Archive for April 2019
Sonntag 1 von 7: Denn „sieben, sieben“, flüstert es stets, und „sieben Wochen“ ihm in das Ohr
Update zu Ho, ho, meine arme Seele!
Dem Knaben graut im Haidekraut:
Um unsere eigene Leitkultur auszukosten, feiern wir einmal alle sieben Sonntage der Osterzeit durch. Am sinnvollsten geschieht das anhand siebenzeiliger Strophen.
1. Sonntag nach Ostern: Quasimodogeniti:
Quasi modo geniti infantes, halleluja, rationabile sine dolo lac concupiscite, halleluja.
Vnd seid girig nach der vernünfftigen lautern Milch / als die jtzt gebornen Kindlin / Auff das jr durch die selbigen zunemet.
1. Brief des Petrus 2,2.
Fangen wir an mit dem übermütigen Bravourstück Das Fegefeuer des westphälischen Adels der immer noch unterschätzten Droste. Zu Quasimodogeniti, vulgo dem Weißen Sonntag, kommt es verspätet, weil die Wendung „in froner Nacht“ im Sinne von „dem Herrn zugehörig“ den Abend der Eucharistie am Gründonnerstag bedeutet. Der „historische“ Ort des titelstiftenden westfälischen Fegefeuers ist der als Lutterberg oder Butterberg überlieferte heute so genannte, allerdings bis auf weiteres fiktive Löwenberg beim ehemaligen Augustinerkloster Böddeken, Kreis Paderborn.
Der Stoff war zuerst von Wilhelm Langewiesche unter dem Pseudonym L. Wiese und derselben Überschrift für seine eigene Sammlung Sagen- und Mährchenwald im Blüthenschmuck 1841 bearbeitet, danach als Zweitverwendung vom Herausgeber Levin Schücking für Das malerische und romantische Westphalen abgelehnt worden. Der Auftrag für die Ballade erging an Schückings „mütterliche Freundin“ Droste.
Als deren Quellen kommen in Frage: Bernhard Wittes Klosterchronik von Böddeken: Historiae Antiquae Occidentalis Saxoniae seu nunc Westphaliae von vor 1442, gedruckt erst 1788 in Münster, dort Seite 613 bis 616: Purgatorium Nobilium Westphalorum, und H. Stahl alias Jodocus Donatus Hubertus Temme: Westphälische Sagen und Geschichten, Büschler’sche Verlagsbuchhandlung, Elberfeld 1831, 1. Bändchen, darin Seite 46 bis 62: Das Fegfeuer des westphälischen Adels. Eine Sage, die bis heute in der Bibliothek von Haus Hülshoff vorrätig sind.
In diesem einen Fall mit der handlungstragenden Siebenzahl dürfen wir annehmen, dass die Dichterin, die ungewöhnlich oft zur siebenzeiligen Strophenform neigt, dieselbe hier absichtlich dem Inhalt angepasst hat. Das Reimschema ABABCCB ist technisch beneidenswert sauber durchgehalten. Die sich aufdrängenden acht Verse wären marschiert, die sieben tanzen.
——— Annette von Droste-Hülshoff:
Das Fegefeuer des westphälischen Adels.
Frühling 1841, anonym aus: Ferdinand Freiligrath, Levin Schücking (Hrsgg.):
Das malerische und romantische Westphalen, Barmen und Leipzig 1842, Seite 185 bis 188,
in: Gedichte, Ausgabe 1844:
Wo der selige Himmel, das wissen wir nicht,
Und nicht, wo der greuliche Höllenschlund,
Ob auch die Wolke zittert im Licht,
Ob siedet und qualmet Vulkanes Mund;
Doch wo die westphälischen Edeln müssen
Sich sauber brennen ihr rostig Gewissen,
Das wissen wir alle, das ward uns kund.Grau war die Nacht, nicht öde und schwer,
Ein Aschenschleier hing in der Luft;
Der Wanderbursche schritt flink einher,
Mit Wollust saugend den Heimatduft;
O bald, bald wird er schauen sein Eigen,
Schon sieht am Lutterberge er steigen
Sich leise schattend die schwarze Kluft.Er richtet sich, wie Trompetenstoß
Ein Holla ho! seiner Brust entsteigt –
Was ihm im Nacken? ein schnaubend Roß,
An seiner Schulter es rasselt, keucht,
Ein Rappe – grünliche Funken irren
Über die Flanken, die knistern und knirren,
Wie wenn man den murrenden Kater streicht.„Jesus Maria!“ – er setzt seitab,
Da langt vom Sattel es überzwerch –
Ein eherner Griff, und in wüstem Trab
Wie Wind und Wirbel zum Lutterberg!
An seinem Ohre hört er es raunen
Dumpf und hohl, wie gedämpfte Posaunen,
So an ihm raunt der gespenstige Scherg‘:„Johannes Deweth! ich kenne dich!
Johann! du bist uns verfallen heut‘!
Bei deinem Heile, nicht lach noch sprich,
Und rühre nicht an was man dir beut;
Vom Brode nur magst du brechen in Frieden,
Ewiges Heil ward dem Brode beschieden,
Als Christus in froner Nacht es geweiht!“ –Ob mehr gesprochen, man weiß es nicht,
Da seine Sinne der Bursche verlor,
Und spät erst hebt er sein bleiches Gesicht
Vom Estrich einer Halle empor;
Um ihn Gesumme, Geschwirr, Gemunkel,
Von tausend Flämmchen ein mattes Gefunkel,
Und drüber schwimmend ein Nebelflor.Er reibt die Augen, er schwankt voran,
An hundert Tischen, die Halle entlang,
All edle Geschlechter, so Mann an Mann;
Es rühren die Gläser sich sonder Klang,
Es regen die Messer sich sonder Klirren,
Wechselnde Reden summen und schwirren,
Wie Glockengeläut, ein wirrer Gesang.Ob jedem Haupte des Wappens Glast,
Das langsam schwellende Tropfen speit,
Und wenn sie fallen, dann zuckt der Gast,
Und drängt sich einen Moment zur Seit‘;
Und lauter, lauter dann wird das Rauschen,
Wie Stürme die zornigen Seufzer tauschen,
Und wirrer summet das Glockengeläut.Strack steht Johann wie ein Lanzenknecht,
Nicht möchte der gleißenden Wand er traun,
Noch wäre der glimmernde Sitz ihm recht,
Wo rutschen die Knappen mit zuckenden Braun.
Da muß, o Himmel, wer sollt‘ es denken!
Den frommen Herrn, den Friedrich von Brenken,
Den alten stattlichen Ritter er schaun.„Mein Heiland, mach‘ ihn der Sünden bar!“
Der Jüngling seufzet in schwerem Leid;
Er hat ihm gedienet ein ganzes Jahr;
Doch ungern kredenzt er den Becher ihm heut!
Bei jedem Schlucke sieht er ihn schüttern,
Ein blaues Wölkchen dem Schlund entzittern,
Wie wenn auf Kohlen man Weihrauch streut.O manche Gestalt noch dämmert ihm auf,
Dort sitzt sein Pate, der Metternich,
Und eben durch den wimmelnden Hauf
Johann von Spiegel, der Schenke, strich;
Prälaten auch, je viere und viere,
Sie blättern und rispeln im grauen Breviere,
Und zuckend krümmen die Finger sich.Und unten im Saale, da knöcheln frisch
Schaumburger Grafen um Leut‘ und Land,
Graf Simon schüttelt den Becher risch,
Und reibt mitunter die knisternde Hand;
Ein Knappe nähet, er surret leise –
Ha, welches Gesumse im weiten Kreise,
Wie hundert Schwärme an Klippenrand!
„Geschwind den Sessel, den Humpen wert,
Den schleichenden Wolf geschwinde herbei!“
Horch, wie es draußen rasselt und fährt!
Barhaupt stehet die Massonei,
Hundert Lanzen drängen nach binnen,
Hundert Lanzen und mitten darinnen
Der Asseburger, der blutige Weih!Und als ihm alles entgegenzieht,
Da spricht Johannes ein Stoßgebet:
Dann risch hinein! sein Ärmel sprüht,
Ein Funken über die Finger ihm geht.
Voran – da „sieben“ schwirren die Lüfte
„Sieben, sieben, sieben,“ die Klüfte,
„In sieben Wochen, Johann Deweth!“Der sinkt auf schwellenden Rasen hin,
Und schüttelt gegen den Mond die Hand,
Drei Finger die bröckeln und stäuben hin,
Zu Asch‘ und Knöchelchen abgebrannt.
Er rafft sich auf, er rennt, er schießet,
Und ach, die Vaterklause begrüßet
Ein grauer Mann, von keinem gekannt,Der nimmer lächelt, nur des Gebets
Mag pflegen drüben im Klosterchor,
Denn „sieben, sieben“, flüstert es stets,
Und „sieben Wochen“ ihm in das Ohr.
Und als die siebente Woche verronnen,
Da ist er versiegt wie ein dürrer Bronnen,
Gott hebe die arme Seele empor!
Bilder: Jugendbildnis ohne Jahr, via Annette von Droste-Gesellschaft e.V.;
Else Hertzer: Buchillustration zu Das Fegefeuer des westfälischen Adels,
Lithographie ohne Jahr, via Goodbooks Wien.
