Archive for the ‘Griechische Antike’ Category
Kritiken der reinen praktischen Urteilskraft
Update zu Kotzmaterial (Ein Hoch auf deine Bildung du vollidiot)
und Homerische Dark Fantasy:
Solche Leser wünschen wir uns. Nicht „das Feuilleton“ oder das, was derzeit noch davon übrig ist (nein, ich bin ja leider keins), der Buchhandel je nach Tagesverfassung – aber wäre ich ein Schreiber, dann schon.
Was für Leser? Na, begeisterte, was sonst? – Rezensionen chronologisch:
——— Michael Saidak:
Reality’s dark dream…
zu Ludwig Tieck: Märchen aus dem „Phantasus“, Reclams Universal-Bibliothek 2003,
8. Juli 2005:
Stupendous masterpieces!!!! Phantasus, wow!!! Ludwig Tieck is a genius of highest order – this stuff is supreme German gothic dark romantic. Mind-boggling & spirit-crushing hardcore stories that delve darkly into the unconscious; paranoia, retribution, the mind-destroying power of nature, dreams, insanity… Insane depth hidden in the form of „fairy-tales“ (what a stupid English word)!!!
Highly unique!! Exquisite! Gorgeous dark words of magic and vision!!! Pure genius!!! A hundred million stars.
Unfortunately I don’t speak German; Tieck’s works are so hard to find in English – I had to search through obscure translations of out-of-print books in libraries to find some of his tales. What atrocity, what shame, what crime!!!! English-speaking Germans, translate all Tieck’s works to English (and all other languages), his tales are world heritage!!!
See also Heinrich von Kleist & E.T.A. Hoffmann.
Wow… I wonder what happened in Germany at that time?? I mean, such splendid dazzling brilliance!!!! What were these guys smoking??? How could they write such lucid & vivid narrative prose, and with such merciless & brutal intensity, reminiscent of LSD-induced revelations??? Wow!!
——— callisto (VINE-PRODUKTTESTER):
Unterhaltsame, antike Göttergeschichten
zu Anton Weiher, Hrsg.: Homerische Hymnen, Sammlung Tusculum 2014,
15. Juli 2014:
Homerische Hymnen, das klingt schrecklich langweilig. Man sollte sich aber nicht vom Titel abschrecken lassen, denn was die alten Griechen unter Hymnen verstanden ist zum Großteil deutlich spannender und unterhaltsamer als das, was das Christentum darunter versteht. Natürlich gibt es auch die langweilig, schwafeligen Lobhuddeleien an ein paar Götter, die den christlichen Hymnen in nichts nachstehen, die großen, langen Hymnen sind aber spannende Geschichten, die der Odyssee in nichts nachstehen.
Das Buch enthält 33 Hymnen, davon sind die langen wirklich spannende Geschichten:
1. Demeter – Hier wird die Geschichte von Persephone und Demeter erzählt. Persephone fällt beim Spielen in ein Loch im Boden und landet im Totenreich. Demeter ist am Boden zerstört, ihre Tochter verloren zu habe. Sie sucht sich daher einen Job als Kindermädchen zur Ablenkung. Die Mutter des Knaben, den Demeter umsorgt ist aber nicht sonderlich begeistert von Demeters Erziehungsmethoden, denn Demeter wollte aus dem kleinen mit Ambrosia und stärkenden Bädern in glühender Asche einen Unsterblichen machen. Das stieß bei der Mutter des Kindes irgendwie auf Unverständnis. Demeter kündigt und verlangt als Abfindung einen Tempel.
2. Apollon – Hier hat man einfach zwei Hymnen aneinandergeklebt. Eine handelt von Apollons Geburt. Keiner wollte aber, dass seine Mutter dieses gefährliche Kind auf ihrem Grund und Boden bekommt, bis sich dann doch eine Insel erbarmt ihnen Geburtsasyl zu geben. Anschließend muss sich jung Apollo einen Platz für seine Wohnung/Tempel suchen und dazu das passende Personal entführen.
3. Hermes – Meine Lieblingshymne. Klein Hermes hat es schon gleich nach seiner Geburt faustdick hinter den Ohren. Kaum einen Tag alt, büchst er aus und klaut Apollo die Rinder (die er rückwärts gehen lässt, damit nicht auffällt, wohin er sie gebracht hat). Apollo ist aber nicht doof, er weiß, dass Hermes mehr als ein neugeborenes Kind ist. Der Schlagabtausch zwischen den beiden ist sehr witzig. Hermes miemt das Baby, wickelt sich in die Windel und meint, dass er wohl kaum wie ein kräftiger Vieh Dieb aussieht und Apollo tobt rum, schnappt ihn und bringt ihn vor Zeus, der an der Angelegenheit auch seinen Spaß hat. Danach werden die beiden beste Freunde.
4. Aphrodite – Zeus hat die Nase voll, dass Aphrodite die Götter andauernd mit Menschen verkuppelt und lässt sie ihre eigene Medizin schmecken. Sie verliebt sich in Anchises und gebiert ihm Aeneas.
5. Dionysos – Kurz und unterhaltsam. Ein paar Seeräuber entführen Dionysos und wollen ihn als Sklaven verkaufen. Er lässt Rebstöcke aus den Planken sprießen und ersäuft das Schiff in Wein, während er sich in einen Löwen verwandelt.
6. Pan – Die Geschichte um die Geburt Pans, Hermes Sohn. Nett aber nicht sonderlich ereignisreich.
Diese 6 Hymnen machen einen Großteil des Büchleins aus, die 29 langweiligen Kurzhymnen, die selbst im Anhang teils als „mattes, sprachlich ungeschicktes Gebilde“ bezeichnet werden, kann man einfach ignorieren. Haufenweise Geschwafel, wie toll dieser oder jener Gott ist, da stehen sie den christlichen Hymnen in nichts nach.
Das Buch hat noch einen kurzen Anhang, der Auf den griechischen Text und einige Worte darin eingeht, das ist aber eher etwas für eingefleischte Altgriechischfans.
Genau wie bei der Odyssee schreibt man die Hymnen einfach mal Homer zu, denn er ist ein Garant für gute Unterhaltung, aber es ist schon klar, dass hier verschiedene Autoren aus unterschiedlichen Zeiten und teils unterschiedlichen Erzähltraditionen zusammengefasst werden. Einige der langen Hymnen sind möglicherweise wirklich aus Homers Feder (Homer im weiteren Sinne als Autorenkollektiv), andere mit Sicherheit nicht.
Fazit: Insgesamt sind besonders die langen Hymnen sehr unterhaltsame, antike Göttergeschichten, die man heute auch gut lesen kann.
——— Mr. Who?:
Sehr interessant
zu Immanuel Kant: Die drei Kritiken – Kritik der reinen Vernunft. Kritik der praktischen Vernunft. Kritik der Urteilskraft, Anaconda 2015,
20. Januar 2019:
Kant seine Exemplare sind meistens immer sehr interessant zu lesen.
Kann auch dieses Exemplar nur weiterempfehlen.
Es liest sich zum großenteils sehr gut und verständlich.
Klare Empfehlung
——— Anala Mentos:
zu Georg Wilhelm Friedrich Hegel,
10. November 2020:
Yo alle hegel memes bei seite finde man kann ihn sehr wohl gut verstehen wenn man aufmerksam liest. Er drückt sich halt sehr autistisch präzise aus und seine sätze sind sehr verschlungen, aber eben der Vollständigkeit wegen.
10/10 würde lesen
So, und wer jetzt überhaupt schon mal einen Pieps von den Homerischen Hymnen gehört hat, einen von Kant versteht oder einen von Hegel – nein, nicht über Hegel – gelesen hat oder Ludwig Tieck kontrastiv zu E.T.A. Hoffmann setzen kann, darf anfangen zu lästern.
Bilder: Mike Disko Photography: Miranda Mae von und für Greencup Books,
Birmingham/Alabama (Geschäft erloschen), 2009.
Beispiel-Track: Leslie Caron in Ein Amerikaner in Paris, 1951:
Soundtrack: Feelsaitig: Napoleons Frühstücksei, aus: Des hältzt ja net aus!, 1987,
live bei Songs an einem Sommerabend vor Kloster Banz, 1993:
Mann bald war, bald Weib der wechselgestaltige Sithon
Update zu Der goldene Ginster der Sonne auf dem Strand und dem Meer,
Ich will mich wie mein Schwanz erheben,
Um meiner Mannheit Tiefgang auszuloten
und The tale of the powerful penis:
„Babba, i will a Geschlechtsumwandlung!“
A Fotzn kannst ham.“
Präapokalyptisches Volksgut, ca. 2018.
Der altgriechische Hermaphroditos war zuerst der Sohn — ausdrücklich nicht die Tochter — von Aphrodite und Hermes; daher der Name. Zur Hälfte einer Tochter wurde der Sohn durch die Quellnymphe Salmakis.
Noch beim spätrömischen Ovid ist die Zweigeschlechtlichkeit eines Einzelwesens kurios genug für die mythologische Überlieferung seit Theophrastos von Eresos her — übrigens einem Forstwissenschaftler, der nicht zweckmäßige, aber dennoch regelmäßige Naturphänomene, z. B. Brustwarzen bei männlichen Lebewesen, einer Causa efficiens zuschrieb, von der Insel, jawohl: Lesbos. Uns postmodernen Apokalyptikern müssen zwei Geschlechter, die sich auf einen Träger vereinigen, geradezu lächerlich erscheinen; allein Facebook lässt seit 2014 sechzig Geschlechter zu, darunter auch Hermaphroditen.
Auf eine Auflistung der weiterhin fluiden nicht-binären oder genderqueeren Unterscheidungen oder gar auf eine Bewertung der anhaltenden Diskussion werde ich mich, solange sie Politikum bleibt, nicht einlassen. Nur soviel: Selbstverständlich sind alle Geschlechter zu respektieren und zu unterstützen. Und dass Hermaphroditos‘ mythologischer Vorgänger Agdistis noch mit seinen abgetrennten Geschlechtsteilen raumgreifend fruchtbar war, der spätere, durch Ovid bekanntere und ein modernes Konzept stiftende Hermaphroditos sein Schicksal als Fluch betrachtete, den er mit elterlichem Einverständnis und bis heute fortdauernder Wirkung weitergibt.
Muss aber nichts heißen.
——— Publius Ovidius Naso:
Salmacis und Hermaphroditus (3. Tochter)
aus: Metamorphosen 4, 271–388, Übersetzung Reinhard Suchier:
Schluss war nun, und es hatten gehorcht auf das Wunder die Ohren.
Glauben versagt ein Teil, ein Teil meint, wirkliche Götter
Hätten zu allem die Macht; doch nicht ist Bakchos darunter.
Jetzt an Alkithoe ist, wie die Schwestern geschwiegen, die Reihe,
Und sie beginnt, mit dem Schiff durcheilend den stehenden Aufzug:
„Nicht die verbreitete Mär von der Liebe des Hirten am Ida,
Daphnis, ersah ich mir aus, den die eifersüchtige Nymphe
Hart ließ werden zu Stein. So heiß drängt Schmerz die Verliebten.
Auch nicht red‘ ich, wie einst der natürlichen Ordnung entgegen.
Mann bald war, bald Weib der wechselgestaltige Sithon.
Die auch, Stahl anjetzt, sonst Iupiters treuer Gefährte,
Kelmis, und euch, Kureten, erzeugt vom reichlichen Regen,
Krokos und Smilax auch, in niedliche Blumen verwandelt,
Lass‘ ich weg, und den Sinn soll fesseln ergötzliche Neuheit.
Warum Salmakis kam in Verruf, weshalb sie verweichlicht
Mit arg wirkendem Quell und erschlafft umflossene Glieder,
Höret es. Wenig bekannt ist der Grund, allkundig der Zauber.
Von Mercurius einst erzeugt mit der Göttin Kytheras
Ward von Naiaden ein Knab‘ in des Ida Grotten erzogen.
Also war sein Gesicht, dass leicht so Vater wie Mutter
Wieder erkannte der Blick; auch ward er nach beiden geheißen.
Wie er erreicht dreimal fünf Jahre, da zog von der Heimat
Bergen der Knabe hinaus und, getrennt von dem nährenden Ida,
War es ihm Lust zu schweifen umher durch fremde Gefilde,
Fremde Gewässer zu sehn; die Mühen verringerte Neugier.
Auch zu dem lykischen Land und den Karern, Lykiens Nachbarn,
Kommt er des Wegs. Hier lockt ihn mit glänzendem Wasser ein Weiher
Klar bis zum untersten Grund. Dort war kein sumpfiges Röhricht,
Dort kein mageres Schilf, noch Binsen mit stachliger Spitze.
Hell durchscheint die Flut. Doch außen umsäumet den Weiher
Frisch aufkeimendes Gras und grün stets bleibender Rasen.
Die ihn bewohnt, die Nymph‘ ist zur Jagd untüchtig, und niemals
Zieht den Bogen sie straff, noch mag sie eifern im Wettlauf,
Von den Naiaden allein ganz fremd der behenden Diana.
Oft wohl sprachen zu ihr — so meldet die Sage — die Schwestern:
,Salmakis, nimm den Spieß, den zierlich gefertigten Köcher,
Und mit der stärkenden Jagd vertausche behagliche Muße!‘
Doch nicht nimmt sie den Spieß, noch den zierlich gefertigten Köcher,
Mag mit der stärkenden Jagd nicht tauschen behagliche Muße,
Sondern bespült in dem Wasser des Quells die reizenden Glieder,
Streicht die Haare sich glatt mit dem Kamm von kytorischem Buchsbaum
Oder befragt, was schön ihr stehe, die spiegelnden Wellen;
Mit durchsichtigem Kleid auch öfter umgeben den Körper
Wählt bald schwellendes Laub, bald schwellendes Gras sie zum Lager;
Oft pflückt Blumen sie ab. Auch damals pflückte sie Blumen,
Als sie den Knaben erblickt und den kaum Erblickten begehret.
Noch nicht nahte sie ihm, obgleich sie sich eilte zu nahen,
Bis sie geordnet den Putz und musternd besehen den Anzug,
Freundlich die Miene gemacht und verdient liebreizend zu scheinen.
‚Jüngling‘, redet sie nun, ,als einer der Götter zu gelten
Würdig zumeist! Wofern du ein Gott, wohl bist du Cupido;
Doch wenn sterblicher Art, dann selig die beiden Erzeuger,
Glücklich der Bruder von dir, fürwahr zu beneiden die Schwester,
Falls dein eine du nennst, und die einst dich säugte, die Amme!
Doch glückselig und reich vor allen und über die Maßen,
Die als Braut dir gehört, die würdig du findest der Fackel.
Hast du diese bereits, sei mein Umfangen verstohlen;
Hast du sie nicht, sei ich’s, und lass uns einen das Brautbett!‘
Hiermit schwieg die Naiad‘. Es errötet die Wange des Jünglings,
Welchem die Liebe noch fremd. Doch schön auch stand das Erröten.
So ist der Apfel zu sehn, der hängt am sonnigen Baume,
Oder das Elfenbein, das gefärbt ist, oder mit Weiße
Röte vereinend der Mond, wenn fruchtlos helfendes Erz tönt.
Als ihn um Schwesterkuss zum wenigsten ständig die Nymphe
Bittet und schon ausstreckt nach dem helfenen Nacken die Arme,
Ruft er: ‚Hinweg! Sonst flieh‘ ich und meide den Ort und dich selber.‘
Salmakis bangte darob und sprach: ‚Frei mögest du, Fremdling,
Hier dich ergehn!‘ Und sie wendet zum Schein weggehend die Schritte.
Doch stets blickt sie zurück, und versteckt im Wald der Gebüsche
Lugt sie geduckt mit gebogenem Knie. Doch jener, wie Knaben
Pflegen, und unbelauscht sich wähnend im einsamen Grase,
Geht lustwandelnd umher, und hinein in die plätschernden Wellen
Taucht er die Sohlen zuerst, dann bis an die Knöchel die Füße.
Bald auch legt er, gelockt von der Milde des schmeichelnden Wassers,
Nieder das weiche Gewand von dem zartgebildeten Körper.
Da kommt Salmakis ganz von Sinnen und brennt von Begierde
Nach der enthüllten Gestalt, und es glühen die Augen der Nymphe
Ähnlicher Art, wie wenn vollglänzend mit lauterer Scheibe
Prallt die Sonne zurück vom entgegen gehaltenen Spiegel.
Kaum erträgt sie Verzug, kann kaum ihr Entzücken verschieben,
Wünscht ihn schon zu umarmen; von Sinnen kann kaum sie sich halten.
Jener beklatscht sich den Leib mit offenen Händen und springet
Rasch in die Wellen hinein, und rudernd mit wechselnden Armen
Scheinet er durch in der Flut, wie wenn schneeige Lilien einer
Oder ein elfenes Bild zudeckt mit hellem Kristallglas.
,Sieg! er ist mein!‘ So ruft die Naiad‘, und jegliche Hülle
Schleudert sie fort und wirft sich mitten hinein in die Wellen,
Hält den Streitenden fest und raubt im Ringen ihm Küsse,
Schiebt ihm unter die Händ‘ und berührt den wehrenden Busen,
Und bald schmiegt sie sich hier, bald schmiegt sie sich dort an den Jüngling.
Endlich hält sie, wie sehr er sich sträubt und sucht zu entkommen,
Ihn wie die Schlange umstrickt, die der Königsvogel davonträgt
Und hoch rafft in die Luft — im Schweben umwickelt ihm jene
Füße und Kopf und umschlingt mit dem Schwanz die gebreiteten Flügel —
Oder wie Efeu pflegt sich zu ranken an ragenden Stämmen,
Oder wie unter der Flut der Polyp den ergriffenen Gegner
Hält mit den Fängen gepackt, die er streckt nach jeglicher Seite.
Stand hält Atlas‘ Spross und weigert der Nymphe die Freuden,
Die sie ersehnt. Sie drängt und spricht, wie sie dicht an den Jüngling
Sich mit dem Leibe gefügt: ‚Wie sehr, Grausamer, du wehrest,
Doch entkommst du mir nicht. So möge, verhängt es, ihr Götter,
Jenen von mir kein Tag, kein Tag mich trennen von jenem!‘
Götter alsbald willfuhren dem Wunsch. Die Körper der beiden
Werden vermengt und zu einer Gestalt miteinander verbunden.
Wie oft einer gewahrt, der Zweige vereint mit der Rinde,
Dass sie verwachsen in eins und dann aufschießen gemeinsam:
Also, wie sich verschränkt die Glieder in enger Verschlingung,
Sind’s nicht zwei und doch ein Doppelgeschöpf, das zu heißen
Knabe so wenig wie Weib; sie scheinen so keines wie beides.
Wie er sich sieht von der Flut, worein als Mann er gestiegen,
Zum Halbmann gemacht und schlaff die Glieder geworden,
Bittet, die Hände gestreckt, mit schon unmännlicher Stimme
Hermaphroditus und spricht: ‚Erweist, o Vater und Mutter,
Euerem Sohne die Gunst, der führt von euch beiden den Namen:
Wer in den Quell hier kommt als Mann, der steige als Zwitter
Wieder heraus und erschlaffe sogleich, wie er taucht in das Wasser.‘
Gütig erfüllend den Wunsch des doppelgestaltigen Sohnes
Geben die Eltern dem Quell das Geschlecht verwirrenden Zauber.“
Bilder:
- „This piece of non-gender conforming historic art comes to us from 3rd century CE […]“,
via Historic Erotic Art from Around the World, 24. Januar 2016:
„This statue is on display at the Louvre in Paris.“; - Following Aphrodite: Male Aphrodite: Aphroditos, 3. Januar 2021;
- Bartholomäus Spranger: Hermaphroditos und Salmacis, 1580 bis 1582;
- Kontrafaktur über Paul Richer: Tres In Una, 1913,
via Hellenic Poetry: Hermaphrodites, Poems (and Songs) I, 23. Februar 2017.
Soundtrack: Frank Black And The Catholics: Hermaphroditos, aus: Dog in the Sand, 2001:
I am a dog
I am a sculpture
You hate my features
And you name me for a god […]
Forget your yin
And go fuck your yang
It seems that you rang
And it seems I won’t be answering […]
And I’m still around
But who wants to listen
To my voice in your prison
Coronadvent 3: Da war keine Schranke mehr, nicht Götterfurcht, nicht Menschengesetz
Update zu Weil er ihn für einen völligen Toren hielt,
Homerische Dark Fantasy
und Hipsteros:
Für das Jahr 2020 drängt sich nichts so sehr auf wie ein Rückblick auf vergangene Pandemien.
Es ist Advent. Gott steh uns bei.
Weder ist ein griechischer Originaltitel für die Geschichte des Peloponnesischen Krieges von Thukydides überliefert, noch ist zu erschließen, welcher Retrodiagnose die darin beschriebene Seuche folgt. Hypothesen über die nachmals so genannte Attische Seuche zwischen 430 und 426 vor Christus umfassen, sind aber nicht beschränkt auf Typhus, Fleckfieber, Milzbrand, Pest, Influenza, Fieber, Pocken, Lassafieber, Ebolafieber, Tuberkulose, Scharlach, Masern, Marburgfieber, Rifttalfieber, Krim-Kongo-Fieber, Kyasanur-Wald-Fieber, Rückfallfieber, Tularämie, Pferdeenzephalitis und Hämorrhagie.
Das Neuartige an Thukydides‘ so breit wie tief angelegter Schilderung der 27 Kriegsjahre 431 bis 404 vor Christus, deren Zeitzeuge er war, ist die knochentrockene, auf schmucklose Fakten reduzierte und darin bis heute stilsetzende Berichterstattung. Seiner Zeit weit voraus ist mit guter Begründung die Pestschilderung im 2. Buch: als Vorläufer eines Memento mori, das eigentlich erst im Barock dran war. Vor allem Abschnitt 53 erinnert fatal an Auffassungen des nachchristlichen Jahres 2020. Siehe unten, ungekürzt:
——— Thukydides:
Das zweite Kriegsjahr
aus: Geschichte des Peloponnesischen Krieges, Abschnitt II,47 bis 53,
Übersetzung: Georg Peter Landmann, Artemis Verlag, Zürich 1960:
[47] So wurden die Toten beigesetzt in diesem Winter, und mit seinem Ende war das erste Jahr dieses Krieges abgelaufen. Gleich mit Beginn des Sommers fielen die Peloponnesier und ihre Verbündeten mit zwei Dritteln ihrer Macht, wie das erstemal, in Attika ein, geführt von Archidamos, Zeuxidamos‘ Sohn, König von Sparta, lagerten sich und verwüsteten das Land. Sie waren noch nicht viele Tage in Attika, als in Athen zum ersten Male die Seuche ausbrach. Es hieß, sie habe schon vorher mancherorts eingeschlagen, bei Lemnos und anderwärts, doch nirgends wurde eine solche Pest, ein solches Hinsterben der Menschen berichtet. Nicht nur die Ärzte waren mit ihrer Behandlung zunächst machtlos gegen die unbekannte Krankheit, ja, da sie am meisten damit zu tun hatten, starben sie am ehesten selbst, aber auch jede andere menschliche Kunst versagte: alle Bittgänge zu den Tempeln, Weissagungen und was sie dergleichen anwandten, half alles nichts, und schließlich ließen sie davon ab und ergaben sich in ihr Unglück. [48] Sie begann zuerst, so heißt es, in Äthiopien oberhalb Ägyptens und stieg dann nieder nach Ägypten, Libyen und in weite Teile von des Großkönigs Land. In die Stadt Athen brach sie plötzlich ein und ergriff zunächst die Menschen im Piräus, weshalb auch die Meinung aufkam, die Peloponnesier hätten Gift in die Brunnen geworfen (denn Quellwasser gab es dort damals noch nicht). Später gelangte sie auch in die obere Stadt, und da starben die Menschen nun erst recht dahin. Mag nun jeder darüber sagen, Arzt oder Laie, was seiner Meinung nach wahrscheinlich der Ursprung davon war und welchen Ursachen er eine Wirkung bis in solche Tiefe zutraut; ich will nur schildern, wie es war; nur die Merkmale, an denen man sie am ehesten wiedererkennen könnte, um dann Bescheid zu wissen, wenn sie je noch einmal hereinbrechen sollte, die will ich darstellen, der ich selbst krank war und selbst andere leiden sah.
