Archive for September 2020
Dying is the last thing I’ll do
Update zu Blues für Maja,
Lex Luther
und Die Ärzte:
Zu Vertonung freigegeben, bitte gegen Namensnennung und, wenn’s geht, Zugang zu einer Aufnahme. Ich stell’s mir ungefähr wie Georgia Bound von Blind Blake vor.
Hellhound on My Trail
Y’all the girls who didn’t love me
you diggin‘ the wrong grave
You girls who never loved me
you’re digging the wrong grave
The sight you’re taking from my eyes
weighs lighter than the love you never gave.
The lights in your city, the gods in your sky,
the sun on your skin, the plums in your tree
The lights in your cities, the God in your sky,
the sun on your boobs and the plums in your tree
were not my choice to hang ‚round and shine
and just the wind still moans for me.
You can set a hellhound on my trail
and black cats and bats I’ll be commanding back to you
Send all the hellhounds on my trail
so your lives and my seven deaths are coming to be true
||: You can’t deny me when you kill me
but dying is the last thing I will do. :||
BIld: The tomb of Madame de Lesdiguierres’s cat.
From an engraving in Moncrif’s Les Chats,
via Carl Van Vechten: The Tiger in the House, 1936.
Bonus Track: die Version von Robert Johnson, 1937:
Ermüdung und Verwirrung des Geistes, Eigendünkel, Unwissenheit und Hochmut (methinks, a million fools in choir are raving and will never tire)
Update zu Zwischennetzsurferey und
Wie es enden wird, vermag ein irdischer Verstand nicht zu ergründen:
Von jeher musste man sich mit Mephistopheles höchstselbst doch sehr wundern, was die Meerkatze und Meerkater in der Hexenküche für ein Gebaren an den Tag legen, wenn unerwartet vorgesetzter Besuch auftaucht. Genauer besehen müssen die Lakaien den Baron, wie er genannt werden will, noch weniger erkennen als die Hausherrin, die Hexe, die ihn auch schon länger nicht mehr getroffen hat. Derweil kochen sie weiter „breite Bettelsuppen“, lassen den Brey überlaufen, und die Hexe
mit seltsamen Geberden, zieht einen Kreis und stellt wunderbare Sachen hinein; indessen fangen die Gläser an zu klingen, die Kessel zu tönen, und machen Musik. Zuletzt bringt sie ein großes Buch, stellt die Meerkatzen in den Kreis, die ihr zum Pult dienen und die Fackel halten müssen. Sie winkt Fausten, zu ihr zu treten.
Faust spricht auf der Illustration von Harry Clarke, auch gleich in englischer Übersetzung von John Anster, 1820 ff.:
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Das ist Faustens Antwort auf die Erweiterung — „Die Hexe fährt fort“ — des Hexen-Einmal-Eins:
Die hohe Kraft
Der Wissenschaft,
Der ganzen Welt verborgen!
Und wer nicht denkt,
Dem wird sie geschenkt,
Er hat sie ohne Sorgen.
mithin eine Paraphrase über das unter Schülern gar so beliebte „Mich dünkt, die Alte spricht im Fieber.“ Da scheint es, Faust drängt schon sehr vom Gelehrten- in den Gretchenteil; im Zauberspiegel hat er sich schon in Gretchens Bild versenkt, bevor die Hausherrin überhaupt zugegen war. Als sie Fausten seinen Verjüngungstrank endlich „mit vielen Ceremonien“ verabreicht hat, kann er sich schon gar nicht mehr losreißen: „Das Frauenbild war gar zu schön!“
Der Schlüssel für das Benehmen der äffischen, um nicht zu sagen: affigen Hausdienerschaft mag ich aus alter Neigung am liebsten in dem großen Buch erkennen, das von der Hexe — „mit großer Emphase fängt an aus dem Buche zu declamiren“ — angeschleppt und von Goethe recht beiläufig in zwei Regieanweisungen erwähnt wird: Während des besagten, denkbar irrwitzigen Hexen-Einmal-Eins dienen die Meerkatzen als Pult, werden also wortwörtlich von einem Buch geknechtet. Wenn Sie mich fragen: Süchtig sind die.