Soundtracks: die Bach-Kantaten zu Quasimodogeniti:
Am Abend aber desselbigen Sabbats, BWV 42, 1725,
und Halt im Gedächtnis Jesum Christ, BWV 67, 1724:
Goethes Kindergartenfutter
Update zu Das Beste sind die Kartoffeln, lieber nicht zum
1. Katzvent: I should be stronger than weeping alone (und mit pragmatischen Messingdrähten zum Skelett zusammengeworfelt):
——— Goethe:
Eins wie’s andre
kein Anhaltspunkt zur Datierung, Erstdruck in der Ausgabe letzter Hand, Band 47, Cotta 1833,
in: Frankfurter Ausgabe, Gedichte Band 2, Seite 859:
Die Welt ist ein Sardellen-Salat;
Er schmeckt uns früh, er schmeckt uns spat:
Zitronen-Scheibchen rings umher,
Dann Fischlein. Würstlein, und was noch mehr
In Essig und Öl zusammenrinnt,
Kapern, so künftige Blumen sind —
Man schluckt sie zusammen wie Ein Gesind.
Wie schön, mit so einem prächtigen, rohen Findling von siebenzeiligem Gedicht einsteigen zu können. Vor langer Zeit hatte ich mal Urlaub. Das war die Gelegenheit, zwei aus der Goethezeit überlieferte Rezepte auszuprobieren, damit Sie es nicht müssen.
Überliefert sind beide Rezepte von Renate Hücking, auf den Seiten 21 und 22 ihrer Veröffentlichung Mit Goethe im Garten. Inspiration und grünes Wissen aus den Gärten der Goethezeit, Callwey 2013. Die zwei Seiten mit den Rezepten waren zufällig die ersten, die ich aufgeblättert hab, was auf eine größere Fülle schließen ließ, aber es bleibt bei den zweien. Das ist in Ordnung so: Auf diese Weise hat man eine überschaubare Auswahl sehr praktikabler und wahrscheinlich halbwegs gesunder Rezepte mit literarischem Bezug und regional beschaffbaren Ingredienzen.
——— Renate Hücking:
Frau Ajas Eierkuchen
aus: Mit Goethe im Garten: Inspiration und grünes Wissen aus den Gärten der Goethezeit,
Verlag Georg D. W. Callwey GmbH & Co. KR, München 2013, Seite 21:
Zutaten
4 alte Brötchen,
2 Esslöffel Schnittlauch,
1 Zwiebel,
40 g Butter,
7 Eier,
¼ l Milch,
1 Esslöffel Mehl,
100 g Speck,
Salz und MuskatDie Brötchen würfeln, die Zwiebel schälen und fein hacken, den Schnittlauch fein schneiden. Alles zusammen in der Butter leicht rösten.
Eier, Milch und Mehl verquirlen und anschließend mit Salz und Muskat abschmecken. Die gerösteten Zutaten unterziehen. Den Speck in der Pfanne auslassen, die Teigmasse portionsweise dazu geben und auf beiden Seiten langsam ausbacken.
Kindheitsfutter ist sowieso immer das beste. Als Welpe musste man mir die Krautwickel immer aus dem Kraut auswickeln, was das Rätsel darum noch geheimnisvoller machte, warum man einwandfreie Hackfleischbatzen überhaupt erst in derlei grünliche Putzlumpenfetzen einwickeln musste. Im Franken meiner angeborenen dialektalen Ausrichtung heißt das Hackfleisch ohne Grünzeug drumrum Fleischküchle, mit Weißkraut, Mangold und bei den Honoratioren Spinat drumrum Krautwickel — die korrekte oberostfränkische Aussprache erspare ich uns. Aber nicht einmal im allzeit bratwursthaltigen Franken wäre jemand darauf verfallen, zu Hackfleischprodukten auch noch Bratwürste zu „reichen“. Im bis 1763 französisch besetzten Frankfurt am Main anscheinend schon.
An der Formulierung stört mich allein der unmotivierte Wechsel zwischen Imperativen und imperativ gemeinten Indikativen im Aktiv und Passiv, aber angesichsts der fertigen Laubfrösche ist das schon germanistische Zickerei.
——— Renate Hücking:
Laubfrösche — ein Gericht aus Kindertagen
ebenda, Seite 22:
Zutaten
12 Mangoldblätter,
2 (altbackene) Brötchen,
1 Zwiebel,
2 Knoblauchzehen,
2 EL Butter,
1 Bund Petersilie,
2 Eier,
2 Zweige Liebstöckel,
300 g Hackfleisch,
Salz,
Pfeffer,
Pimentkörner,
½ l GemüsebrüheDie Mangoldblätter werden entstielt, gewaschen und mit kochendem Wasser überbrüht. Danach solten sie in eiskaltem Wasser abgeschreckt werden und gut abtropfen.
Für die Füllung wird die fein gewürfelte Zwiebel mit dem Knoblauch in Butter weich gedünstet — ohne sie zu bräunen. Die Brötchen in Wasser oder Milch einweichen und ausdrücken. Dazu gibt man die Eier, die gehackten Kräuter und das Fleisch. Alles sollte gut gewürzt und gründlich miteinander vermengt werden. Etwa ein Löffel dieser Masse wird auf ein Mangoldblatt gegeben und darin eingewickelt. Jetzt werden die „Laubfrösche“ mit Mehl bestäubt, in der Pfanne kurz angebraten und dabei vorsichtig gewendet. Zum Schluss mit Brühe auffüllen und die Wickel etwa 20 Minuten darin garen lassen.
Eine Variante: Die Blätter mit einer Masse aus 2 Eiern, Semmelmehl und frischen Gartenkräutern füllen, mit Mehl bestäuben und anbraten. Dazu werden Bratwürste gereicht.
Der vegetarische Praxistipp: Statt des schön bunten, aber etwas geradeheraus schmeckenden Mangolds je nach Saison lieber Spinatblätter hernehmen.
Der vegane Praxistipp: Champignons, an Feiertagen auch gern Austernpilze ergeben in gehäckseltem Zustand einen täuschend echten, sogar wohlschmeckenden Ersatz für Hackfleisch. Der örtliche Türke verkauft eine undurchschaubare, aber hochraffinierte Köfte-Gewürzmischung in allen Haushaltsgrößen, mit der kein Mensch mehr die Pflanzen- von den Kuh- und Schweineteilen unterscheiden kann. Pilze häckseln ist etwas aufwändiger als eine Packung Hackfleisch in die Pfanne fallen lassen, also kurz das große Messer nachschleifen und die Muffs auf die Ohren, das beflügelt. Nach meiner Erfahrung ist die Entsprechung für ein Pfund Hackfleisch innerhalb einmal Alert Today, Alive Tomorrow (1999) fertig. Für das ganze Festessen: Der Freischütz. Aber unter Carlos Kleiber, gell?
Bilder: Weil ich mich nie an die postmoderne Unsitte gewöhnen konnte, mein eigenes Essen abzulichten, wegen der arbeitsam eingefetteten Finger schon gar nicht während des Kochvorgangs, gibt’s nur das Buchcover und ein Beispiel für die schönen Illustrationen aus dem beschriebenen Buch, die beizubringen in der verregneten ersten Jahreshälfte 2013, wie in den Danksagungen beklagt, gar nicht so einfach war: Marion Nickig, via Helena Pivovar: Dichterfürst — Gartenfürst, Callwey Blog , 7. Oktober 2013.
Soundtrack: Theodor Shitstorm im Garten von Pogel und Marion (nicht Marion Nickel, nehme ich an):
Ratgeberlied aus: Sie werden dich lieben, 2018, mit der einzig richtigen Anweisung für Kochrezepte:
So weit meine Ratschläge, merk sie dir gut:
Es ist wichtig, dass man das exakte Gegenteil tut.
Der Text ist raffiniert genug für die volle Lautstärke und das Video für den Vollbildmodus:
Nachtstück 0020: Im rauschenden Wellenschaumkleide (In dem düstern Poetenstübchen)
Update zu Süßer Freund, das bißchen Totsein hat ja nichts zu bedeuten:
Wir fahren fort in unserer Sammlung von Gedichten mit siebenzeiligen Strophen. Heinrich Heine, der es sich gar zu oft mit Assonanzen statt Reimen gar zu leicht macht — aber selbstverständlich anders gelagerte Qualitäten im Übermaß hat — liefert ein besonders geschickt gereimtes Exemplar im Schema ABABCCB. Als eine Art erweiterter Limerick, sechs Strophen lang variantenreich durchgehalten, ist das höchste Schule. Es folgt die Fassung aus dem Buch der Lieder 1827 in originaler Orthographie:
——— Heinrich Heine:
Prolog
zu: Lyrisches Intermezzo, 1822–1823:
aus: Tragödien, nebst einem Lyrischen Intermezzo, Ferdinand Dümmler, Berlin 1823,
in: Buch der Lieder, Hoffmann und Campe, Hamburg 1827:
Es war mal ein Ritter, trübselig und stumm,
Mit hohlen, schneeweißen Wangen;
Er schwankte und schlenderte schlotternd herum,
In dumpfen Träumen befangen.
Er war so hölzern, so täppisch, so links,
Die Blümlein und Mägdlein, die kicherten rings,
Wenn er stolpernd vorbeigegangen.Oft saß er im finstersten Winkel zu Haus;
Er hatt‘ sich vor Menschen verkrochen.
Da streckte er sehnend die Arme aus,
Doch hat er kein Wörtlein gesprochen.
Kam aber die Mitternachtstunde heran,
Ein seltsames Singen und Klingen begann.
An die Thüre da hört er es pochen.
Da kommt seine Liebste geschlichen herein,
Im rauschenden Wellenschaumkleide.
Sie blüht und glüht, wie ein Röselein,
Ihr Schleier ist eitel Geschmeide.
Goldlocken umspielen die schlanke Gestalt,
Die Aeugelein grüßen mit süßer Gewalt –
In die Arme sinken sich beide.Der Ritter umschlingt sie mit Liebesmacht,
Der Hölzerne steht jetzt in Feuer,
Der Blasse erröthet, der Träumer erwacht,
Der Blöde wird freier und freier.
Sie aber, sie hat ihn gar schalkhaft geneckt,
Sie hat ihm ganz leise den Kopf bedeckt
Mit dem weißen, demantenen Schleier.In einen kristallenen Wasserpalast
Ist plötzlich gezaubert der Ritter.
Er staunt, und die Augen erblinden ihm fast,
Vor alle dem Glanz und Geflitter.
Doch hält ihn die Nixe umarmet gar traut,
Der Ritter ist Bräut’gam, die Nixe ist Braut,
Ihre Jungfraun spielen die Zither.Sie spielen und singen; es tanzen herein
Viel winzige Mädchen und Bübchen.
Der Ritter, der will sich zu Tode freu’n,
Und fester umschlingt er sein Liebchen –
Da löschen auf einmal die Lichter aus,
Der Ritter sitzt wieder ganz einsam zu Haus,
In dem dustern Poetenstübchen.
Miniaturen: Stundenbuch der Jolante von Flandern, Paris ca. 1353–1363.
BL, Yates Thompson 27, fol. 52v,
via Discarding Images;
Livre de la Vigne nostre Seigneur, ca. 1450–1470. Bodleian Library, MS. Douce 134, fol. 42v,
via Discarding Images.
Soundtrack: Lucinda Williams Bonnie Portmore,
aus: Rogue’s Gallery: Pirate Ballads, Sea Songs, and Chanteys, Anti- Records 2006:
Seht ihr, seht ihr die Tscherkessen (Schöne Menschen, schöne Glieder)
Update zu Stiefpilzin:
Meine Ansicht vom Sterben ist die ruhigste. Ein Freund ist mir bei seinem Leben was mir die Gramatik ist, stirbt er so wird er mir zur Poesie. Jch wollte lieber von meinem besten Freund nicht wissen als irgend ein schönes Kunstwerk nicht kennen.
Karoline von Günderrode: Sämtliche Werke und ausgewählte Studien, 1990, Band 1, Seite 438.
Mit der leider allzu jung gebliebenen Frau Günder(r)ode ist es wie mit Marilyn Monroe, Grace Kelly, Mama Cass, Janis Joplin, Sandy Denny und Amy Winehouse: Als erstes fällt einem immer ein, dass sie gestorben ist.
Dagegen hat Friederike Kempner sich in ihrer Autobiographie acht Jahre jünger gemacht, als sie war, für ihren Grabstein konnte sie ihr echtes Geburtsdatum 25. Juni 1828 dann doch nicht mehr unterbinden. Immerhin hat sie ihre Taphephobie — was es ja in diesem Fall unbedingt zu verhindern gilt — nicht überlebt, vielmehr 22-jährig mittels ihrer Denkschrift über die Nothwendigkeit einer gesetzlichen Einführung von Leichenhäusern 1850, sechs Auflagen bis 1867, die Karenzzeit zwischen Tod und Bestattung gesetzlich durchsetzen geholfen.
Vorzustellen ist sie als ernsthafte, engagierte, dabei menschenfreundliche Gutsbesitzerin im Schlesischen, im Gedächtnis bleibt sie als „Schlesischer Schwan“, der eigentlich eine „Nachtigall im Tintenfass“ ist — jedenfalls seit den entschieden zu hämischen, darüber hinaus effektvoll verfälschenden Veröffentlichungen von Walter Meckauer und vor allem Gerhart Herrmann Mostar: Friederike Kempner, der schlesische Schwan. Das Genie der unfreiwilligen Komik, Heidenheimer Verlagsanstalt, 1953.
Ihr literarisches Werk ist mannigfalt, in seinen meisten Formen leider weder erschlossen noch zugänglich, worin sich ihr tätiges Leben wenig von ihrer Nachwirkung unterscheidet; verbreitet und geschätzt wurden und werden allein ihre Gedichte, wenngleich aus zwiespältigen Gründen. Formal sind sie nicht weiter überraschend: meistens vierzeilige Strophen in Paar- und Kreuzreimen, drei- und vierhebig — inhaltlich sind sie, um das Geringste zu sagen, schlicht bis zur kindlichen Naivität im guten und im schlechten Wortsinne. Das trägt ihr bis heute den Spott derer ein, die es besser zu können oder jedenfalls besser zu wissen glauben. Solche Geistreichelei versteigt sich allzu leicht ins Überhebliche. Anzurechnen ist ihr allerdings ihre Unverdrossenheit in allem, was sie erreichen wollte — sei es die flächendeckende Versorgung mit Leichenschauhäusern oder die Produktion von Literatur. Wer dergleichen anfängt, will es selbstverständlich so gut wie möglich tun, bei ihr war die Poesie aber nicht mit Gewinnstreben verbunden — auf das sie nicht angewiesen war — sondern mit menschlichem Verhalten: Poetisch gestimmte Leute schreiben Gedichte, was denn sonst? Manches aus ihrer Produktion erheitert, ohne es zu wollen, und ist mithin wohl „unfreiwillig komisch“. Bei ihr ist das ein Vorzug. Ein professioneller Literat kommt doch gar nicht auf so was, der traut sich das gar nicht. In den verschieden zusammengestellten Auswahlsammlugen stehen Gedichte von durchaus unterschiedlicher Professionalität — aber kein langweiliges. Man kann der Dame nichts nachtragen, weil sie einfach Spaß macht.
In Mostars mehr populär- als -wissenschaftliche, zugegeben recht geschickt erfundene Abhandlung sind gar einige Friederike-Kempner-Gedichte geraten, die mitnichten von Friederike Kempner stammen, sondern vom Abhandelnden Mostar selbst. Und sie sind geschickt genug erfunden, dass diese Kontrafakturen Eingang in Kempner-Sammlungen nach 1953 finden konnten: Am bekanntesten ist der Schlesische Schwan stellenweise für Gesänge, die er erst posthum (nicht) angestimmt hat. So steht in der schmalen, aber verbreiteten Sammlung Das Leben ist ein Gedichte ab 1971 bei bei Reclam Leipzig — das sind nicht gelben Stuttgarter, sondern die schwarzen, höherformatigen und holzhaltigerweise stärker gilbenden — noch als Ausklang auf Seite 98:
Letzte Mahnung
Von den Sternen fiel ich nieder
Und verwinde nie den Fall,
Aber meine Hohenlieder
Ziehen klangvoll durch das All!Und wenn ich dereinst ‚mal sterbe,
Mahnet Euch der Musen Chor:
Nicht enthaltet dieses Erbe
Euren Nachekommen vor!
Gerade das „Nachekommen“ müsste vor diesem Wissen die letzten Meter von der Kontrafaktur zur Parodie gutmachen, wurde aber offensichtlich nicht allein vom Herausgeber Horst Drescher anstandslos hingenommen.
Nun war zu Zeiten der Günderrode und der Kempner das Volk der Tscherkessen oder Adygejer sehr viel präsenter als heute, wo man längst medial überfordert ist, wenn sich auf dem kaukasischen Gebirgsland wieder ohnehin undurchschaubare Grenzverläufe umsortieren und ein Volk im anderen aufgeht, wenn nicht in irgendwelchen Kriegswirren ganz verschwindet. Tscherkessien war der fernwehgeplagten deutschen Seele einst ein echtes Sehnsuchtsland — wie zeitweise auch Griechenland, als es sich 1821 bis 1829 vom Osmanischen Reich losriss, oder Italien, das nie aus der Liste veschwinden, sie höchstens allein ausmachen wird, oder Irland seit Heinrich Böll. Tscherkessen sind ja so ein freiheitsliebendes, selbstbewusstes, kämpferisches, edles Volk, das sich nichts von Gott oder Herrscher vormachen lässt, und dabei so schöne Menschen.
Zur Orientierung: Tscherkessen sind heute ein „Volk ohne Raum“, dafür mit reichhaltiger Tradition, das ungefähr in Georgien mit angrenzenden Ländern und gern in den USA lebt. Nach einem weitgehend verdrängten Völkermord von 1864 haben sie kein fest umgrenztes Staatsgebiet außer der Hälfte von Karatschai-Tscherkessien und einer winzigen autonomen Republik Adygeja innerhalb Russlands mit 0,6 Prozent tscherkessischem Bevölkerungsanteil mehr, keine einheitliche Sprache, geschweige denn eine Nationalliteratur, keine ausgeprägte Nationalküche, nicht einmal eine typische Volksmusik — nur spektakuläre Trachten, sprichwörtliche Gastfreundschaft und Höflichkeit sowie allerhand Kriegsruhm. Soweit mein persönlicher Einblick reicht, immer noch allesamt lauter wunderschöne Menschen, alles was recht ist.
Ein Gedicht, das mit einiger Sicherheit eben doch von Friederike Kempner stammt — so weit, das längste Einzel- aus dem lyrischen Gesamtwerk zu fälschen, ging Mostar dann doch nicht — spielt denn auch einen Einbruch des tscherkessischen ins preußische Element durch. Es hat also, ungewöhnlich für die Kempner, eine balladeske Handlung, leider nur einen fragmentarischen Spannungsbogen:
——— Friederike Kempner:
Die Tscherkessen
aus: Gedichte, zwischen 1873 und 8. Auflage letzter Hand 1903:
Sieh‘, drei Reiter, glänzend, prächtig,
Wie sie nur im Traume!
Scharlachrot auf schwarzen Rossen,
Und mit gold’nem Zaume.Schwarz und golden, herrlich flimmert’s
Wie sie blitzschnell eilen.
Funken stäuben gleich Raketen,
Und es schwinden Meilen!Purpurfedern auf Baretten,
Dolche an den Seiten,
Schienen sie die schnelle Runde
Um die Welt zu reiten.Und die Rosse, wie arabisch
Ihre Blicke leuchten,
Wie die glänzend schwarzen Haare
Helle Tropfen feuchten!Dreimal kam die Nacht gezogen,
Dreimal sah man’s tagen,
Und noch immer Rosseshufe
Samt den Herzen schlagen.Dreimal kam die Nacht gezogen,
Dreimal sah man’s tagen,
Und es konnten Feuerkugeln
Sie noch nicht erjagen!
Nächtlich sieh‘ im Mondenscheine
Die drei Reiter knieen.
Brück‘ und Wasser hinter ihnen
Eine Linie ziehen.In dem Grenzort auf dem Berge
Steht des Marktes Menge,
Und Bewunderung, Staunen, Rührung,
Wechseln im Gedränge:Seht ihr, seht ihr die Tscherkessen,
Herr Gott! wie die reiten!
Feuer sprühen ihre Blicke
Hin nach allen Seiten!Sie entfloh’n aus tiefen Reußen,
Heldenmut im Blute, –
So tönt’s in des Volks Geflüster –
„Wie den‘ auch zu Mute?“ –Vor des Preuß’schen Rathaus Schwelle
Stehet die Behörde,
Und die Reiter, heiß und glänzend,
Ruhen auf der Erde.Ihre Zeichen, ihre Mienen,
Blicke, freudetrunken,
Streicheln sie die prächt’gen Rosse,
Wie im Traum versunken.Ihre Zeichen, ihre Mienen,
Ihre dunklen Worte,
Sie enträtselt halb ein Dolmetsch,
Tief gerührt am Orte.„Wir Cirkassien’s freie Söhne
„In der Sklaven-Ferne
„Hörten rühmend eure Freiheit,
„Dienten Freien gerne!„Durch des höchsten Gottes Fügung
„Nun auf freier Erde,
„Flehen wir zum freien Preußen,
„Daß uns Hilfe werde!„Dreimal vier und zwanzig Stunden
„Ohne Rast geflohen,
„Bieten wir uns, uns’re Schwerter
„Euch an voll Vertrauen!„Dreimal vier und zwanzig Stunden
„Ohne Rast geritten,
„Wir um edle, große, deutsche
„Gastlichkeit nun bitten! – “Also klagen ihre Worte,
Und mit starrem Munde
Still vernahm des Ortes Vorstand
Diese selt’ne Kunde.Selbe Nacht noch, sieh‘, pechfinster,
Trotz des Vollmonds Lichte,
Lautlos durch die tiefe Stille
Lauschet die Geschichte.Horch, zwei preußische Schwadronen,
Die Tscherkessen mitten,
Ziehen auf dem dunklen Boden
Hin mit festen Tritten.
Wieder sieht man durch die Gegend
Rosseshufe sprühen,
Brück und Wasser diesmal ihnen
Vorn die Grenze ziehen.Horch, da öffnet sich der Schlagbaum,
Und am Brückenkopfe
Nicken durch die hohle Öffnung
Russen mit dem Kopfe.Dumpf Gemurmel vom Kartelle,
Freundschaft, – ungeschwächte, –
Und man liefert unsere Helden
An Kosakenknechte!Düster graut der vierte Morgen,
Einzeln leuchten Sterne,
Russen bilden einen Halbkreis,
Wetter leuchten ferne:Düster flimmern die Laternen,
Donner westwärts grollen,
Von der Helden Haupt, gebücktem,
Große Tränen rollen:Niederknien alle Dreie,
Und vom Regimente
Dreimal tönt die russ’sche Salve,
Daß die Erde dröhnte!
Neben den Einbruch des tscherkessischen ins preußische Element gesellt die Kempner denn auch in knapperer Form die Verwandtschaft ihres Posen-schlesischen Elements ins tscherkessische — vor dem historischen Hintergrund noch kein Beweis für eine ausgeprägte Tscherkessophilie, aber ein starkes Indiz:
——— Friederike Kempner:
Ich bin auch Tscherkesserin!
aus: Gedichte, zwischen 1873 und 8. Auflage letzter Hand 1903:
Weit die Welt möcht‘ ich durchmessen
Bis zum schwarzen Kaukasus,
Auf die Schwelle des Tscherkessen
Setzen möcht‘ ich meinen Fuß.Mit dem Lammfell auf dem Schopfe
Träte jener vor mich hin,
Essen würd‘ aus einem Topfe
Ich mit der Tscherkesserin.Schöne Menschen, schöne Glieder,
Starker Mann und zartes Weib,
Aber seht, auch dieses Mieder
Enget wohlgestalten Leib.Apfel fällt nicht weit vom Stamme,
Und wer sieht nicht, frag‘ ich, wer?
Daß es mir vom Auge flamme:
Ich bin auch Kaukasier!
Wo die Kempner recht hat, hat sie recht: Von der besonders ansehnlichen Proportionierung des, nun ja: Volkskörpers und dessen angeblich ungewöhnlich — jedenfall auf monochromen Fotos — weißen Hautfarbe leitet sich die Einteilung der eher bleichgesichtigen Volksgruppen als „kaukasisch“ her. — Was Karoline von Günderrodes bildliche Studie zum Tscherkessentum dem gedachten Status einer bloßen Gedichtillustration hinaushebt zu einem eigenständigen, vergleichswürdigen Beitrag:
——— Karoline Friederike Louise Maximiliane von Günderrode:
Kopfstudien
Schwache Bleistiftskizzen mit brauner Tinte, ca. 1805,
im Zusammenhang mit [der Studienbuchkategorie] M Physiognomik. SUF: A 4, Blatt 228 verso,
in: Sämtliche Werke und ausgewählte Studien, 1990, Seite 478:
Cirtassierin [meint wohl: Cirkassierin]
Jndier
Russe
Fachliteratur, leider beide Druckwerke anzuzweifeln, der Weblog scheint recht kompetent:
- Gerhart Herrmann Mostar: Friederike Kempner, der schlesische Schwan.
Das Genie der unfreiwilligen Komik, Heidenheimer Verlagsanstalt, 1953; - Manfred Quiring: Der vergessene Völkermord: Sotschi und die Tragödie der Tscherkessen,
mit einem Vorwort von Cem Özdemir, Ch. Links Verlag, Berlin 2013; - Dagmar Schatz: Das Exil der Tscherkessen. Neun Fakten über die Tragödie, 21. Mai 2017.
Bilder:
- Jean-Léon Gérôme, Veiled Circassian Beauty, 1876, via Printemps Sacré, 27. Mai 2016.
Laut Books and Art, 8. April 2018:The pensive face is above a contraposto that does not disturb the pensive expression on her face. The play of elements is surprising: the solid pattern of the rug makes that of the jacket even more delicate. The hand is absolutely beautiful, both in accuracy and in its absent-minded repose.
- Gwaschemasch’e Efendi, 1900, via Olenna Redwyne;
- Maktus: Circassian girl in traditional clothing, 2018;
- Sartorial Adventure, 9. April 2018;
- Angela Toidze: Adyghe girl in traditional clothing during folk festival
held in Nalchik, Kabardina-Balkaria Republic, Russia; - Ahmed Nagoev featuring Ruslan Teshev und Tamara Kobleva für den Circassian calendar 2015,
via My Caucasus Blog, 12. Januar 2015.
Soundtrack: der Flötenmuckel, der mich auf meine alten Tage, weil ich als Schüler nur an Melodica und Akkordeon herangeführt wurde, zum Erlernen des Blockflötenspiels trieb: Biermösl Blosn — die Brillanz der Fingerfertigkeit höchstselbst auf unter zwei Minuten zusammengefasst:
Circassian Circle, aus: Grüß Gott, mein Bayernland, 1982; Arrangement und Solo: Christoph Well.
Und nein, so werde ich’s nie, nie, nie können: