedruckt und existiert nur in teilweisen Abschriften. Prof. Dr. Karl Mägdefrau stellt es am 1. Mai 1968 kurz in seiner Festschrift zu Schimpers 100. Todestag vor. Besonders Vers 30 atmet für 1857 eine eigentümliche Aktualität:

——— Karl Friedrich Schimper:

Mooslob

ungedruckte Auszüge, aus: Auszug, Stücke aus dem noch ungedruckten Mooslob, oder die schönsten Geschichten der Moose, alte und neue, in Versen für eine junge Dame zu einer eleganten Moossammlung von Dr. Karl Friedrich Schimper. Festgabe für Bonn. Mainz, September 1857:

[Vers 30:]

Was hält uns im Geleise?
Was rettet uns vom Eise?
Vor drohender Versteppung
Und Länderstaubverschleppung?
Was wärmt und bringt den Regen?
Was fesselt seinen Segen?
Was spart und nähret Flüsse?
Was sichert uns Genüsse?
Die Kleinsten und der Große,
der Golfstrom und die Moose!

[Vers 125:]

Empfindlich für das Feuchte
Wie für des Ortes Leuchte,
Was Wurz- und Stengel leisten
Gleich siehst Du bei den meisten,
Was Die geheim auch mischen,
Sie können nicht erfrischen,
Die kargen Wasserfasser — :
Moos welkt im Glase Wasser!
Die Blätter sind die Leiter
und außen geht es weiter!

Green Sarah, Nothing in Nature Blooms All Year, 23. Oktober 2016Das Gedicht von Vegesack wird auf Fach- und Besinnungsseiten öfter zitiert, leider grundsätzlich mit den üblichen kleineren Fehlerchen gespickt: Versaufteilung, Großschreibung, Zeichensetzung, Sie kennen dergleichen.

Der Wechsel des Metrums erscheint darin lebhaft genug, dass er als absichtsvoll um der poetischen Wirkung willen durchgehen darf, nicht als Stümperei. Wenn Vegesack nur noch die ständigen bedeutungsvoll raunenden „…“ weglassen wollte, hieße so ein Gewoge in den besten Mephistopheles-Monologen Madrigalvers.

Nachstehend bringe ich eine maßgeblich gemeinte Version, penibel abgetippt und korrigiert. Das Original liegt in der Bibliothek des Botanischen Instituts der Universität München — von mir aus mit Bus 62 und Tram 17 eine halbe Stunde entfernt, mit dem Herzen eine halbe Ewigkeit.

Wenn Ihnen noch übrige Fehler auffallen, müssen Sie Ihren begründeten Verbesserungsvorschlag nicht für sich behalten. Sie sind ja kein Moos.

——— Siegfried von Vegesack:

Moos

in: Simplicissimus, 21. Juni 1936:

Hast du schon jemals Moos gesehen?
Nicht bloß so im Vorübergehen,
so nebenbei von oben her
so ungefähr —
nein, dicht vor Augen, hingekniet,
wie man sich eine Schrift besieht?
O Wunderschrift! O Zauberzeichen!
Da wächst ein Urwald ohnegleichen
Und wuchert wild und wunderbar
im Tannendunkel Jahr für Jahr,
mit krausen Fransen, spitzen Hütchen,
mit silbernen Trompetentütchen,
mit wirren Zweigen, krummen Stöckchen,
mit Sammethärchen, Blütenglöckchen,
und wächst so klein und ungesehen —
ein Hümpel Moos.
Und riesengroß
die Bäume stehen…

Doch manchmal kommt es wohl auch vor,
daß sich ein Reh hierher verlor,
sich unter diese Zweige bückt,
ins Moos die spitzen Füße drückt,
und daß ein Has‘, vom Fuchs gehetzt,
dies Moos mit seinem Blute netzt.
Und schnaufend kriecht vielleicht hier auch
ein sammetweicher Igelbauch,
indes der Ameis‘ Karawanen
sich unentwegt durchs Dickicht bahnen.
Ein Wiesel pfeift — ein Sprung und Stoß —
und kalt und groß
gleitet die Schlange durch das Moos.

Wer weiß, was alles hier geschieht,
was nur das Moos im Dunklen sieht:
Gier, Liebesbrunst und Meuchelmord —
kein Wort
verrät das Moos.
Und riesengroß
die Bäume stehen…

Hast du schon jemals Moos gesehen?

Ansichtskarte Siegfried von Vegesacks Doppelheimat Blumbergshof, lettisch Lohbergi, und in Weißenstein, Niederbayern auf Kohouti kriz, via Seniorentreff

Fachliteratur:

  1. Keiren: Moss Art mit Helen Nodding’s Moss Graffiti Recipe,
  2. Volkmar Wirth, Ruprecht Düll: Farbatlas Flechten und Moose, Verlag Eugen Ulmer, 2000.

Bilder: Green Sarah: Nothing in Nature Blooms All Year, 23. Oktober 2016;
Ansichtskarte von Siegfried von Vegesacks Doppelheimat: auf dem Blumbergshof, heute lettisch Lohbergi, und in Weißenstein/Niederbayern auf Kohouti kriz via Seniorentreff.

Soundtrack: Gunter Gabriel: Ohne Moos nichts los, aus: Damen wollen Kerle, 1978:

Written by Wolf

20. April 2018 at 00:01

Dem Knaben graut im Haidekraut

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Update zu Ho, ho, meine arme Seele!:

Es lässt sich leider nicht in Abrede stellen, dass Forscher, welche sich mit zahlreichen Fragen beschäftigen, die besonders die Hochmoore stellen, schon jetzt im nordwestdeutschen Tieflande, einem der Moorreichsten Länder der Erde, sich vergeblich um deren Lösung bemühen. In wenigen Jahren wird dies überhaupt nicht mehr möglich sein, bei der Hast, mit der man bemüht ist, die letzte Spur der Natur auf diesen interessanten Bildungen der Nützlichkeit zu opfern.

Carl Albert Weber, 1901.

Martin Peterdamm, Lost in the Swamp, 1. April 2017, Brandenburg

Wie versprochen verlautet nachstehend das Gedicht vom Haidemesser, das aller Wahrscheinlichkeit nach die Freiin Annette von Droste-Hülshoff im November 1841 zu ihrem Der Knabe im Moor angeregt hat.

Um bei dieser Gelegenheit der Frage eines nicht gerade minderbemittelten, nur eben mit anderen Sachen beschäftigten Kollegen zu begegnen: Doch, ja, wirklich, solche Interferenzen lassen sich schlüssig begründen und nachweisen; und: nein, nicht mit allerletzter, unwiderlegbarer Sicherheit. Leider zählt die Literaturwissenschaft „nur“ unter die Geisteswissenschaften, die nicht alles durch Empirie beweisen können, aber keineswegs bei beliebig austauschbaren Assoziationen und Vermutungen verweilen. Deshalb bleiben sie weiterhin Wissenschaften, weil sie auf logischen Wegen zu Ergebnissen kommen. Woraus ich betonen möchte: auf logischen Wegen; daran muss man oft auch die Literaturwissenschaftler selbst erinnern. Aber das funktioniert, und es funktioniert wissenschaftlich durch Deduktion und Induktion.

Der schlüssige Nachweis von dem apokryphen Gedicht Der Haidemesser von einem anonym bleibenden „B.H.“ auf Der Knabe im Moor geht so: Der Haidemesser stand am 18. Dezember 1837 im Unterhaltungsblatt des Westfälischen Merkur, den sich die Droste bis auf Schloss Meersburg am Bodensee liefern ließ — weil sie ihr angekauftes Fürstenhäusle krankheitshalber von ihrer Schwester und Schlossherrin verwalten lassen musste. was sie leider nicht mehr überleben sollte.

Nach der anderen Richtung — zurück in die Vergangenheit, auf die Quelle zu — reicht Der Haidemesser inhaltlich an das Gedicht Der Heidemann von Wilhelm Junkmann von 1836. Mit Junkmann war die Droste persönlich bekannt, kurz nach dem Knaben im Moor schrieb sie 1842 ihrerseits eine eigene Version gleichen Namens.

Zu den Handlungsmotiven bei B.H., Junkmann und Droste-Hülshoff: Auch bei der Droste — wie übrigens schon im alles andere als vorbildlosen Erlkönig von Goethe 1782 — flieht ein Knabe vor dem versammelten Volksaberglauben, den die Droste 1845 noch in Gestalten der Sonntagsspinnerin, des diebischen Torfgräbers und des kopflosen Geigers in den Westphälischen Schilderungen ausbreiten sollte. Darüber hinaus sollten dem eingesessenen Westfalen Moorlandschaften geistig sehr viel näher liegen als anderen Ethnien: sind im heutigen Nordrhein-Westfalen doch in Zeiten der Entwässerung bis heute auffallend viele Moore erhalten. Für die Empiriker unter uns sind das Zufälle, deren Logik nicht eindeutig zwingend sein kann, für Literaturwissenschaftler sind es Zufälle, die sich nicht mehr ignorieren lassen.

Martin Peterdamm, Lost in the Swamp, 1. April 2017, Brandenburg

Im Falle der Droste erfährt man diese Herleitung aus ihrer Gesamtausgabe von Bodo Plachta und Winfried Woesler — zwei Bände, Deutscher Klassiker Verlag, als wohlfeilere Hardcovers bei Insel — die ihren Kommentar offenbar sehr direkt aus der großen Gedichtinterpretation von Hermann Kunisch bezieht: In Annette von Droste-Hülshoff: ‚Der Knabe im Moor‘ in: Kleine Schriften. Zweiter Teil: Zur neueren deutschen Literatur, Duncker & Humblot, Berlin 1968, Seite 303 bis 337 steht in allen Wortsinnen erschöpfend alles zusammengetragen, was es zu Geschichte, Deutung und Bedeutung der Drosteschen Ballade zu wissen gibt — diese 35 Seiten der „Kleinen Schrift“ sind das einschlägige Standardwerk. Zur Erschließung der Quellen heißt es dort — wertend genug:

Martin Peterdamm, Lost in the Swamp, 1. April 2017, BrandenburgDie bisherige Beschreibung und Auslegung des ‚Knaben im Moor‘ kann in ihrem Gewicht verstärkt werden, wenn wir neben dieses Gedicht ein im Thema verwandtes eines münsterländischen Heimatpoeten stellen. Julius Schwering hat in seiner für die Klärung der Dichtung Annettes noch immer wichtigen Ausgabe [] ein Gedicht eine unbekannten (B. H. unterzeichnet) mitgeteilt, das im Unterhaltungsblatt des ‚Westfälischen Merkur‘ vom 18. 12. 1837 erschienen ist. Schwering vermutet, daß die Dichterin dieses Machwerk gekannt habe und von ihm zu ihrem angeregt worden sei. Das ist sicher zutreffend. Nur darf man darüber hinaus sagen, daß Widerspruch gegen dieses Erzeugnis, in dem ein großartiger Vorwurf kläglich vertan worden war, sie zu ihrem Gedicht veranlaßt haben kann. Jedenfalls ist das Gedicht aus dem ‚Westfälischen Merkur‘ geeignet, den Rang der Drosteschen Balle in volles Licht zu rücken.

Ein Machwerk also, das einen großartigen Vorwurf kläglich vertut. Die Leistung der Droste wäre demnach, aus Widerspruchsgeist eine regionale Gespenstergeschichte in der Tradition des Erlkönigs verbessert zu haben; die Leistung der heute gut erreichbaren Gesamtausgabe, das „Machwerk“ im Gegensatz zu Hermann Kunisch in originaler Rechtschreibung anzuführen. Die Typographie der Zeileneinrückungen entnehme ich dagegen nur dem Kunisch:

Martin Peterdamm, Lost in the Swamp, 1. April 2017, Brandenburg

——— B. H.:

Der Haidemesser

Unterhaltungsblatt des Westfälischen Merkur, 18. Dezember 1837:

          Der Süd durchfleucht
          Die Haide feucht,
     In himmlischer Ferne
     Erblassen die Sterne,
Es eilet der Knabe: O wär ich zu Haus!
Da ist es warm, da wird mir nicht graus!“

          Dem Knaben graut
          Im Haidekraut,
     Da glühet es helle
     Von Stelle zu Stelle,
Da zittert das kraut, da risselt der Schilf.
Der Knabe rufet: „Mein Vater, o hilf!“

          Der Knabe flieht
          Durch Kraut und Riet,
     Und stürzt in die Hütte
     Mit bebendem Schritte,
Da athmet er frei, da wehet es warm.
„Was bist du so blaß? Komm, ruh‘ mir im Arm!“

          Ach, ach, mir graut‘
          Im Haidekraut,
     Da glüht es so helle
     Von Stelle zu Stelle,
Da zittert das Kraut, da risselt der Schilf.
Ich rief vor Schrecken: „Mein Vater, o hlf!“

          „Mein Kind, das ist
          Der böse Christ,
     Durchwandelt die Haide
     In Trauer und Leide
Mit dürrem Fuße bei nächtlichem Graun.
Und öfter noch wirst du im Sturm ihn schaun.

          Der Mann war schlecht,
          Er maß nicht recht,
     D’rum mißt er die Stätte
     Mit glühender Kette
Von Alters her bis zum Ende der Welt.
Thu‘ immer, mein Söhnchen, was Gott gefällt!“

Martin Peterdamm, Lost in the Swamp, 1. April 2017, Brandenburg

Knäbin im Moor: Martin Peterdamm, Berlin: Lost in the Swamp, 1. April 2017. Nach neuerer spontaner Auskunft des Fotografen selbst entstand die Serie an einem der brandenburgischen Moore: dem Moor um den Teufelssee, nahe dem Müggelsee, den Zeitstempeln nach zwischen 18.02 und 18.45 Uhr.

Martin Peterdamm, Lost in the Swamp, 1. April 2017, Brandenburg

Soundtrack: Kate Bush: Wuthering Heights, aus: The Kick Inside, 1978: „Out on the wiley, windy moors, we’d roll and fall in green“, der Jugend zur Warnung:

Bonus Track: das gleiche nochmal von The Ukulele Orchestra of Great Britain, aus: A Fist Full of Ukuleles, 1994, weil Musik ja ruhig auch Spaß machen darf:

Written by Wolf

30. März 2018 at 00:01

Ho, ho, meine arme Seele!

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Update zu Denkst du denn nicht an den Loup Garou?,
Oh my, oh my, oh my, what if it was true? (O wolle nicht ergründen, was einmal unergründlich ist)
und Ach! wie ists erhebend sich zu freuen:

Es ergeht Empfehlung, ausnahmsweise fürs Fernsehen:

Jan Haft hat bis 2015 für Magie der Moore 500 Drehtage auf fünf Jahre und 80 Drehorte verteilt; der technische Aufwand lässt sich natürlich schon in Zahlen ermessen, sagt aber noch lange nichts aus über die Wunder, um nicht zu sagen: das Wunder dieses Dokumentarfilms.

T. Finn, Moor, Germany, 2015Dokumentarfilm. Wie das klingt. Nach Terra X mit Wumpf-Wumpf-Untermalung von lizenzfrei schaffenden Hans-Zimmer-Epigonen — wie sie auch der Trailer noch bringt. Erwarten Sie nichts und erwarten Sie alles. Wenn Sie das Ereignis, wie es leider wahrscheinlich ist, auf Arte verpasst haben, muss eben jetzt die DVD her, aber wahrscheinlich wurde genau dafür die Blu-ray erfunden. Beide werden offenbar extra erschwinglich gehalten, weil sie ausdrücklich als Unterrichtsmaterial ab der 5. Klasse herhalten sollen — Freigabe ohne Altersbeschränkung — und zwar vorzugsweise für Deutsch, Biologie, Erdkunde und Kunst. So geht interdisziplinär. Und: Nein, einfach so auf YouTube steht’s nicht.

Zu Jan Hafts interdisziplinärem Vorgehen gehört es, ausführlich an geeigneten Stellen zum Gestalten seiner Stimmung ein Gedicht heranzuziehen, das wir in unserer leider allzu monofakultären Sichtweise — mit Verlaubnis — nicht mit dem Arsch anschauen würden, weil es zu bekannt und auch ohne uns schon viel zu gut belegt ist: Der Knabe im Moor von der Droste 1842.

In der Verbindung zu Hafts ganz und gar erstaunlichen Bildern, die man so nicht hat kommen sehen, erhellt plötzlich, wie schön das Gedicht eigentlich ist — schauen Sie zum Beispiel mal das durchtriebene Reimschema genau an. Wir müssen deshalb gar nicht so elitär tun, sondern als Erkenntnisgewinn mitnehmen, was sich anbietet: 1. Die Droste hatte für ihre Interpretation einer Moorbegehung ein recht eindeutig fassbares Vorbild: einen nicht näher bezeichneten „B.H.“, der am 18. Dezember 1837 ins Unterhaltungsblatt des Westfälischen Merkur ein Gedicht namens Der Haidemesser setzen ließ, das möglicherweise auf Der Heidemann von Wilhelm Junkmann 1836 zurückgeht, welche beiden im Gegensatz zur Droste praktisch gar nicht belegt werden. Den Apokryphen vom Haidemesser will ich demnächst an dieser Stelle ausbreiten, was ich für diesen Fall ausnahmsweise versprechen kann (und wofür sich Ostern aufdrängt); 2. „Scheide“ bedeutet, liebe pubertäre Unterrichtsteilnehmer ab der 5. Klasse, die Grenze zwischen Moor und festem Boden.

Es folgt die zeichengenaue Fassung nach dem Erstdruck.

T. Finn, Moor, Germany, 2015

——— Annette von Droste-Hülshoff:

Der Knabe im Moor

geschrieben November 1841 im Fürstenhäusle zu Meersburg am Bodensee,
aus: Morgenblatt für gebildete Stände Nr. 40, 16. Februar 1842,
in: Gedichte, 1844, Abschnitt Heidebilder;
Levin Schücking (Hrsg.): Gesammelte Schriften von Annette Freiin von Droste-Hülshoff.
Band 1: Lyrische Gedichte, J. G. Cotta’sche Buchhandlung, Stuttgart 1879, Seite 115–116:

O, schaurig ist’s, übers Moor zu gehn,
Wenn es wimmelt vom Haiderauche,
Sich wie Phantome die Dünste drehn
Und die Ranke häkelt am Strauche,
Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,
Wenn aus der Spalte es zischt und singt –
O, schaurig ist’s, übers Moor zu gehn,
Wenn das Röhricht knistert im Hauche!

Deutscher Balladenborn für jung und alt, 1904Fest hält die Fibel das zitternde Kind
Und rennt, als ob man es jage;
Hohl über die Fläche sauset der Wind –
Was raschelt drüben am Hage?
Das ist der gespenstige Gräberknecht,
Der dem Meister die besten Torfe verzecht;
Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind!
Hinducket das Knäblein zage.

Vom Ufer starret Gestumpf hervor,
Unheimlich nicket die Föhre,
Der Knabe rennt, gespannt das Ohr,
Durch Riesenhalme wie Speere;
Und wie es rieselt und knittert darin!
Das ist die unselige Spinnerin,
Das ist die gebannte Spinnlenor‘,
Die den Haspel dreht im Geröhre!

Voran, voran, nur immer im Lauf,
Voran, als woll‘ es ihn holen;
Vor seinem Fuße brodelt es auf,
Es pfeift ihm unter den Sohlen
Wie eine gespenstige Melodei;
Das ist der Geigenmann ungetreu,
Das ist der diebische Fiedler Knauf,
Der den Hochzeitheller gestohlen!

Da birst das Moor, ein Seufzer geht
Hervor aus der klaffenden Höhle;
Weh, weh, da ruft die verdammte Margret:
„Ho, ho, meine arme Seele!“
Der Knabe springt wie ein wundes Reh,
Wär‘ nicht Schutzengel in seiner Näh‘,
Seine bleichenden Knöchelchen fände spät
Ein Gräber im Moorgeschwehle.

Da mählich gründet der Boden sich,
Und drüben, neben der Weide,
Die Lampe flimmert so heimathlich,
Der Knabe steht an der Scheide.
Tief athmet er auf, zum Moor zurück
Noch immer wirft er den scheuen Blick:
Ja, im Geröhre war’s fürchterlich,
O, schaurig war’s in der Haide!

Jan Haft könnten wir an dieser Stelle noch öfter gebrauchen. Noch vor seinem — nicht seinem ersten — wundersamen Meisterwerk über Moore 2015 hat er nämlich Das Grüne Wunder – Unser Wald 2012 gedreht, in sechs Jahren an 70 Drehorten, als Unterrichtsmaterial empfohlen für Deutsch, Heimat- und Sachkunde, Erdkunde, Kunst und Werken: noch viel interdisziplinärer, und sobald es um Wälder geht, bestimmt noch viel wundersamer. Auch der steht nicht einfach so auf YouTube, aber die DVD ist lieferbar.

T. Finn, Moor, Germany, 2015

Bilder: Deutscher Balladenborn für jung und alt, 1904,
via Martina „Büchersammler“ Berg, 16. September 2013;
T. Finn: Moor, Germany, 2015, via Low on Clichés:

Torfstich. Torfabbau zu Heizzwecken vor 1900 und nach 1918 bis Ende der 20er Jahre. Geringfügiger Abbau von 1945–1946 (Abstichkante von 1946 nch sichtbar). Stichfläche wird in zunehmendem Maße von Hochmoorpflanzen besiedelt.

T. Finn, Moor, Germany, 2015

Rezitation: Sigrid Carpe Poem aus Regensburg, 4. Januar 2015;
Vertonung: Sturmpercht: Der Knabe im Moor, aus: Geister Im Waldgebirg, 2006,
mit abweichendem Text, aber schmissigem Gitarrenzupf;
Bonus Track: Various Irish Musicians: The Gathering, 1981, opening mit Paul Brady: Heather on the Moor:

Written by Wolf

2. März 2018 at 00:01

Wunderblatt 9: Dies ist das Kaktusland

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Upate zu Die Vegetation ist der negative Lebensprozeß. Vom ursprünglichsten Gegensatz zwischen Pflanze und Tier
und Something greater than me:

Paul Lauenstein, Stillleben mit Kakteen, 1934

Die Hochhaushex schreibt mir:

Total begeistert bin ich von deiner (immer noch?) momentanen Lieblinxsammlung:

cacti / cactuses / cactus in visual art.

Karl Hofer, Mädchen mit Kaktus, ca. 1922Eigentlich bin ich kein exzessiver Kaktusfreak – obwohl ich diverse Stachelgewächse hie und da bei mir rumstehen hab, einige sogar im Treppenflur, bevor sie bald wieder auf den Balkon umziehen dürfen. Ein paar sind geschenkt, einige haben mich wohl leidend irgendwo im Sonderangebot angefleht, sie von dort wegzuschaffen und zu adoptieren. Die Opuntien oder volksmundlichen Elefantenohren mögen mich nicht sonderlich und haben sich schon des öfteren faul und schrumpelig, evtl. auch beleidigt verabschiedet. Aber gerade aus „deiner“ Sammlung strahlt auch etwas, was ich schon immer bei diesen Naturerscheinungen, zumal den altehrwürdigen, gedacht habe, etwas … hmjah, Philosophisches. Ein Hauch von Ewigkeit in diesen spartanisch lebenden, oft fast hässlichen Gewächsen, die, auch bei mir, urplötzlich so wunderschöne Blüten zaubern. Manche haben Gesichter, dochdoch, haben Arme, Hände, allerdings kaum Füße. Und was von denen, also den Füßen jetzt, zu sehen ist, das möchte mit den Jahren manchmal ein knorriger Baum werden, sag ich doch, was beinah Ewiges.

Die Töpfe, in die man sie außerhalb ihrer natürlichen Umgebung pfropft, zerfallen schneller als die Pflanze, und die wiederum dankt dir, wenn der Topf selber schön und angemessen ist, gern auch exotisch. Malen würd ich sowas, glaub ich, nie, schon gar nicht als Stillleben. Andere tun’s ja augenscheinlich schon, mit Ambition und in Vielfalt. Die haben schon was, die Stachelviecher, scheren sich um keine Anweisungen und Erwartungen, wie mein Weihnachtskaktus, der schickt sich auch grad wieder an, nach Weihnachten auch zu Ostern zu blühen.

Etwas skurrile Nebenwirkung: Bei meiner vorübergehenden Lieblings-Crimelady D. L. Sayers spielt in den Flitterwochen von Lord Peter Wimsey ein ehrwürdig imposanter Kaktus eine tragische Rolle – er wird als Mordwerkzeug missbraucht. Was wohl dazu beiträgt, dass in dem Romanwerk, das überall von John-Donne-Zitaten des Lieblings des Lords strotzt, für die Kaktushymne der T. S. Eliot (aus „Die hohlen Männer„) herhalten muss:

Gustaf Carlström, Blühender Kaktus, 1929

——— T. S. Eliot:

Die hohlen Männer

The Hollow Men, 1925. Deutsche Übersetzung: Hans Magnus Enzensberger.
Metatext von Ulrich Bergmann: Denn dein ist das Leben! für Fixpoetry, 2. Oktober 2012:

Mistah Kurtz — he dead.
A penny for the Old Guy

I

Georg Scholz, Kakteen und Semaphore, 1923Wir sind die hohlen Männer
Die Ausgestopften
Aufeinandergestützt
Stroh im Schädel. Ach,
Unsere dürren Stimmen,
Leis und sinnlos
Wispern sie miteinander
Wie Wind im trockenen Gras
Oder Rattenfüße über Scherben
In unserm trockenen Keller

Gestalt formlos, Schatten farblos,
Gelähmte Kraft, reglose Geste;

Die hinüber sind, sehenden Auges,
Ins andere Reich des Todes,
Wenn sie an uns denken, denken sie nicht
An gewalttätige verlorene Seelen,
sondern an hohle Männer,
An Ausgestopfte.

II

Augen, deren Blick ich fürchte,
Die nicht erscheinen
Im Traumreich des Todes:
Dort sind die Augen
Sonnenlicht auf Säulentrümmern
Dort, ein Baum der sich wiegt
Und Stimmen sind
Im Gesang des Winds
Ferner und feierlicher
Als verblassender Stern
So fern will auch ich sein
Im Traumreich des Todes
Ich will auch so
Vorsätzliche Masken wählen
Rattenfell, Krähenhaut, Vogelscheuche
Auf einem Feld,
Die tun, was der Wind will,
So fern —

Nicht die endgültige Begegnung
Im Reich des Zwielichts

III

Dies ist das tote Land
Dies ist das Kaktusland
Hier sind aufgerichtet
Die steinernen Bilder, zu denen
Betet die Hand eines Toten, darüber
Funkelt ein verblassender Stern.

Ob es so ist
In dem anderen Todesreich
Ob Lippen wachen, mit sich allein,
Zur Stunde da wir beben
Vor Zärtlichkeit,
Lippen die küssen möchten
Und beten zu zerbrochenem Stein.

IV

Die Augen sind nicht hier
Hier sind keine Augen mehr
In diesem Tal da Sterne sterben
In diesem Hohlweg
Dem Stück Kinnbacken zu unseren verlorenen Reichen

Auf diesem letzten Sammelplatz
Tasten wir nach dem andern
Sprachlos geschart
Am Ufer des reißenden Stroms
Blind, es erschienen denn
Die Augen wieder
Wie der lebendige Stern
Die vielblättrige Rose
Des zwielichtigen Totenreiches,
Niemandes Hoffnung,
Hoffnung der leeren Männer.

V

Sergius Pauser, Dame in Weiß. Fräulein Sokal, 1927Wir tanzen um den Stachelbaum
Stachelbaum Stachelbaum
Wir tanzen um den Stachelbaum
Um fünf Uhr früh am Morgen.

Zwischen Idee
Und Wirklichkeit
Zwischen Regung
Und Tat
Fällt der Schatten

Denn Dein ist das Reich

Zwischen Empfängnis
Und Geburt
Zwischen Gefühl
Und Erwiderung
Fällt der Schatten

Das Leben ist lang

Zwischen Verlangen
Und Zuckung
Zwischen Vermögen
Und Leibhaftigkeit
Zwischen Wesen
Und Abstieg

Fällt der Schatten

Denn Dein ist das Reich

Denn Dein ist
Das Leben ist
Denn Dein ist das
Auf diese Art geht die Welt zugrund
Auf diese Art geht die Welt zugrund
Auf diese Art geht die Welt zugrund
Nicht mit einem Knall: mit Gewimmer.

Unbekannter Künstler, Prickly Pear, Opuntia spec., Öl auf Leinwand, 63 cm x 76 cm

Der Hochhaushex favorisiertes „Romanwerk, das überall von John-Donne-Zitaten des Lieblings des Lords strotzt“, mit dem handlungstragenden Kaktus ist der elfte und letzte Lord-Peter-Wimsey-Roman der Lady Dorothy L. Sayers: Busman’s Honeymoon, erschienen im Verlag Victor Gollancz Ltd., London 1937; deutsch zuerst als Lord Peters abenteuerliche Hochzeitsfahrt, Tübingen 1954; Neuübersetzung von Otto Bayer als Hochzeit kommt vor dem Fall, Rowohlt Reinbek 1982, erhältlich als Wunderlich Taschenbuch, Rowohlt, Reinbek 2000.

Adolf Gross, Österreich, 1873--1937, Akt mit KaktusWo die freundliche, pflanzenbegabte Hexe irrt: Elefantenohren sind keine Opuntien, sondern Kalanchoe beharensis, ein Dickblattgewächs. Opuntien sind Kakteengewächse, dafür heißen Elefantenohren auch Haemanthus albiflos, ein Amaryllisgewächs, und das Riesenblättrige Pfeilblatt Alocasia macrorrhizos, ein Aronstabgewächs. Eine lässliche Verwechslung: Soll sich einer auskennen.

Eigentlich hätte ich ja die Pommeskuität als Lieblingssammlung vorgestellt, wenn Tatjana Traurig ihre Sammeltätigkeit nicht Ende Mai 2015 eingestellt hätte.

Kaktusbilder:

  1. Paul Lauenstein: Stillleben mit Kakteen, 1934;
  2. Karl Hofer: Mädchen mit Kaktus, ca. 1922;
  3. Gustaf Carlström: Blühender Kaktus, 1929;
  4. Georg Scholz: Kakteen und Semaphore, 1923,
  5. Sergius Pauser: Dame in Weiß (Fräulein Sokal), 1927;
  6. unbekannter Künstler: Prickly Pear (Opuntia spec.), Öl auf Leinwand, 63 cm x 76 cm;
  7. Adolf Gross (Österreich, 1873–1937): Akt mit Kaktus,

alle via cacti / cactuses / cactus in visual art.

To watch the cactus bloom: The Handsome Family: Far from Any Road,
aus: Singing Bones, 2003 (und ab 2014 für True Detective):

From the dusty mesa, her looming shadow grows
Hidden in the branches of the poison creosote
She twines her spines up slowly towards the boiling sun
And when I touched her skin, my fingers ran with blood.

In the hushing dusk, under a swollen silver moon
I came walking with the wind to watch the cactus bloom
A strange hunger haunted me; the looming shadows danced
I fell down to the thorny brush and felt a trembling hand.


When the last light warms the rocks and the rattlesnakes unfold
Mountain cats will come to drag away your bones
And rise with me forever across the silent sand
And the stars will be your eyes and the wind will be my hands.

Als allzu offensichticher Bonus Track ist Comedian Harmonists: Mein kleiner grüner Kaktus, 15. November 1934, zwar etwas wohlfeil und hat womöglich zurecht jahrzehntelang in der Obskurität geruht, hat aber seit 22. September 1975 neue Fans, seit es Otto Waalkes für seine dritte Fernseh-Show ausgegraben hat:

Bonus Bonus Track: Dasselbe nochmal in aller gebotenen Dekadenz
für Joseph Vilsmaier: Comedian Harmonists, 1997:

Written by Wolf

12. Mai 2017 at 00:01

Veröffentlicht in Grünzeug & Wunderblätter

Quis me amabit? (Wer sol mich minnen?)

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Update zu Mit Blumen, mit verdorrten:

——— Carmina Burana, 149,I–II:

I     Floret silva nobilis

Floret silva nobilis
floribus et foliis.
ubi est antiquus
meus amicus?
hinc equitavit.
eia! quis me amabit?

Floret silva undique,
nâch mîme gesellen ist mir wê!

*

II     Gruonet der walt allenthalben

Gruonet der walt allenthalben.
wâ ist mîn geselle alse lange?
der ist geriten hinnen.
owî, wer sol mich minnen?

——— Carmina Burana, 149,I–II:

I     Der Wald schmückt sich reich

Der Wald schmückt sich reich
mit Blüten und mit Blättern.
Wo ist mein
Freund von einst?
Er ist weggeritten.
Ach, wer wird mich lieben?

Der Wald schmückt sich überall,
nach meinem Liebsten ist mir weh!

*

II     Es grünt der Wald allüberall

Es grünt der Wald allüberall.
Wo bleibt mein Liebster so lange?
Er ist fortgeritten.
O weh, wer wird mich lieben?

The Miss Cullen, make love not war XXXVI, 26. Januar 2014

Ola meint: „Huhuhu, nun ist er davongeritten! Huhuhu, nun stehe ich in dem Walde und werde nie wieder einen Mann treffen! So gehen eure Frühlingslieder? Sag mal, ist das normal bei euch Deutschen?“

BIld: Ola „The Miss Cullen“ Gajdosz: make love not war XXXVI, 26. Januar 2014.

Bonus Track, weil Musik ja auch irgendwie Spaß machen soll:
Zupfgeigenhansel: Deutschland, was im März errungen,
aus: Volkslieder III (Im Krug zum Grünen Kranze), 1978 zur Feier der Märzrevolution 1848:

Written by Wolf

9. März 2017 at 00:01

Geheimrat Goethes geheimer Garten

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Update zum 266. Geburtstag:
Der sehr junge Goethe und sein Vorhangstoff:

Ist Dichtung und Wahrheit eigentlich verfilmt? Meines Wissens nicht, außer man zählt die 2010er Klamotte Goethe! mit Alexander Fehling mit.

Julian Mandel, Noyer StudiosVom geheimen Garten zählt man mindestens neun Verfilmungen, die erste von 1919 davon verschollen, dafür zusätzlich Theaterfassungen, ein Musical und eine Oper — was nichts über die Qualität aussagen muss. Über die Quantität schon. Zum Beispiel hat Goethe schon als Kind in gewohnter Frühreife und Klarsicht den Stoff von Frances Hodgson Burnett vorweggenommen.

Als Kindheitswerk, als das Goethe es 60-jährig ausgibt, ist Der neue Paris nicht authentisch. Es wäre auch zu schön: all die Beschlagenheit in der griechischen Mythologie des zehnjährigen „Hätschelhans“ (cit. Mutter Goethe), die er in Vorahnungen zu seinem sehr viel späteren Wilhelm Meister umzusetzen versteht, dazu die Farbensymbolik aus seinem noch späteren eigenen Lieblingswerk der Farbenlehre — als ob ihm das jemals jemand geglaubt hätte. Nicht einmal sein ungefährer Zeitgenosse Klein-Mozart hat als Wunderkind auf dem Schulweg Frühversionen der Komtur-Arien vor sich hingepfiffen, das behaupte ich jetzt einfach.

Beweise? –: Zur biographischen Einordnung hilft ausnahmsweise nicht die frischeste (abgeschlossen 1999, äußert sich eher zu psychologischen Aspekten) und dazu am ausführlichsten kommentierte der Goethe-Gesamtausgaben, die Frankfurter, weiter, sondern die schon etwas ältliche liebe Tante namens Hamburger Ausgabe, die nicht auf alles eine Antwort weiß, aber immer da ist und so ziemlich über alles gewinnbringend mit sich quatschen lässt:

Julian Mandel, Noyer StudiosTagebuch, 3. Juli 1811: Der neue Paris, Knabenmärchen, diktiert. Ein Kunstmärchen, geschrieben im Alter; aber es besteht kein Grund, zu bezweifeln, daß Motive jugendlicher Phantasie darin nachwirken. Was im 2. Buch nicht als Bericht gesagt wird, ist hier im Symbol gesagt. Es hat Verwandtschaft mit dem Märchen in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten […]: die klare Bildhaftigkeit; das Handlen nach Bedingungen; Gegestände, die in das Geschehen gehören und zugleich Symbole sind wie die Brücke. Auch zu dem dritten Märchen, der Neuen Melusine […], hat es Beziehungen: beide sind Kontrafaktur, dort wird das Melusinen- bzw. Raimond-Motiv, hier das Paris-Motiv neu gestaltet; beide sind in breite Prosawerke eingeflochten, ohne daß der tiefere Zusammenhang unmittelbar ausgesprochen wird. Die Überleitung hat leichten Klang […] und läßt das Bedeutende nur kurz einfließen. Der fast 62jährige hatte die Welt als Künstler und als LIebender erlebt und deutete aus solcher Erfahrung die Jugend. Das Märchen zeigt des Knaben Phantasiewelt und Formkraft, seine Überlegenheit dadurch gegenüber anderen Kindern, seine unbewußte Richtung im Künstlerischen und Erotischen. Beide Bereiche tauchen zugleich auf, eng verknüpft. Kein Wort über symbolische Bedeutung oder Folge. — [Für die Ausgabe benutzte Fachliteratur:] Curt Habicht, Findlinge zum Thema Goethe und die bildende Kunst. I. Der neue Paris. Monatshefte f. Kunstwiss. 11, 1918, S. 233–238. — Beutler in der Artemis-Gedenk-Ausgabe, Bd. 10, S. 905 ff. — Beutler-Rumpf, Text zu Abb. 21. — W. Schadewaldt, Goethestudien. 1963. S. 262–282.

Heute würden wir sagen, Goethes Kunstmärchen — Typus Erlösungsmärchen — sei ein Fake aus der Sicht eines entschieden zu verwöhnten, selbstzufriedenen und siebengescheiten Fratzen, und ein englisches Kinderbuch samt seiner neun, darunter drei relevanten Verfilmungen zeige pro Druckseite und Filmminute mehr Einfühlung in eine Kinderseele als Goethe in seinem ganzen Lebenswerk, aber „heute“ sind wir auch nicht Erich Trunz, der 1955 die Hamburger Ausgabe kommentiert (5. Auflage 1964, textkritisch durchgesehen von Lieselotte Blumenthal). — Zwei Interpretationen nach Trunz führt dann doch wieder die Frankfurter Ausgabe an:

Karl-Heinz Kausen, Goethes ‚Knabenmärchen‘ ‚Der neue Paris‘ — oder ‚Biographica und Ästhetica‘, in: Jb. d. dt. Schiller-Gesellschaft 24 [1980], S. 102–122; Ingrid Kreutzer, Strukturprinzipien in Goethes Märchen, in: Jb. d. dt. Schiller-Gesellschaft 21 [1977], S. 216–246.

Eine ähnlich inspirierte mythologische Neufassung nach Der neue Paris kam von Goethe erst wieder in Gestalt der neuen Melusine im dritten Buch der Wanderjahre zwischen 1821 und 1829, also im Alterswerk. „Paris“ meint deshalb den auf der vorderen Silbe betonten altgriechischen Sohn von Hektor und Kassandra, der vor lauter Diplomatie und Verliebtheit den Trojanischen Krieg ausgelöst hat, nicht das hässliche überteuerte Häusermeer fünf Stunden hinter Freiburg im Breisgau.

Rosengarten München, I thanked and she never knew what for, September 2015

——— Goethe:

Der neue Paris

in: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, 1808 bis 1831, Zweites Buch, cit. Hamburger Ausgabe:

Julian Mandel, Noyer StudiosDiesen so wie andre Wohlwollende konnte ich sehr glücklich machen, wenn ich ihnen Märchen erzählte, und besonders liebten sie, wenn ich in eigner Person sprach, und hatten eine große Freude, daß mir als ihrem Gespielen so wunderliche Dinge könnten begegnet sein, und dabei gar kein Arges, wie ich Zeit und Raum zu solchen Abenteuern finden können, da sie doch ziemlich wußten, wie ich beschäftigt war und wo ich aus und ein ging. Nicht weniger waren zu solchen Begebenheiten Lokalitäten, wo nicht aus einer andern Welt, doch gewiß aus einer andern Gegend nötig, und alles war doch erst heut oder gestern geschehen, sie mußten sich daher mehr selbst betrügen, als ich sie zum besten haben konnte. Und wenn ich nicht nach und nach, meinem Naturell gemäß, diese Luftgestalten und Windbeuteleien zu kunstmäßigen Darstellungen hätte verarbeiten lernen, so wären solche aufschneiderische Anfänge gewiß nicht ohne schlimme Folgen für mich geblieben.

Betrachtet man diesen Trieb recht genau, so möchte man in ihm diejenige Anmaßung erkennen, womit der Dichter selbst das Unwahrscheinlichste gebieterisch ausspricht, und von einem jeden fordert, er solle dasjenige für wirklich erkennen, was ihm, dem Erfinder, auf irgend eine Weise als wahr erscheinen konnte.

Was jedoch hier nur im allgemeinen und betrachtungsweise vorgetragen worden, wird vielleicht durch ein Beispiel, durch ein Musterstück angenehmer und anschaulicher werden. Ich füge daher ein solches Märchen bei, welches mir, da ich es meinen Gespielen oft wiederholen mußte, noch ganz wohl vor der Einbildungskraft und im Gedächtnis schwebt.

Der neue Paris,

Knabenmärchen

Julian Mandel, Noyer Studio series 370 via Grandma DidMir träumte neulich in der Nacht vor Pfingstsonntag, als stünde ich vor einem Spiegel und beschäftigte mich mit den neuen Sommerkleidern, welche mir die lieben Eltern auf das Fest hatten machen lassen. Der Anzug bestand, wie ihr wißt, in Schuhen von sauberem Leder, mit großen silbernen Schnallen, feinen baumwollenen Strümpfen, schwarzen Unterkleidern von Sarsche, und einem Rock von grünem Berkan mit goldnen Balletten. Die Weste dazu, von Goldstoff, war aus meines Vaters Bräutigamsweste geschnitten. Ich war frisiert und gepudert, die Locken standen mir wie Flügelchen vom Kopfe; aber ich konnte mit dem Anziehen nicht fertig werden, weil ich immer die Kleidungsstücke verwechselte, und weil mir immer das erste vom Leibe fiel, wenn ich das zweite umzunehmen gedachte. In dieser großen Verlegenheit trat ein junger schöner Mann zu mir und begrüßte mich aufs freundlichste. „Ei, seid mir willkommen!“ sagte ich, „es ist mir ja gar lieb, daß ich Euch hier sehe.“ – „Kennt Ihr mich denn?“ versetzte jener lächelnd. – „Warum nicht?“ war meine gleichfalls lächelnde Antwort. „Ihr seid Merkur, und ich habe Euch oft genug abgebildet gesehen.“ – „Das bin ich“, sagte jener, „und von den Göttern mit einem wichtigen Auftrag an dich gesandt. Siehst du diese drei Äpfel?“ – Er reichte seine Hand her und zeigte mir drei Äpfel, die sie kaum fassen konnte, und die ebenso wundersam schön als groß waren, und zwar der eine von roter, der andere von gelber, der dritte von grüner Farbe. Man mußte sie für Edelsteine halten, denen man die Form von Früchten gegeben. Ich wollte darnach greifen; er aber zog zurück und sagte: „Du mußt erst wissen, daß sie nicht für dich sind. Du sollst sie den drei schönsten jungen Leuten von der Stadt geben, welche sodann, jeder nach seinem Lose, Gattinnen finden sollen, wie sie solche nur wünschen können. Nimm, und mach deine Sachen gut!“ sagte er scheidend, und gab mir die Äpfel in meine offnen Hände; sie schienen mir noch größer geworden zu sein. Ich hielt sie darauf in die Höhe, gegen das Licht, und fand sie ganz durchsichtig; aber gar bald zogen sie sich aufwärts in die Länge und wurden zu drei schönen, schönen Frauenzimmerchen in mäßiger Puppengröße, deren Kleider von der Farbe der vorherigen Äpfel waren. So gleiteten sie sacht an meinen Fingern hinauf, und als ich nach ihnen haschen wollte um wenigstens eine festzuhalten, schwebten sie schon weit in der Höhe und Ferne, daß ich nichts als das Nachsehen hatte. Ich stand ganz verwundert und versteinert da, hatte die Hände noch in der Höhe und beguckte meine Finger, als wäre daran etwas zu sehen gewesen. Aber mit einmal erblickte ich auf meinen Fingerspitzen ein allerliebstes Mädchen herumtanzen, kleiner als jene, aber gar niedlich und munter; und weil sie nicht wie die andern fortflog, sondern verweilte, und bald auf diese bald auf jene Fingerspitze tanzend hin und her trat, so sah ich ihr eine Zeitlang verwundert zu. Da sie mir aber gar so wohl gefiel, glaubte ich sie endlich haschen zu können und dachte geschickt genug zuzugreifen; allein in dem Augenblick fühlte ich einen Schlag an den Kopf, so daß ich ganz betäubt niederfiel, und aus dieser Betäubung nicht eher erwachte, als bis es Zeit war mich anzuziehen und in die Kirche zu gehen.

Unter dem Gottesdienst wiederholte ich mir jene Bilder oft genug; auch am großelterlichen Tische, wo ich zu Mittag speiste. Nachmittags wollte ich einige Freunde besuchen, sowohl um mich in meiner neuen Kleidung, den Hut unter dem Arm und den Degen an der Seite, sehen zu lassen, als auch weil ich ihnen Besuche schuldig war. Ich fand niemanden zu Hause, und da ich hörte, daß sie in die Gärten gegangen, so gedachte ich ihnen zu folgen und den Abend vergnügt zuzubringen. Mein Weg führte mich den Zwinger hin, und ich kam in die Gegend, welche mit Recht den Namen „schlimme Mauer“ führt: denn es ist dort niemals ganz geheuer. Ich ging nur langsam und dachte an meine drei Göttinnen, besonders aber an die kleine Nymphe, und hielt meine Finger manchmal in die Höhe, in Hoffnung, sie würde so artig sein, wieder darauf zu balancieren. In diesen Gedanken vorwärts gehend erblickte ich, linker Hand, in der Mauer ein Pförtchen, das ich mich nicht erinnerte je gesehen zu haben. Es schien niedrig, aber der Spitzbogen drüber hätte den größten Mann hindurch gelassen. Bogen und Gewände waren aufs zierlichste vom Steinmetz und Bildhauer ausgemeißelt, die Türe selbst aber zog erst recht meine Aufmerksamkeit an sich. Braunes uraltes Holz, nur wenig verziert, war mit breiten, sowohl erhaben als vertieft gearbeiteten Bändern von Erz beschlagen, deren Laubwerk, worin die natürlichsten Vögel saßen, ich nicht genug bewundern konnte. Doch was mir das Merkwürdigste schien, kein Schlüsselloch war zu sehen, keine Klinke, kein Klopfer, und ich vermutete daraus, daß diese Türe nur von innen aufgemacht werde. Ich hatte mich nicht geirrt: denn als ich ihr näher trat, um die Zieraten zu befühlen, tat sie sich hineinwärts auf, und es erschien ein Mann, dessen Kleidung etwas Langes, Weites und Sonderbares hatte. Auch ein ehrwürdiger Bart umwölkte sein Kinn; daher ich ihn für einen Juden zu halten geneigt war. Er aber, eben als wenn er meine Gedanken erraten hätte, machte das Zeichen des heiligen Kreuzes, wodurch er mir zu erkennen gab, daß er ein guter katholischer Christ sei. – „Junger Herr, wie kommt Ihr hierher, und was macht Ihr da?“ sagte er mit freundlicher Stimme und Gebärde. – „Ich bewundre“, versetzte ich, „die Arbeit dieser Pforte: denn ich habe dergleichen noch niemals gesehen; es müßte denn sein auf kleinen Stücken in den Kunstsammlungen der Liebhaber.“ – „Es freut mich“, versetzte er darauf, „daß Ihr solche Arbeit liebt. Inwendig ist die Pforte noch viel schöner: tretet herein, wenn es Euch gefällt.“ Mir war bei der Sache nicht ganz wohl zu Mute. Die wunderliche Kleidung des Pförtners, die Abgelegenheit und ein sonst ich weiß nicht was, das in der Luft zu liegen schien, beklemmte mich. Ich verweilte daher, unter dem Vorwande, die Außenseite noch länger zu betrachten, und blickte dabei verstohlen in den Garten: denn ein Garten war es, der sich vor mir eröffnet hatte. Gleich hinter der Pforte sah ich einen großen beschatteten Platz; alte Linden, regelmäßig von einander abstehend, bedeckten ihn völlig mit ihren dicht in einander greifenden Ästen, so daß die zahlreichsten Gesellschaften in der größten Tageshitze sich darunter hätten erquicken können. Schon war ich auf die Schwelle getreten, und der Alte wußte mich immer um einen Schritt weiter zu locken. Ich widerstand auch eigentlich nicht: denn ich hatte jederzeit gehört, daß ein Prinz oder Sultan in solchem Falle niemals fragen müsse, ob Gefahr vorhanden sei. Hatte ich doch auch meinen Degen an der Seite; und sollte ich mit dem Alten nicht fertig werden, wenn er sich feindlich erweisen wollte? Ich trat also ganz gesichert hinein; der Pförtner drückte die Türe zu, die so leise einschnappte, daß ich es kaum spürte. Nun zeigte er mir die inwendig angebrachte, wirklich noch viel kunstreichere Arbeit, legte sie mir aus, und bewies mir dabei ein besonderes Wohlwollen. Hiedurch nun völlig beruhigt, ließ ich mich in dem belaubten Raume an der Mauer, die sich ins Runde zog, weiter führen, und fand manches an ihr zu bewundern. Nischen, mit Muscheln, Korallen und Metallstufen künstlich ausgeziert, gaben aus Tritonenmäulern reichliches Wasser in marmorne Becken; dazwischen waren Vogelhäuser angebracht und andre Vergitterungen, worin Eichhörnchen herumhüpften, Meerschweinchen hin und wider liefen, und was man nur sonst von artigen Geschöpfen wünschen kann. Die Vögel riefen und sangen uns an, wie wir vorschritten; die Stare besonders schwätzten das närrischste Zeug; der eine rief immer: „Paris, Paris“, und der andre: „Narziß, Narziß“, so deutlich, als es ein Schulknabe nur aussprechen kann. Der Alte schien mich immer ernsthaft anzusehen, indem die Vögel dieses riefen; ich tat aber nicht, als wenn ich’s merkte, und hatte auch wirklich nicht Zeit, auf ihn Acht zu geben: denn ich konnte wohl gewahr werden, daß wir in die Runde gingen, und daß dieser beschattete Raum eigentlich ein großer Kreis sei, der einen andern viel bedeutendern umschließe. Wir waren auch wirklich wieder bis ans Pförtchen gelangt, und es schien, als wenn der Alte mich hinauslassen wolle; allein meine Augen blieben auf ein goldnes Gitter gerichtet, welches die Mitte dieses wunderbaren Gartens zu umzäunen schien, und das ich auf unserm Gange hinlänglich zu beobachten Gelegenheit fand, ob mich der Alte gleich immer an der Mauer und also ziemlich entfernt von der Mitte zu halten wußte. Als er nun eben auf das Pförtchen losging, sagte ich zu ihm, mit einer Verbeugung: „Ihr seid so äußerst gefällig gegen mich gewesen, daß ich wohl noch eine Bitte wagen möchte, ehe ich von Euch scheide. Dürfte ich nicht jenes goldne Gitter näher besehen, das in einem sehr weiten Kreise das Innere des Gartens einzuschließen scheint?“ – „Recht gern“, versetzte jener; „aber sodann müßt Ihr Euch einigen Bedingungen unterwerfen.“ – „Worin bestehen sie?“ fragte ich hastig. – „Ihr müßt Euren Hut und Degen hier zurücklassen, und dürft mir nicht von der Hand, indem ich Euch begleite.“ – „Herzlich gern!“ erwiderte ich, und legte Hut und Degen auf die erste beste steinerne Bank. Sogleich ergriff er mit seiner Rechten meine Linke, hielt sie fest, und führte mich mit einiger Gewalt gerade vorwärts. Als wir ans Gitter kamen, verwandelte sich meine Verwunderung in Erstaunen: so etwas hatte ich nie gesehen. Auf einem hohen Sockel von Marmor standen unzählige Spieße und Partisanen neben einander gereiht, die durch ihre seltsam verzierten oberen Enden zusammenhingen und einen ganzen Kreis bildeten. Ich schaute durch die Zwischenräume, und sah gleich dahinter ein sanft fließendes Wasser, auf beiden Seiten mit Marmor eingefaßt, das in seinen klaren Tiefen eine große Anzahl von Gold- und Silberfischen sehen ließ, die sich bald sachte bald geschwind, bald einzeln bald zugweise hin und her bewegten. Nun hätte ich aber auch gern über den Kanal gesehen, um zu erfahren, wie es in dem Herzen des Gartens beschaffen sei; allein da fand ich zu meiner großen Betrübnis, daß an der Gegenseite das Wasser mit einem gleichen Gitter eingefaßt war, und zwar so künstlicher Weise, daß auf einen Zwischenraum diesseits gerade ein Spieß oder eine Partisane jenseits paßte, und man also, die übrigen Zieraten mitgerechnet, nicht hindurchsehen konnte, man mochte sich stellen, wie man wollte. Überdies hinderte mich der Alte, der mich noch immer festhielt, daß ich mich nicht frei bewegen konnte. Meine Neugier wuchs indes, nach allem, was ich gesehen, immer mehr, und ich nahm mir ein Herz, den Alten zu fragen, ob man nicht auch hinüber kommen könne. – „Warum nicht?“ versetzte jener; „aber auf neue Bedingungen.“ – Als ich nach diesen fragte, gab er mir zu erkennen, daß ich mich umkleiden müsse. Ich war es sehr zufrieden; er führte mich zurück nach der Mauer in einen kleinen reinlichen Saal, an dessen Wänden mancherlei Kleidungen hingen, die sich sämtlich dem orientalischen Kostüm zu nähern schienen. Ich war geschwind umgekleidet; er streifte meine gepuderten Haare unter ein buntes Netz, nachdem er sie zu meinem Entsetzen gewaltig ausgestäubt hatte. Nun fand ich mich vor einem großen Spiegel in meiner Vermummung gar hübsch, und gefiel mir besser als in meinem steifen Sonntagskleide. Ich machte einige Gebärden und Sprünge, wie ich sie von den Tänzern auf dem Meßtheater gesehen hatte. Unter diesem sah ich in den Spiegel und erblickte zufällig das Bild einer hinter mir befindlichen Nische. Auf ihrem weißen Grunde hingen drei grüne Strickchen, jedes in sich auf eine Weise verschlungen, die mir in der Ferne nicht deutlich werden wollte. Ich kehrte mich daher etwas hastig um, und fragte den Alten nach der Nische so wie nach den Strickchen. Er, ganz gefällig, holte eins herunter und zeigte es mir. Es war eine grünseidene Schnur von mäßiger Stärke, deren beide Enden, durch ein zwiefach durchschnittenes grünes Leder geschlungen, ihr das Ansehn gaben, als sei es ein Werkzeug zu einem eben nicht sehr erwünschten Gebrauch. Die Sache schien mir bedenklich, und ich fragte den Alten nach der Bedeutung. Er antwortete mir ganz gelassen und gütig: es sei dieses für diejenigen, welche das Vertrauen mißbrauchten, das man ihnen hier zu schenken bereit sei. Er hing die Schnur wieder an ihre Stelle und verlangte sogleich, daß ich ihm folgen solle: denn diesmal faßte er mich nicht an, und so ging ich frei neben ihm her.

Julian Mandel, Noyer Studio series 370 via Grandma DidMeine größte Neugier war nunmehr, wo die Türe, wo die Brücke sein möchte, um durch das Gitter, um über den Kanal zu kommen: denn ich hatte dergleichen bis jetzt noch nicht ausfindig machen können. Ich betrachtete daher die goldene Umzäunung sehr genau, als wir darauf zueilten; allein augenblicklich verging mir das Gesicht: denn unerwartet begannen Spieße, Speere, Hellebarden, Partisanen sich zu rütteln und zu schütteln, und diese seltsame Bewegung endigte damit, daß die sämtlichen Spitzen sich gegen einander senkten, eben als wenn zwei altertümliche, mit Piken bewaffnete Heerhaufen gegen einander losgehen wollten. Die Verwirrung fürs Auge, das Geklirr für die Ohren war kaum zu ertragen, aber unendlich überraschend der Anblick, als sie völlig niedergelassen den Kreis des Kanals bedeckten und die herrlichste Brücke bildeten, die man sich denken kann: denn nun lag das bunteste Gartenparterre vor meinem Blick. Es war in verschlungene Beete geteilt, welche zusammen betrachtet ein Labyrinth von Zieraten bildeten; alle mit grünen Einfassungen von einer niedrigen, wollig wachsenden Pflanze, die ich nie gesehen; alle mit Blumen, jede Abteilung von verschiedener Farbe, die, ebenfalls niedrig und am Boden, den vorgezeichneten Grundriß leicht verfolgen ließen. Dieser köstliche Anblick, den ich in vollem Sonnenschein genoß, fesselte ganz meine Augen; aber ich wußte fast nicht, wo ich den Fuß hinsetzen sollte: denn die schlängelnden Wege waren aufs reinlichste von blauem Sande gezogen, der einen dunklern Himmel, oder einen Himmel im Wasser, an der Erde zu bilden schien; und so ging ich, die Augen auf den Boden gerichtet, eine Zeitlang neben meinem Führer, bis ich zuletzt gewahr ward, daß in der Mitte von diesem Beeten- und Blumenrund ein großer Kreis von Zypressen oder pappelartigen Bäumen stand, durch den man nicht hindurchsehen konnte, weil die untersten Zweige aus der Erde hervorzutreiben schienen. Mein Führer, ohne mich gerade auf den nächsten Weg zu drängen, leitete mich doch unmittelbar nach jener Mitte, und wie war ich überrascht, als ich, in den Kreis der hohen Bäume tretend, die Säulenhalle eines köstlichen Gartengebäudes vor mir sah, das nach den übrigen Seiten hin ähnliche Ansichten und Eingänge zu haben schien. Noch mehr aber als dieses Muster der Baukunst entzückte mich eine himmlische Musik, die aus dem Gebäude hervordrang. Bald glaubte ich eine Laute, bald eine Harfe, bald eine Zither zu hören, und bald noch etwas Klimperndes, das keinem von diesen drei Instrumenten gemäß war. Die Pforte, auf die wir zugingen, eröffnete sich bald nach einer leisen Berührung des Alten; aber wie erstaunt war ich, als die heraustretende Pförtnerin ganz vollkommen dem niedlichen Mädchen glich, das mir im Traume auf den Fingern getanzt hatte. Sie grüßte mich auch auf eine Weise, als wenn wir schon bekannt wären, und bat mich hereinzutreten. Der Alte blieb zurück, und ich ging mit ihr durch einen gewölbten und schön verzierten kurzen Gang nach dem Mittelsaal, dessen herrliche domartige Höhe beim Eintritt meinen Blick auf sich zog und mich in Verwunderung setzte. Doch konnte mein Auge nicht lange dort verweilen, denn es ward durch ein reizenderes Schauspiel herabgelockt. Auf einem Teppich, gerade unter der Mitte der Kuppel, saßen drei Frauenzimmer im Dreieck, in drei verschiedene Farben gekleidet, die eine rot, die andre gelb, die dritte grün; die Sessel waren vergoldet, und der Teppich ein vollkommenes Blumenbeet. In ihren Armen lagen die drei Instrumente, die ich draußen hatte unterscheiden können: denn durch meine Ankunft gestört, hatten sie mit Spielen inne gehalten. – „Seid uns willkommen!“ sagte die mittlere, die nämlich, welche mit dem Gesicht nach der Türe saß, im roten Kleide und mit der Harfe. „Setzt Euch zu Alerten und hört zu, wenn Ihr Liebhaber von der Musik seid.“ Nun sah ich erst, daß unten quervor ein ziemlich langes Bänkchen stand, worauf eine Mandoline lag. Das artige Mädchen nahm sie auf, setzte sich und zog mich an ihre Seite. Jetzt betrachtete ich auch die zweite Dame zu meiner Rechten; sie hatte das gelbe Kleid an, und eine Zither in der Hand; und wenn jene Harfenspielerin ansehnlich von Gestalt, groß von Gesichtszügen, und in ihrem Betragen majestätisch war, so konnte man der Zitherspielerin ein leicht anmutiges heitres Wesen anmerken. Sie war eine schlanke Blondine, da jene dunkelbraunes Haar schmückte. Die Mannigfaltigkeit und Übereinstimmung ihrer Musik konnte mich nicht abhalten, nun auch die dritte Schönheit im grünen Gewande zu betrachten, deren Lautenspiel etwas Rührendes und zugleich Auffallendes für mich hatte. Sie war diejenige, die am meisten auf mich Acht zu geben und ihr Spiel an mich zu richten schien; nur konnte ich aus ihr nicht klug werden: denn sie kam mir bald zärtlich, bald wunderlich, bald offen, bald eigensinnig vor, je nachdem sie die Mienen und ihr Spiel veränderte. Bald schien sie mich rühren, bald mich necken zu wollen. Doch mochte sie sich stellen wie sie wollte, so gewann sie mir wenig ab: denn meine kleine Nachbarin, mit der ich Ellbogen an Ellbogen saß, hatte mich ganz für sich eingenommen; und wenn ich in jenen drei Damen ganz deutlich die Sylphiden meines Traums und die Farben der Äpfel erblickte, so begriff ich wohl, daß ich keine Ursache hätte, sie festzuhalten. Die artige Kleine hätte ich lieber angepackt, wenn mir nur nicht der Schlag, den sie mir im Traume versetzt hatte, gar zu erinnerlich gewesen wäre. Sie hielt sich bisher mit ihrer Mandoline ganz ruhig; als aber ihre Gebieterinnen aufgehört hatten, so befahlen sie ihr, einige lustige Stückchen zum besten zu geben. Kaum hatte sie einige Tanzmelodien gar aufregend abgeklimpert, so sprang sie in die Höhe; ich tat das gleiche. Sie spielte und tanzte; ich ward hingerissen, ihre Schritte zu begleiten, und wir führten eine Art von kleinem Ballett auf, womit die Damen zufrieden zu sein schienen: denn sobald wir geendigt, befahlen sie der Kleinen, mich derweil mit etwas Gutem zu erquicken, bis das Nachtessen herankäme. Ich hatte freilich vergessen, daß außer diesem Paradiese noch etwas anderes in der Welt wäre. Alerte führte mich sogleich in den Gang zurück, durch den ich hereingekommen war. An der Seite hatte sie zwei wohleingerichtete Zimmer; in dem einen, wo sie wohnte, setzte sie mir Orangen, Feigen, Pfirschen und Trauben vor, und ich genoß sowohl die Früchte fremder Länder, als auch die der erst kommenden Monate mit großem Appetit. Zuckerwerk war im Überfluß; auch füllte sie einen Pokal von geschliffnem Kristall mit schäumendem Wein: doch zu trinken bedurfte ich nicht, denn ich hatte mich an den Früchten hinreichend gelabt. – „Nun wollen wir spielen“, sagte sie und führte mich in das andere Zimmer. Hier sah es nun aus wie auf einem Christmarkt; aber so kostbare und feine Sachen hat man niemals in einer Weihnachtsbude gesehen. Da waren alle Arten von Puppen, Puppenkleidern und Puppengerätschaften; Küchen, Wohnstuben und Läden; und einzelne Spielsachen in Unzahl. Sie führte mich an allen Glasschränken herum: denn in solchen waren diese künstlichen Arbeiten aufbewahrt. Die ersten Schränke verschloß sie aber bald wieder und sagte: „Das ist nichts für Euch, ich weiß es wohl. Hier aber“, sagte sie, „könnten wir Baumaterialien finden, Mauern und Türme, Häuser, Paläste, Kirchen, um eine große Stadt zusammenzustellen. Das unterhält mich aber nicht; wir wollen zu etwas anderem greifen, das für Euch und mich gleich vergnüglich ist.“ – Sie brachte darauf einige Kasten hervor, in denen ich kleines Kriegsvolk über einander geschichtet erblickte, von dem ich sogleich bekennen mußte, daß ich niemals so etwas Schönes gesehen hätte. Sie ließ mir die Zeit nicht, das einzelne näher zu betrachten, sondern nahm den einen Kasten unter den Arm, und ich packte den andern auf. „Wir wollen auf die goldne Brücke gehen“, sagte sie; „dort spielt sich’s am besten mit Soldaten: die Spieße geben gleich die Richtung, wie man die Armeen gegen einander zu stellen hat.“ Nun waren wir auf dem goldnen schwankenden Boden angelangt; unter mir hörte ich das Wasser rieseln und die Fische plätschern, indem ich niederkniete, meine Linien aufzustellen. Es war alles Reiterei, wie ich nunmehr sah. Sie rühmte sich, die Königin der Amazonen zum Führer ihres weiblichen Heeres zu besitzen; ich dagegen fand den Achill und eine sehr stattliche griechische Reiterei. Die Heere standen gegen einander, und man konnte nichts Schöneres sehen. Es waren nicht etwa flache bleierne Reiter, wie die unsrigen, sondern Mann und Pferd rund und körperlich, und auf das feinste gearbeitet; auch konnte man kaum begreifen, wie sie sich im Gleichgewicht hielten: denn sie standen für sich, ohne ein Fußbrettchen zu haben.

Wir hatten nun jedes mit großer Selbstzufriedenheit unsere Heerhaufen beschaut, als sie mir den Angriff verkündigte. Wir hatten auch Geschütz in unsern Kästen gefunden; es waren nämlich Schachteln voll kleiner wohlpolierter Achatkugeln. Mit diesen sollten wir aus einer gewissen Entfernung gegen einander kämpfen, wobei jedoch ausdrücklich bedungen war, daß nicht stärker geworfen werde, als nötig sei, die Figuren umzustürzen: denn beschädigt sollte keine werden. Wechselseitig ging nun die Kanonade los, und im Anfang wirkte sie zu unser beider Zufriedenheit. Allein als meine Gegnerin bemerkte, daß ich doch besser zielte als sie, und zuletzt den Sieg, der von der Überzahl der Stehngebliebenen abhing, gewinnen möchte, trat sie näher, und ihr mädchenhaftes Werfen hatte denn auch den erwünschten Erfolg. Sie streckte mir eine Menge meiner besten Truppen nieder, und je mehr ich protestierte, desto eifriger warf sie. Dies verdroß mich zuletzt, und ich erklärte, daß ich ein gleiches tun würde. Ich trat auch wirklich nicht allein näher heran, sondern warf im Unmut viel heftiger, da es denn nicht lange währte, als ein paar ihrer kleinen Zentaurinnen in Stücke sprangen. In ihrem Eifer bemerkte sie es nicht gleich; aber ich stand versteinert, als die zerbrochnen Figürchen sich von selbst wieder zusammenfügten, Amazone und Pferd wieder ein Ganzes, auch zugleich völlig lebendig wurden, im Galopp von der goldnen Brücke unter die Linden setzten, und, in Karriere hin und wider rennend, sich endlich gegen die Mauer, ich weiß nicht wie, verloren. Meine schöne Gegnerin war das kaum gewahr worden, als sie in ein lautes Weinen und Jammern ausbrach und rief: daß ich ihr einen unersetzlichen Verlust zugefügt, der weit größer sei, als es sich aussprechen lasse. Ich aber, der ich schon erbost war, freute mich ihr etwas zu Leide zu tun, und warf noch ein paar mir übrig gebliebene Achatkugeln blindlings mit Gewalt unter ihren Heerhaufen. Unglücklicherweise traf ich die Königin, die bisher bei unserm regelmäßigen Spiel ausgenommen gewesen. Sie sprang in Stücken, und ihre nächsten Adjutanten wurden auch zerschmettert; aber schnell stellten sie sich wieder her und nahmen Reißaus wie die ersten, galoppierten sehr lustig unter den Linden herum und verloren sich gegen die Mauer.

Julian Mandel, Noyer Studio series 370 via Grandma DidMeine Gegnerin schalt und schimpfte; ich aber, nun einmal im Gange, bückte mich, einige Achatkugeln aufzuheben, welche an den goldnen Spießen herumrollten. Mein ergrimmter Wunsch war, ihr ganzes Heer zu vernichten; sie dagegen, nicht faul, sprang auf mich los und gab mir eine Ohrfeige, daß der Kopf summte. Ich, der ich immer gehört hatte, auf die Ohrfeige eines Mädchens gehöre ein derber Kuß, faßte sie bei den Ohren und küßte sie zu wiederholten Malen. Sie aber tat einen solchen durchdringenden Schrei, der mich selbst erschreckte; ich ließ sie fahren, und das war mein Glück: denn in dem Augenblick wußte ich nicht, wie mir geschah. Der Boden unter mir fing an zu beben und zu rasseln; ich merkte geschwind, daß sich die Gitter wieder in Bewegung setzten: allein ich hatte nicht Zeit zu überlegen, noch konnte ich Fuß fassen, um zu fliehen. Ich fürchtete jeden Augenblick gespießt zu werden: denn die Partisanen und Lanzen, die sich aufrichteten, zerschlitzten mir schon die Kleider; genug, ich weiß nicht, wie mir geschah, mir verging Hören und Sehen, und ich erholte mich aus meiner Betäubung, von meinem Schrecken am Fuß einer Linde, wider den mich das aufschnellende Gitter geworfen hatte. Mit dem Erwachen erwachte auch meine Bosheit, die sich noch heftig vermehrte, als ich von drüben die Spottworte und das Gelächter meiner Gegnerin vernahm, die an der andern Seite, etwas gelinder als ich, mochte zur Erde gekommen sein. Daher sprang ich auf, und als ich rings um mich das kleine Heer nebst seinem Anführer Achill, welche das auffahrende Gitter mit mir herüber geschnellt hatte, zerstreut sah, ergriff ich den Helden zuerst und warf ihn wider einen Baum. Seine Wiederherstellung und seine Flucht gefielen mir nun doppelt, weil sich die Schadenfreude zu dem artigsten Anblick von der Welt gesellte, und ich war im Begriff, die sämtlichen Griechen ihm nachzuschicken, als auf einmal zischende Wasser von allen Seiten her, aus Steinen und Mauern, aus Boden und Zweigen hervorsprühten, und, wo ich mich hinwendete, kreuzweise auf mich lospeitschten. Mein leichtes Gewand war in kurzer Zeit völlig durchnäßt; zerschlitzt war es schon, und ich säumte nicht, es mir ganz vom Leibe zu reißen. Die Pantoffeln warf ich von mir, und so eine Hülle nach der andern; ja ich fand es endlich bei dem warmen Tage sehr angenehm, ein solches Strahlbad über mich ergehen zu lassen. Ganz nackt schritt ich nun gravitätisch zwischen diesen willkommnen Gewässern einher, und dachte, mich lange so wohl befinden zu können. Mein Zorn verkühlte sich, und ich wünschte nichts mehr als eine Versöhnung mit meiner kleinen Gegnerin. Doch in einem Nu schnappten die Wasser ab, und ich stand nun feucht auf einem durchnäßten Boden. Die Gegenwart des alten Mannes, der unvermutet vor mich trat, war mir keineswegs willkommen; ich hätte gewünscht, mich, wo nicht verbergen, doch wenigstens verhüllen zu können. Die Beschämung, der Frostschauer, das Bestreben, mich einigermaßen zu bedecken, ließen mich eine höchst erbärmliche Figur spielen; der Alte benutzte den Augenblick, um mir die größesten Vorwürfe zu machen. „Was hindert mich“, rief er aus, „daß ich nicht eine der grünen Schnuren ergreife und sie, wo nicht Eurem Hals, doch Eurem Rücken anmesse!“ Diese Drohung nahm ich höchst übel. „Hütet Euch“, rief ich aus, „vor solchen Worten, ja nur vor solchen Gedanken: denn sonst seid Ihr und Eure Gebieterinnen verloren!“ – „Wer bist denn du“, fragte er trutzig, „daß du so reden darfst?“ – „Ein Liebling der Götter“, sagte ich, „von dem es abhängt, ob jene Frauenzimmer würdige Gatten finden und ein glückliches Leben führen sollen, oder ob er sie will in ihrem Zauberkloster verschmachten und veralten lassen.“ – Der Alte trat einige Schritte zurück. „Wer hat dir das offenbart?“ fragte er erstaunt und bedenklich. – „Drei Äpfel“, sagte ich, „drei Juwelen.“ – „Und was verlangst du zum Lohn?“ rief er aus. – „Vor allen Dingen das kleine Geschöpf“, versetzte ich, „die mich in diesen verwünschten Zustand gebracht hat.“ – Der Alte warf sich vor mir nieder, ohne sich vor der noch feuchten und schlammigen Erde zu scheuen; dann stand er auf, ohne benetzt zu sein, nahm mich freundlich bei der Hand, führte mich in jenen Saal, kleidete mich behend wieder an, und bald war ich wieder sonntägig geputzt und frisiert wie vorher. Der Pförtner sprach kein Wort weiter aber ehe er mich über die Schwelle ließ, hielt er mich an, und deutete mir auf einige Gegenstände an der Mauer drüben über den Weg, indem er zugleich rückwärts auf das Pförtchen zeigte. Ich verstand ihn wohl, er wollte nämlich, daß ich mir die Gegenstände einprägen möchte, um das Pförtchen desto gewisser wieder zu finden, welches sich unversehens hinter mir zuschloß. Ich merkte mir nun wohl, was mir gegenüber stand. Über eine hohe Mauer ragten die Äste uralter Nußbäume herüber, und bedeckten zum Teil das Gesims, womit sie endigte. Die Zweige reichten bis an eine steinerne Tafel, deren verzierte Einfassung ich wohl erkennen, deren Inschrift ich aber nicht lesen konnte. Sie ruhte auf dem Kragstein einer Nische, in welcher ein künstlich gearbeiteter Brunnen, von Schale zu Schale, Wasser in ein großes Becken goß, das wie einen kleinen Teich bildete und sich in die Erde verlor. Brunnen, Inschrift, Nußbäume alles stand senkrecht über einander; ich wollte es malen, wie ich es gesehn habe.

Nun läßt sich wohl denken, wie ich diesen Abend und manchen folgenden Tag zubrachte, und wie oft ich mir diese Geschichten, die ich kaum selbst glauben konnte, wiederholte. Sobald mir’s nur irgend möglich war, ging ich wieder zur „schlimmen Mauer“, um wenigstens jene Merkzeichen im Gedächtnis anzufrischen und das köstliche Pförtchen zu beschauen. Allein zu meinem größten Erstaunen fand ich alles verändert. Nußbäume ragten wohl über die Mauer, aber sie standen nicht unmittelbar neben einander. Eine Tafel war auch eingemauert, aber von den Bäumen weit rechts, ohne Verzierung, und mit einer leserlichen Inschrift. Eine Nische mit einem Brunnen findet sich weit links, der aber jenem, den ich gesehen, durchaus nicht zu vergleichen ist; so daß ich beinahe glauben muß, das zweite Abenteuer sei so gut als das erste ein Traum gewesen: denn von dem Pförtchen findet sich überhaupt gar keine Spur. Das einzige, was mich tröstet, ist die Bemerkung, daß jene drei Gegenstände stets den Ort zu verändern scheinen: denn bei wiederholtem Besuch jener Gegend glaube ich bemerkt zu haben, daß die Nußbäume etwas zusammenrücken, und daß Tafel und Brunnen sich ebenfalls zu nähern scheinen. Wahrscheinlich, wenn alles wieder zusammentrifft, wird auch die Pforte von neuem sichtbar sein, und ich werde mein mögliches tun, das Abenteuer wieder anzuknüpfen. Ob ich euch erzählen kann, was weiter begegnet, oder ob es mir ausdrücklich verboten wird, weiß ich nicht zu sagen.

~~~\~~~~~~~/~~~

Modeling skills were not a requirement for the job, Grandma DidDieses Märchen, von dessen Wahrheit meine Gespielen sich leidenschaftlich zu überzeugen trachteten, erhielt großen Beifall. Sie besuchten, jeder allein, ohne es mir oder den andern zu vertrauen, den angedeuteten Ort, fanden die Nußbäume, die Tafel und den Brunnen, aber immer entfernt von einander: wie sie zuletzt bekannten, weil man in jenen Jahren nicht gern ein Geheimnis verschweigen mag. Hier ging aber der Streit erst an. Der eine versicherte: die Gegenstände rückten nicht vom Flecke und blieben immer in gleicher Entfernung unter einander. Der zweite behauptete: sie bewegten sich, aber sie entfernten sich von einander. Mit diesem war der dritte über den ersten Punkt der Bewegung einstimmig, doch schienen ihm Nußbäume, Tafel und Brunnen sich vielmehr zu nähern. Der vierte wollte noch was Merkwürdigeres gesehen haben: die Nußbäume nämlich in der Mitte, die Tafel aber und den Brunnen auf den entgegengesetzten Seiten, als ich angegeben. In Absicht auf die Spur des Pförtchens variierten sie auch. Und so gaben sie mir ein frühes Beispiel, wie die Menschen von einer ganz einfachen und leicht zu erörternden Sache die widersprechendsten Ansichten haben und behaupten können. Als ich die Fortsetzung meines Märchens hartnäckig verweigerte, ward dieser erste Teil öfters wieder begehrt. Ich hütete mich, an den Umständen viel zu verändern, und durch die Gleichförmigkeit meiner Erzählung verwandelte ich in den Gemütern meiner Zuhörer die Fabel in Wahrheit.

Rosengarten München, I thanked her and she never knew what for, September 2015

Geheime Gartenbilder: Julian Mandel: Noyer Studio series 370 via Grandma Did;
Julian Mandel: andere Serien aus den Noyer Studios via Grandma Did;
Rosengarten München: I thanked her and she never knew what for, Ende September 2015 —
und eins meiner allerliebsten Bilder überhaupt:
Modeling skills were not a requirement for the job via Grandma Did.

Soundtrack: Linda Ronstadt: Winter Light, aus: Winter Light, 1993 — das Nachspannlied aus der Verfilmung von The Secret Garden von 1993. Das hätte sich der Herr Geheimrat auch nicht träumen lassen, dass er zum 267. Geburtstag mal ein Ständchen von einer inzwischen 70-jährigen arizonischen Country-Rockerin mit elf Grammys und einem Emmy (und Parkinson) kriegt.

Bonus Track: Die Vollversion The Secret Garden von 1987, weil ich Gennie James so galoppierend putzig finde. 100 Minuten; Herr Geheimrat dürfen sich liebend gern dazugesellen, und die Geburtstagsfeier ist gerettet.

Alles Gute zum 267., Exzellenz.

Written by Wolf

26. August 2016 at 00:01

Veröffentlicht in Grünzeug & Wunderblätter, Klassik

Wunderblatt 8: Something greater than me

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Update for Wunderblatt 7: Die Vegetation ist der negative Lebensprozeß. Vom ursprünglichsten Gegensatz zwischen Pflanze und Tier — und Emily und Emily
and Schmerz, Tod und Graus gar spaßig zu erfassen:

——— John Urso:

Comment

March 2016, on Tom Waits: Take One Last Look,
live on the second last Late Show With David Letterman, May 14th, 2015:

If there is some esoteric poet girl out there who needs an imperfect friend… let me know. I have never found the person who gets the religious experience that Tom and similar artists bring. Today in the woods… I found a mason jar, with the lid off. Inside it was plants, worms, and other stuff that is over my head. A whole world was living in that half ass terrarium provided by a something greater than me… I cant get it out of my head.

Send me adrift, Caliginous Hearts, December 3rd, 2012, Flickr

Image: of esoteric poet girl with half ass terrarium:
Sophia „Send me adrift.“: Caliginous Hearts, Connecticut, December 3rd, 2012: „7:00 am, top of the hill at the park, humid and foggy, cold. I’m proud of this. I really am.“

Written by Wolf

12. Juli 2016 at 01:45

Wunderblatt 7: Die Vegetation ist der negative Lebensprozeß. Vom ursprünglichsten Gegensatz zwischen Pflanze und Tier — und Emily und Emily

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Update zu Tumultuantenharanguieren (sed iam satis), diesmal ernster gemeint:

In Zeiten der Globalität, wesentlicher Meinungsverschiedenheiten unter ganzen Kulturen und umwälzender weltweiter Migrationsbewegungen ist die Frage, ob verschiedene Ethnien besondere Volksseelen haben, das weitreichendste Politikum.

Die Kulturwissenschaften, die mit anderen, gewiss nicht weniger wichtigen Fragen befasst sind, schweigen dazu weitgehend seit der Zeit der deutschen Romantik, abgesehen von immer wieder auftretenden Außenseitern — wohl nicht zuletzt, weil das Themengebiet heillos vermint ist. Ab der Frühromantik, als kein Gedanke ohne den Hintergrund der Französischen Revolution zu fassen war, wurde dagegen sogar das Konzept einer umfassenden Weltseele diskutiert.

Und ab dem Punkt, an dem mit einer Weltseele zu rechnen ist, steht nicht nur das Zusammenleben von Menschen untereinander, sondern der Umgang mit der gesamten Schöpfung in Frage, der ethisch verantwortungsvolle und wünschbare gegenüber dem überhaupt noch menschenmöglichen und abermals: dem wünschbaren. Genau das aber ist sehr wohl Gegenstand aktueller Diskussionen, nur eben allermeistens aus anthropozentrischer bis volkswirtschaftlicher Sicht. Eine Zeitlang kann das noch tragen, aber nicht auf Dauer ohne das Fundament der Grundlagenforschung.

Bezeichnenderweise ist der Gründer der Naturphilosophie Schelling als Namenspatron einer ins Postkonsumkapitalistische verkommenden Ausgehstraße im Münchner Univiertel im Gedächtnis geblieben. Er müsste jeden Moment wieder virulent werden.

Emily Dozois, Don't Fight the Tides, They Rise, 22. Oktober 2014

——— Friedrich Wilhelm Joseph Schelling:

Von der Weltseele.

Eine Hypothese der höheren Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus.
Nebst einer Abhandlung über das Verhältnis des Realen und Idealen in der Natur
oder Entwicklung der ersten Grundsätze der Naturphilosophie an den Prinzipien der Schwere und des Lichts.
Über den Ursprung des allgemeinen Organismus
I. Vom ursprünglichsten Gegensatz zwischen Pflanze und Tier, 1798:

Man hat neuerlich oft gesagt, Vegetation und Leben seien als chemische Prozesse anzusehen; mit welchem Recht, werde ich späterhin untersuchen. Es ist auffallend übrigens, daß man diesen Gedanken nicht benutzt hat, um aus ihm den ursprünglichsten Unterschied des vegetativen und animalischen Lebens abzuleiten.

Vorerst kennen wir zwei Hauptprozesse, von welchen die meisten Veränderungen der Körper in der anorgischen Natur abhängig sind, Prozesse, die auf jenen durch die ganze Natur herrschenden Gegensatz zwischen dem positiven und negativen Prinzip des Verbrennens sich beziehen. Die Natur, welche sich in Mischungen gefällt, und ohne Zweifel in einer allgemeinen Neutralisation enden würde, wenn sie nicht durch den steten Einfluß fremder Prinzipien ihr eigen Werk hemmte, erhält sich selbst im ewigen Kreislauf, da sie auf der einen Seite trennt, was sie auf der andern verbindet, und hier verbindet, was sie dort getrennt hat.

So ist ein großer Teil ihrer Prozesse dephlogistisierend, diesen aber halten beständige phlogistisierende Prozesse das Gleichgewicht, so daß niemals eine allgemeine Uniformität entstehen kann.

Wir werden daher vorerst zwei Hauptklassen von Organisationen annehmen, davon die erste in einem von der Natur unterhaltenen Desoxydationsprozeß, die andere in einem kontinuierlichen Oxydationsprozeß Ursprung und Fortdauer findet.

Wir haben schon oben erinnert, daß oxydieren und dephlogistisieren, phlogistisieren und desoxydieren Wechselbegriffe sind, die in bezug aufeinander wechselseitig positiv und negativ sein können, wovon aber keiner etwas anderes als ein bestimmtes Verhältnis ausdrückt.

So wird also, wo die Natur einen Reduktions- oder Desoxydationsprozeß unterhält, kontinuierlich phlogistische Materie erzeugt, was bei den Pflanzen unleugbar ist; denn diese, dem Licht, d.h. dem allgemeinen Mittel der Reduktion, entzogen, werden bleich und farbelos; sobald sie dem Licht ausgesetzt werden, gewinnen sie Farbe, der offenbarste Beweis, daß phlogistischer Stoff in ihnen bereitet wird. Dieser (als das negative Prinzip) tritt hervor, sowie das positive verschwindet, und umgekehrt; und so existiert in der ganzen Natur keines dieser Prinzipien an sich, oder außerhalb des Wechselverhältnisses mit seinem entgegengesetzten.

So wie die Vegetation in einer steten Desoxydation besteht, wird umgekehrt der Lebensprozeß in einer kontinuierlichen Oxydation bestehen; wobei man nicht vergessen darf, daß Vegetation und Leben nur im Prozesse selbst bestehen, daher es Gegenstand einer besonderen Untersuchung ist, durch welche Mittel die Natur dem Prozeß Permanenz gebe, durch welche Mittel sie verhindere, daß es z.B. im tierischen Körper, solange er lebt, nie zum endlichen Produkt komme; denn es ist offenbar genug, daß das Leben in einem steten Werden besteht, und daß jedes Produkt, eben deswegen weil es dies ist, tot ist; daher das Schwanken der Natur zwischen entgegengesetzten Zwecken, das Gleichgewicht konträrer Prinzipien zu erreichen, und doch den Dualismus (in welchem allein sie selbst fortdauert) zu erhalten, in welchem Schwanken der Natur (wobei es nie zum Produkt kommt) eigentlich jedes belebte Wesen seine Fortdauer findet.

Zusatz

Seitdem man entdeckt hat, daß die Pflanzen dem Licht ausgesetzt Lebensluft aushauchen, und daß dagegen die Tiere beim Atmen Lebensluft zersetzen und eine irrespirable Luftart aushauchen, hat man, bei dieser ursprünglich-inneren Verschiedenheit beider Organisationen, nicht mehr nötig, äußere Unterscheidungsmerkmale aufzusuchen, z.B. (nach Hedwig), daß die Pflanzen nach der Befruchtung ihre Zeugungsteile verlieren; um so mehr, da alle diese Merkmale, wie die Unwillkürlichkeit der Pflanzenbewegungen (z.B. bei Aufnahme der Nahrung, da nach Boerhaves sinnreichem Ausdruck die Pflanze den Magen in der Wurzel, das Tier die Wurzel im Magen hat), oder die Nervenlosigkeit der Pflanzen – alle zusammen aus jenem ursprünglichen Gegensatz erst abgeleitet werden müssen, wie ich im folgenden zeigen werde.

Es erhellet nämlich zum voraus, daß, wenn die Pflanze das Lebensprinzip aushaucht, das Tier es zurückhält, im letztern bei weitem mehr Schein der Spontaneität und Fähigkeit seinen Zustand zu verändern sein muß als im erstern. Ferner, daß das Tier, da es das Lebensprinzip (durch Luftzersetzung) in sich selbst erzeugt, von Jahreszeit, Klima usw. bei weitem unabhängiger sein muß als die Pflanze, in welcher das Lebensprinzip nur durch den Einfluß des Lichts (aus dem Nahrungswasser) entwickelt und durch denselben Mechanismus, durch welchen es entwickelt wird, auch kontinuierlich ausgeführt wird.

Die Vegetation ist der negative Lebensprozeß. Die Pflanze selbst hat kein Leben, sie entsteht nur durch Entwicklung des Lebensprinzips, und hat nur den Schein des Lebens im Moment dieses negativen Prozesses. In der Pflanze trennt die Natur, was sie im Tier vereinigt. Das Tier hat Leben in sich selbst, denn es erzeugt selbst unaufhörlich das belebende Prinzip, das der Pflanze durch fremden Einfluß entzogen wird.

Wenn übrigens die Vegetation der umgekehrte Prozeß des Lebens ist, so wird man uns verstatten, im folgenden unsere Aufmerksamkeit hauptsächlich auf den positiven Prozeß zu richten, um so mehr, da unsere Pflanzenphysiologie noch höchst mangelhaft, und da es natürlicher ist, das Negative durch das Positive, als das Positive durch das Negative zu bestimmen.

So weit fürs erste die Ansicht Schellings. Dass Pflanzen kein eigenes Leben in sich tragen, ja dem Prinzip des Lebens geradezu als Negativum entgegenstehen, wird spätestens fragwürdig, wenn wir uns zu den Ansichten von Johann Gottlieb Fichte und vor allem Gustav Theodor Fechner vorarbeiten. — Das Erfreuliche zum Schluss:

Emily Dozois, The Peacekeeper. Untitled Series II, 30. November 2014

Für anstehende Illustrationen von Büchern und hübschen Mädchen, zweien der Kernthemen von DFWuH, konnte Emily Dozois aus Ottawa in Kanada gewonnen werden. Aus logistischen Gründen wird sie nicht das ganze nötige Material beisteuern können, ist aber bücher- und auch sonst freundlich und hübsch genug, ihr Bestes zu geben. Ihr Großvater stammt aus Ostermünchen zwischen München und Rosenheim, blättert seit kurzem begeistert in meinen Exemplaren der Schedelschen Weltchronik und Don Quixote und lässt seine alte deutsche Heimat recht schön grüßen.

Um Emily vorzustellen, war ich so frei, für dieses Wunderblatt zwei ihrer Selbstportraits zu verwenden, die sie nicht eigens dafür angefertigt hat. Wir werden noch viel von Emily hören.

Weltseele auf zwei Beinen: Emily Dozois: Don’t Fight the Tides, They Rise, 22. Oktober 2014;
The Peacekeeper (Untitled Series II), 30. November 2014:

Day 353. The second photo in my yet-to-be-named exploration of myself. (Suggestions are more than welcome!) Yasmin helped me plant the flowers here and then acted as human tripod! (thank you!)

Noch eine Emily aus Kanada zwischen vegetativem und animalischem Leben:
Emily Loizeau: L’autre bout du monde, de L’Autre Bout du monde, 2006.

Written by Wolf

23. Januar 2015 at 00:01

Veröffentlicht in Grünzeug & Wunderblätter, Romantik

3. Advent: Vom Bäumlein, das spazieren ging

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Update zum Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt:

Zu Weihnachten 1813 schenkte der 25-jährige Friedrich Rückert seiner kleinsten, damals dreijährigen Schwester Maria eine Sammlung aus fünf selbstgemachten Gedichten, die er innerhalb einer einzigen Nacht ausgearbeitet und niedergeschrieben hatte. Maria starb 1835, als sie ihrerseits 25 war.

——— Friedrich Rückert:

Fünf Märlein zum Einschläfern für mein Schwesterlein.

Zum Christtag 1813:

3 von 5

Vom Bäumlein, das spazieren ging

Daniel Chodowiecki in Hg. Olga Amberger, Zeitgenossen Chodowieckis. Lose Blätter schweizerischer Buchkunst, Rhein-Verlag, Basel 1921, Seite 45Das Bäumlein stand im Wald
In gutem Aufenthalt;
Da standen Busch und Strauch
Und andre Bäumlein auch;
Die standen dicht und enge,
Es war ein recht’s Gedränge;
Das Bäumlein mußt‘ sich bücken
Und sich zusammen drücken;
Da hat das Bäumlein gedacht
Und mit sich ausgemacht:
„Hier mag ich nicht mehr stehn,
Ich will wo anders gehn
Und mir ein Örtlein suchen,
Wo weder Birk‘ noch Buchen,
Wo weder Tann‘ noch Eichen
Und gar nichts desgleichen;
Da will ich allein mich pflanzen
Und tanzen.“

Das Bäumlein das geht nun fort
Und kommt an einen Ort,
In ein Wiesenland,
Wo nie ein Bäumlein stand,
Da hat sich’s hingepflanzt
Und hat getanzt.

Dem Bäumlein hat’s vor allen
An dem Örtlein gefallen;
Ein gar schöner Bronnen
Kam zum Bäumlein geronnen;
War’s dem Bäumlein zu heiß,
Kühlt’s Brünnlein seinen Schweiß.
Schönes Sonnenlicht
War ihm auch zugericht‘;
War’s dem Bäumlein zu kalt,
Wärmt‘ die Sonn‘ es bald.
Auch ein guter Wind
War ihm hold gesinnt,
Der half mit seinem Blasen
Ihm tanzen auf dem Rasen.

Das Bäumlein tanzt‘ und sprang
Den ganzen Sommer lang;
Bis es vor lauter Tanz
Hat verloren den Kranz.
Der Kranz mit den Blättlein allen
Ist ihm vom Kopf gefallen;
Die Blättlein lagen umher,
Das Bäumlein hat keines mehr;
Die einen lagen im Bronnen,
Die andern in der Sonnen,
Die andern Blättlein geschwind
Flogen umher im Wind.

Wie’s Herbst nun war und kalt,
Da fror’s das Bäumlein bald;
Es rief zum Brunnen nieder:
„Gib meine Blättlein mir wieder,
Damit ich doch ein Kleid
Habe zur Winterszeit.“
Das Brünnlein sprach: „Ich kann eben
Die Blättlein dir nicht geben;
Ich habe sie alle getrunken,
Sie sind in mich versunken.“

Da kehrte von dem Bronnen
Das Bäumlein sich zur Sonnen:
„Gib mir die Blättlein wieder,
Es friert mich an die Glieder.“
Die Sonne sprach: „Nun eben
Kann ich sie dir nicht geben;
Die Blättlein sind längst verbrannt
In meiner heißen Hand.“

Da sprach das Bäumlein geschwind
Zum Wind:
„Gib mir die Blättlein wieder,
Sonst fall‘ ich tot darnieder.“
Der Wind sprach: „Ich eben
Kann dir die Blättlein nicht geben;
Ich hab‘ sie über die Hügel
Geweht mit meinem Flügel.“
Da sprach das Bäumlein ganz still:
„Nun weiß ich, was ich will;
Da haußen ist mir’s zu kalt,
Ich geh‘ in meinen Wald,
Da will ich unter die Hecken
Und Bäume mich verstecken.“

Da macht sich’s Bäumlein auf
Und kommt im vollen Lauf
Zum Wald zurück gelaufen,
Und will sich stell’n in den Haufen.
’s fragt gleich beim ersten Baum:
„Hast du keinen Raum?“
Der sagt: „Ich habe keinen!“
Da fragt das Bäumlein noch einen,
Der hat wieder keinen;
Da fragt das Bäumlein noch einen:
Es fragt von Baum zu Baum,
Aber kein einz’ger hat Raum.
Sie standen schon im Sommer
Eng in ihrer Kammer;
Jetzt im kalten Winter
Stehn sie noch enger dahinter.
Dem Bäumchen kann nichts frommen,
Es kann nicht unterkommen.

Da geht es traurig weiter
Und friert, denn es hat keine Kleider;
Da kommt mittlerweile
Ein Mann mit einem Beile,
Der reibt die Hände sehr,
Tut auch, als ob’s ihn frör‘.
Da denkt das Bäumlein wacker:
„Das ist ein Holzhacker;
Der kann den besten Trost
Mir geben für meinen Frost.“

Das Bäumlein spricht schnell
Zum Holzhacker: „Gesell,
Dich friert’s so sehr wie mich
Und mich so sehr wie dich.
Vielleicht kannst du mir
Helfen und ich dir.
Komm, hau‘ mich um
Und trag‘ mich in deine Stub’n,
Schür‘ ein Feuer an,
Und leg‘ mich dran;
So wärmst du mich
Und ich dich.“

Das deucht dem Holzhacker nicht schlecht,
Er nimmt sein Beil zurecht;
Haut’s Bäumlein in die Wurzel,
Umfällt’s mit Gepurzel;
Nun hackt er’s klein und kraus
Und trägt das Holz nach Haus
Und legt von Zeit zu Zeit
In den Ofen ein Scheit.

Das größte Scheit von allen
Ist uns fürs Haus gefallen;
Das soll die Magd uns holen,
So legen wir’s auf die Kohlen;
Das soll die ganze Wochen
Uns unsre Suppen kochen.
Oder willst du lieber Brei?

Das Kind sagt:

Das ist mir einerlei.

btrachtn

Bilder: Daniel Chodowiecki in Olga Amberger (Hg.):
Zeitgenossen Chodowieckis. Lose Blätter schweizerischer Buchkunst; Rhein-Verlag, Basel 1921, Seite 45;
Btrachtn.

Written by Wolf

14. Dezember 2014 at 00:01

2. Advent: Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt

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Update zum Büblein, das überall mitgenommen hat sein wollen:

Zu Weihnachten 1813 schenkte der 25-jährige Friedrich Rückert seiner kleinsten, damals dreijährigen Schwester Maria eine Sammlung aus fünf selbstgemachten Gedichten, die er innerhalb einer einzigen Nacht ausgearbeitet und niedergeschrieben hatte. Maria starb 1835, als sie ihrerseits 25 war.

Marlene Depetri, Autorretrato, September 20th, 2014

——— Friedrich Rückert:

Fünf Märlein zum Einschläfern für mein Schwesterlein.

Zum Christtag 1813:

2 von 5

Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt

Es ist ein Bäumlein gestanden im Wald
In gutem und schlechtem Wetter;
Das hat von unten bis oben
Nur Nadeln gehabt statt Blätter;
Die Nadeln, die haben gestochen,
Das Bäumlein, das hat gesprochen:

„Alle meine Kameraden
Haben schöne Blätter an,
Und ich habe nur Nadeln,
Niemand rührt mich an;
Dürft‘ ich wünschen, wie ich wollt‘,
Wünscht‘ ich mir Blätter von lauter Gold.“

Wie’s Nacht ist, schläft das Bäumlein ein,
Und früh ist’s aufgewacht;
Da hatt‘ es goldene Blätter fein,
Das war eine Pracht!
Das Bäumlein spricht: „Nun bin ich stolz;
Goldene Blätter hat kein Baum im Holz.“

Aber wie es Abend ward,
Ging der Jude durch den Wald
Mit großem Sack und großem Bart,
Der sieht die goldnen Blätter bald;
Er steckt sie ein, geht eilends fort
Und läßt das leere Bäumlein dort.

Das Bäumlein spricht mit Grämen:
„Die goldnen Blättlein dauern mich,
Ich muß vor den andern mich schämen,
Sie tragen so schönes Laub an sich.
Dürft‘ ich mir wünschen noch etwas,
So wünscht‘ ich mir Blätter von hellem Glas.“

Da schlief das Bäumlein wieder ein,
Und früh ist’s wieder aufgewacht;
Da hatt‘ es glasene Blätter fein,
Das war eine Pracht!
Das Bäumchen sprach: „Nun bin ich froh;
Kein Baum im Walde glitzert so.“

Da kam ein großer Wirbelwind
Mit einem argen Wetter,
Der fährt durch alle Bäume geschwind
Und kommt an die gläsernen Blätter;
Da lagen die Blätter von Glase
Zerbrochen in dem Grase.

Das Bäumlein spricht mit Trauern:
„Mein Glas liegt in dem Staub;
Die anderen Bäume dauern
Mit ihrem grünen Laub.
Wenn ich mir noch was wünschen soll,
Wünsch‘ ich mir grüne Blätter wohl.“

Da schlief das Bäumlein wieder ein,
Und wieder früh ist’s aufgewacht;
Da hatt‘ es grüne Blätter fein.
Das Bäumlein lacht
Und spricht: „Nun hab‘ ich doch Blätter auch,
Daß ich mich nicht zu schämen brauch‘.“

Da kommt mit vollem Euter
Die alte Geiß gesprungen;
Sie sucht sich Gras und Kräuter
Für ihre Jungen;
Sie sieht das Laub und fragt nicht viel,
Sie frißt es ab mit Stumpf und Stiel.

Da war das Bäumchen wieder leer,
Es sprach nun zu sich selber:
„Ich begehre nun keine Blätter mehr,
Weder grüner, noch roter, noch gelber!
Hätt‘ ich nur meine Nadeln,
Ich wollte sie nicht tadeln.“

Und traurig schlief das Bäumlein ein,
Und traurig ist es aufgewacht;
Da besieht es sich im Sonnenschein
Und lacht und lacht!
Alle Bäume lachen’s aus;
Das Bäumlein macht sich aber nichts daraus.

Warum hat’s Bäumlein denn gelacht,
Und warum denn seine Kameraden?
Es hat bekommen in der Nacht
Wieder alle seine Nadeln,
Daß jedermann es sehen kann.
Geh‘ ’naus, sieh’s selbst, doch rühr’s nicht an!

Das Kind fragt:

Warum denn nicht?

Antwort:

Weil’s sticht.

Marlene Depetri, Ser, October 18th, 2014

Bilder von Baum und Busch: Marlene Depetri:
Autorretrato, 20. September 2014; Ser, 18. Oktober 2014.

Written by Wolf

7. Dezember 2014 at 00:01

Wunderblatt 6: Die Reimer und die Dichter

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Update zum Weekly Wanderer 0017 und allen anderen:

Pinnata bringt Ein gleiches in der Version der Frankfurter Goethe-Ausgabe (da fangen die Verse versal an und sind ein paar Satzzeichen anders als woanders) und Daigremontiana stört rum.

Moritz hilft.

Kalanchoe pinnata & daigremontiana, Wandrers Nachtlied. Ein gleiches, Die Reimer und die Dichter, die ham die dümmsten Gsichter.

Kalanchoe pinnata, Wandrers Nachtlied, Ein gleichesKalanchoe daigremontiana, Deine Mudder

Kalanchoe pinnata & daigremontiana & Moritz

Written by Wolf

21. November 2014 at 00:01

Veröffentlicht in Grünzeug & Wunderblätter, Klassik

Wunderblatt 5: Crassulaceae are Saxifragales, too

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Update for Gateway drug:

Kalanchoe pinnata, I feel guilty for existing. Kalanchoe daigremontiana, I don't.

Written by Wolf

7. November 2014 at 00:01

Wunderblatt 4: Kalanchoe not to be flora

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Wie unlängst dargestellt, geht es der ersten Versuchsanordnung von Kalanchoen weit unter mittelprächtig. Der Tubiflora, die bis heute noch den meisten Anlass zur Hoffnung übrig ließ, sind allenfalls noch die Sterbesakramente zu verabreichen; gute Erde, schlechte Erde, gar keine Erde, viel Wasser, wenig Wasser, viel Licht, Gesellschaft, Abgeschiedenheit und gutes Zureden sind schon versucht. Wenn Sie das lesen, ist der letzte der kleinen Österreicher vermutlich im Kompost. Mehr Hilfe war nicht aufzutreiben.

Kalanchoe tubiflora, welk

——— Johann Baptist van Helmont: Aufgang der Artzney-Kunst. Das ist: Noch nie erhörte Grund-Lehren von der Natur / zu einer neuen Beförderung der Artzney-Sachen / so wol Die Kranckheiten zu vertreiben / als Ein langes Leben zu erlangen, 1683,
übs. Freiherr Christian Knorr von Rosenroth:

Nicht zwar das eine solche Form eben sey eine lebendige Seele; Sondern nur / daß etwas lebhafftes an ihr ist / in dem sie einen gewissen Eingang in sich trägt zur sinnlichen und lebendigen Seelen. […] Denn die Seelen sind zwar etwas lebhafftes / aber doch nicht eigentlich lebendig: denn wenn ein Kraut verdorret / so vergehet mehreteils sein lebhafftes Liecht mit der Seele; doch also das die Krafft desselben Krautes übrig bleibet.

Gut zu wissen: Pflanzen sind nicht lebendig, nur lebhaft — worüber die Diskussion seit Anaxagoras allerdings bis heute anhält, wobei sie immer aktueller statt antiquierter wird. Sollten Pflanzen zu Empfindungen fähig sein, sieht’s in der allseits empfohlenen veganen Ernährungsweise nämlich langsam trist aus (Dickblattgewächse haben für unsereinen praktisch null Nährwert, mein Versuch sollte demnach auf jeden Fall ehrenwert gewesen sein). Wir werden also an dieser Stelle und an mehr anderen, als uns lieb sein wird, noch davon hören.

Gelernt hab ich jetzt: Wenn ich Pflanzen großziehen will, ist das eher eine Art Kompostbeschleunigung als Lebensspende. Übrigens hab ich keine Kinder. So hat alles seinen tiefen Sinn.

Bank Alter Südfriedhof, 15. Juni 2013

Bilder: im Hinterhof (21. Oktober 2014) und am Alten Südfriedhof (15. Juni 2013) selber gemacht.

Written by Wolf

21. Oktober 2014 at 14:23

Wunderblatt 3: Hilft ja nix

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Und kennst du Besseres, teile mir freundlich es mit, wo nicht, benütze dies mit mir.

Horaz.

——— Harold Nicholson:

People and Thinks. Wireless Talks

Constable, London 1931,
übs. Elsemarie Maletzke, cit. Julia Bachstein (Hg.): Vita Sackville-West und Harold Nicholson:
Sissinghurst. Portrait eines Gartens, Schöffling & Co., Frankfurt am Main 1997:

Ich erzählte diese Geschichte einer anderen, aufgeschlosseneren deutschen Dame, während wir in der Umgebung von Frankfurt am Main mit dem Auto unterwegs waren. „Dabei ist es so“, sagte ich, „daß nirgendwo anders als in England es Leute schaffen, einen Garten anzulegen, wo niemals zuvor einer gewesen war.“ In diesem Moment tauchte auf der Straßenseite ein großes Gebäude auf, das wie eine Kaserne aussah. Zu meinem großen Erstaunen sah ich, daß der ganze Platz zwischen der Kaserne und der Straße umgegraben und völlig bedeckt mit Goldregen und Löwenmäulchen war. „Naja, ich weiß nicht“, sagte sie, „nehmen Sie zum Beispiel diese Kasernen, hier leben einfache deutsche Soldaten …“ In diesem Moment passierten wir das Eingangstor, wo wir auf einer weißen Tafeldie Aufschrift British National Rhineland Army, Western Depôt, Horne barracks lesen konnten. Und tatsächlich kam gerade ein kleiner englischer Tommy mit einer roten Gießkanne aus dem Tor. Rasch wandte ich mich ab und wechselte das Thema. Ja, unser trockener Witz und unsere Liebe zu Blumen und Tieren sind wahrscheinlich unsere besten Eigenschaften.

In meinem zutiefst grundteutschen Haushalt sind die meisten der erstandenen Kalanchoen inzwischen den Raum alles Fleischlichen und Pflanzlichen gegangen. Als erstes hat sich die Neue Hybride verabschiedet, was mich noch eine gewisse Dekadenz zusammengemendelter Lebensformen glauben ließ. Houghtonii und rosei/serrata geht es gar nicht gut, laetivierens bekäme unter normalen Umständen alle Tage Treppenlift- und Rollator-Spam. Fedtschenkoi möchte ich quasi noch zum Parkinson-Training anmelden. Allein aus delagonensis/tubiflora könnte noch was werden, aus der ebenfalls ach so grundteutschen Lebensauffassung heraus: „Hilft ja nix.“

Johann Joseph Schmeller, Goethe seinem Schreiber John diktierend, 1831, DetailAufrecht leid tut es mir um die pinnata. Wegen der hab ich den Bauchladen aus acht Crassulaceen ja überhaupt erst aus dem Steyrer zauberhaften Hexengärtchen bestellt. Dass die zauberhafte Hexe Petra ihre Crassulaceen in einer Toffifee-Schachtel verschickt, finde ich ja putzig, dennoch sollte niemand leiden und gar sterben müssen, nur weil er angeblich eine Goethepflanze ist. Für seine Familiengeschichte kann doch niemand was.

So, wie Goethe es darstellt, sollten Kalanchoen denkbar einfach zu halten sein: „Flach auf guten Grund gelegt, merke wie es Wurzeln schlägt“ am Arsch! „Mäßig warm und mäßig feucht ist, was ihnen heilsam deucht“, und dann sind sie praktisch überhaupt nicht mehr einzudämmen — ja, wenn das so einfach wäre, Mosjö Geheimrat!

Nach modernen Erkenntnissen sind Kalanchoen gar nicht so unkompliziert, wie Weimaraner Großbürgerlöffel, die gärtnern lassen, ihren anderweitig verheirateten Altersliebchen über zwei Jahrhunderte hinweg weismachen wollen: Zuerst mal ist kein Gewächs, es mag auf Beinen, Tentakeln, Flossen, Wurzeln oder Rhizoiden einherschreiten, gern eine Woche lang in der mickrigen Toffifeeschachtel für 15 Stück unterwegs. Durch zu lange Dunkelphasen kann die Pflanze ihren inneren Winterschalter umlegen, oder sie hört, der Photosynthese entmächtigt, auf zu atmen.

Die Schwierigkeit ist eben, dass man sich eine wahre Goethepflanze schicken lassen muss, und Kisten sind innen immer so dunkel wie die Kanäle des Internets. Als Unkraut gelten sie dem Blumenhandel wohl weniger, weil sie so schwer zu bändigen wären, sondern weil sie out sind. Der Kollege Leopardtronics schlägt vor, in Altersheimen vorzusprechen, um an den dort vor sich hinwuchernden und deshalb regelmäßig zu entsorgenden Kalanchoentöpfen Anteil zu nehmen. Gute Idee, mit Altersheimschwestern sollte man sich ohnehin beizeiten gut stellen.

Wenn so ein zartes Kalanchöchen es dann glücklich durch Internet und finstere Kisten geschafft hat, rät Leopardtronics noch: Ausgewiesene Kaktuserde nehmen — und zusätzlich mit 50 Prozent Sand mischen, „damit das Wasser schnell durchläuft und die Wurzeln nicht faulen. Das funktioniert bei allen Pflanzen, die man so im Topf ziehen kann.“ Dieser Trick findet sich öfter, wenn man ihn sucht — wozu man ihn zuerst kennen muss. Glücklicherweise gibt es Leopardtronics, Sven Bernhard und mich.

Der Sand sollte eher vom Baggersee als von einem Spielplatz stammen, weil der Sand für Sandkästen angeblich bestrahlt, sterilisiert, mit undurchsichtigem, aber unliebsamem Zeug versetzt oder sonstwie behandelt wird. Man steckt da nicht drin, sofern man keinen Einblick in die Produktionsabläufe der BayWa hat, und es soll auch schon mit Spielplatzsand funktioniert haben, aber wenn man schon mal an einem Baggersee vorbeikommt, kann man gleich mal eine Badehose voll für die Kalanchoe mitnehmen. Für normalen Haushaltsgebrauch sollte das legal sein.

Und die nächste pinnata sollte abermals aus Ebay stammen; meiner nächsten wünsche ich einen angewachsenen und fortbestehenden Kumpel namens tubiflora.

——— Harold Nicholson: a. a. O.:

Wenigstens bringt der Oktober etwas mit, auf das sich selbst die Griesgrämigsten unter uns freuen können. Er bringt uns das Blumenzwiebelstecken. Da hocken wir mit diesen harten Packpapiertüten und wühlen im Sägemehl, ob nicht doch noch eine Zwiebel darin versteckt ist, und wenn wir fertig sind, verstreuen wir das Sägemehl in der Hoffnung des Amateurs, daß die Holzpartikel die Erde auflockern werden. Ich gebe zu, daß wir uns mit dieser sorgsamen, oft wiederholten Geste der Illusion hingeben, den Dezember besiegt zu haben. Denn wir leben, wenn wir unsere Blumenzwiebeln pflanzen, auf eine Renaissance hin. Fest drücken wir die Zwiebeln in ihr Grab hinunter. „So!“, sagen wir, „das nächstemal, wenn wir beide uns wiedersehen, ist es schon fast April.“

Alejandra Baci, November 30th, 2011

Bilder: Johann Joseph Schmeller: Goethe seinem Schreiber John diktierend, 1831,
Detail mit einem Bryophyllum calycinum (Goethepflanze), rechts im Bild, neben einer Königin der Nacht;
Alejandra Baci, 30. November 2011.

Gartensoundtrack: Poor Old Shine: Weeds Or Wild Flowers, from Big Old Big One, 2013.

Written by Wolf

4. Oktober 2014 at 00:01

Veröffentlicht in Grünzeug & Wunderblätter, Klassik

Geburtstagsgewinnspiel mit Suchbild: Wo ist die Kalanchoe?

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Update zu Eine aufbrechende Knospe des ältesten Baumes als eine einjährige Pflanze:

Heute besteht Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt, das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie seit zwei Jahren, und es ist des Gejammers kein Ende. Wie schon letztes Jahr zum EInjährigen angemerkt: Nicht schlecht für einen Weblog, der alles unternimmt, jegliche Leser fernzuhalten. Ich rede eben nicht heute so und morgen anders.

Außerdem hat Goethe, einer unserer wichtigsten Schutzgeister, seinen 265. Geburtstag. In dem Alter gibt man keinen mehr aus, sondern lässt sich passiv feiern. Das ist in Ordnung so, ich feiere ja schon in meinem Alter nicht mehr viel. Darum verleihe ich mal wieder Preise. Ich mach’s leicht.

Das Bild von Johann Joseph Schmeller kennen Sie: Goethe seinem Schreiber John diktierend von 1831. Auffallend sind die zwei Figuren, Goethes einziges Portrait in Bezug zu jemand anderem.

Und wo ist die Kalanchoe? Wer mir das sagt (obwohl ich es weiß), kriegt ein schönes (!) Buch geschenkt. Bitte bis Sonntag, den 7. September 2014. Die Kommentarfunktion ist offen.

[Edit:]Weil die pflanzlich und literarisch bewanderte Kräuter- und Hochhaushex so schnell aufgelöst hat, ergeht ein weiterer Preis an den, der mir sagt (obwohl ich es weiß), was für eine Pflanze das links neben der Kalanchoe ist. Wer lesen kann — zum Beispiel nahegelegte Weblinks oder bebilderte Botanikbücher —, ist auch hier im Vorteil. Schwer ist’s immer noch nicht.

Der Preis bleibt der gleiche: ein schönes Buch; Bewerbungsschluss bleibt Sonntag, der 7. September 2014. Inzwischen Glückwunsch an die Hochhaushex zum ersten Preis, ich such dir was Feines aus![/Edit]

Johann Joseph Schmeller, Goethe seinem Schreiber John diktierend, 1831

Alles Gute, Herr Geheimrat. Sie werden noch viel gebraucht.

Written by Wolf

28. August 2014 at 00:01

Veröffentlicht in Grünzeug & Wunderblätter, Klassik

Wunderblatt 2: Petra, übergeben Sie

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Update zu gestern:

Die Kalanchoe pinnata wurde ersteigert. Sie existiert schon im zauberhaften Hexengärtchen einer freundlichen Petra im oberösterreichischen Steyr — und wird bei mir mit sieben dickblättrigen Schwestern einziehen. Oder sind es doch Brüder? Wir werden es diskutieren.

Österreich ist gut, das kommt mir sehr entgegen. Grenzerfahrung 1: Meine erste Auslandsüberweisung ohne Paypal.

Grenzerfahrung 2: Der neunhundertblättrige Munken-Works-Papierklotz ist innen tatsächlich noch grüner, als jede Pflanze jemals werden kann. Und neunhundertblättriger als jede Kalanchoe.

Munken Works Papierklotz auf dem Schreibtisch

Wie gestern angedeutet, muss die pinnata einen Namen bekommen. Im Gespräch sind Arthur oder Margot. Wer einen anderen vorschlägt, den ich verwende, verdient sich ein Brutblatt einer Kalanchoe seiner Wahl: houghtonii, daigremontiana, delagonensis/tubiflora, Neue Hybride, fedtschenkoi, laetivierens, pinnata oder rosei/serrata.

Written by Wolf

12. August 2014 at 15:12

Wunderblatt 1: Vorläufige zurüstende Theorie und Praxis der Kalanchoe pinnata

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——— Johann Wolfgang von Goethe:

Mit einem Blatt Bryophyllum calycinum

an Marianne von Willemer, 12. November 1826:

Was erst still gekeimt in Sachsen,
     Soll am Maine freudig wachsen.
Flach auf guten Grund gelegt,
     Merke wie es Wurzeln schlägt!
Dann der Pflanzen frische Menge
     Steigt in lustigem Gedränge.
Mäßig warm und mäßig feucht
     Ist, was ihnen heilsam deucht.
Wenn du’s gut mit ihnen meinst,
     Blühen sie dir wohl dereinst.

Wenn einer noch nicht so recht in Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt eingestiegen ist, wäre jetzt eine günstige Gelegenheit. Zum anstehenden zweiten Jahrestag der Unternehmung, zugleich 265. Goethe-Geburtstag, will ich praxisbezogener und persönlicher werden. Es heißt ja „Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie“, dabei war mein Leben umgekehrt immer eine angewandte Poesie des Hätt-ich-Doch.

Weil man ja, wie früher erkannt, nie bereut, was man getan, sondern was man unterlassen hat, will ich eine Kalanchoe pinnata auf ihrem Lebensweg begleiten. Das ist diejenige der über 25 Bryophyllum-Arten aus der Familie der Crassulaceae (das sind: die Dickblattgewächse), die Goethe, Bryophyllum-Züchter ab 1818, als pantheistische Pflanze eingestuft hat — warum, dazu kommen wir noch zur Genüge.

Bryophyllum calycinum im Botanical Magazin Band 34, Tafel 1409, 1811Goethe kannte dieses einnehmende Gewächs noch als Bryophyllum calycinum; die Systematik hat sich im Laufe der Jahrhunderte so oft umgeschichtet, dass heute nicht einmal die wissenschaftliche Bezeichnung vollends geklärt ist. Eindeutig konnte ich anhand Beschreibungen und Abbildungen klären, dass Goethe die Pflanze gemeint hat, die heute am gängigsten Kalanchoe pinnata heißt. Andere wissenschaftliche Namen sind Bryophyllum pinnatum, Cotyledon pinnata, Crassula pinnata und Sedum madagascaricum.

Deutsch heißt die Kalanchoe pinnata, die sich leicht mit ihrer spitzerblättrigen Schwester daigremontiana verwechselt, aus dem erwähnten pantheistischen Grund Goethepflanze, aber nicht oft. Häufiger findet man: Brutblatt — wegen ihrer Fortpflanzungsart „flach auf guten Grund gelegt“ — oder spiritueller: Heiliges Blatt; oder Schwiegermutterpflanze, warum auch immer. Der Heilpflanzenkatalog Olitätenhof Lichtenhain weiß sogar:

Aufgrund des hohen Verbreitungsgebietes der Goethepflanze, ist die Liste der volkstümlichen Bezeichnungen enorm. Sie dürfte bei über 100 Bezeichnungen liegen. Dazu gehören so ausgefallene Bezeichnungen wie Coirama oder Hoja de Aire, im englischen würde man letztere Bezeichnung als Air Plant übersetzen und genau diese Bezeichnung findet man auch im englischen Sprachraum [und laut Factsheet der Weeds of Australia als weitere common names: Canterbury bells, cathedral bells, curtain plant, floppers, good luck leaf, green mother of millions, leaf of life, life plant, live leaf, live leaf plant, live plant, live-leaf, Mexican love plant, Mexican loveplant, miracle leaf, resurrection plant, sprouting leaf]. In Deutschland nennt man sie dementsprechend Luftpflanze, was nur eine von mehreren Bezeichnungen darstellt. Weitere wären Brutblatt, Keimzumpe, Lebenszweig, Kindlipflanze (Kindl nennt man die sich am Blattrand bildenden Jungpflanzen) oder auch Goethepflanze.

Für unsere Zwecke will ich das ebenfalls oft anzutreffende Wunderblatt verwenden. So weit die genügend verwirrende Theorie.

In Gärtnereien und Blumenläden ist Kalanchoe pinnata praktisch nicht aufzutreiben, weil sie dort als hartnäckiges Unkraut gilt; an Kalanchoen hat sich im Handel überhaupt nur die kräftigbunte blossfeldiana als „Flammendes Käthchen“ durchgesetzt. Gut so: Das bedeutet, dass pinnata in ihren Ansprüchen keine besondere Zicke sein kann und weitgehend von selbst wachsen wird.

Meine Sorge für das Wunderblatt soll also in einem sonnigen bis absonnigen Standort und mäßigem Gießen bestehen. Auf keinen Fall Staunässe, weil das Wunderblatt sukkulent lebt. Das krieg ich hin.

Mehrjährig bis ausdauernd ist es, aber nicht winterhart. Nächster Pluspunkt: Ich hätte mir auch nützliche und nahrhafte Tomaten ziehen können, wenn nur die Sträucher nicht einjährig wären und sterben, kaum dass man Freundschaft mit ihnen geschlossen hat: Wenn ich mir den Tod ins Haus holen will, züchte ich Schwarzschimmel (Aspergillus niger). Überwintern kann pinnata gern auf meinem Schreibtisch, im Sommer gedenke ich ihm Auslauf auf dem Fensterbrett im Hinterhof zu gönnen, das wird schön.

Vor allem gedenke ich das Wunderblatt zu zeichnen, möglichst täglich und in verschiedenen Techniken. Die Leute schenken mir gern so tolles Zeichenzeug (jawohl: Zeug — weil ich nichts im Haus haben will, das „Utensilien“ heißt, da bin ich Zicke), das schließlich benutzt sein will. Vorrätig sind zwei verschiedene grüne Tinten: Smaragd und Mädesüß, das geht auch für ein Dickblattgewächs, und einige schwarze, Graphit, Rötel, Bister, Sepia und allerlei Federn, darunter Gans, Rabe und Glas — und eingerichtet ist ein Platz auf dem Schreibtisch mit einem eigens erworbenen Papierklotz aus 900 (in Worten: neunhundert) Blättern aus dem schwedischen Hause Munken Works im deutschen Steidl Verlag. Munken residiert bei Göteborg, was ich sehr sinnig finde, und die Hundertschaften an schmeichelstreichelrauem Papier sehr einladend. Hei, das gibt einen großen Haufen Wunderblätter.

Wir schauen den Papierklotz schon auf dem Bilde unten. Das gleicht dem Versuch, einen Mamablog einzurichten, während die künftigen Eltern sich gerade im Internet kennenlernen, aber es soll weder neun Monate dauern, bis ich auf Ebay eine ausgewiesene pinnata erbeute, noch muss meine Frau auf meine Models eifersüchtig sein. Es gibt noch andere Sachen zu zeichnen als nackige Frauen, gerade pinnata mit ihren Einzelteilen, Wuchsformen und Entwicklungsstadien sollte jemandem, der Zeichnen vor allem als Schule der Wahrnehmung begreift, eine Fülle von Zeichenmotiven bieten, und die botanischen Zeichnungen von vor der Goethezeit bis zur Gegenwart sind eigentlich immer wunderschön. Auch daher: „Wunderblatt“.

Eine so genannte Weblogkategorie hat es auch schon, das Blatt. Überhaupt trägt ein sotanes Projekt ein optimistisches, lebensbejahendes Element in einen Weblog, der nach Weheklagen und Höllenfahrten heißt, sich aber von Anfang an eher der heiteren Erkenntnis verpflichtet sah und selbst mir schon lange zu defätistisch klingt.

Ein Unkraut großziehen, das kann doch nicht so schwer sein.

Einen Namen wird es brauchen und einen angeglichenen Reim statt dessen mit „Sachsen“ und „am Maine“. Ich liebäugele mit „Arthur“ oder „Margot“, je nachdem, was es wird. Hat jemand andere Vorschläge? Kommentiert fleißig!

Schreibtisch mit Goethe und Munken Works

Bilder: Kolorierter Kupferstich von Bryophyllum calycinum
in Curtis’s Botanical Magazine Band 34, Tafel 1409, London 1811;
Schreibtisch mit Goethe und Munken Works, selber gemacht und gemeinfrei.

Written by Wolf

11. August 2014 at 14:38

Veröffentlicht in Grünzeug & Wunderblätter, Klassik