[49] Es war jenes Jahr, wie allgemein festgestellt wurde, in bezug auf die anderen Krankheiten grade besonders gesund. Wer schon vorher ein Leiden hatte, dem ging es immer über in dieses, die andern aber befiel ohne irgendeinen Grundplötzlich aus heiler Haut zuerst eine starke Hitze im Kopf und Rötung und Entzündung der Augen, und innen war sogleich alles, Schlund und Zunge, blutigrot, und der Atem, derherauskam, war sonderbar und übelriechend. Dann entwickelte sich daraus ein Niesen und Heiserkeit, und ziemlich rasch stieg danach das Leiden in die Brust nieder mit starkem Husten. Wenn es sich sodann auf den Magen warf, drehte es ihn um, es folgten Entleerungen der Galle auf all die Arten, für die die Ärzte Namen haben, und zwar unter großen Qualen, und die meisten bekamen dann ein leeres Schlucken, verbunden mit einem heftigen Krampf, der bei einigen alsbald nachließ, bei anderen auch erst viel später. Wenn man von außen anfaßte, war der Körper nicht besonders heiß, noch auch bleich, sondern leicht gerötet, blutunterlaufen und bedeckt von einem dichten Flor kleiner Blasen und Geschwüre; aber innerlich war die Glut so stark, daß man selbst die allerdünnsten Kleider und Musselindecken abwarf und es nicht anders aushielt als nackt und sich am liebsten in kaltes Wasser gestürzt hätte. Viele von denen, die keine Pflege hatten, taten das auch, in die Brunnen, infolge des unstillbaren Durstes. Es war kein Unterschied, ob man viel oder wenig trank. Und die ganze Zeit quälte man sich in der hilflosen Unrast und Schlaflosigkeit. Solange die Krankheit auf ihrer Höhe stand, fiel auch der Körper nicht zusammen, sondern widerstand den Schmerzen über Erwarten. Entweder gingen daher die meisten am neunten oder siebten Tag zugrunde an der inneren Hitze, ohne ganz entkräftet zu sein, oder sie kamen darüber weg, und dann stieg das Leiden tiefer hinab in die Bauchhöhle und bewirkte dort starke Blähungen, wozu noch ein wäßriger Durchfall auftrat, so daß die meisten später an diesem starben, vor Erschöpfung. Denn das Übel durchlief von oben her, vom Kopfe, wo es sich zuerst festsetzte, den ganzen Körper, und hatte einer das Schlimmste überstanden, so zeigte sich das am Befall seiner Gliedmaßen: denn nun schlug es sich auf Schamteile, Finger und Zehen, und viele entrannen mit deren Verlust, manche auch mit dem der Augen. Andere hatten beim ersten Aufstehen rein alle Erinnerung verloren und kannten sich selbst und ihre Angehörigen nicht mehr. [50] Denn die unfaßbare Natur der Krankheit überfiel jeden mit einer Wucht über Menschenmaß, und insbesondere war dies ein klares Zeichen, daß sie etwas anderes war als alles Herkömmliche: die Vögel nämlich und die Tiere, die an Leichen gehn, rührten entweder die vielen Unbegrabenen nicht an, oder sie fraßen und gingen dann ein. Zum Beweis: es wurde ein deutliches Schwinden solcher Vögel beobachtet; man sah sie weder sonst noch bei irgendeinem Fraß, wogegen die Hunde Spürsinn zeigten für die Wirkungen wegen der Lebensgemeinschaft.
[51] So also war diese Seuche, von mancher Besonderheit abgesehen, worin der eine sie vielleicht etwas anders erfuhr als ein anderer, aber doch in ihrer Gesamtform. Sonst litt man zu jener Zeit an keiner von den gewöhnlichen Krankheiten, wenn aber doch eine vorkam, so endete sie immer in jene. Die einen starben, wenn man sie liegen ließ, die anderen auch bei der besten Pflege. Und ein sicheres Heilmittel wurde eigentlich nicht gefunden, das man zur Hilfe hätte anwenden müssen — was dem einen genützt hatte, das schadete einem andern — auch erwies sich keine Art von Körper nach seiner Kraft oder Schwäche als gefeit dagegen, sondern alle raffte es weg, auch die noch so gesund gelebt hatten. Das Allerärgste an dem Übel war die Mutlosigkeit, sobald sich einer krank fühlte (denn sie überließen sich sofort der Verzweiflung, so daß sie sich innerlich viel zu schnell selbst aufgaben und keinen Widerstand leisteten), und dann, daß sie bei der Pflege einer am anderen sich ansteckten und wie die Schafe hinsanken; daher kam hauptsächlich das große Sterben. Wenn sie nämlich in der Angst einander mieden, so verdarben sie in der Einsamkeit, und manches Haus wurde leer, da keiner zu pflegen kam; gingen sie aber hin, so holten sie sich den Tod, grad die, die Charakter zeigen wollten — diese hätten sich geschämt, sich zu schonen, und besuchten ihre Freunde; wurden doch schließlich sogar die Verwandten stumpf gegen den Jammer der Verscheidenden, vor der Übergewalt des Leides. Am meisten hatten immer noch die Geretteten Mitleid mit den Sterbenden und Leidenden, weil sie alles vorauswußten und selbst nichts zu fürchten hatten; denn zweimal packte es den gleichen nicht, wenigstens nicht tödlich. Diese wurden glücklich gepriesen vonden anderen und hatten auch selbst seit der Überfreude dieses Tages eine hoffnungsvolle Leichtigkeit für alle Zukunft, als könne sie keine andere Krankheit je mehr umbringen.
[52] Zu all dieser Not kam noch als größte Drangsal das Zusammenziehen von den Feldern in die Stadt, zumal für die Neugekommenen. Denn ohne Häuser, in stickigen Hütten wohnend in der Reife des Jahres, erlagen sie der Seuche ohne jede Ordnung: die Leichen lagen übereinander, sterbend wälzten sie sich auf den Straßen und halbtot um alle Brunnen, lechzend nach Wasser. Die Heiligtümer, in denen sie sich eingerichtet hatten, lagen voller Leichen der drin an geweihtem Ort Gestorbenen; denn die Menschen, völlig überwältigt vom Leid und ratlos, was aus ihnen werden sollte, wurden gleichgültig gegen Heiliges und Erlaubtes ohne Unterschied. Alle Bräuche verwirrten sich, die sie sonst bei der Bestattung beobachteten; jeder begrub, wie er konnte. Viele vergaßen alle Scham bei der Beisetzung, aus Mangel am Nötigsten, nachdem ihnen schon so viele vorher gestorben waren: die legten ihren Leichnam auf einen fremden Scheiterhaufen und zündeten ihn schnell an, bevor die wiederkamen, die ihn geschichtet hatten, andere warfen auf eine schon brennende Leiche die, die sie brachten, oben darüber und gingen wieder.
[53] Überhaupt kam in der Stadt die Sittenlosigkeit erst mit dieser Seuche richtig auf. Denn mancher wagte jetzt leichter seinem Gelüst zu folgen, das er bisher unterdrückte, da man in so enger Kehr die Reichen, plötzlich Sterbenden, tauschen sah mit den früher Besitzlosen, die miteins deren Gut zu eigen hatten, so daß sie sich im Recht fühlten, rasch jedem Genuß zu frönen und zu schwelgen, da Leib und Geld ja gleicherweise nur für den einen Tag seien. Sich vorauszuquälen um ein erwähltes Ziel war keiner mehr willig bei der Ungewißheit, ob man nicht, eh man es erreiche, umgekommen sei; aber alle Lust im Augenblick und was gleichviel woher, dafür Gewinn versprach, das hieß nun ehrenvoll und brauchbar. Da war keine Schranke mehr, nicht Götterfurcht, nicht Menschengesetz; für jenes kamen sie zum Schluß, es sei gleich, fromm zu sein oder nicht, nachdem sie ohne Unterschied so viele hinsterben sahen, und für seine Vergehen gedachte keiner den Prozeß noch zu erleben und die entsprechende Strafe zu zahlen; viel schwerer hänge die über ihnen, zu der sie bereits verurteilt seien, und bevor die auf sie niederfalle, sei es nur recht, vom Leben noch etwas zu genießen.
Bilder: Details aus Michael Sweerts: Pest in einer antiken Stadt, ca. 1652.
Soundtrack: Πέτρος Πανδής: Μαλλιά Σγουρά,
aus: Chants De La Résistance Grecque = Songs Of The Greek Resistance, 1974:
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Das Ungeheuerste, das Entsetzlichste, das Schaudervollste
Update zu Und der liebe Gott sitzt ernsthaft in seiner großen Loge und langweilt sich vielleicht:
Sie war liebenswürdig, und Er liebte Sie; Er aber
war nicht liebenswürdig, und Sie liebte Ihn nicht.
(Altes Stück.)Heine: Ideen. Das Buch Le Grand, wiederholtes Kapitelmotto, 1826.
Noch ein Wort zu den zwei Kapiteln aus dem Buch Le Grand, die unlängst hier erschienen: In den betreffenden Anmerkungen von Günter Häntzschel in der — hoch soll soll sie leben und sich zahlreich verkaufen — Hanser-Ausgabe, Band 2, lernen wir, dass sich das Buch Le Grand durchgehend briefartig an eine „Madame“ wendet, die „vermutlich“ Rahel Varnhagens Schwägerin Friederike Robert ist — für Heine typisch: ständig etwas zu galant und bei einer Madame, die keine Mademoiselle mehr ist, entschieden anzüglich. Wenn man diese Information weiterverfolgt, grenzt die Vermutung an Sicherheit.
Heines Brief an Madame Robert, auf den Häntzschel seine Anmerkung bezieht, steht nicht in der besagten Hanser-Ausgabe, weil die „nur“ die Werke, nicht aber die Briefe bringt. Wenn man Heines private Auslassungen vom 12. Oktober 1825 im Volltext aufschlägt, wird klarer, warum Madame an der Veröffentlichung der Harzreise solches Interesse nehmen konnte. Vor allem aber breitete Heine sein Thema für das Capitel XI darin noch genauer aus: Mit den beschriebenen Ungeheuerlichkeiten meinte er auch die altgriechischen Vögel von Aristophanes mit, und findet von dort selten so gehörte Bezüge zu Shakespeares King Lear und Goethes Faust.
Heine hatte eher widerwillig zugesagt, seine Harzereise, die er vorerst lieber im Berliner Morgenblatt gesehen hätte, dem Literaturalmanach Rheinblüthen in Karlsruhe zu überlassen, der letztendich doch nicht erschien. Heinrich Heine an Moses Moser am 1. April 1825:
Ungern geben ich sie in die Rheinblüthen; das Almanachwesen ist mir in höchstem Grade zuwider. Doch ich habe nicht das Talent schönen Weibern etwas abzuschlagen.
Sein Hinhaltebrief an das „schöne Weib“ bemüht den Aristophanes samt der Theorie von der Verglimpfung des Allzuschrecklichen im buntscheckigen Gewande des Lächerlichen. — Der Paradiesvogel und Der Pavian sind aktuell verfasste, damals — und auch heute — noch nicht gedruckte Lustspiele von Ludwig Robert, letzterer eine Parodie auf das Trauerspiel Der Paria von Michael Beer 1823/1829:
——— Heinrich Heine:
An Friederike Robert in Karlsruhe
Lüneburg d 12 Oktober 1825.
MittwochSchönste, beste, liebenswürdigste Frau!
[…]
Ihnen darf ich mich offenbaren: kurz vor der Lektüre des Paradiesvogels habe ich ganz andre Vögel kennen gelernt, nemlich die Vögel des Aristophanes. Vielleicht, schöne Frau, haben Sie noch nie von denselben etwas gehört, oder Sie haben wenig richtiges darüber gehört. Selbst mein nadelöhrfeiner Lehrer, August Wilhlem v. Schlegel, hat in seinen dramaturgischen Vorlesungen unerträglich seicht und und falsch darüber geurtheilt, indem er es für einen lustigen barocken Spaß erklärt daß in diesem Stücke die Vögel zusammenkommen und eine Stadt in der Luft gründen und den Göttern den Gehorsam aufkündigen etc etc. Es liegt aber ein tiefer, ernsterer Sinn in diesem Gedichte, und während es die Exoterischen Kächenäer (d. h. die atheniensischen Maulaufsperrer) durch phantastische Gestalten und Späße und Witze und Anspielungen z. B. auf das damalige Legazionswesen köstlich ergötzt, erblickt der Esoterische (d. h. Ich) in diesem Gedichte eine ungeheure Weltanschauung, ich sehe darinn den göttertrotzenden Wahnsinn der Menschen, eine ächte Tragödie, um so tragischer da jener Wahnsinn am Ende siegt, und glücklich beharrt in dem Wahne daß seine Luftstadt wirklich existire und daß er die Götter bezwungen und alles erlangt habe, selbst den Besitz der allgewaltig herrlichen Basilea.
Ich weiß sehr gut, schöne Frau, daß Sie noch immer nicht wissen was ich eigentlich will, und wenn Sie auch die plump-vossische Übersetzung jener „Vögel“ lesen, so merken Sie es dennoch nicht, denn kein Mensch vermag jene unendlich schmelzende und himmelstürmendkecke Vogelchöre zu übersetzen, jene Nachtigalljublende, berauschende Siegeslieder des Wahnsinns. Und dennoch hab ich das alles schreiben müssen damit Sie mir nicht gleich ins Gesicht lachen wenn ich tadle: „daß de Robertsche Paradiesvogel im Grund keine Tragödie sey.“ Unerhörtes Verlangen! Ein Lustspiel soll eine Tragödie seyn“ hör ich Sie dennoch befremdet ausrufen. Aber Robert ist ernst geworden, er weiß daß ich bey keinem leichten französischen Conversazionsstücke diese Forderung machen würde, daß sie aber gar nicht ungerecht ist beim romantischen Lustspiele. Den unterscheidenden Charakter dieser beiden Arten des Lustspiels, nemlich daß das romantische Lustspiel sich ganz vom Boden ablöst und gleichsam in kecker Luft schwebt, das hat Robert sehr gut begriffen, und was die uralte Volkssage vom wirklichen Paradiesvogel erzählt, daß er nemlich keine Füße habe und nicht auf der Erde gehen könne, das läßt sich lobend auch auf den robertschen Paradiesvogel anwenden. Aber es fehlt darinn die großartige Weltanschauung, welche immer tragisch ist. Diese wird nicht ersetzt durch eine Anschauung der Bretterwelt, der Theatermisere und einiger Sittenmisere nebenbey — das war ein Stoff für das konvenzionelle Conversazionslustspiel, nicht für das romantische. Wie groß und gelungen steht dagegen der „Pavian“, dieses ächtaristophnaische romantische Lustspiel. Dieses giebt ein größere Weltanschauung und ist im Grunde tragischer als der Paria selbst. Wie sehr man beim ersten Anblick lacht über den Pavian, der über Druck und Beleidigung von Seiten bevorrechteter Geschöpfe sich bitterlich beklagt, so wird man doch bey tieferer Beschauung unheimlich ergriffen von der grauenvollen Wahrheit daß diese Klage eigentlich gerecht ist. Das ist eben die Ironie, wie sie auch immer das Hauptelement der Tragödie ist. Das Ungeheuerste, das Entsetzlichste, das Schaudervollste, wenn es nicht unpoetisch werden soll, kann man auch nur in dem buntscheckigen Gewande des Lächerlichen darstellen, gleichsam versöhnend, — darum hat auch Shakspeare das Gräßlichste im Lear durch den Narren sagen lassen, darum hat auch Göthe zu dem furchtbarsten Stoffe, zum Faust, die Puppenspielform gewählt, darum hat auch der noch größere Poet (der Urpoet sagt Friedrike), nemlich Unser Herrgott, allen Schreckensscenen dieses Lebens eine gute Dosis Spaßhaftigkeit beygemischt. — Doch ich schreibe hier mehr für den Mann als für die Frau. Thun Sie das Ihrige, machen Sie daß „der Pavian“ bald gedruckt wird.
Es ist wahr, man sollte, wie oft geschieht, keinen Freund für einen Witz aufopfern. Aber für eine ganze Schiffsladung Witz ist es wohl erlaubt. […]
Bilder: Cover zu Eun-Kyoung Park, i. e. Ŭn-gyŏng Pak: … meine liebe Freude an dem Göttergesindel. Die antike Mythologie im Werk Heinrich Heines, Erstausgabe 1970, J. B. Metzler, 2005;
Die Vögel von Hank Nagler: 2020 Rotkehlchen auf dem Balkon statt der Amseln von 2019, Mai/Juni 2020.
Soundtrack: für Heine dringend nochmal was Französisches:
Leïla Huissoud: La Farce, aus: Auguste, 2018:
Ich will mich wie mein Schwanz erheben
Mit seiner Ode à Priape von 1710 hatte Alexis Piron kein Glück. Noch 1718, als er das zugegeben reichlich ferkelige Gedicht als Jugendsünde führen konnte, wurde er wegen seiner Obszönitäten als Anwalt in Besançon des Amtes enthoben. Selbst 1753 — da zählte er 64 Jahre — schritt König Ludiwg XV. persönlich auf Anraten nachhaltig peinlich berührter Kleriker gegen Pirons wiederholte Kandidatur für die Académie française ein. 160 Verse, die ein Leben ruinieren konnten. Technisch gar nicht so schlecht gestrickte übrigens.
Priapus, den muss man heute erklären. Den antiken Griechen diente er noch als Gott der Fruchtbarkeit (und der Knabenliebe, heute: Päderasmus), den meisten Späteren eher als Lizenz zum Herumschweinigeln, weil er als unterscheidendes Merkmal mit einem — jedes anderes Wort wäre unangemessen verhüllend — enormen Pimmel in dauerhafter Einsatzbereitschaft dargestellt wird.
Pirons schon gar nicht mehr anakreontische Dichtung, viel eher offene Sauerei erschien legal erst in den Poésies diverses d’Alexis Piron, ou Recueil de différentes pieces de cet Auteur, pour servir de suite à toutes les Editions desquelles on a supprimé les ouvrages libres de ce Poëte bei William Jackson, London 1787, ab Seite 59. Breiter bekannt wurde sie durch die Poésies badines et facétieuses, 1800, Seite 9 bis 14.
Von dort konnte Johann Heinrich Voß sie kennen — ja, genau: der Voß (geboren 20. Februar 1751), der 1781 die Odyssee und 1793 die Ilias genial genug übersetzt hat, dass die Fassungen erst dem jungen Herrn Werther, später seinen Nachahmern als Bestandteil der Werther-Tracht und heute noch mir selbst als „Taschen-Homer“ dienen konnten. Und von dort konnte er sie nachdichten, nach den Fingerübungen anhand Homers 15693 + 12110 = 27803 sperrigen Hexametern vermutlich das Werk eines Sonntagnachmittags.
Die Strophen bestehen bei Voß wie bei Piron aus je zehn Versen in einem Kreuz- und einem Schweifreim: sehr regelmäßig mit einer vorhersehbar wiederkehrenden Abwechslung — also der sexuellen Praxis, in der man sich ja gern auf einen gewissen nachvollziehbaren Rhythmus einigen möchte, in jeder Weise entsprechend.
Die empfohlene Fachliteratur ist der leider etwas verderbte Originaltext, Voß‘ Nachdichtung und eine aufschlussreiche Prosa-Übertragung in paralleler Übersicht mit Anmerkungen in Schwulencity.
Voß hat gekürzt. Wer gut genug Französisch kann (pubertär-priapische Kalauer bitte in den Kommentar), kann sich nach über zwei Jahrhunderten ja gern über den Rest hermachen.
——— Alexis Piron:
Ode à Priape1710,:
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——— Johann Heinrich Voß:
An Priapanonymer Druck um 1800, in: Friedrich Leopold Stolberg: München: Verlag der Nymphenburger Drucke, Band X, ca. 1924:
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Priapskult: Agostino Carracci: Culte de Priape, Radierung ca. 1580;
vegetale Phallussymbole: Paula via Mistress Eva’s Erotica & Art, 9. August 2016;
Art of Barefoot, 13. August 2016;
Eylül Aslan, 8. April 2013;
Ari Seg, 12. Dezember 2012.
Soundtrack ist die putzigste Ferkelei, die es je auf Bayern 1 geschafft hat:
Bloodhound Gang: The Bad Touch aus: Hooray for Boobies, 1999. Dem aufmerksamen Betrachter entgeht nicht die Video-Location Paris.
Bonus Track für den schwulen Touch: Right Said Fred: You’re My Mate, aus: Fredhead, 2000:
Hipsteros
Update zu Dreidreiviertel Arbeitstage oder Die CDs wechseln muss man schon,
Was tat der Eitele, ein Emo zu scheinen? und
Wie werde ich Schriftsteller? (Von den Exkrementen hirnloser Köpfe):
Yo, Alder, ich hab schon Wieland gelesen, bevor es Mainstream wurde.
Am Mittwoch, dem 20. Januar 1813 starb Wieland gegen Mitternacht. Sein Leichnam wurde im Garten seines Anwesens in Oßmannstedt – eines alten Rittergutes an der Ilm, wo er von 1797 bis 1803 gelebt hatte – an der Seite seiner Frau bestattet.
Wieland-Museum mit Wieland-Archiv: Über Wieland.
Vorher schrieb er Aristipp und einige seiner Zeitgenossen, der ab 1800 ans Licht trat und damit schon zu seinen Alterswerken zählt. Beschäftigt hat ihn der Philosoph und seine Geschichte schon länger: In der zweiten grundlegenden Umarbeitung seines jugendlicheren Werks Geschichte des Agathon — die Erstfassung is von 1766, als Wieland 33 war — schreibt er 1794 im Vorwort Ueber das Historische im Agathon:
Diejenigen, welchen es vielleicht scheinen möchte, daß der Verfasser den Philosophen Aristipp zu sehr verschönert, dem Plato hingegen nicht hinlängliche Gerechtigkeit erwiesen habe, werden die Gründe, warum jener nicht häßlicher und dieser nicht vollkommner geschildert worden, dereinst in einer ausführlichen Geschichte der Sokratischen Schule (wenn wir anders Muße gewinnen werden, ein Werk von diesem Umfang auszuführen) entwickelt finden. Hier mag es genug seyn, wenn wir versichern, daß beides nicht ohne sattsame Ursachen geschehen ist. Aristipp, bei aller seiner Aehnlichkeit mit dem Sophisten Hippias, unterschied sich unstreitig durch eine bessere Sinnesart und einen ziemlichen Theil von Sokratischem Geiste. Ein Mann wie Aristipp wird der Welt immer mehr Gutes als Böses thun; und wiewohl seine Grundsätze, ohne das Laster eigentlich zu begünstigen, von einer Seite der Tugend nicht sehr beförderlich sind: so erfordert doch die Billigkeit zu gestehen, daß sie auf der andern, als ein sehr wirksames Gegengift gegen die Ausschweifungen der Einbildungskraft und des Herzens, gute Dienste thun, und dadurch jenen Nachtheil reichlich wieder vergüten können. Aber wir besorgen sehr, daß Plato, anstatt einige Genugthuung an den Verfasser des Agathons fordern zu können, bei genauester Untersuchung ungleich mehr zu verlieren, als zu gewinnen haben dürfte.
Kurz darauf gewann er in seinem Oßmannstedt dankenswerter Weise doch noch die Muße zu seinem Werk vom größten Umfang. Der Tonfall hat aus inhaltlichen Gründen schon anno 1800 antikisiert und lässt heute noch viel mehr an jeder Ecke das lächerlichste Pathos der Machart „O du, die du“ befürchten, ist aber moderner, als manch einer heutzutage sein will. Die vollständige Lesung vom dazu berufensten aller Vorleser Jan Philipp Reemtsma dauert lasche 29 Stunden und 47 Minuten auf 24 CDs und wird keine einzige davon langweilig.
——— Christoph Martin Wieland:
4. An Demokles von Cyrene.
aus: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen, G. J. Göschen’sche Verlagshandlung, Leipzig 1800–1802:
Es mag seyn, daß meine Maxime mich öfters eines lebhaftern Genusses beraubt: aber dafür gewährt sie mir auch den Vortheil, mich selten in meiner Erwartung getäuscht zu finden. Auch begegnet mir öfters, daß ich anstatt mit der Menge zu bewundern, mich (mit deiner Erlaubniß) nicht wenig verwundere, wie die Leute so gutmüthig seyn mögen, über Dinge in Entzückung zu gerathen, die, bei kaltem Blute aufs gelindeste beurtheilt, nur lächerlich sind, und bei strengerer Prüfung leicht in einem noch ungünstigern Licht erscheinen könnten.
[…] Käme, dacht‘ ich, ein Perser oder Skythe, der noch nichts von diesem Institut gehört hätte, von ungefähr dazu, wenn im Angesicht einer unzählbaren Menge Volks, in einem Ehrfurcht gebietenden Kreise der edelsten und angesehensten Männer der Nation, nach einem dem Könige der Götter dargebrachten feierlichen Opfer, die Sieger öffentlich erklärt und gekrönt werden, und sähe das stolze Selbstbewußtseyn, womit sie, von ihren wonnetrunkenen Verwandten, Freunden und Mitbürgern umdrängt, und vom allgemeinen Jubel der Zuschauer bewillkommt, sich den Kampfrichtern nahen, um die Krone zu empfangen: müßt‘ er nicht glauben, diese Menschen könnten nichts Geringeres gethan haben, als ganz Griechenland durch einen Marathonischen oder Salaminischen Sieg vom Untergang gerettet, oder wenigstens jeder um seine eigene Vaterstadt sich durch irgend eine außerordentliche That unendlich verdient gemacht zu haben? Aber wie erstaunt und betroffen würde dann ein solcher dastehn, wenn er hörte daß es weiter nichts ist, als daß der eine dieser gekrönten Helden am besten laufen kann, ein anderer die schnellsten Rennpferde und den geschicktesten Kutscher hat, ein dritter der größte Meister im Faustkampf oder in der edeln Kunst seinen Gegner zu Boden zu ringen ist? Wahrlich dieser Perser oder Skythe, wiewohl die Griechen seiner Nation die Ehre erweisen sie nur für Halbmenschen anzusehen, würde sich schwerlich enthalten können, das widersinnische Schauspiel für die Wirkung irgend einer zürnenden Gottheit zu halten, und zu glauben, die ganze Nation müßte entweder von einem allgemeinen Wahnsinn befallen, oder, trotz ihrer übrigen Vorzüge, zu einer ewigen Kindheit der Vernunft verdammt seyn. Daß ein schnellfüßiger Jüngling, ein gewandter Wagenlenker, ein nerviger Kerl der den Kampfhandschuh am kräftigsten zu gebrauchen wußte, oder um den stärksten Gegner zu überwältigen, keiner andern Waffe als seiner eigenen eisernen Faust bedurfte, in den Zeiten, da der Thebanische Hercules diese feierlichen Spiele gestiftet haben soll, ein wichtiger Mann für seine kleine Vaterstadt war, ist natürlich, und aus dem rohen Zustand einer von ihrer ursprünglichen Wildheit noch langsam sich losarbeitenden Horde leicht zu erklären. Aber daß ein so gebildetes Volk, wie die Griechen dermalen sind, bei so gänzlich veränderter Lage der Sachen, noch immer ein so großes Aufheben von Geschicklichkeiten macht, die entweder ganz unbrauchbar, oder doch verhältnißmäßig von sehr geringem Nutzen geworden sind; daß der Mensch, der zu Olympia öffentlich dargethan hat, daß er den stiermäßigsten Nacken, die stärksten Brustknochen und die derbeste Faust seiner Zeit besitze, oder mit jedem Hasen in die Wette laufen könne, für die höchste Zierde seiner Vaterstadt gehalten, im Triumph eingehohlt, über alle seine Mitbürger hinaufgesetzt, und als ein Wohlthäter seines Volks öffentlich unterhalten, geehrt und nur nicht gar vergöttert wird, wiewohl die Stärke seiner Muskeln und Knochen, oder die Behendigkeit seiner Füße vielleicht das Einzige ist, was ihn von dem rohesten und verdienstlosesten seiner Mitbürger unterscheidet, – das ist doch wirklich so ungereimt, daß man es kaum seinen eigenen Augen zu glauben wagt.
Bilder: Erik Schlicksbier: Bentje beim Sport, Kiel 2014;
15. Volkssport-Olympiade in Koblenz an Rhein und Mosel vom 6. bis 10. Juni 2017.
Das erste ist von mir und bei mir. Besichtigung gegen Terminvereinbarung, aber nicht für jeden, wo kommen wir denn da hin.
Soundtrack: Spillsbury: Die Wahrheit, aus: Raus!, 2003.
Das hat auch ein offzielles Guckvideo, das man weder embedden kann noch darf:
Die gereiheten Gäste des Sängers (I’ll know my song well before I start singin‘)
Update zu Grillen mit Homer,
Nur die Wurst hat zwei
und Homerische Dark Fantasy:
Wahrlich es füllt mit Wonne das Herz, dem Gesange zu horchen,
Wenn ein Sänger, wie dieser, die Töne der Himmlischen nachahmt.
Denn ich kenne gewiss kein angenehmeres Leben,
Als wenn ein ganzes Volk ein Fest der Freude begehet,
Und in den Häusern umher die gereiheten Gäste des Sängers
Melodieen horchen, und alle Tische bedeckt sind
Mit Gebacknem und Fleisch, und der Schenke den Wein aus dem Kelche
Fleißig schöpft, und ringsum die vollen Becher verteilet.Odyssee IX, 3–8, Voß-Übersetzung, 1781.
And I’ll tell it and think it and speak it and breathe it,
And reflect it from the mountain so all souls can see it,
Then I’ll stand on the ocean until I start sinkin‘,
But I’ll know my song well before I start singin‘,
And it’s a hard, it’s a hard, it’s a hard, it’s a hard,
It’s a hard rain’s a-gonna fall.A Hard Rain’s A-Gonna Fall, aus: The Freewheelin‘ Bob Dylan, 1962, letzte Strophe.
Die Poesie des Versagens sucht sich vielleicht doch ihre Fürsprecher selbst. Manchmal hat sie Glück. Ich halt dann mal den Mund, ja?
——— Willi Winkler:
Über alle hinaus
in: Süddeutsche Zeitung, 12. Dezember 2016:
Mehr Dichtung hat die Schwedische Akademie in Jahrzehnten nicht gesehen: Der Preisträger Bob Dylan fehlt, sein größter Fan Patti Smith singt ein Lied von ihm und patzt. Aber beide retten in Stockholm die Kunst vor dem Nobelpreis.
Bitte nicht noch einmal die läppische Diskussion, ob ein Pop-Musiker, der alle möglichen kommerziellen Preise bekommen hat und in Venedig zwischen den gefiederten Models der besonders nuttigen Dessous-Marke Victoria’s Secret herumgestanden ist, der außerdem und nicht zuletzt wegen solcher Werbeauftritte vielfacher Millionär ist, den Nobelpreis ausgerechnet für Literatur verdient habe. Nein, hat er nicht.
Bob Dylan hat es nicht verdient, in Gesellschaft weiterer Greise als Statist in einem monarchistischen Staatsschauspiel aufzutreten, ohne, wie es John Lennon einst tat, die Herrschaften auf den besseren Plätzen aufzufordern, statt zu klatschen, mit ihrem Geschmeide zu rasseln.
Da die Welt aber schlecht ist und der Erlösung von allem möglichen Übel dringend bedürftig, ereignete sich am späten Samstagnachmittag im Konserthuset in Stockholm eine Sternstunde, von der die Menschheit, soweit sie ein fühlend Herz besitzt, noch lange leben wird.
Es begab sich, dass der fahrende Sänger Bob Dylan keine Lust hatte, an diesem Wochenende in die hochgebaute Stadt Stockholm zu fahren, sondern sich lieber in der weiten Welt, oder vielmehr in den Weiten Amerikas versteckte, und zwar höchstwahrscheinlich irgendwo im „heartland“, im tiefsten amerikanischen Landesinnern, wo sich die Leute nichts Besseres wussten, als für diesen Donald Trump zu stimmen, zu dessen Abwehr in vorletzter Minute der Schwedischen Akademie im Oktober nur mehr die Verleihung ihrer angesehensten Auszeichnung an ebendiesen unhöflichen und (wurde es nicht von allen Spatzen, Tauben, Geiern und allen anderen Unglücksraben von sämtlichen gebildeten Dächern gepfiffen, gekreischt, geklagt, gejammert?) unwürdigen Preisträger eingefallen war.
Denn „unhöflich“ schimpften sie ihn, weil er nicht sofort Purzelbäume vor Begeisterung über die Ehrung schlug, keine Pressekonferenz gab, sich nicht einmal ein dünnlippiges „Thank you“ abringen mochte, sondern in seinem Tagwerk fortfuhr, das an jenem 13. Oktober darin bestand, im legendären Musensitz Las Vegas einen Saal mit 3200 Leuten zu unterhalten. Ganz, ganz schlechte Kinderstube, nicht wahr?
Diese Dichtung, so der Laudator, verbinde die Alltagssprache mit der der Bibel
Nach Wochen erst war der Erwählte zu erreichen, grummelte dann etwas Pflichtschuldiges von „Ehre und so“ und ließ im Übrigen darauf verweisen, dass gerade eine Ausstellung mit seinen neuesten Bildern eröffnet werde, in London, geht hin, und seht selber! Wenn es sich einrichten ließe, verkündete Dylan, dann käme er nach Stockholm, ja, auch das.
Aber er kam nicht, damals nicht und bis jetzt auch nicht. Er hatte, wie er kund- und zu wissen gab, „anderweitige Verpflichtungen“, die allerdings, wie man in Stockholm mit wachsendem Grimm rasch recherchiert hatte, nicht in einem weiteren Konzert auf seiner Never Ending Tour bestanden. Was sollten das für Verpflichtungen sein, wichtiger als der weltberühmte Nobelpreis? Residenzpflicht als Nikolaus vor einem New Yorker Kaufhaus? Vielleicht verbietet ihm sein neuerdings wieder strenger befolgter Glaube, am Sabbat das Haus zu verlassen. Kann aber auch sein, dass er an diesem Samstag mit seinen Hunden in die Hundeschule musste – wer weiß.
Jedenfalls entschuldigte sich der bepreiste Autor und schickte als bekennender Feminist seinen mutmaßlich größten Fan, nämlich die Musikerin Patti Smith. Der schwedische Literaturwissenschaftler und Juror Horace Engdahl verlas mit strenger Miene eine Laudatio, die noch einmal rechtfertigen sollte, warum Bob Dylan der Preis zuerkannt worden war. Noch einmal verwies Engdahl darauf, dass das Wort „Lyrik“ von der Lyra herstamme, und beschwor dann viele Namen, vom Fabeldichter LaFontaine bis Hans Christian Andersen, von Chamfort bis zum „Fliegenden Holländer“, von Woody Guthrie bis Shakespeare.
Dylan habe sich aber nicht auf die provençalischen Troubadours und die Griechen bezogen, sondern sei mit beiden Beinen im 20. Jahrhundert gestanden und habe die Alltagssprache mit der der Bibel verbunden. „Und plötzlich“, so der Exeget, „wirkte ein großer Teil der gelehrten Dichtung unserer Welt blutleer, und die Fließbandtexte, die seine Kollegen weiter produzierten, wirkten so altmodisch wie Schießpulver nach der Erfindung des Dynamits.“ Als wäre es mit dieser hübschen Verbeugung vor dem Erfinder des Dynamits, der in seiner Reue über das von ihm angerichtete Unheil dann den nach ihm benannten Preis stiftete, nicht genug, kam Engdahl noch auf einen weiteren Vergleich, um Dylans Wirkung zu beschreiben, es war, „als würde das Orakel von Delphi die Abendnachrichten verlesen“. Nicht schlecht, doch.
Beim abschließenden Bankett im Rathaus von Stockholm las nicht das Orakel von Delphi, sondern die amerikanische Botschafterin vor den fünfzehnhundert Frack- und Kleidergästen sowie der versammelten königlichen Familie eine Botschaft des abwesenden Preisträgers vor, die sich niemand hätte dürftiger ausdenken können. Große Ehre, danke, hätte er sich nie träumen lassen, und überhaupt habe er schon in der Schule seine Nobel-Vorderen Rudyard Kipling und George Bernard Shaw, Pearl S. Buck, Thomas Mann und Ernest Hemingway gelesen. Die den Preis nicht bekommen haben und denen er doch viel mehr verdankt – Jack Kerouac, Allen Ginsberg, Bert Brecht, James Joyce, Franz Kafka –, erwähnte er nicht, aber für die hatte das Nobelkomitee schon seinerzeit keinen Preis übrig.
Da patzte Patti Smith. Blieb hängen am „Zweig, von dem das Blut tropfte“. Und setzte neu an
Davor wurde von putzig gekleideten Aufträgern (die Nobel Media war so freundlich, die Speisekarte ins Internet zu stellen) gegrillter Hummer an eingelegten Winteräpfeln gereicht, die Wunderkerzen blitzen bei der Nachspeise besser als bei jedem Betriebsfest, der Wein war auch nicht schlecht – Piccini Poccio Teo Chianti Classico vom Jahrgang 2010; und die Gäste schmausten mit einem dem Ereignis angemessenen Behagen.
So hätte alles seinen gemütlichen Gang gehen können, wäre da nicht Patti Smith gewesen. Beim Bankett saß sie in ihrem schwarz-weißen Outfit nicht königlich, aber mindestens priesterlich zwischen Parfumwolken, Ordensbrüsten und schier unbezahlbaren Taftquadratmetern in Grün, Blau und Rot, als wäre zuvor nichts geschehen. Aber sie hatte gesungen.
Sie hatte „A Hard Rain’s a-Gonna Fall“ von Bob Dylan gesungen. Dylan hatte das Lied 1962 geschrieben, nach dem Ende der Kubakrise, in der die Welt am Rande der atomaren Vernichtung stand. Es ist Anklage, Kirchenlied, Choral und vor allem ein großer Gesang, wie es nur Dylan kann. Aber dann patzte seine Schülerin. Sie stockte in der zweiten Strophe, sie blieb hängen an dem „Zweig, von dem das Blut tropfte“. Patti Smith entschuldigte sich – „ich bin so nervös“ – und setzte neu an. Immer besser, immer fester wurde ihre Stimme, als sie Dylans apokalyptische Weltuntergangsversion weit, weit über alle Preise und Feiern und Hummer hinaustrug. Es war fast unerträglich gewalttätig, es war mehr Dichtung, als in Stockholm in Jahrzehnten zu hören war.
„Ja, das ist wahrlich schön, einen solchen Sänger zu hören, wie dieser ist, den Göttern an Stimme vergleichbar“, erklärt der vielgeprüfte, der listenreiche Odysseus seinem Retter Alkinoos, als er sich zu erkennen gibt, als er verrät, dass das Lied des Sängers von ihm handelt, vom listenreichen Odysseus.
Wahrlich ist es schön, Bob Dylan zu hören, doch schöner ist’s, dabei zu sein, wenn eine Göttin das Hohelied anstimmt und auf so erhabene Weise versagt. Bob Dylan und Patti Smith haben mit ihrem Fehlen die Kunst vor dem Nobelpreis gerettet. Und die Welt, sagt der Dichter, hebt an zu singen.
Bild: Pascal Le Segretain/Getty Images:
Niemand weiß, warum Bob Dylan an jenem Samstag nicht selbst nach Stockholm reisen konnte. Aber die Musikerin Patti Smith war da. Sang. Versagte. Und sang weiter. Und so gab es doch noch einen großen Moment.
10. Dezember 2016 für Willi Winkler: Über alle hinaus, Süddeutsche Zeitung, 12. Dezember 2016.
Der Frühling liebt das Flötenspiel, doch auch auf der Posaune
Update zu Seht, Ehrenbreitstein mit gesprengter Mauer:
Gerade wiedergelesen: Die Feuerzangenbowle von Heinrich Spoerl, in einem halben Tag und einer ganzen Nacht, mit kurzen Pausen für Stoffwechsel und Katerpflege. „Nicht wegen des Katers; das ist eine Sache für sich“, sondern die zwei vierbeinigen — cit. Spoerl, a.a.O., in der Bertelsmann-Ausgabe von 1962 mit Tusche- und Federillustrationen von einem gewissen, nicht näher nachweisbaren Gottfried Raap auf Seite 14, die ich beim Auszug bei meinen Eltern denselben gestrapst hab. Jetzt dünne ich Bücherregale aus und wollte sie unter Umständen drangeben. Die Umstände lauten aber: Kommt nicht in Frage.
Die bekannten Filmzitate stehen schon in der Buchvorlage, das kollektive Gedächtnis aller Generationen kann Erich Ponto als Schnauz und Paul Henckels als Bömmel bis heute auswendig mitsprechen. Ein neu entdeckter Liebling fügt sich genau in diese Reihe (bei mir auf Seite 132), der war mir glatt auch im Film entgangen:
„Schwäfelwasserstoff est ein onangenehmer Geselle. Er besetzt einen entenseven Geroch nach faulen Eiern und anderen onanständigen Sachen.“
Ist das nicht hinreißend putzig? Ist das nicht von einer kindlich frühlingshaften Harmlosigkeit? — Natürlich nicht, Schwefelwasserstoff ist ein Grundbaustein für die Entstehung des Lebens und der Film ist gar nicht so unschuldig, wie man ihn immer tun lässt. Dafür ist es eine gottgesegnete Erleichterung, dass man das alles nicht mehr persönlich mitmachen muss. — Das Buch ist tatsächlich von 1933; die bekannte Verfilmung mit Heinz Rühmann war schon die zweite, auch wieder mit Rühmann, und wurde 1944 zwischen den Kriegstrümmern von Babelsberg gedreht.
Eine besonders anrührende Sequenz geht im Buch nahezu unter und kommt in beiden nazizeitlichen Verfilmungen gar nicht erst vor:
——— Heinrich Spoerl:
Die Feuerzangenbowle
Ein Lausbüberei in der Kleinstadt. Der erste im Droste Verlag erschienene Roman,
als Vorabdruck in Der Mittag, Düsseldorf 1933:
So waren sie allmählich bei dem alten Schloß angelangt, das ihm Eva zeigen wollte. Dies war natürlich der äußere Vorwand des Ausfluges. Hans hätte das Schloß auch sehr gut allein gefunden, ja, er kannte es bereits in allen Winkeln und hatte dort kulturhistorische Studien angestellt. Aber er tat dumm und ließ sich von Eva führen. Treppauf, treppab, über die alten ausgewaschenen Stufen und leicht glitschigen Steinplatten, durch modrige Gänge und gruselige Gewölbe bis hinab ins Burgverlies, dann hinauf auf die dicken bröckelnden Mauern, schwindelnden Wehrgänge bis in den klobigen verfallenen Turm. Merkwürdig, heute kam ihm alles viel romantischer, viel geheimnisvoller vor. Eva erzählte in einem fort, was sie über das Schloß wußte. Hans hörte nicht zu, sondern berauschte sich an dem Klang ihrer klaren Stimme und sah sie unentwegt von der Seite an.
Als sie in den noch bewohnten Neubau des Schlosses kamen, hörte er von ihr eine besonders hübsche Geschichte, die nicht im amtlichen Burgenführer verzeichnet war: Eine Tages erschien bei der Fürstin ein Bauer und ließ bescheiden fragen, ob er seinem Enkelkinde die Urgroßmutter zeigen dürfe. Die Fürstin wußte auf diese Frage nichts zu entgegnen und bat um nähere Erklärungen. Da fragte der Bauer, ob es gestattet sei, das Schloß zu betreten und sich im Saal umzuschauen. Die Fürstin führte den Bauern mit seinem Enkelkinde in die große Halle. Diese war bis vor wenigen Jahren ein verräucherter und verschmutzter Stall gewesen; da hatte die Fürstin ohne viel Federlesens ihre sämtlichen Mägde zusammengetrommelt und Decken und Wände mit Seife, Sand und Soda abschrubben lassen. Und da kamen die alten allegorischen Gemälde, die ein halbes Jahrhundert lieblos übertüncht gewesen waren, wieder zum Vorschein: An den Wänden und Decken tummelten sich Zeus, Apoll, Hera, Artemis und die übrigen Insassen des Olymps nebst Hunderten von Putten. Der Bauer kniff die Äuglein zusammen und unterzog die mythologischen Gestalten einer eingehenden Musterung. Die Fürstin stand schweigend daneben. Die Putten erwiesen sich bei näherer Betrachtung als Bauernjungen. Alle Körper waren ungeschlacht und klobig. Etwas Robustes ging von der nackten Gesellschaft aus. Der Bauer nahm sein Enkelkind auf den Arm und zeigte mit dem Finger bald an die Decke, bald an die Wand; achtmal entdeckte er die Urgroßmutter, die teils mit Rosen dahinschwebte, teils ihre Füße badete, teils die aufgehende Sonne bewunderte, teils Ambrosia schlürfte. Und die Erklärung? Der Maler der Szenerie hatte seine sämtlichen Modelle aus dem Dorf bezogen. Und die Urgroßmutter, damals eine schmucke Dirn, mußte für sämtliche Göttinnen herhalten und war achtmal vertreten. Einmal als Aphrodite.
Eva drängte heimwärts. Sie durfte nicht zu lange bei ihrer Freundin Lisbeth bleiben.
Einmal als Aphrodite: William-Adolphe Bouguereau: Le Repos (Jeune Fille Couchee), 1880, Öl auf Leinwand, 72 cm x 148 cm, bei Sotheby’s, New York für 458,500 $ verkauft;
La Naissance de Vénus, 1879, Öl auf Leinwand, 300 cm × 215 cm, Musée d’Orsay;
Temptation, 1880, Öl auf Leinwand, 99,06 cm × 132,08 cm, Minneapolis Institute of Art.
Soundtrack: Erich Knauf, 2. Mai 1944 in Brandenburg an der Havel hingerichtet wegen wegen defätistischer Äußerungen (vulgo Witzeerzählens) im Luftschutzkeller: Der Frühling liebt das Flötenspiel, doch auch auf der Posaune, featuring the Feuerzangenbowle Allstars:
Widewidewitt und drei macht neune
Drei Maß Bier sind sechs
widewidewitt, und drei macht neune.
Vier, fünf Runden Schnaps,
widewidewitt, führen zum Kollaps.Refrain: Hey, Fräulein Wirtshaus
mit schwarzen Straps und Wonderbra,
hey Fräulein Wirtshaus,
ich glaub, ich hab kein Geld.Bridge: Ich hab kein Haus,
ein Affen und kein Bock
und spei vom dritten Stock
die ganze Nacht zum Fenster raus,
ich hab ’ne Maus
im Lederminirock,
die Wodka recht gern mag,
die schaut als wie ein Nilpferd aus. Rep. ad lib.Text: Volksgut, nachgewiesen in Süddeutschland und Wien, spätes 20. Jahrhundert; Musik:
Pippi Langstrumpf, 1968, Musik: Konrad Elfers & Jan Johansson nach einem schwedischen Fischertanz aus dem 12. Jahrhundert, Text (Här kommer Pippi Långstrump): Astrid Lindgren, deutsche Übersetzung Wolfgang Franke & Helmut Harun, im schwedischen Original gesungen von Inger Nilsson, deutsch gesungen von Rosy Teen mit Orchester Erich Frantzen.
Die Hexe mit großer Emphase fängt an aus dem Buche zu declamiren.
Du mußt verstehn!
Aus Eins mach‘ Zehn,
Und Zwey laß gehn,
Und Drey mach‘ gleich,
So bist du reich.
Verlier‘ die Vier!
Aus Fünf und Sechs,
So sagt die Hex‘,
Mach‘ Sieben und Acht,
So ist’s vollbracht:
Und Neun ist Eins,
Und Zehn ist keins.
Das ist das Hexen-Einmal-Eins!Faust I, Hexenküche, Vers 2539 ff.
Wemmer mol ned weiderwass,
nimmt mer en Pythagoras.Volksgut aus Franken, spätes 20. Jahrhundert, Mathe, 9. Klasse.
Die autobiografischen Tatsachen sind: 1.) Pippi Langstrumpf war meine erste Liebe. Entweder als Ursache oder Auswirkung davon waren es eine nicht enden wollende Jugend lang unfehlbar immer rothaarige Mädchen, die sich in einem geradezu spirituellen Sinne gerne zu mir gesetzt haben. Geheiratet hab ich viel später eine Brünette mit Rotstich, weil es einander bei diesem schicksalsschweren Schritt noch in mehrerlei Hinsicht zu ergänzen galt als mit Sommersprossen und Springerstiefeln. Zum Beispiel kann sie rechnen und ich nicht.
2.) Die Zeit hab ich lange gelesen. Nachhaltig beeindruckt hat mich 1992 die Serie von Thomas „Zweistein“ von Randow Zweisteins neue Zahlenrevue über die Zahlen von 1 bis ungefähr 14. Das kannte ich nicht, weil ich früher eher Sendung mit der Maus als Sesamstraße war. So paranoid bin ich aber dann doch, um hinter dem Pippi Langstrumpf-Lied, dem mächtigsten, gemeinsten und ansteckendsten aller Ohrwürmer (probieren Sie’s ruhig jederzeit bei jedem aus!), der sehr wahrscheinlich nach Wohlklang und Rhythmus getextet wurde, eine Zahlenmystik zu vermuten, die möglicherweise selbst den Verfassern geheim geblieben ist.
Als Füllmaterial brauchte ich geschlagene 13 Videos von Variationen über Pippi Langstrumpf-Musik. Das ist ein Haufen Holz und annähernd die ganze Coverage über die alte Fernsehserie, jedenfalls deren musikalische Teile — und bedeutet, dass im Laufe der Zeit einige davon gelöscht, auf „Privat“ gestellt werden oder sonstwie verrotten können. Wenn Ihnen in dieser Hinsicht etwas auffällt, lassen Sie es mich wissen, dann muss ich die Videos mit Bildern austauschen. Hoffentlich bab ich bis dahin schon 13 Aktstudien von meiner Frau eingescannt (Bleistift, schwarze Tinte und Rötel), und hoffentlich sind Sie bis dahin schon volljährig.
——— Thomas von Randow:
Zweisteins neue Zahlenrevue
in: Die Zeit 31 bis 44, 1992.
Eins, zwei, viele
in: Die Zeit 31/92, 24. Juli 1992:
Berühmte Leute sollten sich zweimal überlegen, was sie öffentlich kundzutun gedenken. Hätte sich Aristoteles daran gehalten, wäre der Menschheit manche Fehlinformation erspart geblieben, zum Beispiel die Sache mit den Fliegen: Gut siebzig Generationen haben ihr ganzes Leben in dem Irrtum verbracht, die gemeine Stubenfliege habe vier Beine. Dies hatte der antike Universalgelehrte behauptet – und noch Mitte des vorigen Jahrhunderts stand es so in den Schulbüchern. Heute hat sich der blinde Glaube an Autoritäten gelegt – wir zählen nach.
Als ich meiner fünfjährigen Enkelin erzählte, ein großer Philosoph mit Namen Platon habe befunden, daß die Eins keine Zahl sei, fiel ihr Kommentar reichlich kurz aus: „Behämmert.“ Dabei hatte der griechische Denker seine These solide untermauert: „Wie das Jetzt in der Zeit und der Punkt im Raum, so läßt sich auch die Eins unter den Zahlen nicht weiter zerlegen. Also faßt sie auch keine Vielheit in sich zusammen, worin jedoch das Wesen der Zahl besteht. Ergo ist die Eins keine Zahl.“
Mathematiker, diese gnadenlosen Skeptiker, hatten Platons Verdikt von jeher nicht ernst genommen; doch geisterte es bis in die Neuzeit durch viele gelehrte Köpfe. Die Eins lasse sich nicht wie die anderen Zahlen „hälften“, meinte um 1530 der deutsche Rechenmeister Jakob Köbel und folgerte: „Darauss verstehstu das eins kein zal ist, sonder es ist ein gebererin (Gebärerin), anfang vnd fundament aller zalen.“
Kinder im Vorschulalter lieben das Zählen. Daß ein Bub „Tiefgarage“ oder „Kinderspielplatz“ auszusprechen vermag, hält er nicht für erwähnenswert; aber daß er bis dreißig zählen kann, darauf ist er mächtig stolz.
Dazu hat er freilich allen Grund. Denn unsere Altvordern konnten nicht einmal bis drei zählen. Dies belegen erdrückende Indizien. Beispiel: Das französische très bedeutet „sehr“, daneben aber auch „viel“, „übermäßig“ oder „sehr viel“. Seinen Ursprung hat es im lateinischen tres = „drei“. Die Gallier, denen die römische Besatzung das Wort mitbrachte, kannten aber nur eins, zwei und viel; entsprechend übernahmen sie die fremde Vokabel.
Ob Hottentotten im südlichen Afrika oder Aborigines in Australien – wo Missionare, Touristen, Bücher und Radio ihre Sprachen noch nicht überfremdet haben, kennen Naturvölker nur eins, zwei und viel. Gleichwohl mangelt es ihnen nicht am Zahlensinn. Darüber staunten die europäischen Siedler, als sie in Amerika mit Indianern in Kontakt kamen. Auch deren Wortschatz enthielt nur die beiden ersten Zahlwörter, dennoch fiel es einem Häuptling sofort auf, wenn ihm aus seiner riesigen Meute umherspringender Hunde ein einziger fehlte. Das Abzählen ohne Zahlen scheint übrigens unsere Zivilisation nicht völlig verschüttet zu haben: Mancher Lehrer „spürt“ es deutlich, wenn, etwa beim Sammeln am Ende eines Schulausflugs, seine Klasse nicht vollzählig angetreten ist.
Sprachen entwickeln sich am Bedarf. So wie wir keine Verwendung für die zwanzig Wörter haben, mit denen der Eskimo die verschiedenen Sorten Schnee benennt, gab es für den Angehörigen eines in Abgeschiedenheit lebenden Volkes keine Notwendigkeit, zu artikulieren, wie viele Bäume seine Hütte umgaben oder wieviel Kinder er sein eigen zählte. Das sichere Gefühl für die Größe einer Menge von Dingen genügte ihm vollauf. Wir aber, die wir Handel treiben und ohne Statistik die Welt nicht mehr verstehen, können auf die Zahlen nicht verzichten. Nachdem unsere Ahnen gelernt hatten, sie zu benennen, enthüllten die Nummern allerlei Merkwürdigkeiten, nicht nur mathematische. Zahlen haben zu mystischen Spekulationen Anlaß gegeben, zu Rätseln, Betrug und Gottesbeweisen. Grund genug, sich – an dieser Stelle – für eine Weile mit Zahlen zu beschäftigen.
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Die preußische Zwei
in: Die Zeit 32/92, 31. Juli 1992:
Die Zwei ist Zweifel, Zwist, ist Zwietracht, Zwiespalt, Zwitter / Die Zwei ist Zwillingsfrucht am Zweige, süß und bitter“, reimte Friedrich Rückert; er hätte noch ein Dutzend weiterer Zweiwörter finden können. Denn keine andere der „natürlichen“ Zahlen 1, 2, 3, 4, 5… ist dem Menschen so vertraut wie die Zwei. Sie begegnet ihm in der Paarigkeit des Körpers – zwei Augen, Ohren, Gliedmaßen, Nieren, Nasenlöcher … – und in den Dualitäten: Mann und Frau, Tag und Nacht, Gut und Böse, Leben und Tod.
„Eure Rede sei: Ja, ja, nein, nein. Was darüber ist, das ist von Übel“, heißt es in der Bergpredigt, aber die Welt ist zu kompliziert, als daß wir uns daran halten könnten. Gleichwohl wären wir außerstande, folgerichtig zu denken, befolgten wir nicht die strengen Regeln der Logik; die aber ist zweiwertig, denn sie postuliert: Eine Aussage ist entweder wahr oder falsch – ein Drittes gibt es nicht. Welch ein Paradoxon: Ohne diese unvernünftige Vereinfachung der Realität gäbe es keine Vernunft – und schon gar keine Wissenschaft.
Die Wissenschaft hat die Zwei zur fundamentalen Lebenszahl erhoben, seit sie uns lehrt, daß das Element allen Lebens (von Mensch und Salat gleichermaßen), die Doppelhelix des Erbmoleküls, zwiefach verdröselt ist.
Gottfried Wilhelm Leibniz bemerkte vor 300 Jahren, daß wir mit nur zwei Ziffern auskommen, um jede Zahl eindeutig zu benennen. Gewußt haben es schon die Eingeborenen der australischen Halbinsel Kap York; sie begnügten sich mit zwei Zahlwörtern, urapun für eins und okosà für zwei. Drei nannten sie okosàurapun, vier okosà-okosà, fünf okosà-okosàurapun und so fort.
Im Gegensatz zu den Uraustraliern kannte das „binäre“ System des großen Philosophen die Null. Sie macht es möglich, außer den Zahlzeichen selbst auch noch deren Position zu berücksichtigen wie bei unserer Zehnerschreibweise (weshalb wir zum Beispiel zwischen 16 und 106 unterscheiden können). Leibnizens Zählweise 0, 1, 10, 11, 100, 101 110 … ist inzwischen höchst aktuell; denn nur damit kann der Computer rechnen. Leibniz hatte zwar selbst eine Rechenmaschine erfunden, aber dafür brauchte er seine binären Zahlen nicht. Ihm dienten sie als Beweis für die Einzigkeit Gottes: Weil sich jede Zahl mit Null und Eins schreiben lasse, sei völlig klar, daß „der Eine aus dem Nichts alles erschafft“. Diese Erkenntnis fand der deutsche Gelehrte so umwerfend, daß er sie dem Kaiser von China mitteilte, in der Hoffnung, daß es den Herrscher und seine Untertanen zum Christentum bekehre.
In der Mathematik nimmt die Zwei eine Sonderstellung ein, weil sie die einzige gerade Primzahl ist. Prim heißt eine natürliche Zahl, wenn sie sich ohne Rest nur durch eins und durch sich selbst teilen läßt. Davon gibt es, wie Euklid vor mehr als zweitausend Jahren bewiesen hat, unendlich viele. Bei großen Zahlen freilich ist langwierig zu ermitteln, ob sie prim ist oder nicht. Eine Ausnahme bilden Zahlen, die im binären System nur mit Einsen geschrieben werden; Beispiel 127 = (binär) 1111111. Für diesen Typ gibt es ein Verfahren, das die Entscheidung, prim oder nicht prim, erheblich abkürzt. Darum sind die Primzahlgiganten, die von Zeit zu Zeit als mathematische Sensation in der Zeitung stehen, allesamt solche „Mersennezahlen“ (Fachjargon). Den Weltrekord hält gegenwärtig eine vom Supercomputer im englischen Harwell errechnete Zahl, die binär mit mehr als einer Dreiviertelmillion Einsen geschrieben wird. In unserer gewohnten Schreibweise hat diese Primzahl 227 832 Stellen. Erstaunlich: Trotz ihrer großen Bedeutung für das Leben spielt die Zwei in der Zahlenmystik kaum eine Rolle, es sei denn, man rechnete Kaiser Wilhelms Spruch dazu: „Die Zwei ist preußisch, denn sie macht alles gerade.“
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Dreifaltig
in: Die Zeit 33/92, 7. August 1992:
Leib-Seele-Geist, Geburt-Dasein-Tod, Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft, drei Grazien, dreigesichtige Selene, dreimal schwarzer Kater. In allen Kulturen, in Religionen, Märchen und Legenden spielt die Drei eine bedeutungsschwangere Rolle, zumeist eine positive. Denn „aller guten Dinge sind drei“.
Bemerkenswert ist das schon. Unsere Vertrautheit mit der Zwei empfinden wir – wahrlich hautnah – als Paarigkeit unserer Körperteile. Die Drei hingegen begegnet uns allenfalls im eher abstrakten Sinne, in der Dreifaltigkeit, in Verstand, Gemüt und Wille und dem aufgeklärten Menschen im dreidimensionalen Raum.
Pythagoras von Samos (um 560-480), der alte Numerologe, hatte die natürlichen Zahlen in männliche, nämlich die ungeraden, und weibliche, die geraden, eingeteilt. Chauvinistisch, wie nun einmal die Griechen waren, erklärte er die ungeraden Zahlen für gut und die geraden für schlecht. Da war selbstverständlich die Drei das Gute par excellence; denn sie war, da Eins nicht als Zahl galt, die erste ungerade – Urmutter aller Güte.
Wir sollten gnädig über die Spinnereien des antiken Nummernfreaks hinwegsehen. Sie brachten ihn immerhin auf den Gedanken, die Zahlenverhältnisse zu untersuchen, die musikalische Tonfolgen und Klänge kennzeichnen. Pythagoras ersann eine Theorie, die noch in der modernen Physik der Akustik gilt, und erkannte im Dreiklang das Fundament der Harmonie. Im Zweiertakt kommt, nichts Gutes verheißend, die Marschkolonne des Militärs daher. Froh gestimmt hingegen tanzt das Landvolk zum Hum-ta-ta der Dorfkapelle, dreitaktig auch setzen beim Menuett am Fürstenhof die feinen Damen ihre zierlichen Füße.
Mathematisch betrachtet ist die Drei eine Primzahl mit der Eigenschaft, daß sich eine natürliche Zahl dann und nur dann durch sie teilen läßt, wenn dies auch auf ihre Quersumme zutrifft. Darum sehen wir schon auf den ersten Blick: 453 201 ist durch 3 teilbar (4+5+3+2+1=15=3×5).
Pythagoras war zudem von der Drei angetan, weil er, wie alle gelehrten Griechen seiner Zeit, Dreiecke liebte, insbesondere die rechtwinkligen. Wer kennt nicht seinen Lehrsatz mit der Figur, die, hätte sie Beine, eine Bauersfrau mit Kiepe darstellte: „Die Summe der beiden Kathetenquadrate ist gleich dem Hypotenusenquadrat“. Zur Erinnerung: Katheten sind die beiden Dreieckseiten, die den rechten Winkel einschließen, die Hypotenuse ist die dritte. Hat eine Kathete die Länge a, die andere die Länge b, und bezeichnet c die Länge der Hypotenuse, so ist axa+bxb=cxc, anders ausgedrückt: a hoch 2+b hoch 2=c hoch 2. Pythagoras hatte seinen Spaß daran, natürliche Zahlen zu finden, die der Gleichung a hoch 2+b hoch 2=c hoch 2 genügen. 3, 4 und 5 tun dies, weil 3 hoch 2+4hoch 2=9+16=25 ist; auch 5, 12, 13 und 7, 24, 25 sind „pythagoreische Zahlentripel“. Erst zwei Jahrhunderte später fand Diophantos von Alexandria ein Rezept für die Herstellung solcher Tripel: Man nehme eine Zahl m, dazu eine kleinere n und rechne m hoch 2-n hoch 2 aus; das ist (etwa in Zentimetern) die Länge der einen Kathete. Die andere mache 2×n×m lang. Dann ist – Simsalabim! – die Hypotenuse m hoch 2+n hoch 2 Maßeinheiten lang.
Tripel aus natürlichen Zahlen, die sich als Seitenlängen zu rechtwinkligen Dreiecken zusammenfügen, sahen die Pythagoreer als glückverheißend an. Das hat sich offenbar lange erhalten, was der Rätselvers „Pythagoräische Ehe“ in dem Feldpost-Büchlein „Zum Kopfzerbrechen“ (Preis: 30 Pfennig) aus dem Kriegsjahr 1915 belegt:
„Sechsunddreißig Jahre alt / Bin ich, und recht Wohlgestalt. / Ich mal ich und du mal du, / Treu vereint als Mann und Frau / Bringen, das weiß ich genau / Fünfundvierzig Jahre zu. / Sage mir, wie alt bist du?“
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Vierfältig
in: Die Zeit 34/92, 14. August 1992:
Pythagoras pries sie: „Erzeugerin der Erzeugerin des Alls“, die Vier, und ließ damit eine verblüffend modern anmutende Auffassung erkennen. Denn für ihn war eine Zahl N gleichbedeutend mit der Menge aller Zahlen 1, 2, 3, …, N. Ergo „enthielt“ die Vier die Zahlen 1, 2, 3 und 4. Deren Summe ist 1+2+3+4=10, und deshalb „erzeugte“ die Vier die Zehn. In dieser wiederum sah Pythagoras die „Erzeugerin des Alls“, weil Zehn aus pythagoreischer Sicht die Zahlen 1 bis 10 enthält, die „Bausteine aller Zahlen“.
Unsereiner hat ein eher gemütliches Verhältnis zur Vier. Wir ziehen uns in unsere vier Wände zurück, trinken ein Viertele und strecken alle viere von uns. Glück hat, wer ein vierblättriges Kleeblatt findet. Vier sind der Jahreszeiten, der Mondphasen und der Evangelisten. Weil früher die Städte in vier Bezirke eingeteilt waren, den vier Himmelsrichtungen entsprechend, wohnen wir noch heute in „Stadtvierteln“. Ungemütlich allerdings wirkt auf uns die Quarte, das Intervall, mit dem uns das Martinshorn der Polizei aufschreckt.
Für Mathematiker ist die Vier in den letzten Jahrzehnten immens wichtig geworden. Mit vier Farben kommt jemand aus, der eine beliebige Landkarte malen möchte, auf der Länder, die eine gemeinsame Grenzlinie haben, verschiedenfarbig sein sollen. Geographen wußten das aus Erfahrung, doch ob dies mathematisch beweisbar wäre, fragte erst um 1850 der englische Mathe-Student Francis Guthrie und stellte damit seine Zunft vor ein quälendes Problem. 1965 endlich, 115 Jahre später, entdeckte Heinrich Heesch aus Hannover einen Weg, der zum Beweis führen mußte. Begehen konnte ihn freilich niemand, weil dazu eine übermenschliche Rechenarbeit zu leisten gewesen wäre. So verstrichen noch elf weitere Jahre, bis Kenneth Appel und Wolfgang Haken an der Universität von Illinois ihren Computer programmierten, damit er den steinigen Pfad bis ans Ende ging – und den Beweis erbrachte: Vier Farben nur braucht ein Kartograph.
Zu wahrhaft universeller Bedeutung verhalf der Vier vor zehn Jahren Simon Donaldson, ein 24jähriger Student in Oxford, mit einem unglaublichen Forschungsergebnis.
Seit eineinhalb Jahrhunderten tummeln sich Mathematiker in Räumen, die nicht nur drei, sondern beliebig viele Dimensionen haben. Albert Einstein zum Beispiel gab dem Universum eine vierte Dimension, die Zeit, und betrieb damit seine Relativitätstheorie. Seither rechnen Physiker bevorzugt mit vier Dimensionen.
Physiker deuten die Welt hauptsächlich als mathematische Gleichungen, die mit der – manchem wohl noch erinnerlichen – Differentialrechnung gelöst werden. Darum verlegen die Gelehrten ihre Probleme in Räume, in denen sich Funktionen differenzieren lassen, und eben dies funktioniert in solchen, wo geometrische Verhältnisse herrschen, die schon Euklid um 300 v. Chr. studiert hat. Zum Glück, so glaubten die Forscher, sind diese „euklidischen Räume“ so gestaltet, daß darin nur eine einzige Art von Differentialrechnung möglich ist.
Simon Donaldson aber fand im Jahr 1982 heraus, daß dies zwar für euklidische Räume mit zwei, drei, sowie mit fünf und mehr Dimensionen zutrifft, nicht aber für den vierdimensionalen Raum. In ihm wies er eine Struktur nach, die einer völlig anderen Differentialrechnung bedarf.
„Warum allein im vierdimensionalen Raum“, fragen sich die Mathematiker. „Ausgerechnet im vierdimensionalen“, maulen die Physiker, die nun unsicher sind, ob ihre Formeln überhaupt noch stimmen.
Inzwischen hat sich ergeben, daß der vierdimensionale euklidische Raum sogar unendlich viele, grundverschiedene Differentialrechnungen zuläßt.
Was für eine tolle Zahl, diese Vier!
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Hurra, ein Zwillingspaar
in: Die Zeit 35/92, 21. August 1992:
Der Krähe ist die Fünf zu hoch. Das belegte der Zahlenhistoriker Tobias Dantzig mit der Erfahrung eines britischen Edelmanns. Auf dessen Grundstück stand ein Turm, in dem sich eine Krähe eingenistet hatte. Dies gefiel dem Gentleman nicht, weshalb er das Tier fangen wollte. Doch jedesmal, wenn er unten seinen Turm betrat, flog der Vogel oben heraus, setzte sich auf einen Baum und kam erst zurück, nachdem der Brite das Gemäuer wieder verlassen hatte. Also beschloß er, die Krähe zu überlisten. Deshalb begab er sich zusammen mit einem Freund in den Turm. Das Tier flog auf seinen Baum. Nach einer Weile verließ allein der Freund den Turm. Doch die Krähe ließ sich nicht beirren; sie blieb geduldig sitzen, bis auch der Besitzer heraustrat. Mit drei und vier Personen war der Vogel ebenfalls nicht zu täuschen. Die Krähe wartete stets, bis alle wieder draußen waren. Erst als fünf Männer den Turm besuchten, aber nur vier wieder erschienen, verzählte sich das Tier und flog heim – das war sein Pech.
Beim Menschen ruft die Fünf eher positive Empfindungen hervor. Als heilige Zahl wurde sie in so verschiedenen Regionen wie China, Indien und Griechenland verehrt. Die Bibel ist voller Fünfen: Da geht’s um fünf Ochsen, Widder und Lämmer, um fünf Silberlinge, Könige und goldene Mäuse, um fünf törichte und fünf kluge Jungfrauen…
Für die Pythagoreer war Fünf die Zahl der Ehe. Denn 5 = 2 + 3 ist die erste Summe aus einer weiblichen – geraden – und einer männlichen – ungeraden – Zahl (Eins zählte nicht als Zahl). Sinnbild der Fünf war das Pentagramm, der fünfzackige Stern, der sich in einem Zug zeichnen läßt. Seine fünf Strecken schneiden einander so, daß die dabei entstehenden Teilstrecken ein „stetiges“ Längenverhältnis zueinander haben: Der größere Abschnitt verhält sich zur ganzen Strecke, wie der kleinere zum größeren Abschnitt. Das ist der „Goldene Schnitt“, der Pythagoras in Verzückung versetzte.
Als Drudenfuß diente das Pentagramm im Mittelalter der Abwehr von Hexen (Druden). Mephisto mußte der Ratte befehlen, eine Spitze dieses Sterns abzunagen, damit er die Bewegungsfreiheit des Teufels nicht weiter einengte.
Wir Heutigen genießen den Fünfuhrtee, bewundern bei den mit fünf Ringen symbolisierten Olympischen Spielen den Fünfkampf, sind ungern das fünfte Rad am Wagen, fürchten die Fünfte Kolonne und lassen, obwohl wir alle fünf Sinne beisammen haben, manchmal fünf gerade sein.
Piaton entdeckte, daß es nur fünf Körper geben kann, die von regelmäßigen, gleich großen Vielecken begrenzt sind und an deren Ecken dieselbe Anzahl von Kanten zusammenstößt, wie zum Beispiel beim Würfel oder bei der Dreieckspyramide. Kosmisch nannte er sie – wir haben sie ihm zu Ehren „platonische Körper“ getauft.
Fünf ist Primzahl, und da zwischen ihr und der nächst niedrigen Primzahl, der Drei, nur eine (selbstverständlich gerade) Zahl liegt, bilden 3 und 5 ein Primzahlzwillingspaar. Andere sind 5 und 7, 11 und 13, 17 und 19; der Rekord liegt zur Zeit bei 224 376 047 und 224 376 049. Seit über zweitausend Jahren wissen wir, daß es unendlich viele Primzahlen gibt; ob aber auch die Anzahl der Primzahlzwillinge unendlich ist, weiß bis heute niemand. Trotzdem ist es möglich, eine präzise Aussage über alle Primzahlzwillinge zu machen. (Zur Erklärung: Kehrwert einer Zahl p ist der Bruch 1/p.) Der Mathematiker Viggo Brun bewies nun vor 72 Jahren: Würde jemand die Kehrwerte sämtlicher Primzahlzwillinge zusammenzählen – das begänne mit 1/3 + 1/5 + 1/7 + 1/11 und hörte vielleicht nie auf – so ergäbe sich die Summe 1,90216054 … Das kommt selbst Mathematikern ziemlich komisch vor, weshalb der völlig korrekte Beweis auch als „Brunscher Witz“ in die mathematische Literatur eingegangen ist.
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Sechsisch
in: Die Zeit 36/92, 28. August 1992:
Nichts in dieser Welt ist vollkommen – heißt es. In Wahrheit aber gibt es Vollkommenes, zum Beispiel die Sechs. Sie nämlich ist eine vollkommene Zahl. Denn ihre echten Teiler sind 1, 2 und 3, und deren Summe, 1 + 2 + 3 = 6, ist wiederum die Zahl selbst. Sechs ist die erste dieser besonderen Zahlen; die nächste ist 28 – notabene: die Mondumlaufszeit in Tagen – weil 1 + 2 + 4 + 7 + 14 = 28 ist. Unterhalb von 10 000 gibt es noch zwei weitere: 496 und 8128.
Euklid hat im Buch IX seines grandiosen Werkes „Die Elemente“ bewiesen: Ist q eine Primzahl und ist auch 2q – 1 prim, dann ergibt n = 2q – 1 x (2q – 1) eine vollkommene Zahl. Bei der Sechs ist q die Primzahl 2 und 2 2 – 1 = 4 – 1 = 3 ist ebenfalls Primzahl, ergo muß n = 2 2-1×3 = 2 x 3 = 6 vollkommen sein. Der Schweizer Mathematiker Leonhard Euler hat vor gut 200 Jahren folgende Umkehrung des Euklidischen Satzes gefunden: Jede gerade vollkommene Zahl ist von der oben beschriebenen Art, 2q-1 x (2q – 1).
Wie aber steht es um ungerade vollkommene Zahlen? Trotz jahrhundertelangen, eifrigen Bemühens ist bislang nicht eine einzige gefunden worden. Vielleicht gibt es gar keine, was uns nach pythagoreischem Zahlenmythos lehren würde, daß Vollkommenheit ein ausschließlich weibliches Privileg ist. Machos, die dies mit einem Gegenbeispiel entkräften wollen, seien gewarnt: Sollte es eine ungerade vollkommene Zahl geben, dann hätte sie mindestens 150 Stellen.
Vollkommenheit ist rar in dieser Welt. Bis heute sind erst 32 vollkommene Zahlen bekannt. Den Rekord hält ein 455 663stelliges Monstrum: 2756838 x (275639-1); ausgeschrieben würde es dreizehn Seiten der ZEIT füllen.
Die Sechs galt im Altertum als die herrlichste aller vollkommenen Zahlen, weil ihre Teiler 1, 2, 3 zugleich den Beginn der Zahlenreihe bilden. Augustinus meinte, deshalb hätte der liebe Gott für seine Welterschaffung sechs Arbeitstage eingeplant, was dann allerlei „Sechsisches“ zur Folge hatte: Moses riet, den Acker sechs Jahre zu bestellen und ihn dann ein Jahr brach liegen zu lassen, der fromme Jude ißt sechs Tage lang ungesäuertes Brot, Goliath war sechs Ellen hoch, und Jesus wurde am sechsten Tag der Woche in der sechsten Stunde ans Kreuz geschlagen.
Richtig unheimlich wird’s, wo die Sechs gleich dreifach auftritt, in 666, der Zahl des Tieres aus der Apokalypse des Johannes. In unendlichen Debatten stritten sich Theologen darüber, was es mit dieser Tripelsechs auf sich hat, bis schließlich die katholische Kirche beschied, 666 sei die Zahl des Antichristen. Peter Bungus, ein Priester mit numerologischen Ambitionen, tüftelte so lange an dem Namen seines Zeitgenossen Martin Luther herum, bis er ihn mit 666 gleichsetzen und somit den Reformator als Antichristen identifizieren konnte. Doch Luther, der gelegentlich auch dem Zahlenhobby frönte, replizierte mit der „Entdeckung“, Johannes habe mit der apokalyptischen Zahl eine Prophezeiung über die Dauer des Papsttums geliefert, und daraus gehe dessen unmittelbar bevorstehendes Ende deutlich hervor.
Prominent ist die Sechs in der Natur, in Schnee- und Bergkristallen, Pflanzenzellen, Bienenwaben, Lilienkelchen und Fliegenbeinen. Sechs Seiten hat die beim Entwurf und Bau unserer Behausungen favorisierte Form, der Quader. Als Spielwürfel ist seine begehrteste Seite die mit der Augenzahl sechs.
Um einen Zylinder lassen sich sechs weitere, der gleichen Größe, bündig herumstellen. Sind die Zylinder hohl und aus biegsamem Material gefertigt, so entsteht, wenn dieses Bündel rundum zusammengequetscht wird, ein Sechskant. Dessen Profil, das regelmäßige Sechseck, regte Pythagoras zu Meditationen an. Schließlich deutete er die Figur – Grüne, aufgepaßt! – als Symbol der Natürlichkeit.
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Sieben Sachen
in: Die Zeit 37/92, 4. September 1992:
Sonne, Mond und die fünf mühelos sichtbaren Wandelsterne tanzen beim streng geordneten Lauf der Gestirne aus der Reihe, strolchen umher, was die Griechen veranlaßte, sie Herumtreiber (planetes) zu nennen, wiewohl sie ihnen göttliche Macht zubilligten. Alle Völker der Antike betrachteten diese sieben Himmelskörper voller Ehrfurcht und hielten ihre Konstellationen für schicksalsbestimmend. Darum wohl gilt die Sieben in den Kulturen der Erde bis heute als außergewöhnliche Zahl. Leicht hätte sich der klassische Katalog der Weltwunder erweitern, leichter noch das Todsündenregister verlängern lassen, doch als sie sieben beisammenhatten, gaben sich unsere Altvordern vorerst einmal zufrieden. Die Listen der Weisen, die in gehobenen hellenistischen Kreisen kursierten, stimmten – wer hätte bei Intellektuellen etwas anderes erwartet? – keineswegs überein, doch jede verzeichnete selbstverständlich sieben Namen.
Noah wurde sieben Tage vor der Flutkatastrophe gewarnt und aufgefordert, sieben Paare jeder Tierart in die Arche aufzunehmen. Alle sieben Tage ließ er eine Taube zu Erkundungsflügen aufsteigen, und im siebten Monat dieser Artenschutzaktion landete das Schiff auf dem Berg Ararat. Jakob diente Laban sieben Jahre, um dessen Tochter Lea zu bekommen und noch einmal sieben Jahre für ihre Schwester Rahel. War das der Grund dafür, daß Handwerker früher sieben Lehrjahre zu absolvieren hatten?
Siebenarmig ist die Menora, der Leuchter im jüdischen Tempel. Rom wurde auf sieben Hügeln erbaut, und in den sieben freien Künsten – Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik – hatte sich zu üben, wer im Mittelalter als kultivierter Mensch geachtet werden wollte. Isaac Newton fand heraus: Sieben reine Farben – Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Indigo und Violett – vermischen sich im Sonnenspektrum zum weißen Licht. Sieben ist Glückszahl: Das segenbringende Hufeisen hat sieben Nagellöcher. Das siebte Kind einer Familie ist mit Begabungen reich gesegnet, schon gar, wenn auch ein Elternteil siebtes Kind war – sagt man. Wer im Glück schwelgt, fühlt sich im siebten Himmel, und wer auf Reisen geht, packt seine sieben Sachen.
Die böse Sieben, ja, die gibt es auch, aber sie verblaßt neben all dem Guten, das diese Zahl verheißt. Auch in der Volksheilkunde. Weil wir sieben Organe haben – Herz, Lunge, Milz, Leber, Magen und zwei Nieren – sowie sieben Körperteile – Kopf, Brust, Leib und vier Glieder –, soll eine Arznei aus sieben Kräutern bestehen. Siebenmal mit dem Trauring der Mutter über das Augenlid des Kindes gestrichen, bringt das Gerstenkorn zum Verschwinden. Sieben Köpfe fetter Fledermäuse mußte Edward III. von England schlucken, um seine Bresthaftigkeit zu lindern. Murrend befolgte der aussätzige Syrer Naeman die Therapie, die ihm der Prophet Elias verordnet hatte: „Wasche dich im Jordan siebenmal, dann wirst du rein.“ Sie half.
Sieben Zwerge und sieben Schwaben begegnen uns im Märchen. Sieben Sterne malen den großen und den kleinen Bären an den Himmel, siebentönig ist die westliche Musik.
Mathematisch ist die Sieben eher unauffällig. Sie ist ein Primzahlzwilling, also eine Primzahl, die sich von einer anderen – in diesem Fall von fünf – um zwei unterscheidet. Dies gibt mir Gelegenheit, eine ärgerliche Zahlenverwechslung in der vorletzten Ausgabe zu korrigieren: Das größte, bisher bekanntgewordene Primzahlzwillingspaar ist 256 200 945×2 hoch 3426 ± 1.
Der Kehrwert von Sieben, 1/7, ist ein endloser Dezimalbruch, 0,142857142857142857 … mit der Periode 142 857. Wird diese Zahl mit 3 malgenommen, springt die 1 an ihr Ende: 3×142 857=428 571; bei 5×142 857=714 285 hupft die 7 an den Anfang. Mit 2, 4 und 6 multipliziert, bleiben die Ziffern erhalten, aber 7×142 857 = 999 999.
Kurios ist sie schon, die verflixte Sieben.
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Achtheiten
in: Die Zeit 38/92, 11. September 1992:
Wie viele Finger hat der Mensch? Linguistisch betrachtet nur acht, weil der Daumen nicht Finger heißt. So haben es unsere Urahnen gesehen. Indiz: In den indogermanischen Sprachen war das Wort für „neun“ auffallend eng mit dem für „neu“ verwandt: Neun und neu lauten in Latein novem und novus, im Gotischen nium und niujis, auf indisch nava und navas und in Tocharisch, das vor 2000 Jahren in Teilen Ost-Turkestans gesprochen wurde, nu und nu. Dies weist darauf hin, daß die Acht als eine Grenze empfunden wurde, hinter der man neu beginnt, mit dem Zählen nämlich, so wie im dekadischen System nach jedem Zehner. Schon in vorchristlichen Zeiten aber muß den Menschen klargeworden sein, daß es bequemer ist, den Daumen zum Finger und damit die Zehn zur Zählbasis zu machen.
Wiedererweckt wurde das Achtersystem zu Anfang unseres High-Tech-Zeitalters. Denn „Oktalzahlen“ – wir lesen sie : 0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 10, 11, … 17, 20, … – eigneten sich vorzüglich für den Informationsaustausch zwischen Menschen und den noch recht unbeholfenen Computerkolossen der fünfziger Jahre. Inzwischen kapiert so ein Rechner auch unsere Dezimalzahlen.
Acht ist eine Kubikzahl, 8 = 2 x 2 x 2 = 2 hoch3; für die alten Mystiker war sie die erste (eins war für sie keine Zahl). Ergo ernannten sie die Acht zur Zahl des Raumes. Ihn gliederte, Jahrhunderte später, René Descartes mit dem von ihm erfundenen Koordinatensystem in acht Teilräume, die „Oktanten“.
Zahl der Rettung ist die Acht in der jüdischchristlichen Überlieferung. Nur acht Menschen – aus Noahs engstem Familienkreis – überlebten die Sintflut; am achten Lebenstag sollte ein jüdischer Knabe beschnitten werden, weshalb die meisten alten Taufbecken achteckig sind; acht Tage alt muß das Lamm sein, ehe es geopfert wird, schreibt Moses und fährt fort: „so ist’s angenehm“ – wohl nicht fürs Lamm; acht Seligpreisungen spricht Christus.
Mit der Oktave, dem achten Ton, verdoppelt sich die Frequenz des Grundtons. Mühelos erkennen und produzieren Menschen aller Musikkulturen dieses Intervall.
Gelehrte streiten sich darüber, warum wir acht Tage sagen, wenn wir sieben meinen; wer am Montag verspricht, in acht Tagen wiederzukommen, will nicht erst am nächsten Dienstag erscheinen. Vielleicht versteckt das Unterbewußtsein in diesem sprachlichen Lapsus den Wunsch nach einer Zugabe; Franzosen gewähren sie mit quinze jours für vierzehn Tage.
Lange haben die Gewerkschaften für den Achtstundentag gekämpft. Warum gerade acht Stunden, warum nicht sieben oder neun? Ordnung muß sein: Acht Stunden teilen den Tag in drei exakt gleiche Teile, einen zum Vergnügen, einen zum Schlafen, einen zum Arbeiten. Darum.
Im chinesischen Buch der Weisheit, I Ging, sind alle denkbaren Schicksalsverläufe in einer Chiffre aus achtmal acht Zeichen codiert. Im Buddhismus beschreiben acht Verhaltensvorschriften den „Achtfachen Weg“; wer ihn beschreitet, braucht nicht mehr wiedergeboren zu werden; er darf für immer ins Nirwana eintreten. Achtblättrig ist die Lotosblume, das Sinnbild des Nirwana. Sie wird auch in der indischen Kosmogonie und in der ägyptischen Mythologie als Attribut von Gottheiten verehrt.
Archimedes, ein Freund gigantischer Zahlen, gab der Acht eine Bedeutung beim Festsetzen großer Zählschwellen, die etwa unseren Millionen oder Milliarden entsprechen. Der Grieche schlug „Achtheiten“ vor. Sie waren ziemlich groß: Die erste Achtheit, arithmôn, erstreckte sich von 1 bis 10 hoch 8 (100 Millionen), die zweite bis 10 16 ‚ und weiter so bis zur 10 hoch 8 ten Achtheit, der „ersten Periode“ – eine 1 mit 800 Millionen Nullen –, dann weiter zur 10 hoch 8 ten Periode…
Daher mag das merkwürdige griechische Sprichwort stammen: „Alle Dinge sind acht.“
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Alle neune
in: Die Zeit 39/92, 18. September 1992:
Wie beschaulich könnte es auf der Buchmesse zugehen, würden alle Autoren die Neunerregel beherzigen, die der Dichter und Kritiker Quintus Horatius Flaccus vor gut 2000 Jahren für jedes literarische Werk aufgestellt hat: nonumque prematur in annum, „und bis ins neunte Jahr werde es zurückgehalten“, womit Horaz – so kürzeln wir den Namen des gelehrten Poeten gerne – seinen Dichterkollegen empfahl, alles Geschriebene neun Jahre lang zu redigieren und zu prüfen, ob es überhaupt zur Veröffentlichung tauge. Befolgten unsere Schriftsteller diesen weisen Rat – wir müßten uns nächsten Monat in Frankfurt nicht durch 300 000 Titel wühlen.
Das allein schon würde die Neun zu einer überaus sympathischen Zahl machen. Beliebt ist sie von jeher bei Leuten, die ihren Mitmenschen mit verblüffenden Rechenleistungen imponieren möchten. Viele dieser Kunststücke basieren auf der „Neunerprobe“, einem nützlichen Testverfahren, dessen sich Kontoristen und Kaufleute vor der Erfindung des Taschenrechners bedienten, um die Ergebnisse ihrer langen Rechnungen nachzuprüfen.
Hier, aus einer alten englischen Jugendzeitschrift, die Anleitung zu einem dieser unzähligen Rechenkunststücke: „Fordere beim nächsten Klassenfest ein Kind auf, zwei beliebig lange Zahlen auf die Wandtafel zu schreiben. Danach läßt Du Dir die Augen verbinden und bittest das Kind, beide Zahlen malzunehmen. Sodann soll es aus dem Ergebnis irgendeine Ziffer, die aber nicht die Null sein darf, herausstreichen und dir die verbliebenen Ziffern in beliebiger Reihenfolge vorlesen. Zum Erstaunen Deines Publikums wirst du nun die herausgestrichene Ziffer nennen.“
Der Trick: Während das Kind seine erste Zahl an die Tafel schreibt (zum Beispiel 43071), zählt der Zauberkünstler die Ziffern zusammen (4 + 3 + 0 + 7 + 1 = 15), teilt diese Quersumme durch 9 (15 : 9 = 1, Rest 6) und merkt sich den Rest (6), zünftig „Neunerrest“ genannt. Ebenso verfährt er mit der zweiten Zahl (Beispiel: 8617). Deren Neunerrest (4) multipliziert er dann mit dem ersten (4 x 6 = 24) und ermittelt den Neunerrest dieses Produktes (24 : 9 = 2, Rest 6).
Nur auf diese Zahl (6) kommt es an. Wenn nun das Kind eine Ziffer aus dem Ergebnis (etwa 4) gestrichen hat und die verbliebenen (3, 7, 1, 1, 2, 8, 0, 7) in beliebiger Reihenfolge nennt, zählt sie der Künstler zusammen (29) und zieht den Neunerrest dieser Summe (2) von dem zuvor errechneten Rest (6) ab. Diese Differenz (4) ist die gestrichene Ziffer – es sei denn, beim Abziehen käme eine negative Zahl heraus; in diesem Fall müßte ihr eine 9 zugezählt werden, damit sich die gesuchte Ziffer ergibt.
Die Neun stürzte Zahlenmystiker des klassischen Altertums in ein Dilemma. Einerseits galt sie, weil ungerade, als männliche Zahl; andererseits aber war sie nicht Primzahl wie ihre männlichen Vorgänger 3, 5, und 7. Das ließ Pythagoras an der Manneskraft der Neun zweifeln (obwohl sie doch dreimal drei, mithin eine Potenz ist). Schließlich einigten sich die pythagoreischen Chauvis darauf, die Neun als „weibisch“ zu diffamieren.
Weiblichkeit assoziierten auch die Römer mit der Neun, lateinisch nona; das aber lag an den Gesetzen ihres Reiches. Die nämlich erlaubten den nonariae erst von der neunten Stunde an (15 Uhr nach unserer Stundenzählung), auf den Straßen Roms ihre Liebesdienste feilzubieten; daher ihr Name.
Neun Musen, die Göttinnen der Künste, gebar Mnemosyne dem Zeus. Neun Stunden währt die Novene, das Bittgebet der Mönche.
Wir haben zur Neun ein eher profanes Verhältnis. Wer neunmalklug genannt wird, hat wenig Anlaß, darauf stolz zu sein. Doch der Kegelbruder, der mit einer Kugel alle neune schafft, ist der Größte.
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Zehn Finger
in: Die Zeit 40/92, 25. September 1992:
Der Mensch ist das Maß aller Dinge“, befand der griechische Philosoph Protagoras, was ihm keineswegs nur Zustimmung einbrachte. Plato kritisierte seinen prominenten Kollegen: Wenn schon ein Maß, dann käme dafür nur eine Gottheit in Betracht. Bei den Zahlen aber trifft der umstrittene Spruch ins Schwarze. Denn daß die Zehn in nahezu allen Sprachen der Erde zur Zählschwelle gekürt wurde, von der aus sich die Zahlwörter wiederholen, hat nur einen Grund: Der Mensch hat zehn Finger, und mit den Fingern fängt das Zählen an. Unsere Wörter „elf“ und „zwölf“ sprechen übrigens nicht gegen diese These. Sie sind die lautverschobenen, gotischen Wendungen ain-lif und zwa-lif, was „eins über“ und „zwei über“ (der Zehn) bedeutete.
Weil wir aber noch Füße mit zehn Zehen haben, waren einige Völker, die Mayas zum Beispiel und die Ureinwohner Mexikos, auf die Idee gekommen, die Schwelle auf zwanzig heraufzusetzen. In Europa haben die Kelten, Dänen und Gallier zwar wie wir zehnschwellig gezählt, doch sprachlich ihre Zahlen noch einmal zu je zwanzig gebündelt. Das französische quatrevingt, „vier Zwanziger“, für achtzig erinnert daran.
Mit der genialen Erfindung der Null – sie wird babylonischen Gelehrten zugeschrieben – erhielt die Zählschwelle Zehn eine mathematische Bedeutung. Erst jetzt, im zweiten Jahrhundert, konnte eine Zahl eindeutig durch die Position ihrer Ziffern bestimmt werden. Wie hätte man ohne Null zwischen 32 und 3020 unterscheiden sollen? Jetzt aber war klar: 32 ist 3xl0 hoch 1 + 2 x l0 hoch 0 und 3020 ist 3 x 10 hoch 3 + 0 ×10 hoch 2 +2 x 10 hoch 1 +0 x 10 hoch 0. Statt der Zehner hätten es auch Potenzen einer anderen Zahl getan, aber unsere Vorfahren hatten sich nun einmal an die Zählschwelle Zehn gewöhnt, also blieb es dabei.
Heute vor eine solche Wahl gestellt, würden wir mit der Suche nach der günstigsten Zahlenbasis eine Expertenkommission beauftragen. Sie hätte es schwer. Denn die Praktiker unter ihren Mitgliedern würden sich, wie schon vor 220 Jahren der große Naturforscher Graf Buffon, für die Zwölf stark machen, einmal, weil sie vier Teiler hat (zehn hat nur zwei), zum anderen, weil sie das Rechnen mit Tageszeiten, Monaten, Winkeln, Längen- und Breitengraden erleichtert. Mathematiker hingegen sähen lieber eine Primzahl als Fundament. Das brächte arithmetische Vereinfachungen, zum Beispiel beim Bruchrechnen. Für die Zehn jedenfalls hätte sich niemand entschieden; sie ist weder Fisch noch Fleisch. Wir aber müssen mit ihr leben.
Den Pythagoreern war offenbar die physiologische Erklärung für die Bedeutung der Zehn zu profan. Sie suchten nach Höherem und fanden es in ihrer Mystik: Zehn ist 1+2+3+4, das hieß für sie: Eins, der Ursprung aller Zahlen, plus Zwei, das Symbol der Lebenszeugung, plus Drei, die Glückszahl, plus Vier, die Zahl der Erde; Grund genug, der Zehn einen Heiligenschein zu verpassen. Aristoteles teilte die Wirklichkeit in zehn Kategorien ein, Augustinus sah in der Zehn die Fülle der Weisheit.
Zehn Gebote mußten es unbedingt in der Bibel sein, weshalb Moses, dem wohl nur neun eingefallen waren, das Verbot der Begehrlichkeit in zwei Gebote aufteilte, um auf zehn zu kommen. Abraham zahlte dem König Melchisedek von Salem zehn Prozent seiner Habe. Daher der alte jüdische Brauch, den „Zehnten“ abzugeben, den die christlichen Kirchen und weltliche Potentaten allzugern übernahmen.
„Besser ein Augenzeuge als zehn Ohrenzeugen“, empfiehlt der Volksmund, und die Erfahrung lehrt uns: „Freunde in der Not gehen zehn auf ein Lot.“ Der Vater schimpft: „Ich habe es dir schon zehnmal erklärt“, und wer wo nicht sein möchte, behauptet störrisch: „Da bringen mich keine zehn Pferde hin.“ Warum ausgerechnet zehn?
„Ein Narr kann mehr Fragen stellen, als zehn Weise beantworten können.“
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Sündige Elf
in: Die Zeit 41/92, 2. Oktober 1992:
So zwischen der Zahl der Vollendung, der Zehn, und der Götterzahl Zwölf eingezwängt, ist die Elf gesichtslos geblieben. Selbst Pythagoras und seinen Jüngern, die alle Vorläufer der Elf zu bedeutungsschwangeren Symbolen erhoben hatten, fiel zur Elf nichts ein. Sie ist halt zehn plus eins, mehr nicht.
Für die Palästinenser jedoch ist die Elf eine Unglückszahl, die schlimmste überhaupt. Warum? Genau weiß es wohl niemand. Möglicherweise hängt dies mit der in südlichen Ländern gefürchteten Malaria zusammen, die häufig am elften Tag zum Tod führt. Alexander der Große starb 32jährig am elften Tag nach Ausbruch der Krankheit, ebenso Lord Byron.
Nichts Gutes verband auch der Astrologe Seni mit der Elf, jedenfalls bei Schiller, der ihn in „Die Piccolomini“ sagen läßt: „Elf ist die Sünde, Elfe überschreitet die Zehn Gebote“.
Elf ist ein modernes Wort; noch zu Goethes Zeiten nannten sie die meisten Leute „Eilf“, so selbst der Meister, der in seinen ungedruckten Epigrammen frivol anmerkte: „Unklug schob er den kleinsten der zehn Finger ins Ringchen, nur der größte gehört würdig, der eilfte, hinein.“ Jeder wußte, was gemeint war. Jeder wußte auch Goethes Vers zu deuten:,,… als im schmucken Hain und Haus festlich Eilfer überfloß“. Denn was wir in unserer Lust am Übertreiben als „Jahrhundertwein“ bejubelt hätten, wurde zu jener Zeit schlicht „Elfer“ getauft, ein im Jahr 1811 reichlich gekelterter, vorzüglicher Rebensaft aus Rheinhessen.
Heute assoziieren wir mit der Elf eine Fußballmannschaft, und jedes Kind kennt den Elfmeter schon, ehe es bis elf zählen kann. Ungeduldig warten die Narren auf den Elften Elften, an dem der Elferrat um elf Uhr elf den Beginn des Karnevals verkündet.
Elf ist Primzahl und als kleiner Bruder der Dreizehn ein Primzahlzwilling. Ob eine natürliche Zahl ohne Rest durch elf teilbar ist, läßt sich mit Hilfe der „Querdifferenz“ mühelos ermitteln. Wie so oft läßt sie sich leichter am Beispiel als mit ihrer umständlichen Definition erklären. Hier ein Exempel: Ist 73 529 681 durch 11 teilbar? Zähle die Ziffern an den ungeraden Stellen der Zahl – also an der ersten, dritten, fünften … Stelle – zusammen: 7 + 5 + 9 + 8 = 29; verfahre ebenso mit den Ziffern an den geraden Stellen, 3 + 2 + 6 + 1 = 12, und berechne den Unterschied zwischen diesen beiden Summen, 29 – 12 = 17. Das ist die Querdifferenz der Zahl. Sie müßte durch 11 teilbar sein; denn dann und nur dann träfe dies auch für 73 529 681 zu – was offensichtlich nicht der Fall ist. Wie aber steht’s mit 73 529 676? Ihre Querdifferenz ist 28 – 17 = 11 – alles klar.
Die Querdifferenz spielt die tragende Rolle bei der Elferprobe, einem hilfreichen Instrument, dessen sich Kopfrechner bedienen, um zu ermitteln, ob das Ergebnis ihrer Rechnung stimmt.
Zahlen, die wie die Elf nur Einsen als Ziffern haben – von manchen Autoren „Repunits“ (repeated units) genannt –, erfreuen sich bei Nummernfreaks großer Beliebtheit. Ehe ihnen der Computer den Spaß verdarb, galt es in ihrer Zunft als große Errungenschaft, unter diesen Exemplaren Primzahlen zu entdecken. Zu suchen braucht man allerdings nur unter denen, deren Stellenzahl prim ist, wie bei der Elf. Die nächste ist 1 111 111 111 111 111 111, ihr folgt ein 23stelliges Monstrum und ihm – Computerfreunde aufgepaßt! – vielleicht das 47stellige.
Glaube niemand, all dies habe keine praktische Bedeutung. Jedenfalls denkt anders darüber ein Steuerprüfer, der soeben erfahren hat, daß der Computerladen, dessen Bücher er prüft, im vorigen Monat Rechner des gleichen Typs für insgesamt 1 Million 111 tausend 111 Mark verkauft hat. Der Beamte möchte aber wissen, wie viele Geräte zu welchem – einheitlichen – Stückpreis abgesetzt wurden. Just das kann ihm der Händler nicht sagen. Wer kann’s?
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Zahl der Zeit
in: Die Zeit 42/92, 9. Oktober 1992:
Zwölf ist die Zahl der Wiederkehr, und regelmäßige Wiederkehr bildet sich in unserer Vorstellung als Zyklus ab, als ein Kreis. Darum nannten Mystiker des Altertums die Zwölf auch „Zahl der Geschlossenheit“ und „runde“ Zahl. All dies rührt daher, daß der Mond die Erde zwölfmal umrundet, bis sich der Kreis der Jahreszeiten vollendet, was die Chinesen schon vor Jahrtausenden veranlaßte, sich einen Kalender mit zwölf Monaten auszudenken.
Fast alle Völker der Erde haben dies früher oder später getan. So wurde die Zwölf zur „Zahl der Zeit“ und damit auch der Tageszyklus zwölfgeteilt, aber nur seine helle Hälfte; die Nacht verschlief man ja. Als sich der Mensch vom Rhythmus der Natur emanzipierte und die Nacht gelegentlich zum Tage machte, mußte er die Einteilung verdoppeln. Auf die naheliegende Idee, deshalb 24 Stunden einzurichten, kam er freilich erst spät. Amerikaner haben damit noch heute erhebliche Schwierigkeiten und behelfen sich deshalb mit a.m. und p.m.
Für die Zeitmessung kam uns die Geometrie zur Hilfe, die erlaubt, einen Kreis ohne großen mathematischen Aufwand in Vielfache von sechs Segmenten einzuteilen, in zwölf Stunden ebenso wie in sechzig Minuten und Sekunden.
Die daraus entstandene Uhr war anfangs nur der Sternenhimmel, an dem die Sonne als Kalender agierte. Was lag da näher, als die Ekliptik, den Jahreszyklus der Sonne, in zwölf Bezirke zu gliedern? Sterne waren gleichbedeutend mit Zeit, und Zeit ist Schicksal, dies veranlaßt seither manch einen zu dem simplen Schluß: Also bestimmen die Sterne unser Schicksal. Selbst den Globus haben wir zwölfgeteilt, was auch im Kleinen etliche Zwölfermaße mit sich brachte, Fuß, Zoll, Meile… und bis heute viel Verwirrung stiftet.
Zwölfjährig wird zumeist das Mädchen – biologisch – zur Frau und deshalb in manchen Nationen am zwölften Geburtstag heiratsfähig. Wohl wegen der Gleichberechtigung hatten die Juden auch zwölfjährige Knaben zu Erwachsenen gekürt. Darum durfte Jesus als Zwölfjähriger den Tempel besuchen, wo er die Priester in Verlegenheit brachte.
Den Lenden der zwölf Söhne Jakobs entsprangen die zwölf Stämme Israels; Josua ließ zwölf Steine mitten im Jordan aufrichten zum Gedenken daran, daß sein Volk den Fluß heil überquert hatte. Zwölf bronzene Ochsen trugen das Taufbecken des Salomo, zwölf Jünger erwählte Christus. Allerlei Seltsames geschieht in den Zwölf Nächten, der Zeit zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag.
Die Väter unserer Jurisprudenz, die Römer, kodifizierten ihr Recht auf zwölf bronzenen Tafeln. Daher die zwölf Geschworenen und die Zwölfergremien für öffentliche Angelegenheiten. Im alten Preußen unterrichteten „Zwölfender“ an den Schulen. Das waren keine Hirsche, sondern Männer, die zwölf Jahre lang in der Armee gedient hatten – der Alte Fritz hielt das für eine ausreichende Qualifikation.
Unsere Sprache hat zwölf zum Dutzend gebündelt und uns gestattet, das Wort im ungefähren Sinne zu verwenden; ein Dutzend Leute müssen nicht exakt zwölf Personen sein, und manchmal meint es nur „viel“, wie bei der billigen Dutzendware.
Graf Buffon hatte sich sein Leben lang für die Zwölf als Basis unseres Zahlensystems stark gemacht, weil 12 vergleichsweise viele Teiler hat, 1, 2, 3, 4 und 6. Ihre Summe ist größer als die Zwölf selbst, was für keine kleinere Zahl zutrifft. Der platonische Körper mit den meisten Flächen ist das Pentagondodekaeder, dessen Oberfläche sich aus zwölf regelmäßigen Fünfecken zusammensetzt. Ansonsten ist die Zwölf mathematisch unauffällig. Aber „zwischen zwölf und Mittag kann noch viel geschehen“.
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Jetzt schlägt’s dreizehn
in: Die Zeit 43/92, 16. Oktober 1992:
Er wurde 1813 geboren und starb am 13. Februar im 13. Jahr der Reichseinheit. Einschließlich seiner Jugendwerke schrieb er 13 Tondichtungen. Sein Name hat 13 Buchstaben, und 13 ist 1+8+1+3, die Quersumme seines Geburtsjahres. Das Schlüsselerlebnis seines Lebens fand am 13. Oktober statt, als er eine Vorstellung von Webers Freischütz besuchte. Am 13. April 1844 hatte er eines seiner bedeutendsten Werke vollendet. Doch als die Oper am 13. März 1861 in Paris gespielt wurde, fiel sie mit großem Spektakel durch. Erst am 13. Mai 1895 wagte die Pariser Oper wieder eine, diesmal begeistert aufgenommene, Inszenierung. Die bayerische Kultstätte für seine Werke wurde am 13. August eröffnet; zum letztenmal betrat sie der Meister an einem 13. September. Seine Verbannung währte 13 Jahre. Wer war’s?
Für Wagnerianer mag die Dreizehn eine Gralszahl sein – gewöhnliche Sterbliche fürchten, daß sie Unglück bringt. Deshalb graust es den Leuten vor dem Dreizehnten eines Monats, insbesondere, wenn er auf den an sich schon unheilschwangeren Freitag fällt. Der nächste Freitag, der Dreizehnte steht vor der Tür, und das ausgerechnet im November, dem trüben Unfallmonat. Da wird so mancher keinen Fuß vor die Tür setzen mögen, und das keineswegs nur hierzulande. Weltweit wird die Dreizehn gemieden, wo immer dies möglich ist. Warum?
Warum darf im Hotel das Zimmer mit der Nummer 13 allenfalls Besenkammer sein und haben große Hotelpaläste keine dreizehnte Etage? Warum fehlt im Flugzeug die dreizehnte Sitzreihe? An einem Freitag, den Dreizehnten läuft kein Schiff aus dem Hafen – woher stammt der Aberglaube? Niemand scheint die Antwort zu kennen.
Eine Vermutung: Die Dämonie der Dreizehn hängt mit dem Letzten Abendmahl zusammen. Zu dreizehn saßen sie bei Tisch, anschließend wurde Jesus Christus verraten. Andere meinen, das Stigma der Dreizehn sei weitaus älteren Ursprungs. Immerhin hatte sie als Zahl der Unterwelt schon bei den Babyloniern einen schlechten Ruf. Das Alte Testament erwähnt die Dreizehn auffallend selten, hingegen gibt ihr der Talmud eine durchaus positive Bedeutung; er weissagt, das Land Israel werde dereinst dreizehngeteilt, und der dreizehnte Teil solle dem Messias gehören. Der „Thirteener“, eine alte irische Silbermünze, war dreizehn Pence wert; so viel bekam der Henker für seine Arbeit.
Einige Gelehrte erklären sich die Furcht vor der bösen Zahl damit, daß nach der sympathischen Zwölf mit ihren vielen Teilern die unbequeme, teilerlose Primzahl Dreizehn das Rechnen erschwert; just dies hätte jedoch für die Nachfolgerin der teilerfreundlichen Sechs ebenso gelten müssen, aber Sieben ist Glückszahl.
Daß dreizehn ein „Bäckerdutzend“ ausmachen, hat mit dem Fluch der Zahl wahrscheinlich nichts zu tun. Der Begriff entstand in London, wo einst harte Strafen demjenigen drohten, der einen untergewichtigen Laib Brot verkaufte. Da dies versehentlich vorkommen konnte, gaben die Bäcker jedem Kunden, der ein Dutzend Brote kaufte, vorsichtshalber ein dreizehntes zu.
Die Dreizehn machte die Königstochter Dornröschen zur Langschläferin. An der Feier ihrer Geburt sollten die Weisen Frauen teilnehmen. Ihrer waren dreizehn, aber es gab nur ein Dutzend goldener Teller im Schloß. Also lud der König nur zwölf der Damen ein. Das nahm die dreizehnte übel und verfluchte das schöne Kind. Die Folgen sind bekannt.
Zum Schluß eine gute Nachricht: Gottlob muß sich niemand vor der Dreizehn fürchten; denn sie ist gleich der guten Zwölf. Beweis:
3+4=7
und
12×3+12×4-13×7=12×3+12×4-13×7
sind unbestreitbar richtige Gleichungen. Also muß auch deren Summe,
12×3+12×4-13×7+3+4=12×3+12×4-13×7+7 stimmen; sie ist
13×3+13×4-13×7=12×3+12×4-12×7, das heißt, 13×(3+4-7)=12×(3+4-7). Folglich ist 13=12. Quod erat demonstrandum – oder?
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Zahlen ohne Ende
in: Die Zeit 44/92, 23. Oktober 1992:</p
Die Zahl ist das Wesen aller Dinge“, lehrte der in den vergangenen 13 Wochen hier so häufig zitierte, zahlenkundige Pythagoras von Samos. Sogar auf die Frage, was Freundschaft sei, hatte er eine numerologische Antwort parat: „Ein Freund ist dein anderes Ich, so wie es sich mit 220 und 284 verhält.“
Das Geheimnis dieses Zahlenpaars: Die Summe aller „echten“ Teiler der einen Zahl – dazu gehört 1, nicht aber die Zahl selbst – gleicht der jeweils anderen. 220 hat die Teilersumme 1+2+4+5+10+11+20+22+44+55+110 = 284; und für 284 ist sie 1+2+4+71+142 = 220. Über 1800 Jahre lang war nur dieses eine „befreundete“ Paar bekannt. Erst 1636 gelang es dem (Amateur-) Mathematiker Pierre de Fermat, ein zweites zu entdecken: 17 296 und 18 416. Bis heute haben Mathematiker etwa 1200 solcher Zahlenfreundschaften ermittelt, darunter die der Giganten 111 448 537 712 und 118 853 793 424.
Zahlen sind im Altertum gerne mit der Schrift verquickt und zu geheimnisvollen Deutungen kombiniert worden. Das ergab sich geradezu zwangsläufig, weil in vielen frühen Kulturen Buchstaben als Zahlensymbole benutzt wurden – Griechen verwendeten zum Beispiel Alpha für 1, Beta für 2, Gamma für 3… Zur hohen Kunst entwickelte sich die Gematria, eine Verstümmelung des griechischen geometria (Zahlenkunde), die im ersten Jahrhundert von Juden, Griechen und Christen ernsthaft betrieben wurde. Bei dieser Kunst ging es darum, die Zahlenwerte von Wörtern zu finden und am Resultat magische Eigenschaften abzulesen. Im Griechischen entsprach zum Beispiel „Amen“ der Zahl 1+40+8+50=99. Deshalb steht in griechischen Bibeltexten für Amen häufig das Kürzel 99. Gleichermaßen rechnete sich das Wort „Abraxas“ – es bezeichnet ein Amulett mit einer eingravierten mythischen Figur – zu der Zahl 365; so viele Tage hat das Jahr. Wörter, denen dieselbe Zahl zugeordnet wurde, galten als gleichwertig; in unserer Sprache wäre demnach „klug“ = 11+12+21+7=51 ebenso viel wert wie „dumm“ = 4+21+13+13=51.
Nachdenkliche Leute haben von jeher über Zahlen sinniert. Wilhelm Busch, gewiß weder Mystiker noch Mathematiker, befand: „Zahlen sind Naturkräfte, belauscht in ihren Gewohnheiten.“
So ähnlich mag Leonardo da Pisa empfunden haben, der sich Fibonacci nannte und mit seinem 1202 erschienenen Rechenbuch „Liber Abaci“ die arabischen Zahlen in Europa eingeführt hat. In diesem Werk legt er dar, wie er bei Betrachtungen der Vermehrung von Kaninchen auf diese bemerkenswerte Zahlenfolge gestoßen ist: 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89, 144 … Ihre Eigenschaft: Von den ersten beiden Zahlen abgesehen, ist jede folgende die Summe der beiden vorhergehenden, 2=1+1, 3=1+2, 5=2+3, 8=5+3 … Bemerkenswert ist sie bis heute geblieben, weil Fibonaccis Zahlen allenthalben in der Natur anzutreffen sind, auffallend häufig zum Beispiel bei der Anzahl der Blütenblätter vieler Blumen. Vor allem in der Phyllotaxie, der Anordnung von Blättern an einem Zweig, spielen die Zahlen aus der Fibonaccifolge eine tragende Rolle: Blätter sprießen spiralförmig aus dem Zweig. Wer sie zählt, muß deshalb den Zweig ein paarmal umrunden. Die Anzahl dieser Umrundungen geteilt durch die der Blätter ergibt das phyllotaxische Maß, einen Bruch, dessen Zähler und Nenner bei fast allen Pflanzen Fibonaccizahlen sind; mehr noch: Stets sind es solche, die in der Fibonaccifolge durch genau eine Zahl voneinander getrennt sind. Die Phyllotaxie des Birnbaums ist 3/8 – zwischen 3 und 8 liegt 5; bei der Weide kommt 543 heraus – zwischen 5 und 13 liegt 8. Phyllotaxien von 13/34, 21/55 und noch höheren Werten werden an kurzstämmigen Pflanzen gemessen.
Viel mehr noch wäre über die Zahlen des Leonardo da Pisa zu berichten; sie mischen sich in viele Gebiete ein, in die Geometrie, die Physik und sogar in die Kunst, etwa bei der Berechnung des Goldenen Schnitts.
Die Zahlentheorie, jahrtausendelang als L’art pour l’art betrieben, hat in unserer computervernetzten Welt unverhofft aktuelle Bedeutung erlangt, weil sich einige ihrer Ergebnisse in der Kryptologie anwenden lassen, der Kunst, Daten so zu verschlüsseln, daß sie nicht von Unbefugten mißbraucht werden können. Im nüchternen Computerzeitalter aber genießt selbst die Zahlenmystik viel Zuspruch. Als die ersten Heimcomputer auf den Markt kamen, erhielt der Käufer als Bonus ein Programm, das ihm nach Eingabe seines Geburtsdatums den individuellen „Biorhythmus“ berechnete. Viele richten seither ihre Terminplanungen nach diesem Kalender der günstigen und ungünstigen Tage ein; wenige jedoch kennen dessen wunderliche Herkunft.
Die Grundidee kam Wilhelm Fliess, einem Berliner Arzt, der glaubte, alle Krankheiten eines Patienten an dessen Nase diagnostizieren und heilen zu können. Sigmund Freud war davon tief beeindruckt; tiefer noch von der Theorie des Doktor Fliess, nach der alles Wesentliche im Leben eines Menschen oder eines Volkes an einer Zahl erkennbar sei, die sich mit der simplen Formel 23x+28y berechnen läßt. Für x und y brauchten nur passende positive oder negative ganze Zahlen eingesetzt zu werden.
Beispiele: Das Jahr hat 365 Tage, weil 365= 23×11+28×4 ist; 13 ist Unglückszahl, denn 13 ist 23×3+28x(-2); die Französische Revolution begann im Jahr 23×23+28×45=1789; Fliess starb 1928=23×12+28×59 im Alter von 23xl4+28x(-9)=70 Jahren; im Kern der menschlichen Zelle befinden sich 46= 23×2+28×0 Chromosomen; die Zahl des Tieres aus der Bibel ist 23×18+28×9=666.
Tatsächlich ist jedes schicksalhafte oder sonstwie wichtige Datum mit der Fliess-Formel darstellbar. Das allerdings überrascht nicht; denn für jede beliebige Zahl z lassen sich passende Werte x und y finden, die der Gleichung z=23x+28y genügen. Fliess, dem diese Möglichkeit nicht in den Sinn gekommen war, bastelte aus seinen Lieblingszahlen 23 und 28 für jeden, der es wissen wollte, einen individuellen Kalender, dem die Tage zu entnehmen waren, an denen er besonders erfolgreich sein würde. Das Verfahren war einfach: Vom Geburtsdatum des Benutzers ausgehend, trug Fliess auf einer Zeitskala Perioden von 23 und 28 Tagen ein. Später fügten seine Adepten noch eine 33tägige „Periode der Intelligenz“ hinzu. Damit war der „Biorhythmus“ von heute komplett.
„Zahlen sind ein Quell der Wahrheit“, hat der amerikanische Mathematiker Norbert Wiener gesagt, „mehr aber noch haben sie den Menschen verführt, teils in die Irre, teils in Gefilde erhabener Schönheit.“
Bild: ARD-Mittagsmagazin: Dinge, die Sie über Pippi noch nicht wussten:
Eigentlich gibt es Pippi Langstrumpf schon seit 1941. Damals erfand Astrid Lindgren Geschichten für ihre Tochter, die mit einer Lungenentzündung das Bett hüten musste. Veröffentlicht wurde das Buch aber erst 1945. (Hier im Bild mit Pippi-Schauspielerin Inger Nilsson 1969)
Homerische Dark Fantasy
Update zu Grillen mit Homer:
The problem with quotes on the Internet is that it is hard to verify their authenticity.
Abraham Lincoln, 1864.
„Der Wolf“, sagt die Wölfin, „der Wolf. Kauft wieder ganze Verkaufsportale auf.“
„Gar nicht wahr“, sag ich.
„Die Buchabteilung mit den toten Dichtern jedenfalls.“
„Schon wieder falsch. So viele Bücher gibt’s von Homer gar nicht.“
„Wieso können sich dann so viele Leute seit dreitausend Jahren mit dem beschäftigen?“
„Weil er wahrscheinlich nicht mal die zwei geschrieben hat.“
„Erst die Ilias, dann die Odyssee, hab ich gelernt. Merkt sich leicht. Von wem sollen die sonst sein?“
„Von einem griechischen Schreibknecht in assyrischen Diensten in Karatepe, Kikilien. Deswegen wohl eher ein Stummer als ein Blinder. Oder sogar mehrere stumme Schreiber.“
„Sagt wer?“
„Sagt Raoul Schrott.“
„Daher …“
„Keine Namenwitze bitte. Das ist nicht weniger denn die Lösung der Homerischen Frage.“
„Ja dann. Und wenn das ein ganzes Schreibkollektiv war, war dann nicht Zeit für mehr Bücher? Oder waren die zwei so lang, dass …“
„Die zwei füllen nicht mal einen geschlossenen Zeitraum aus. Für den Zwischenraum musste Jahrtausende später Goethe einspringen. Dafür gibt’s einen größeren Satz von Homerischen Hymnen.“
„Und? Sind die auch so gut?“
„Ha! Der volle Silvesterknaller, wenn man Amazon glaubt …“
„Zeig.“
Homerische Hymnen.
Übertragung, Einführung und Erläuterungen von Karl Arno Pfeiff.
Herausgegeben von Gerd von der Gönna und Erika Simon, Stauffenburg Verlag, Tübingen 2002
Homerische Hymnen Taschenbuch – 2002
von Gerd von der Gönna (Herausgeber), & 2 mehr
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Alle Formate und Ausgaben anzeigenTaschenbuch: 206 Seiten
Verlag: Stauffenburg (2002)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3860571877
ISBN-13: 978-3860571873
Größe und/oder Gewicht: 15,2 x 1,4 x 22,7 cm
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Der für seine Beiträge zum Drachenlanze-Universum bekannte Richard A. Knaak liefert mit Das Vermächtnis des Blutes einen Roman zum Computer-Rollenspiel-Bestseller Diablo von Blizzard Entertainment. Das Spiel begeisterte aufgrund seines stimmungsvollen Dark-Fantasy-Hintergrundes voller Mystik, Monster und Gefahren. Auf diese Elemente greift Knaak gekonnt zurück und entwirft einen fantastischen Plot, der sich — unabhängig von der Handlung des Spiels — in die Welt Diablos mit ihren bizarren Bewohnern und Mächten einfügt.
Als der Söldner Norrec Vizharan mit seinen Freunden das Grab des legendären Dämonenmeisters Bartuc plündert, gelangt er in den Besitz der Rüstung des „Kriegsherrn des Blutes“. Doch wird er sie nicht mehr los — schlimmer noch: Sie übernimmt die Kontrolle über ihn. Derart manipuliert begeht er gegen seinen Willen schreckliche Verbrechen und strebt einem geheimnisvollen Ziel zu. Verfolgt wird er dabei aus unterschiedlichsten Gründen von einer Reihe grotesker Gestalten: einer Nekromantin, einem größenwahnsinnigen Feldherrn, einer Hexe, einem Dämon, einem verrückten Magier und zwei Wiedergängern. Auf dem verschlungenen Pfad zum Showdown wird viel gezaubert und beschworen, und es tauchen allerlei Ungeheuer, Dämonen und wahre Teufel auf. Nur Diablo selbst tritt (noch) nicht in Erscheinung. Oder etwa doch?
Der Roman bietet interessante und spannende Einblicke in die Welt des Rollenspiels. Doch es mangelt ihm ein wenig an plastischen und schlüssigen Figuren und an einem eindringlichen Erzählstil. Viele Beschreibungen bleiben etwas platt und oberflächlich, sodass man die Grafiken aus dem Spiel kennen muss, um auf seine Kosten zu kommen. Das ist schade, denn die Welt von Diablo gibt einen vorzüglichen Hintergrund für Dark-Fantasy-Romane ab, der das Zeug hätte, jedermann zu begeistern. So aber werden wohl eher nur die Fans des Rollenspiels ihre Freude an diesem Buch haben — und sich auf den zweiten Roman zu Diablo freuen, der September 2003 erscheinen soll. — Simon Weinert — Dieser Text bezieht sich auf eine vergriffene oder nicht verfügbare Ausgabe dieses Titels.
Klappentext
Seit dem Anbeginn aller Zeiten führen die geflügelten Streiter der Himmel und die Dämonenhorden der Brennenden Höllen einen erbitterten Kampf um das Schicksal der Schöpfung. Dieser infernale Konflikt hat sich nun auf die Ebene der Sterblichen verlagert und weder Mensch noch Dämon noch Engel werden sich dieser Schlacht entziehen können …
Norrec Vizharan ist zu einem lebenden Albtraum geworden. Auf der Suche nach einem Schatz entdeckt der Söldner ein magisches Artefakt, das seine kühnsten Träumen übersteigt: die uralte Rüstung von Bartuc, dem legendären Kriegsherrn des Blutes. Doch die mysteriöse Panzerung ist mit einem Fluch belegt birgt unheilvolle Kräfte. Auf der Flucht vor Dämonen, die das finstere Artefakt für ihre eigenen niederträchtigen Zwecke einsetzen wollen, muss Norrec Herr über einen kaum zu bändigenden Durst nach Blut werden und die Wahrheit über den schrecklichen Fluch in Erfahrung bringen, wenn er nicht für immer der Finsternis verfallen will … — Dieser Text bezieht sich auf eine vergriffene oder nicht verfügbare Ausgabe dieses Titels.
Über den Autor
Richard A. Knaak hat über 40 Romane und zahlreiche Kurzgeschichten verfasst. Seine Werke wurden weltweit in viele Sprachen übersetzt. — Dieser Text bezieht sich auf eine andere Ausgabe: Taschenbuch.
„Richard A. Knaak war ein stummer Grieche, der vor dreitausend Jahren in Karatepe für die Assyrer als Schreiber gearbeitet hat …?“ wundert sich die Wölfin.
„Mit 40 Romanen, nicht lausigen zwei Gedichten!“
„Dann nimmst du vielleicht mal die Aufforderung von Amazon wahr und lässt die Produktinformationen aktualisieren, du hämischer Kindskopf?“
„Für mich ist der Verkauf dieses Produkts vollständig akzeptabel. An der Nekromantin, dem größenwahnsinnigen Feldherrn, der Hexe, dem verrückten Magier, zwei Wiedergängern, allerlei Ungeheuern, Dämonen und wahren Teufeln herrscht doch eh kein homerischer Zweifel. Ich aktualisier lieber den Wiki-Artikel über Herrn Knaak, das geht einfacher.“
„Und weil du Weihnachten so viel Altpapier verschenkt hast, musst du wohl dringend deine Homerischen Hymnen nachkaufen.“
„Phh. Schau mal in den Briefkasten.“
„Wolf, Wolf, Wolf …“
— Viel Glück im neuen Jahr; wir werden es alle brauchen.
Der goldene Ginster der Sonne auf dem Strand und dem Meer
——— Sappho:
übersetzt und herausgegeben in:
Raoul Schrott: Die Erfindung der Poesie. Gedichte aus den ersten viertausend Jahren,
Die andere Bibliothek, Frankfurt am Main 1997:
I
An meinem bett stand sie
die dämmerung in ihren
sandalen und weckte mich
gerade in diesem moment
~~~\~~~~~~~/~~~
II
Dieser morgen war
der goldene ginster
der sonne auf dem
strand und dem meer
~~~\~~~~~~~/~~~
III
In der mitte des tages
wenn in der senkrecht
herab fallenden hitze
die erde glüht dannschlagen die zikaden
das lied aus ihren
flügeln noch einen
halben ton höher an
~~~\~~~~~~~/~~~
IV
An diesem nachmittag
flochten die mädchen
blumen zu girlanden
nur für ihre hochzeit
~~~\~~~~~~~/~~~
VI
Der mond in der dämmerung
und die mädchen nehmen ihren
platz ein wie um einen altar
~~~\~~~~~~~/~~~
VIII
Die fetten schenkelknochen
einer weißen ziege werde ich
dir opfern auf deinem altar
~~~\~~~~~~~/~~~
X
Der schlaf gießt auf ihre augen
sein dichtes dunkel@~>~~
Mit dem kopf
auf der brust eines mädchens
~~~\~~~~~~~/~~~
XIV
Ich glaube selbst die arme ausgestreckt
könnte ich den himmel nicht berühren
~~~\~~~~~~~/~~~
XV
Ich verlange und ich brenne
@~>~~
Du bist es der mich brät …
~~~\~~~~~~~/~~~
XVI
Ich weiß nicht warum
ich bin entzweigerissen
~~~\~~~~~~~/~~~
XVII
Ich liebe was mich liebt • die liebe hat
glaube ich ihren anteil an der sonne
~~~\~~~~~~~/~~~
XVIII
Im traum hab ich mit dir
geredet • göttin • Kypris
~~~\~~~~~~~/~~~
XXX
Ich habe dich lange schon geliebt
Atthis als du noch ein mädchen
warst und nicht einmal hübsch
~~~\~~~~~~~/~~~
XXXIX
Wie eine rebe die sich um einen pfahl
nach oben rankt
~~~\~~~~~~~/~~~
XXXXIV
Muß ich dich daran erinnern
Kleïs daß im haus eines dichters
niemand vor schmerz schreit?
~~~\~~~~~~~/~~~
XXXXVIII
Ein bauerntrampel hat es dir angetan
eine die nicht einmal weiß wie man
ein kleid leicht über die knöchel hebt
~~~\~~~~~~~/~~~
LII
[Alkaios zu Sappho]
Ich möchte dir etwas sagen doch
eigentlich trau ich mich nicht —[Sappho zu Alkaios]
Alles was gut und recht ist mein lieber
wenn du was anderes als bumsen
im kopf hättest dann wäre es dir längst
schon über die lippen gekommen
Ansichten von Sappho (chronologisch, zum selbstständigen Zuordnen):
- Marc-Charles-Gabriel Gleyre: Le coucher de Sappho, 1867,
Öl auf Leinwand, 108 cm × 72 cm, Musée cantonal des Beaux-Arts, Lausanne; - Charles August Mengin: Sappho, 1877, Öl auf Leinwand,
230,7 cm × 151,1 cm, Manchester Art Gallery; - Sir Lawrence Alma-Tadema: Sappho and Alcaeus, 1881,
Öl auf Leinwand, 66 cm x 122 cm, The Walters Art Museum; - Léon Bazille Perrault: Sapho (sic), 1891;
- uncredited;
- uncredited;
- Laurence Koe: Sappho, Öl auf Leinwand, 103 cm x 27,5 cm, Bonhams, London;
- Ego Rodriguez: Sappho, January 4th, 2013.
Grillen mit Homer
Update zu So eine Art Käse-Cocktail oder Mehl-Flip und Murrst:
Höre mich jetzt, Eumaios, und hört, ihr übrigen Hirten!
Rühmend red‘ ich ein Wort, vom betörenden Weine besieget,
Welcher den Weisesten oft anreizt zum lauten Gesange,
Ihn zum herzlichen Lachen und Gaukeltanze verleitet,
Und manch Wort ihm entlockt, das besser wäre verschwiegen.
Aber weil das Geschwätz doch anfing, will ich’s vollenden.Homer: Odyssee, XIV. Gesang, Zeile 462 bis 467, ca. 800 vor Christus.
Wer hätte geglaubt, dass selbst die Odyssee erheiternde Momente hat. Für Stellen wie „Gott gibt uns dieses, und jenes versagt er, wie es seinem Herzen gefällt; denn er herrschet mit Allmacht“ wünscht man sich eigene Altgriechischkenntnisse, um sich nicht allein auf die — unzweifelhaft seit über zwei Jahrhunderten maßgebliche und vorbildlich genaue — Übersetzung von Johann Heinrich Voß verlassen zu müssen; das ist nämlich in einer vorarchaischen Geschichte in auffallender Weise die gewinnende Resignation vor der höheren Gewalt, wie man sie eigentlich erst im Christentum erwartet. Der Satz ist dem Schweinehirten Eumaios zugeteilt, der nicht zu besonderer Tapferkeit, gar Heldentum verpflichtet ist. Dann aber erfreut wiederum die fein unterscheidende Charakterzeichnung. So oder so muss erstaunen, wie lange dramaturgische Regeln schon gelten: noch bevor sie formuliert wurden.
Voß hat erst die Odyssee übersetzt (1781), danach die Ilias (1793). Darum, von wann und von wem seine Vorlagen stammen, ja ob jemand namens Homer überhaupt jemals gelebt hat, tobt eine zähere, sehr viel besser begründete Kontroverse als um Shakespeare. Sollte ein Homer auf Erden gewandelt, gesungen und geschrieben haben, wäre dem Gang der Handlung nach die Ilias sein Jugend-, die Odyssee sein Alterswerk; dazwischen entstanden Homerische Hymnen (die wir uns wegen gesteigerten Interesses beizeiten vornehmen werden).
Um 800 vor Christus waren die Griechen noch lebensfroh — mit so viel und so wenig Grund wie heute: Dauernd musste in irgendeinen Krieg gezogen werden, der allerdings als Einrichtung noch bis ungefähr 1915 nach Christus in viel besserem Ruf stand als seit 1945. Immerhin gab es offenbar reichlich und handfest zu essen. Homer (oder wer auch immer) überliefert sogar das Rezept für eine Variation der Fünffachen Schale, auch wenn Voß Weinmus dazu sagt. Ansonsten gibt es viel Schweinernes nach einem Verfahren, das man als gegrillt ansprechen muss. Ich bitte wie immer um freundliche Nachricht, wenn noch mehr Stellen zu diesem Thema auffallen!
Kann man eigentlich aus Schwein Stifado machen?
——— Homer: Ilias, VIII. Gesang, Zeile 542 bis 565 (der Schluss):
Also redete Hektor; und laut herriefen die Troer.
Sie nun lösten die Rosse, die schäumenden unter dem Joche,
Banden sie dann mit Riemen, am eigenen Wagen ein jeder.
Schnell nun führte man Rinder zum Schmaus‘ und gemästete Schafe
Her aus der Stadt; auch Wein, den herzerfreuenden, trug man
Reichlich, und Brot aus den Häusern, und Holz auch las man in Menge.
Und man brachte den Göttern vollkommene Festhekatomben;
Und dem Gefild‘ entwallte der Opferduft in den Himmel,
Süßes Geruchs: doch verschmäheten ihn die seligen Götter,
Abgeneigt; denn verhasst war die heilige Ilios jenen,
Priamos selbst, und das Volk des lanzenkundigen Königs.Sie dort, mutig und stolz, in des Kriegs Abteilung gelagert,
Saßen die ganze Nacht; und es loderten häufige Feuer.
Wie wenn hoch am Himmel die Stern‘ um den leuchtenden Mond her
Scheinen in herrlichem Glanz, wann windlos ruhet der Aither;
Hell sind rings die Warten der Berg‘, und die zackigen Gipfel,
Täler auch; aber am Himmel eröffnet sich endlos der Aither;
Alle nun schaut man die Stern‘, und herzlich freut sich der Hirte.
So viel, zwischen des Xanthos Gestad‘ und den Schiffen Achaias,
Loderten, weit erscheinend vor Ilios, Feuer der Troer.
Tausend Feuer im Feld‘ entflammten sie; aber an jedem
Saßen fünfzig der Männer, im Glanz des lodernden Feuers.
Doch die Rosse, mit Spelt und gelblicher Gerste genähret,
Standen bei ihrem Geschirr, die goldene Früh‘ erwartend.
——— Homer: Ilias, XI. Gesang, Zeile 624 bis 643:
Weinmus mengte nun ihnen die lockige Hekamede,
Die aus Tenedos brachte der Greis, wie Achilleus sie einnahm,
Tochter des hochgesinnten Arsinoos, die die Achaier
Ihm erwählt, dieweil er im Rat vorragte vor allen.
Diese rückte zuerst die schöne geglättete Tafel
Mit stahlblauem Gestell vor die Könige; mitten darauf dann
Stand ein eherner Korb mit trunkeinladenden Zwiebeln,
Gelblicher Honig dabei, und die heilige Blume des Mehles;
Auch ein stattlicher Kelch, den der Greis mitbrachte von Pylos:
Welchen goldene Buckeln umschimmerten; aber der Henkel
Waren vier, und umher zwei pickende Tauben an jedem,
Schön aus Golde geformt; zwei waren auch unten der Boden.
Mühsam hob ein andrer den schweren Kelch von der Tafel,
War er voll; doch Nestor der Greis erhob ihn nur spielend.
Hierin mengte das Weib, an Gestalt den Göttinnen ähnlich,
Ihnen des pramnischen Weins, und rieb mit eherner Raspel
Ziegenkäse darauf, mit weißem Mehl ihn bestreuend,
Nötigte dann zu trinken vom wohlbereiteten Weinmus.
Beide, nachdem sie im Tranke den brennenden Durst sich gelöschet,
Freueten sich des Gesprächs, und redeten viel miteinander.
——— Homer: Odyssee, XIV. Gesang, Zeile 72 bis 82:
Also sprach er; und schnell umband er den Rock mit dem Gürtel,
Ging zu den Köfen, worin der Ferkel Menge gesperrt war,
Und zwei nahm er heraus, und schlachtete beide zur Mahlzeit;
Sengte sie, haute sie klein, und steckte die Glieder an Spieße,
Briet sie über der Glut, und setzte sie hin vor Odysseus,
Brätelnd noch an den Spießen, mit weißem Mehle bestreuet;
Mischte dann süßen Wein in seinem hölzernen Becher,
Setzte sich gegen ihm über, und nötigt‘ ihn also zum Essen:
Iss nun, fremder Mann, so gut wir Hirten es haben,
Ferkelfleisch; die gemästeten Schweine verzehren die Freier,
Deren Herz nicht Furcht vor den Göttern kennet, noch Mitleid.
——— Homer: Odyssee, XIV. Gesang, Zeile 100 bis 117:
Rinderherden sind zwölf auf der Feste, der weidenden Schafe
Eben so viel, auch der Schweine so viel, und der streifenden Ziegen.
Mietlinge hüten sie teils, und teils leibeigene Hirten.
Hier in Ithaka gehn elf Herden streifender Ziegen
Auf entlegenen Weide, von wackern Männern gehütet.
Jeder von diesen sendet zum täglichen Schmause den Freiern
Immer die trefflichste Ziege der fettgemästeten Herde.
Unter meiner Gewalt und Aufsicht weiden die Schweine,
Und ich sende zum Schmause das auserlesenste Mastschwein.
Also sprach er; und schnell aß jener des Fleisches, begierig
Trank er des Weins, und schwieg; er dachte der Freier Verderben.
Als er jetzo gespeist, und seine Seele gelabet,
Füllete jener den Becher, woraus er zu trinken gewohnt war,
Reichte den Wein ihm dar; und er nahm ihn mit herzlicher Freude,
Redete jenen an, und sprach die geflügelten Worte:
Lieber, wer kaufte dich denn mit seinem Vermögen? Wie heißt er,
Jener so mächtige Mann und begüterte, wie du erzählest,
Und der sein Leben verlor, Agamemnons Ehre zu rächen?
——— Homer: Odyssee, XIV. Gesang, Zeile 409 bis 456:
Also besprachen diese sich jetzo untereinander.
Und nun kamen die Schwein‘ und ihre Hirten vorn Felde.
Diese schlossen sie drauf in ihre Ställe zum Schlafen,
Und laut tönte das Schreien der eingetriebenen Schweine.
Aber seinen Gehilfen befahl der treffliche Sauhirt:
Bringt das fetteste Schwein, für den fremden Gast es zu opfern,
Und uns selber einmal zu erquicken, da wir so lange
Um weißzahnige Schweine Verdruss und Kummer erduldet,
Während andre umsonst all‘ unsere Mühe verprassen!
Also sprach er, und spaltete Holz mit dem grausamen Erze.
Jene führten ins Haus ein fett fünfjähriges Mastschwein,
Stellten es drauf an den Herd. Es vergaß der treffliche Sauhirt
Auch der Unsterblichen nicht, denn fromm war seine Gesinnung!
Sondern begann das Opfer, und warf in die Flamme das Stirnhaar
Vom weißzahnigen Schwein, und flehte den Himmlischen allen,
Dass sie dem weisen Odysseus doch heimzukehren vergönnten;
Schwung nun die Eichenkluft, die er beim Spalten zurückwarf,
Schlugs, und sein Leben entfloh; die andern schlachteten, sengten,
Und zerstückten es schnell. Das Fett bedeckte der Sauhirt
Mit dem blutigen Fleische, von allen Gliedern geschnitten;
Dieses warf er ins Feuer, mit feinem Mehle bestreuet.
Und sie schnitten das übrige klein, und steckten’s an Spieße.
Brieten’s mit Vorsicht über der Glut, und zogen’s herunter,
Legten dann alles zusammen auf Küchentische. Der Sauhirt
Stellte sich hin, es zu teilen; denn Billigkeit lag ihm am Herzen.
Und in sieben Teile zerlegt‘ er alles Gebratne:
Einen legt‘ er den Nymphen, und Hermes, dem Sohne der Mäa,
Betend den andern hin; die übrigen reicht‘ er den Männern.
Aber Odysseus verehrt‘ er den unzerschnittenen Rücken
Vom weißzahnigen Schwein, und erfreute die Seele des Königs.
Fröhlich sagte zu ihm der erfindungsreiche Odysseus:
Liebe dich Vater Zeus, wie ich dich liebe, Eumaios,
Da du mir armen Manne so milde Gaben verehrest!
Drauf antwortetest du, Eumaios, Hüter der Schweine:
Iss, mein unglückseliger Freund, und freue dich dessen,
Wie du es hast. Gott gibt uns dieses, und jenes versagt er,
Wie es seinem Herzen gefällt; denn er herrschet mit Allmacht.
Sprach’s, und weihte den Göttern die Erstlinge, opferte selber
Funkelnden Wein, und gab ihn dem Städteverwüster Odysseus
In die Hand; er saß bei seinem beschiedenen Anteil.
Ihnen verteilte das Brot Mesaulios, welchen der Sauhirt
Selber sich angeschafft, indes sein König entfernt war:
Ohne Penelopeia, und ohne den alten Laertes,
Hatt‘ er von Taphiern ihn mit eigenem Gute gekaufet.
Und sie erhoben die Hände zum leckerbereiteten Mahle.
Und nachdem die Begierde des Tranks und der Speise gestillt war,
Trug Mesaulios wieder das Brot von dannen; und alle,
Von dem Brot und dem Fleische gesättigt, eilten zur Ruhe.
Bilder: wikiHow: Ein ganzes Schwein braten („Es gibt keine festgelegten Anleitungen“), gemeinfrei.
So eine Art Käse-Cocktail oder Mehl-Flip
Update zu Anständig essen und Tumultuantenharanguieren (sed iam satis):
Entwarnung: Es besteht kein Grund mehr, sich über altbackenen Studienratshumor zu mokieren. Die ihm ernsthaft obliegen, haben sich im Lauf der Jahrzehnte biologisch selbst erledigt, ihre literarischen Hinterlassenschaften können jetzt getrost dorthin eingehen, wo sie immer hingehört haben: in den Zustand einer liebenswert schrulligen Folklore.
Mittlerweile konnte ich es sogar moralisch vertreten, von meinen Eltern im Mittelfränkischen — lang sollen sie leben — meine Kindheitserinnerung in Gestalt von Einfach köstlich als eine Art vorgezogenes Erbteil zu bestellen; materieller Wert auf Amazon.de: 1 Cent plus 3 Euro Porto.
Geschichten über Versorgerehen, in denen ein Patriarch aus der Mittelschicht, der über eine Sekretärin verfügt, mit seiner Frau ernsthaft über die Zusammenstellung eines Mittagessens aneinandergerät; Anekdoten über gehobene militärische Dienstgrade, deren Witz darin liegt, dass jemand mit ihnen redet wie mit normalen Menschen; behandlungswürdige Alkoholkrankheit als hinzunehmender, wenn nicht gar erheiternder Charakterzug und als sozial förderliche und vor allem „typische“ Verhaltensweise ganzer Völkerschaften, meist der eigenen Region, immer aber der Russen, Franzosen und Iren, gern dargestellt anhand von Männern, die sich auf dem Heimweg an biegsame Laternen klammern und zu Hause von unermüdlich wartenden Ehefrauen mit Nudelhölzern empfangen werden; gutmütige, lebenslustige Mönche, deren Hauptaufgabe in Bierbrauen und deren Seelsorge im Verführen von Frauen aller Altersstufen besteht; gereimte Kochrezepte in abenteuerlicher Umschrift deutscher Dialekte.
Die lyrischen Formen und die Zeichnungen sind technisch einwandfrei gebaut: Bei allem, was recht ist, geraten in so eine studienrätliche Anthologie keine Pfuscher, eher schon gelernte Reklametexter, Schildermaler und richtige Schriftsteller — zur Würze und zur Rechtfertigung des lukullischen Wohllebens, das immer mit einem gewissen schlechten Gewissen einhergeht und von ordentlichen Bürgern nur an Sonn- und Feiertagen mit dem gleichen schlechten Gewissen unterlassen würde, durchsetzt mit anerkannten Klassikern von allerhand regional noch nicht ganz verdrängten Mundartverseschmieden, die offenbar die Lateinschule absolviert haben, Roda Roda bis zu Wilhelm Busch aufwärts, weil schließlich „schon Goethe“ einen „guten Tropfen“ zu schätzen wusste.
Als Kind war mir dergleichen noch genießbar, weil erlaubt, ja unterstützt von einem kulturell nicht übermäßig beflissenen, aber kulturelle Errungenschaften wertschätzenden Eisenbahnerehepaar, und für den kindlich unausgebildeten Geschmack dann doch irgendwie lustig, darin ähnlich den Schwedischen Liebesgeschichten in der Regalreihe dahinter, die keineswegs erlaubt waren —
— und einen sehr viel höheren Frauenanteil unter den Beitragsstiftern haben als der Sampler über „Tafel- und Gaumenfreuden“. In demselben zuckt man ganz zusammen, wenn wirklich mal eine Frau aufgenommen wurde. Unter den drei Illustratoren sind die Bilder der Trude Richter (nicht verwandt) nicht von den anderen unterschieden, dafür erinnert man sich daran, dass der Herr Hirnbeiß in der Münchner Abendzeitung all die Jahrzehnte von Franziska Bilek getextet wurde; bei dem bald überschauten, weil ständig wiederholten Bildmaterial muss der Hirnbeiß weniger eine Zeichenarbeit denn eine Pointenfabrikation aus tagesaktuellen Schnellschüssen gewesen sein.
Über das vermittelte Frauenbild der Frau Bilek würde man heute mindestens diskutieren. Gerettet wird sie durch ihre Selbstironie, das funktioniert meistens. Historisch schätzbar wird ihr Textbeitrag für Einfach köstlich durch die selbstverständlich benutzte Bezeichnung „Schwips“ und das Rezept für die meines Wissens exklusiv bei dem Römer Horaz belegte Fünffache Schale der alten Griechen.
——— Franziska Bilek:
Der Festzug des Dionysos
in: Einfach köstlich. Heitere Geschichten von Tafel- und Gaumenfreuden.
Herausgegeben von Helmuth Leonhardt.
Mit über 120 farbigen und einfarbigen Illustratiionen (Trude Richter, Alfred Resch, Willi Wörmann),
Mosaik Verlag, Hamburg ca. 1960:
Dionysos ist der Gott des Weines, ja, er hat sogar den Weinbau erfunden, wohlgemerkt den Weinbau, nicht die Fabrikation des Weines. Für alkoholfreie Getränke ist er nicht zuständig. Er ist ein sehr vergnügter Gott und hat, wo es nur immer ging, Festzüge veranstaltet. Er selbst fuhr dabei auf einem von ersten Künstlern entworfenen Wagen, der von Tigern gezogen wurde. Bei diesen Zügen ging es recht toll zu. Ein dicker Herr, der auf einem Esel ritt und das Festprogramm durch seine unprogrammäßigen Späße fast in Unordnung brachte, wurde als sein Ziehvater Silen bezeichnet.
Die Frauen, die bei dem Festzuge mitwirkten, stammten aus Thrazien. Diese Mädchen, Mänaden oder Bacchantinnen genannt, eigneten sich ganz besonders dazu, denn sie waren sehr lustig, und die Polizei hatte alle Augen zuzudrücken. Ihre Uniform bestand in zerzausten Haaren, Kränzen aus Efeu und mit Schlangen umwundenen Thyrsusstäben. Dionysos wußte genau, was ein Gläschen Wein bei jungen Mädeln ausrichtet. Als er einmal hinter der Nymphe Nicäa, die nichts von ihm wissen wollte, her war, verwandelte er das Flüßchen, aus dem sie gerade Wasser trinken wollte, in schieren Wein. Die Kleine bekam einen Schwips, und so ging alles viel besser. Man sollte gar nicht meinen, daß Dionysos auch die Mischgetränke erfunden hat. Aber man höre: Beim Dionysosfest in Athen erhielt der Sieger nach einem Wettlauf die sogenannte „Fünffache Schale“. Das Getränk war eine Mischung aus Wein, Honig, Käse, Mehl und Öl. Das muß so eine Art Käse-Cocktail oder Mehl-Flip gewesen sein.
Bacchantinnen: Henrietta Emma Ratcliffe Rae: A Bacchante, 1885;
Ferdinand Leeke: Fliehende Nymphen, Öl auf Leinwand, München 1923;
John Collier: Maenads, 1886, Öl auf Leinwand, Southwark Art Collection;
Bacchus: Trude Richter, Alfred Resch oder Willi Wörmann für Einfach köstlich,
Lizenzausgabe Bertelsmann, ca. 1960.
Weil er ihn für einen völligen Toren hielt
Unter den Anweisungen in als hilfreich dargestellten Medien herrscht ein uferloser Zynismus, der Unterschied zwischen analogen und digitalten Medien liegt nur noch in der Altersgruppe, die demoralisiert werden soll. Harmlosere Beispiele sind noch: „Keep calm and stay happy“ oder „One of the simplest ways to stay happy is letting go of the things that make you sad“, was sich von der unausgesprochenen über die offen nahegelegte Verpflichtung zu Glück weiter über ganze carnegieske Industrien bis hin zu Kunstformen, die vorgeben, wenigstens bei der Herstellung Spaß zu machen, steigert.
Wann ist das eigentlich so offensichtlich geworden? Ich hab Angst.
——— Herodot von Halikarnassos: Kroisos und Solon, Historien Buch I,30-33, ab ca. 430 v. C.,
Übs. nach Johann Christian Felix Bähr, 1855–1861:
Eben deswegen nun und auch wohl, um sich umzusehen, war Solon außer Landes gereist und nach Ägypten zu Amasis gekommen und dann auch nach Sardeis zu Kroisos. Hier wurde er nach seiner Ankunft gastlich von Kroisos in der königlichen Burg aufgenommen und dann, am dritten oder vierten Tag, führten Diener des Kroisos auf dessen Geheiß hin Solon in den Schatzkammern herum und zeigten im alles, was Großes und Herrliches da war. Nachdem Solon dies alles , so wie es ihm gelegen war, betrachtet und beschaut hatte, fragte ihn Kroisos Folgendes: „Gastfreund aus Athen! Vielfach hat man uns schon von dir erzählt, sowohl von deiner Weisheit als auch von deiner Wanderung, wie du aus Wissbegier viele Länder, um dich umzusehen, besucht hast: daher kam mir jetzt das Verlangen, dich zu fragen, ob du schon einen Menschen gesehen hast, der unter allen der glücklichste war.“ Kroisos fragte danach, weil er eben sich für den glücklichsten unter allen Menschen ansah. Weil Solon aber keineswegs schmeicheln, sondern sich an die Wahrheit halten wollte, antwortete er ihm: „O König! Den Tellos von Athen.“ Kroisos verwunderte sich sehr über diese Antwort und fragte in seinem Eifer: „Wieso glaubst du, dass Tellos der glücklichste sei?“ Der aber antwortete: „Einerseits lebte Tellos, als der Staat blühte, und hatte brave und tüchtige Söhne; er erlebte es auch, wie diesen allen Kinder geboren wurden und auch am Leben blieben; andererseits wurde ihm, während er, soweit es bei uns angeht, in glücklichen Lebensverhältnissen lebte, das glänzendste Lebensende zu Teil. Denn als die Athenern mit ihren Nachbarn bei Eleusis in Kampf geraten waren, eilte er herbei, schlug die Feinde in die Flucht und erlitt dabei den rühmlichsten Tod: die Athener bestatteten ihn auf öffentliche Kosten da, wo er gefallen war und erwiesen ihm große Ehre.“
Solon hatte durch diese Erzählung von Tellos, dessen großes Glück er pries, Kroisos noch begieriger gemacht; und so fragte er Solon, wen er denn auf dem zweiten Rang nach jenem sehe. Er dachte nämlich, er würde doch wenigstens den zweiten Preis davontragen. Aber Solon nannte Kleobis und Biton. Diese waren nämlich von Geburt Argiver, hatten hinreichend zu leben und dazu eine solche Körperkraft, dass sie beide in gleicher Weise in den Kampfspielen den Sieg davongetragen hatten. Es wird aber von ihnen auch noch Folgendes erzählt: Bei einem Fest, das die Argiver der Hera feierten, musste ihre Mutter unbedingt auf einem Wagen zum Heiligtum gebracht werden. Als nun die Rinder nicht zur rechten Zeit vom Feld eintrafen, spannten sich die Jünglinge von der Zeit gedrängt selbst an die Deichsel und zogen den Wagen, auf dem ihre Mutter fuhr. So brachten sie ihre Mutter eine Strecke von fünfundvierzig Stadien im Wagen zum Heiligtum. Nachdem sie dieses vollbracht hatten und von der Festversammlung erblickt worden waren, wurde ihnen das beste Lebensende zu Teil, und es zeigte an ihnen die Gottheit, dass es für den Menschen besser sei, tot zu sein als zu leben. Die umstehenden Argiver priesen nämlich die Stärke der Jünglinge, die Argiverinnen aber ihre Mutter, weil sie solche Kinder hatte. Da trat die Mutter voll Freude über die Tat und über diese Ruhmesworte vor das Götterbild und flehte, die Göttin möge ihren Kindern Kleobis und Biton, die ihr so große Ehre erwiesen hatten, das gewähren, was für den Menschen zu erlangen am besten sei. Als man nach diesem Gebet das Opfer dargebracht und Festschmaus gehalten hatte, schliefen die Jünglinge im Tempel ein und standen nicht mehr auf, sondern verblieben in diesem Ende ihres Lebens. Die Argiver aber ließen ihnen Bildsäulen fertigen und weihten sie nach Delphi, weil sie so treffliche Männer geworden waren.
Diesen nun erkannte Solon den zweiten Preis des irdischen Glücks zu; Kroisos aber wurde aufgebracht und sprach: „Gastfreund aus Athen, gilt dir denn unser Glück für gar nichts, so dass du uns nicht einmal gewöhnlichen Bürgern gleich achtest? Da erwiderte Solon: „O Kroisos! Mich der ich wohl weiß, wie die Gottheit durchaus von Neid und Unruhe erfüllt ist, fragst du über menschliche Dinge. In der langen Zeit eines Lebens gibt es vieles zu sehen, was man nicht will, vieles aber auch zu ertragen; ich setze nämlich die Grenze des Lebens auf siebzig Jahre; diese siebzig Jahre machen fünfundzwanzigtausend und zweihundert Tage, wenn kein Schaltmonat eingerechnet wird. Insofern nun aber ein Jahr um einen Monat länger sein soll als das andere, damit die Jahreszeiten zur gehörigen Zeit eintreffen, kommen zu den siebzig Jahren noch fünfunddreißig Schaltmonate hinzu, und aus diesen Monaten ergeben sich tausend und fünfzig Tage. Von all diesen Tagen, die auf die siebzig Jahre gehen, sechsundzwanzigtausend zweihundertundfünfzig, bringt kein Tag ein dem anderen völlig gleiches Ereignis; so also, o Kroisos, ist der Mensch ganz ein Spiel des Zufalls. Allerdings scheinst du mir im Besitz großen Reichtums zu sein und ein König über viele Menschen. Das aber, wonach du mich fragst, kann ich dir nicht angeben, bevor ich erfahren habe, dass dein Leben glücklich geendet hat. Denn fürwahr ist derjenige, der in großem Reichtum steht, darum nicht glücklicher als derjenige, der nur sein tägliches Brot zu essen hat, wenn ihm nicht ein Glück zu Teil wird, im Besitz all dieser Güter sein Leben wohl zu enden. Viele Menschen, die sehr reich sind, sind darum nicht glücklich; viele aber, die nur mäßig zu leben haben, sind glücklich. Derjenige nun, der sehr reich, aber unglücklich ist, hat vor dem Glücklichen nur zwei Dinge voraus, dieser aber vor dem Reichen und Unglücklichen gar vieles. Jener ist nämlich eher im Stande, seine Gelüste zu befriedigen und ein großes Unglück, das ihn trifft, zu ertragen; der andere aber hat das vor ihm voraus, dass er zwar nicht wie jener auf gleiche Weise ein Unglück ertragen und seine Gelüste befriedigen kann, aber durch sein Wohlbefinden davor bewahrt ist: er hat gesunde Glieder, ist ohne Krankheit und kennt kein Leid; er hat schöne Kinder und selbst eine schöne Gestalt. Wenn er nun überdies noch sein Leben wohl endet, so ist er eben derjenige, den du suchst, und verdient den Namen eines Glücklichen. Bevor er aber gestorben ist, soll man sein Urteil zurückhalten und ihn nicht glücklich nennen, sondern nur von ihm sagen, es gehe ihm gut. Nun ist es zwar für einen Menschen nicht möglich, dies alles zusammen zu erlangen, gerade wie es ja auch kein Land gibt, das sich selbst in allem genügt, sondern das eine hat und des anderen bedarf; dasjenige Land aber, das das meiste besitzt, gilt für das beste: ebenso kann auch des Menschen Leib sich allein nicht genügen, denn das eine hat er und des anderen bedarf er. Wer nun aber dauernd das meiste besitzt und dann guten Mutes sein Leben endet, der verdient, o König, nach meinem Ermessen zu Recht den Namen des Glücklichen. Denn bei jedem Ding muss man auf das Ende sehen, welchen Ausgang es nimmt: schon manchem hat die Gottheit das Glück nur gezeigt, um ihn dann von Grund auf zu vernichten.“
Diese Rede des Solon gefiel Kroisos gar nicht; er nahm daher auf Solon weiter keine Rücksicht und entließ ihn, weil er ihn für einen völligen Toren hielt, der die Güter der Gegenwart nicht beachte, sondern ihn auffordere, auf das Ende eines jeden Dinges zu sehen.
Soundtrack: Nana Mouskouri: Glück ist wie ein Schmetterling, 1977 nach Dolly Parton, 1974.
Das Fanvideo ist für eine Laienparodie ungewöhnlich aufwändig organsisiert, dabei schlicht durchgehalten. Wir beobachten darin nicht Frau Mouskouri, aber der Sound ist das Original. Das Beste ist die penetrante Beiläufigkeit des Schildes „Tür schließt automatisch“.
Bild: Cover W. Béran Wolfe: How to be Happy Though Human, 1931 via The Literary Gift Company.
Fabel zur Senkung der Arbeitsmoral
Die Ameise kam an der Heuschrecke Haus und klagte: „Der Winter naht! Die Nächte werden lang und kalt. Kannst du mir nicht ein paar CDs leihen?“
Die Heuschrecke fragte zurück: „Hast du dir denn im Sommer keine MP3s gesaugt?“
„Den Sommer habe ich damit verbracht“, sprach die Ameise, „mein Fortkommen im Ameisenhaufen voranzutreiben. Und wenn du mir ein paar Bücher aufs Kindle spielen könntest? Die 48 Gesetze der Macht habe ich mir schon angeeignet.“
„Nun, so magst du im Winter n-tv gucken“, versetzte die Heuschrecke und schloss die Tür.
Für Äsop. Und Heinrich Böll natürlich.
Kluger Heuschreck: Rachel Less Than One: Of Course Cartoon-Me Is Reading, 2013.
The Grasshopper and the Ants: Walt Disney Silly Symphonies, United Artists 1934.
Mille tre
Beim Nachlesen in Büchern, die mehr als zweihundert Jahre alt sind, macht immer die Anakreontik den meisten Spaß: Schulhof-, Kneipen- und Altherrenwitze, da ist für alle Generationen was dabei, und alles mit kulturhistorischem Anspruch.
Mich frappiert unter der ganzen Fülle der Leporellos auf YouTube etwas, dass Leporello kaum je Leporellos benutzt. In der größten, schönsten, vielschichtigsten und seit 1787 erfolgreich durchgenudeltsten aller Opern Il dissoluto punito ossia Il Don Giovanni musste man einem interessierten Publikum noch nicht erklären, wer dieser Anakreon überhaupt ist, die konnten wahrscheinlich sogar das richtige Gedicht hersagen.
——— Anakreon:
XXXII. Auf seine Mädgens
ca. 550 vor Christus,
nach: Johann Nikolaus Götz (Hg.): Die Gedichte Anakreons und der Sappho Oden, Carlsruhe 1760:
Kannstu in allen Wäldern
Der Bäume Blätter zehlen;
Kannstu die Zahl der Körner
Des Sandes am Meere finden;
Dann bistu auch im Stande,
Und du allein, die Menge
der Mädgens, die mich lieben,
Gehörig auszurechen.
Zum ersten setze zwanzig,
Die aus Athen gebürtig;
Hernach noch funfzehn andre.
Dann setze ganze Schaaren
Von Liebsten aus Korinthus,
Das in Achaja lieget;
Denn da sind schöne Mädgens.
Dann zehle mir die Mädgens
Aus Ionien und Lesbos,
Aus Karien und Rhodus,
Zum wenigsten zwey tausend.
Was! sprichstu, so viel Mädgens!
Die Mädgens aus Kanobus,
Aus Syrien, und Kreta,
Wo Amor in den Städten
Geheime Feste feyert,
Verschwieg ich noch mit Fleiße.
Wie wilstu meine Liebsten
Aus Indien und Baktra
Und die um Kadix zehlen?
Registerarie Madamina, il catalogo è questo:
Ildebrando D’Arcangelo unter Riccardo Muti, Theater an der Wien 1999;
Bild: Benjamin Benchan aus Neuchâtel bemüht Beata Rydén aus Göteborg:
A song to illuminate humanity, 14. Januar 2012.