——— Illustriertes Hausbuch für christliche Familien:
1913, cit. nach Ralf Schneider: Die Suchtfibel: Wie Abhängigkeit entsteht und wie man sich daraus befreit. Informationen für Betroffene, Angehörige und Interessierte, Schneider Verlag, Hohengehren seit 1988, Seite 7:
Die Lesesucht, die im Lesen weder Maß noch Ziel kennt, ist eine traurige Krankheit unserer Zeit und zieht bei vielen Menschen, namentlich bei der Jugend, die schlimmsten Folgen nach sich.
1. Die Lesesucht wirkt betörend auf die Gesundheit des Leibes und der Seele. Wer sich mit blinder Hast dem Lesen überantwortet, verzichtet häufig auf die nötige körperliche Bewegung in frischer Luft. Die Sucht zum Lesen steigert sich, und man will sich nur höchst ungern von dem Gegenstand der liebgewordenen Lesung trennen. Man gönnt sich deshalb kaum Zeit, seine Mahlzeiten zu halten, und verzichtet selbst auf manche Stunden der nächtlichen Ruhe. Dass dies die körperliche Gesundheit schädigen muss, leuchtet ein. Allein weit gefährlicher ist die fieberhafte Aufregung, die das hastige Lesen und Verschlingen von Büchern hervorbringt. Der Geist wird zu sehr angestrengt, die Nerven werden überreizt; dadurch wird aber die Verdauung gestört, der Blutumlauf gehemmt, und der Mensch büßt langsam seine leibliche und geistige Gesundheit.
2. Die Lesesucht verhindert auch die wahre Geistesbildung. Wie allzu vieles und gieriges Essen den Magen, so beschwert das viele Lesen den Geist, verwirrt den Kopf, verwildert das Herz und die Phantasie, fördert die Oberflächlichkeit und macht den Menschen untauglich zu ersprießlicher Tätigkeit. Wollte jemand glauben, er könne durch vieles und eiliges Lesen etwas lernen und seinen Geist bilden, so betrügt er sich; es ist eine unnütze, müßige, ja schädliche Arbeit. Das Verschlingen von Büchern erzeugt nur denkfaule Köpfe, halb gebildete, die zwar wähnen, sie verstehen alles, und über alles vorschnell urteilen, aber sich dabei nur lächerlich machen und ihre Geistesblöße darlegen. Es ist auch nicht anders möglich. Bei dem hastigen Lesen hat man nicht die Geduld, bei einem nützlichen Gedanken länger zu verweilen, über das Gelesene nachzudenken, es richtig aufzufassen und dem Gedächtnis einzuprägen. Die Blätter des Buches werden fast nur überflogen. Was bleibt da anderes zurück als eine dunkle Erinnerung, Ermüdung und Verwirrung des Geistes, Eigendünkel, Unwissenheit und Hochmut?
Bilder: Harry Clarke: Creatures Reading, über Vers 2573 bis 2576 in der Hexenküche,
Übersetzung John Anster, Blackwood’s Magazine 1820,
für Johann Wolfgang Goethe: Faust: A Dramatic Mystery. From the German by John Anster, 1835,
als Faust by Goethe, Nachdruck der Ausgabe bei George G. Harrap & Co., Ltd., London 1925,
Calla Editions, Mineola, New York 2013, via Leo Boudreau, 14. Dezember 2014.
Drest thus, I seem a different creature: Das Frauenbild war gar zu schön.
Soundtrack: Cat Clyde: Toaster, aus: Good Bones, 2020:
Well it’s the end of September and the sun is still shining bright
And there’s no whisky in the freezer, so I guess I’ll punch another bowl again
I’m smoking dirty cigarettes cause I can’t afford the ones I like
It keeps my attention now I can’t remember what I was just thinking
Wuchtig, in gedrängter Vierzeil‘ singe ich vom Cinnamone
Update zu Hastig die ärmlichen Verse
und Nach einer guten Mahlzeit:
Wir erleben einen ganz ungewohnt aufgeräumten Arno Schmidt in Kalauerlaune. Aus der Reihe: So sinnenfroh konnte der alte missmutige Zausel, nein: Dichterfürst also auch.
Laut den Anmerkungen der Bargfelder Ausgabe konnte bis zur Auflage von 1992 „über Anlaß und Entstehung des von den Herausgebern so genannten ‹Zimtfragments› […] nichts in Erfahrung gebracht werden.“ Als Textgrundlage konnte nur das Manuskript dienen, das vermutlich mit Schmidts restlichem Nachlass im Stiftungsarchiv zu Bargfeld aufbewahrt wird.
Die Niederschrift „um“ 1949 erklärt sich aus der 29. Strophe mit der Jahresangabe, allerdings ist die Strophenreihung auf keine stringente Abfolge angelegt, sondern als Sammlung von Ideen ohne zwingende Reihenfolge. Niederschrift innerhalb ein und desselben Jahres liegt nahe, weil man solche Bierideen erfahrungsgemäß durchziehen muss, solange sie frisch sind.
Zur biographischen Einordnung war Schmidt 1949 mit seiner Frau Alice wohnhaft im Mühlenhof der Cordinger Mühle in der Lüneburger Heide, wo er seinen Erstling Leviathan armutsbedingt auf Formularpapier für Telegramme kritzeln musste. Im Falle des 35-Jährigen zählt das Gedicht also noch unter apokryphe Juvenilia. Viel mehr wird sich darüber nicht mehr herausfinden lassen, aber der Übermut dieses Nebenwerks ist ein gutes Zeichen für Schmidts Schaffenskraft. Es war weder 1989 in Arno Schmidts Wundertüte, der posthumen Sammlung fiktiver Briefe aus den Jahren 1948/49 bei Haffmans, weil es kein fiktiver Brief ist, noch 2013 in Arno Schmidt zum Vergnügen bei Reclam, weil es zu lang ist, und musste deshalb zur Rarität verwittern.
Das Zimtfragment erscheint unten als Internetpremiere nach der Bargfelder Ausgabe korrigiert, wobei selbst im kostbaren „elektronischen Findmittel“ kleinere Unterschiede zur gedruckten Studienausgabe, vor allem in der Zeichensetzung, aufgefallen sind. Schmidts typische französische Anführungszeichen habe ich belassen, diesmal in einer Schweizer, nicht französischen Anwendung. Die Schreibweise „Cinnamon“ verrutscht nur einmal in die Unregelmäßigkeit „Zinnamon“. Nur was ein geschlagene dreimal vorkommender „tin“ sein soll, ist wohl Gegenstand künftiger Forschung.
Meine Lieblingsstrophe ist die 14., die englische, die hat so schön was von Irish Folk, jedenfalls höre ich da die Pogues raus.
——— Arno Schmidt:
Das ‹Zimtfragment›
Manuskript um 1949, cit. nach Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe I, Band 4, Seite 155 bis 159:
1.) Bötet ihr im Pantheone
einen Platz bei Göttern mir,
und ich sollt vom Cinnamone
scheiden – lieber bleib ich hier.2.) Fürsten, Grafen und Barone,
Allen sei ihr Gold geschenkt –
sitz ich nur beim Cinnamone
leicht mit Zucker untermengt
3.) Elbe, Weser, Maas und Rhone
rollen stolz zum Meere hin :
laß mich nur beim Cinnamone,
nicht hinaus steht dann mein Sinn4.) Daß er schnödem Goldstaub frohne
müht sich Arm und Reich gebückt. –
Gönnt mir Staub vom Cinnamone
und ich preise ihn entzückt.5.) Bot dem Sänger man zum Lohne
einst im flutenden Pokal
roten Wein – vom Cinnamone
heisch ich einzig mir ein Mahl.6.) Mohren, singt im vollen Tone –
und ihr, Sphären, fallt mit ein –
mir das Lob vom Cinnamone :
mög‘ er ewig bei uns sein !7.) Hurtig keimt im Beet die Bohne,
grüne Lauben wölbt der Mai;
und ich träum‘ vom Cinnamone –
waldher lockt ein Kuckucksschrei8.) Laßt Euch nur der Schöpfung Krone,
weitgemäulte Toren, schelten;
nur der Duft vom Cinnamone
kann mir als vollkommen gelten.9.) Formt Euch Götzen nur aus Tone,
Marmor, Silber, Erz, Platin –
Vor dem einz’gen Cinnamone
sollte meine Andacht knien.10.) Fragt ihr, was denn würdig wäre
einer höhren Dimension,
werd‘ ich stumm zur tin Euch weisen :
Ruch und Schmack vom Cinnamon !11.) Mögen Plinien und Strabone
melden uns von Fabelküsten –
ich werd‘ – froh beim Cinnamone –
nicht zum Periplus mich rüsten12.) Bötet ihr mir Reiche, Throne
unter der Bedingung an,
daß ich ließ vom Cinnamone –
sucht Euch einen Dümmren dann.13.) Steuerte zur duft’gen Zone
Weihrauchflotten der Lateiner;
im Besitz vom Cinnamone
bringt vom Mühlenhof mich keiner14.) Years have passed and kingdoms gone
Greece and Rome declined and fell –
give me only cinnamon
and the globe may go to hell.15.) Opfert, tanzet, räuchert, fleht zu
Fufluns, Zeus, Merkurium –
wir, in frommem Mohrensinne
baun ein Cin-Ammonium16.) Was dem Landmann Karst und Spaten,
dem Soldaten die Patron‘,
was dem Wechsler der Dukaten
ist dem Mohr der Cinnamon17.) Frag des nahen Haines Echo
ich, geruht am Silberbronn,
nach dem König der Gewürze
säuselt’s englisch : Cinnamon18.) Frag ich das geschlossne Weltall
die Myriaden Mond und Sonn‘
nach dem König der Gewürze
dröhnt’s betäubend : Cinnamon19.) Auf der Kugel der Kanone
ritt Münchhausen tollkühn weg
auf der tin vom Cinnamone
reit‘ ich, trotz‘ ich Allem keck.20.) Daß er Punien unerbittlich
haßte rühmt man an Catonen;
gleich beharrlich soll mein Lied stets
preisend schall’n von Cinnamonen.21.) August, bester der Cäsaren :
legtest eine Garnison
zum Hydreuma des Apollon –
nur zum Schutz des Cinnamon.22.) Rühmt nur Götter, Fraun und Helden,
schnörkelt Epen und Kanzone;
wuchtig, in gedrängter Vierzeil‘
singe ich vom Cinnamone23.) Fortunat‘ aus Famagusta,
glücklich bald, bald Glückes Hohn –
hättst du weise dich beschieden
doch wie wir beim Cinnamon24.) Länder teilt man in Provinzen
(nur die Schweiz hat den Kanton)
Also teil‘ ich die Arom‘ in
andres Zeug – und : Cinnamon !
25.) Was der Phyllis ist ihr Damis
was dem Bjerknes die Zyklon‘,
Eratosthenes die Chlamys,
ist dem Mohr der Cinnamon26.) Shakespeare hat Mac-Beth verherrlicht,
Hamlet, Cäsar und Sir John
Falstaff – – wußt er nichts Erhabners ?
Kannt‘ er nicht den Cinnamon ? !27.) Letzthin kam vom Wunderlande
ein Paket voll von Bacon –
dennoch forschten meine Augen
drin bestürzt nach Cinnamon28.) Vielfach schätzt man Mus und Printen
estimiert auch den Bonbon –
ich hingegen weiß nichts Höhres
mir als Zuck‘ und Cinnamon29.) 1796
stand Fouqué am Ems=Kordon –
1949
stehe ich vorm Cinnamon30.) Hüte sieht man voll Agraffen,
rot vom Schuh wippt der Pompon;
Mohren sieht man rastlos schaffen
fern – beim Reis – beim Cinnamon31.) »Pi-Pi-Pö« ertönt’s aus Linden,
dort bei Vehlows düngt man schon,
und auch mich faßt mailich Sehnen –
träum’risch flüst’r ich : Cinnamon32.) Dieser prunkt mit leeren Titeln,
Jener nennt sich »Graf« und »von« –
ruft mich »Er« – gebt mir [unleserlich: ’ne Nummer?] :
aber laßt mir Zinnamon33.) Was den Christen ihre Götzen :
Vater, heilger Geist und Sohn –
soll uns Mohren voll ersetzen
diese tin mit Cinnamon34.) Ein gewisses Volk im Süden
schätzt sich, sagt man, Makkaron‘
und Musik vor allen Dingen
just wie wir – den Cinnamon.35.)
[Fragment]
Cinnamon Girl: weder das Lied von Neil Young 1970 noch von Prince 2004
noch von Dunkelbunt 2014 noch von Lana Del Rey 2019 — sondern:
Nicolas Fourny photographie featuring die zimmetrothaarige Cathel:
- February 12th, 2016;
- noch eins vom February 12th, 2016;
- March 3rd, 2017.
It’s so beautiful, but it’s not real: Katzenjammer: Tea With Cinnamon, aus: Le Pop, 2008:
Unvernünftige Rede übers unwiederbringlich Verlorene
Update zu Dieses treffliche Märchen vom Schmidt
und Адвент 1: Über Nacht bin ich tot:
Unter den rhetorischen Strategemen, um eine Diskussion zu gewinnen, ist die Zustimmung, die sogleich den gegenteiligen Schluss aus dem Argument des Diskussionsgegners zieht, das vornehmste. Im Märchen beherrschen sogar Tiere diesen Salto — mit der Extradrehung, dem gegnerischen Argument zuvorzukommen. Jedenfalls im ukrainischen Märchen (empfohlene Quelle: Ukrajinska Prawda). Und wer mir glaubwürdig sagen kann, wie dieser spezielle argumentative Kunstgriff beim Fachausdruck heißt, gewinnt ein Buch von mir. Ein schönes.
Mir fällt immer schwer, Märchen aus eigenem fachlichen Ermessen nach dem Aarne-Thompson-Uther-Index einzuteilen, vor allem wenn Tiere (ATU 1–299), übernatürliches Können oder Wissen (650–699), schwankhafte Geschehnisse (ATU 1200–1963), ein überraschender Zugewinn an Weisheit, der auch ein Übertölpeln des vermeintlich Stärkeren sein könnte, und bestimmt noch einiges, das sich allzu leicht übersieht, auf so engem Raum zusammenkommen. Die Nachtigall aus dem gleichnamigen Märchen kann jedenfalls alles davon.
Gegen die dahingegangene DDR ist mancherlei vorzubringen, aber die Märchenbücher dieses Landes, denen gleich mehrere volkseigene Betriebe des Buchgewerbes und nicht wenige international wirksame Erzähler, Übersetzer und Illustratoren oblagen, sind bis heute unübertroffen schön. Soviel weiß man.
Die Sonnenrose mit den ukrainischen Märchen, aus der ich unten zitiere, war nie in meinem Besitz. Im Gegenteil musste ich letzthin einen ganzen Stoß solcher großformatigen Märchenziegel aus meiner Kindheit, die mir meine Verwandtschaft „von drüben“ einstmals im Austausch gegen Bohnenkaffee, Bananen und Strumpfhosen geschenkt hat, in gute Hände weiterreichen, solange die Leute noch ein Regalmeterchen für dergleichen übrig haben. Die russischen hab ich behalten. Die Sonnenrose, lauten meine Einkaufspläne, darf ich erst anschaffen, wenn noch ein Buch nicht unter DIN A4 aussortiert ist. Es eilt also mit dem Fachausdruck für den argumentativen Kunstgriff.
——— Mimi Barillot, Hrsg.:
Die Nachtigall
aus: Die Sonnenrose. Ukrainische Märchen. Mit Illustrationen von Irmhild und Hilmar Proft,
Verlag Kultur und Fortschritt Berlin, 1966 u. ö.,
aus dem Ukrainischen von Lieselotte Remané, Seite 108:
Ein Pan fing eine Nachtigall, die wollte er in einen Käfig sperren.
„Wenn du mich freiläßt“, sagte da die Nachtigall, „will ich dir zwei gute Ratschläge geben, vielleicht können sie dir nützen.<"
Der Pan versprach, sie freizulassen.
Ihr erster Rat lautete: Trauere niemals dem unwiederbringlich Verlorenen nach!
Und der zweite war: Glaube keiner unvernünftigen Rede!
Als der Pan diese Ratschläge vernommen hatte, ließ er die Nachtigall frei. Sie flog auf und sagte: „Schlecht hast du daran getan, mich freizulassen. Wenn du wüßtest, welch einen Schatz ich besitze! Eine herrliche riesengroße Perle trage ich in mir. Hättest du die erworben, so wärst du noch reicher geworden.“
Das hörte der Pan und trauerte dem unwiederbringlich Verlorenen nach. Er hüpfte in die Höhe, um die Nachtigall zu fangen.
Da sprach sie: „Jetzt weiß ich, Pan, du bist ebenso habgierig wie dumm: Dem unwiederbringlich Verlorenen trauerst du nach und glaubtest meiner unvernünftigen Rede! Sieh doch, wie klein ich bin. Wie sollte denn eine riesengroße Perle in mir Platz finden!“
Sprach’s und flog davon.
Bilder: Irmhild und Hilmar Proft, aus: Mimi Barillot, Hrsg.: Die Sonnenrose. Ukrainische Märchen,
Verlag Kultur und Fortschritt, Ost-Berlin 1966 u. ö.; verwendete antiquarische Angebote:
- liberantiquus, 25. März 2020;
- kulpet, 15. November 2019;
- piemonteser, 1. Januar 2020.
Soundtrack: Тік: Люби ти Україну!, 2013: