Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Archive for März 2019

Lästu dich zum Freien bitten?

leave a comment »

Update zu Fünfhundert Jahre Mädchengestaltung,
Wir rechnen jahr auff jahre / in dessen wirdt die bahre vns für die thüre bracht,
die Bilder zum Nachtstück 0016: Du nicht:

Astonish the World, 7. November 2018

Ganz von vorn: In Neunburg vorm Wald war ich im Saufalter öfters, weil sie in der Oberpfalz gern ein Bier brauen, dass ganz München sich ins Eck hocken und schämen darf. Aber da kennen sie ihn auch nicht, ihren Greflinger-Schorsch, der um 1620 da geboren sein soll und seitdem ganz arg lückenhaft erforscht. Die Wikipedia will bloß wissen, dass er erst am Regensburger Gymnasium Poeticum war und dann „nach langer Wanderschaft“ über Wien, Danzig und Frankfurt am Main in Hamburg herausgekommen ist, und was bitte soll das für das eine Wanderstrecke sein.

Oh Well, 7. Juni 2014Interessant wird alles erst in Hamburg: Da hat er 1664 den Nordischen Mercurius eröffnet und bis zuletzt herausgegeben, nicht ohne die Leitung innerhalb der Familie weiterzureichen — die erste modern geführte Zeitung, nicht allein in Deutschland, nicht allein von einem Oberpfälzer Moosbüffel vollgeschrieben, sondern überhaupt, weltweit. Modern meint: die Aufteilung in Ressorts zu Information und Unterhaltung — mithin schon das prodesse et delectare des 18. Jahrhunderts — mit feuilletonistischen und literarischen Elementen, Einführung einer Vorstufe des Leitartikels sowie die regelmäßige, wenngleich unregelmäßig geänderte Erscheinungsweise.

Das Gute und das Schlechte daran sind für unseren Fall die angeführten literarischen Elemente. Allein durch ihr Bestehen erschweren die nämlich die Einordnung eines petrarkischen Doppelgedichts, von dem allein belegt ist, dass es von Georg Greflinger selbst und nicht von einem seiner in ganz Europa auswärtigen Korrespondenten für den Nordischen Mercurius stammt — nicht aber, ob aus seiner Zeit der Wanderschaft oder schon fürs Feuilleton oder irgendwann dazwischen. Eine Textsuche im Digitalisat bei der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen liefert jedenfalls genau 0 Ergebnisse.

Coisas de Terê, 10. Januar 2016Die Stelle, an der Greflingers Gedicht seinem verdoppelnden Gegensatz gegenübergestellt wird, ist eine schon wieder einnehmend antiquiert anmutenden Doppel-Homepage — schon „Website“ wäre übertrieben — der Literaten und Kulturwissenschaftler Siegfried Carl und Dr. Rüdiger Krüger; literaturwissenschaftlich dem Petrarkismus, genauer: dem Antipetrarkismus zugeordnet wird es im Lyrikwiki:

Das Gedicht nutzt die gängigen formellen Mittel des Petrarkismus, die Dame wird mit zahlreichen Vergleichen und Metaphern dargestellt, die Darstellung des Körpers erfolgt von oben nach unten, geht dabei auf einzelne Gesichtszüge aber auch Wesenszüge ein. Indes werden diese in diesem Gedicht ins Negative verkehrt, sowohl das Äußere („Aller Ungestalt ein Spiegel“, V. 15) als auch das Innere („Unhuld aller lieben Tugend“, V. 18). Greflinger schafft hier einen deutlichen Gegensatz zu seinem petrarkistischen Gedicht „An eine vortreffliche, schöne und tugendbegabte Jungfrau“. Er ahmt dieses nach, parodiert es jedoch. Diese Technik ist symptomatisch für zahlreiche Antipetrarkismen während der Geschichte des Petrarkismus. Die strikte Verwendung von aemulatio und imitatio [und superatio] wurde damit aufgebrochen oder auch verspottet. Der Antipetrarkismus geht bezeichnenderweise schon ab der ersten Hälfte des 16.Jahrhunderts Hand in Hand mit dem Petrarkismus.

Außerdem: musste natürlich wenigstens in der Antithese das allfällige Memento mori her, wie immer und überall bei allem Barocken. Viel mehr ist da nicht. Eigentlich schade, wenn man beide Fundstellen mal dem Direktvergleich aussetzt. Die petrarkische These halte ich aus einem weniger literaturwissenschaftlichen, viel eher regionalen Verständnis heraus für den hanseatischen, die antipetrarkische Antithese für Greflingers angeborenen Oberpfälzer Anteil:

Chania, Carpe Diem With Alexander the Great

——— Georg Greflinger:

An eine vortreffliche, schöne
und tugendbegabte Jungfrau

1 Gelbe Haare güldne Stricke,
Taubenaugen, Sonnenblicke,
Schönes Mündlein von Korallen,
Zähnlein, die wie Perlen fallen.

2 Lieblichs Zünglein, in dem Sprachen
Süßes Zörnen, süßes Lachen,
Schnee- und lilienweiße Wangen,
Die voll lauter Rosen hangen.

3 Weißes Hälslein, gleich den Schwanen,
Ärmlein, die mich recht gemahnen,
Wie ein Schnee, der frisch gefallen,
Brüstlein wie zween Zuckerballen.

4 Lebensvoller Alabaster,
Große Feindin aller Laster,
Frommer Herzen schöner Spiegel,
Aller Freiheit güldner Zügel.

5 Ausbund aller schönen Jugend,
Aufenthaltung aller Tugend,
Hofstatt aller edlen Sitten,
Ihr habt mir mein Herz bestritten.

Gegensatz: An eine
sehr häßliche Jungfrau

1 Graues Haar voll Läus und Nisse,
Augen von Scharlack, voll Flüsse,
Blaues Maul voll kleiner Knochen,
Halb verrost und halb zerbrochen.

2 Blatterzunge, krank zu sprachen,
Affischs Zörnen, Narrenlachen,
Runzelvolle magre Wangen,
Die wie gelbe Blätter hangen.

3 Halshaut gleich den Morianen,
Arme, die mich recht gemahnen,
Wie ein Kind ins Kot gefallen,
Brüste wie zween Druckerballen.

4 Du bist so ein Alabaster,
Als ein wolberegntes Pflaster,
Aller Ungestalt ein Spiegel,
Aller Schönen Steigebügel.

5 Schimpf der Jungfern und der Jugend,
Unhuld aller lieben Tugend,
Einöd aller plumpen Sitten,
Lästu dich zum Freien bitten?

Lost Girl, 30. Juli 2018

Bilder:

  1. Astonish the World, 7. November 2018;
  2. Oh Well, 7. Juni 2014;
  3. Coisas de Terê, 10. Januar 2016;
  4. Chania: Carpe Diem With Alexander the Great;
  5. Lost Girl, 30. Juli 2018.

Du bist schön und du bist frei und du hast unbegrenzte Liebe:
Maike Rosa Vogel: Ich sing für dich, aus: Trotzdem gut, 2015:

BonusBild („Du hältst uns jetzt in deinen Armen und vielleicht bist du gleich schon fort“),
weil’s das schönste zum Thema war: Paloma Lanna Wool, via Surmise-en-scene, 13. November 2014:

Written by Wolf

29. März 2019 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Ehestand & Buhlschaft

Weil er bei den Mahlzeiten so entsetzlich isset

leave a comment »

Update zu Der Widersacher. Ästhetischer Gaukler vs. unnahbarer Eispalast: Braucht die Welt noch Dichterfürsten im Krähwinkel? Alles ist erlaubt und willkommen. Keine 30 Prozent der Quellen,
vor allem aber Das Beste sind die Kartoffeln und entfernt
Wunder im Gehirn. Vier Bier und ein Buch de cerevisiis:

Das Leben des Quintus Fixlein, aus funfzehn Zettelkästen gezogen, nebst einem Mustheil und einigen Jus de tablette, von Jean Paul, Verfasser der Mumien und Hundsposttage von 1794 bis 1795 ist ein Jean-Paul-typisch wildes Stückwerk, dafür dankenswert genau aufgeteilt: Das übliche Gestrüpp — „Blumenstrauß“ wäre für diesen Gebrauch auch nicht viel wohlwollender — aus Vorworten und Vor- und Nachworten zu Vor- und Nachworten hat diesmal besonders phantasievolle Überschriften — und so viele verschiedene.

Zu vermuten steht, dass Jean Paul (* 21. März 1763) zwischen seinem — wieder typisch: gleich zweiten — Erstling, der zwar nicht sein erstes Buch, dafür ein Bestseller war, Hesperus und dem Siebenkäs einiges angesammelte Material wegverwenden wollte, um das es dem immer noch aufstrebenden Schreibhandwerker sonst schade gewesen wäre.

Um einen Eindruck zu vermitteln, fächere ich die Bestandteile des Quintus Fixlein nachstehend auf, vollständig wiedergegeben ist darunter mein Lieblingsteil Des Amts-Vogts Josuah Freudel Klaglibell — wie ja überhaupt unser Vorteil bei diesem einnehmenden Konvolut darin besteht, dass es wesentlich unter Jean Pauls üblichen achthundert Seiten bleibt.

Lilli Hill via The Art of Obesity

——— Jean Paul:

Leben des Quintus Fixlein,
aus funfzehn Zettelkästen gezogen,
nebst einem Mußteil
und einigen Jus de tablette

[Billett an meine Freunde, anstatt der Vorrede;
Geschichte meiner Vorrede zur zweiten Auflage des Quintus Fixlein;
Die Mondfinsternis]

[I. Mußteil für Mädchen:
1. Der Tod eines Engels;
2. Der Mond]

[II. Des Quintus Fixlein Leben bis auf unsere Zeiten.
(Die ersten 14 Kapitel heißen „Zettelkasten“, das letzte Kapitel heißt „Letztes Kapitel“.)]

III. Einige Jus de tablette für Mannspersonen

[1. Über die natürliche Magie der EInbildungskraft]

2. Des Amts-Vogts Josuah Freudel Klaglibell
gegen seinen verfluchten Dämon

Dieses zierliche Klaglibell, worin ein zerstreueter Gelehrter ohne sein Wissen seine Zerstreuung schildert, kam durch die Güte des Herrn Pfarrers Fixlein in meine Hände, der in der Kirchenagende seiner Sakristei gefunden hatte. Ich glaube, ich kann das Libell ohne Diebstahl zu meinen Aufsätzen und Effekten schlagen, da Freudel hinten eine Arbeit von mir in seine einfügt; denn ich mache, da commixtio und confusio ein modus adquirendi ist, aus rechtlichen Gründen aufs Ganze Anspruch. Wenigstens gehören, da er das Papier dazu aus der Sakristei erhob, meinem Gevatter als Herrn des Prinzipale die darauf gesetzten Gedanken des Vogts als accessorium. Der Konzipient hatte sich aus Versehen am Bußtage in die Hukelumer Kirche sperren lassen; – um nun die Langweile sich so lange vom Leibe zu halten, bis ihn beim Gebetläuten jemand hinausließ, verschrieb er die Zeit bis dahin in diesen Klagen:

*

Lilli Hill via The Art of ObesityGewisser ist wohl nichts, als daß manchen Menschen ein tückischer Dämon verfolgt und ihm lange Sperrhaken ins Getriebe seines Lebens steckt, wenn es gerade am besten umläuft und eben ausschlagen will. Jeder muß Menschen kennen, die lauter Unglück im Spielen – Kriegen – Heiraten – in allem haben, so wie andere wieder lauter Glück. Bei mir wird gar Glück und Unglück mutschierungsweise neben und auf einander verpackt in eine Tonne, anstatt daß es Jupiter in zwei verfüllte. Ist vollends das Vergnügen, die Ehrenbezeugung, die rührende Empfindung, die ich habe, groß, sehr groß: so verlass‘ ich mich darauf, daß es nun der Dämon gewahr werden und mir alles hinterdrein gesegnen werde. So versalzet er mir gern schöne Lustfahrten durch einen häuslichen Hader; und ein Ehrenbogen ist für mich ein Regenbogen, der drei elende Tage ankündigt. So hat er mir heute in diese Kirche nachgesetzt, weil er voraussah, die blühende Predigt werde mir einiges Vergnügen reichen; und nun seh‘ ich mich seit der Vesperpredigt in das Gotteshaus inhaftiert, und das Schicksal weiß, wenn ich hinausgelassen werde. Denn ich kann weder Tür noch Fenster ausbrechen, und das größte Unglück ist, daß gerade heute Bußtag ist, wo keine Magd auf den Gottesacker geht; unter allen meinen dummen Schreibern hat ohnehin keiner so viel Verstand, daß er mich in der Sakristei aufsuchte. Diese Kirche ist mir überhaupt aufsätzig; ich habe darin schon ein Unglück gehabt, und es war heute nichts als der Widerschein eines alten, daß ich unter der Hand der ganzen Gemeinde abgefangen wurde, indem ich still und vergnügt in meinem Kirchenstuhle saß und meine ungedruckte Anweisung zu einem gerichtlich-blühenden Stil in Gedanken prüfte. Denn ich bin leider in viele Sättel gerecht, eben weil mich der Dämon immer aus jedem hebt.

Ich habe mich sonst mit Versen abgegeben – welches jetzt wenigstens meinem Stile zuschlägt – und nachher umgesattelt: denn ich wollte ein Pfarrer werden, und kein Amtsvogt. Die Geschichte ist im Grunde unterhaltend, obwohl auf meine Kosten. Ich wollte nämlich als Student in meinem Geburts-Dorfe (eben hier in der Kirche) mit einer Gastpredigt ausstehen und hatte deshalb eine große Perücke mit einem hohen Toupet-Gemäuer meiner Mutter zuliebe aufgesetzt. Gleich im Exordio stieß ich auf ein Abenteuer, indem ich die Nutzanwendung, die sich auch wie jenes mit: „teuerste etc. Zuhörer“ anhebt, unglücklich mit dem Eingange verwechselte; aber ich hielt – leicht und mit zweckmäßigen Veränderungen – den Zuhörern den Schwanz so in meiner Hand hin wie ein Endchen Kopf. Tausend andere hätten von der Kanzel gemußt; ich hingegen kam wohlbehalten vor dem Kanzelliede an und sagte: „Nun wollen wir ein andächtiges Lied miteinander singen“ und das war mein Unglück. Denn da ich mich – wie es auf den meisten Kanzeln Sitte ist – so mit dem Kopfe aufs Pult hinlegte und niederkrempte, daß ich nichts mehr sehen konnte als den Kanzel-Frack – so wie von mir auch nichts zu sehen war als mein Knauf, die Perücke mit dem Wall –: so mußt‘ ich (wollt‘ ich nicht dumm sein und ins Kanzeltuch hineinsingen) aus Mangel an Gesichtsempfindungen während dem Singen denken. – Ich suchte also auf dem Pulte den Eingang, womit ich schließen wollte, zur Nutzanwendung umzufärben – ich wurde von einer Subdivision auf die andere verschlagen – ich hatte mich wie ein Nachtwandler unter meine Gedanken verstiegen, als ich plötzlich mit Erstarren vermerkte, daß schon längst nichts mehr sänge und daß ich nachdächte, während die sämtliche Kirche auflauerte. Je länger ich erstaunte in meiner Perücke, desto mehr Zeit verlief, und ich überlegte, ob es noch schicklich sei, so spät das Toupet-Fallgatter aufzuheben und darunter den Kirchleuten wieder zu erscheinen. Jetzt war – denn der Kanzel-Uhrsand lief in einem fort – noch mehr Zeit verstrichen; die außerordentliche Windstille der Gemeinde lag ganz schwül auf meiner Brust, und ich konnte, so lächerlich mir zuletzt der ganze, Ohr und Fuß spitzende Kirchenhaufe vorkam und so sicher ich hinter meinem Haar-Stechhelm lag, doch leicht einsehen, daß ich weder ewig niedergestülpet bleiben noch mit Ehren in die Höhe kommen könnte. Ich hielts also für das Anständigste, mich zu hären und mit dem Kopfe langsam aus der Perücke wie aus einem Ei auszukriechen und mich heimlich mit bloßem Haupte in die an die Kanzeltreppe stoßende Sakristei hinunterzumachen. Ich tats und ließ die ausgekernte ausgeblasene Perücke droben vikarieren. Ich verhalt‘ es nicht: indes ich in der Sakristei mit dem unbefiederten Kopfe auf- und abging: so passete jetzt (denn mein brachliegender Adjunktus und Geschäftsträger schauete in einem fort schweigend auf die Seelen herunter als Anfang eines Seelenhirten), so passete, gesteh‘ ich, jetzt Groß und Klein, Mann und Weib darauf, daß der Kopf-Socken anfinge sich aufzurichten und ihnen vorzulesen und jeden so zu erbauen, wie ja homiletische Kollegien uns alle, hoff‘ ich, abrichten. Ich brauche den Lesern nicht zu sagen, daß die erledigte Perücke nicht aufstand, beraubt aller Inlage und ihres Einsatzes. Zum Glück stellte sich der Kantor auf die Fußzehen und sah in die Kanzel herein – er stieg sans façon herab und hinauf und zog meine Kapuze beim Schwanze in die Höhe und zeigte der Parochie, daß wenig oder nichts drinnen wäre, was erbauen könnte, kein Seelensorger – „die Fülle ist schon aus der Pastete heraus“, bemerkt‘ er öffentlich bei diesem Kopf-Hiatus und steckte meinen Vikarius zu sich. – Und seitdem hab‘ ich diese Kanzel nicht mehr gesehen, geschweige betreten …

Wahrlich ich schreib‘ ihr jetzt gerade gegenüber, und ich sah heute hinauf; ich wollt‘ aber, ich könnte hinaus, und ich muß schon lange geschrieben haben. Beiläufig! gerade diese Historie, die ich ausschweifungsweise beigebracht, dient mehr als eine, das Dasein eines Dämons, der den mit den besten Projekten schwangern Menschen in Ratten-Form unter die Füße schießet, zu beglaubigen – aber Muttermale sind die Nachwehen davon.

Ich schwamm wohl niemals mehr im Wonnemeer als einmal, da der hiesige regierende Bürgermeister zur Erde bestattet wurde – dennoch wußte mir mein Dämon Unrat in meine Leichensuppe zu schmeißen. Ich würde abkommen von dem Leichenbegängnis, wenn ich weitläuftig berichten wollte, wie wenig dieser Hausteufel darnach fragt, wenn er mich um eine Hinrichtung – um eine Krönung – um eine Sonnenfinsternis zu bringen vermag. Da diese Dinge leider keine Palingenesie, kein Ancora und keinen Refrain verstatten: so hab‘ ich dieses Trio von Dingen, das sonst wohl wenig Ähnlichkeit miteinander hat, niemals beschauen können – es war vorbei, eh‘ ich daran dachte, daß es komme.

Ich sollte Leichenmarschall beim Begräbnis sein und fing es auch an: der Bürgermeister, dem der Tod die Sanduhr in die Augen geschüttet hatte, war ein Mann, der verdiente, einen guten Leichenmarschall zu haben, einen gestabten Leichen-Turnier-Vogt; denn er war in der ganzen Gegend selber bei allen Leichen von Stand der allgemeine Undertaker, der Großkreuz des memento mori-Ordens gewesen, der maitre de plaisirs des Totentanzes. Er hätte – so gut fand er sich in die Charge – Leichen – Obermarschall in London bei der Beerdigung der magna charta sein können, wäre sie kein bloßer Spaß gewesen; und falls man den alten Publizisten Reichsherkommen in den Residenzstädten einmal im Ernste begrübe, so könnte der Bürgermeister den Sarg unterstützen, läg‘ er nicht selber darin.

Lilli Hill via The Art of ObesityIch muß noch vorher erzählen, daß ich abends vor der Bestattung, weil ich mit dem Bürgermeister einerlei Natur hatte, mir an ihm ein Beispiel nahm und meine Frühlingskur, nämlich 1½ Löffel echte Rhabarber gebrauchte. Ich wollte, ich hätte etwas von jenen Gelehrten an mir, die aus Zerstreuung eines über das andere vergessen: eine kleine Zerstreuung, worin ich über die Leiche die Kur vergessen hätte, würde mir den andern Tag zupasse gekommen sein. Ich sollte fast mich schämen, etwas so viele lesen zu lassen, was ich ohnehin so viele sehen ließ. Im Grunde wars wohl unvermeidlich und wahres splanchnologisches Fatum: denn ich trank im Trauerhause viel nach – mußte langsam neben der schleichenden Bahre waten und noch dazu einem lüftenden Wind entgegen, der den ehrwürdigsten Männern den Leichenmantel zu einem Fettschwanz aufflocht (den faltigen Bettzopf und Troddel steckt‘ er ihnen dann wie ein Stichblatt an die rechte Seite), und ich führte noch dazu die satanische Frühlingspurganz im Magen bei mir. – – Inzwischen mußte einer, der mir nachsah, wenn er nicht horndumm war, sogleich bemerken, daß ich lange genug meine physiologischen Verhältnisse zum Besten meiner Pflicht verbiß und verwand und hinter dem schwarzen fliegenden Sommer und Flor-Labarum des Huts und mit dem eingewindelten hohen Marschalls-Taktstock das sämtliche Leichenkondukt gut genug kommandierte und begleitete, obwohl ich im Wasser der Tränen und der Laxanz als ein gebrochener Stab erschien. – Denn mir tat es wehe, so viel (am Bürgermeister) verloren und so viel eingenommen zu haben. – – Meinetwegen! Unser Land kommt doch darhinter: kurz der mitsingende Wind mochte uns kaum bis an zehn Schritte vor die Kirchtüre geschoben haben, als ich wirklich und ohne freien Willen, gleich dem Kaiser Vespasian – und auch am nämlichen Orte –, meinen verbitterten Zepter fallen ließ ….

Viele lachten wohl.

In andern Fällen weiß ich mir gegen Arzneien zu helfen. Da ich z.B. einmal dem vorigen Obristforstmeister, mit dem ichs nicht verderben durfte, auf seinem Jagdhause am Martinitag zu essen brieflich versprochen hatte: so traf sichs zum Glück, daß ich an dem nämlichen Tage beim hiesigen Pfarrer zu speisen mündlich zugesagt hatte. Nun war ich vor Nachteil verwahret, da es am Martinitag nicht bloß in der Pfarre drunter und drüber ging, sondern auch in meinem Magen; bloß weil ich mich mit einem hübschen Brechmittel ausbürstete. – Denn als mir um zwölf Uhr der Pfarrer sagen ließ, „es würde alles kalt“: so wußt‘ ich recht gut, wie viel Uhr es geschlagen hatte, und nahm in der Stadt, in die ich in einer Viertelstunde lief, auf der Post ein Kurierpferd und kam beim Forstmeister gerade angesprengt, als die Suppe noch heißer rauchte wie mein Gaul.

Ich weiß gewiß, ich wollte dem Leser noch einen recht frappanten Kasus auftischen; aber er will mir jetzt durchaus nicht beifallen. – Andern Leuten muß es noch öfter so gehen: denn ich habe eine ganze ausgewählte Bibliothek durch Diebstahl gewonnen und eine verloren, weil die einen, die mir jene liehen, und die andern, die mir diese abborgten, vergessen hatten, mit wem sie zu tun gehabt – und dann kamen mir die Leute auch aus dem Kopfe.

Jetzt fället mir alles bei: es war so. Fatalien waren mir, da ich noch Advokat war, in jedem Prozesse Mißpickel und Rattenpulver, und meine Appellationen wollten (wie alle lang lebende Gewächse) nie schon in zehn Tagen zeitigen; dennoch erwiderte ich einen gut ausgedachten Streich des bösen Dämons mit einem bessern. Überhaupt sollten die Kollegien so gut Fatalien zu fürchten haben wie die Advokaten: ist nicht oft das Beste, was die Parteien verlieren können, Zeit? Und warum soll diese der schuldige und der unschuldige Teil zugleich verlieren? – Was helfen alle Läuferschuhe der Advokaten (und die Hetzpeitschen der Prozeßordnung dazu), wenn die höhern Kollegien, an die alle Akten indossieret werden, in Hemmschuhen und Hemmketten einherwaten? – Kurz die Advokaten und die höhern Instanzen (denn uns niedrigen zügelt man schon, und ich darf kaum mehr sprechen, so verlangen die Leute die Apostel) siechen an demselben Marasmus der Dilation, an derselben Frakturschrift der Schreiber, an derselben Geld- und Gesichterschneiderei … Ich schweife hier vielleicht ab; aber ich bekenne, ich fass‘ es niemals, wie ich im Schreiben von einem aufs andre komme, da ichs doch im Denken nicht tue.

Lilli Hill via The Art of ObesityAber wie gesagt, es war an meinem Hochzeittag; – er war schon ganz vorbei bis auf eine Viertelstunde. – Die finstere Hochzeitnacht war hereingebrochen – ich hatte meine Repetieruhr und mein Zopfband schon unter den Spiegel gehangen und das vor letzte Licht ausgetan und beim letzten drei Viertel auf zwölf Uhr gelesen und so feurig als wenige an meine liebe Braut, als Tür- und Wandnachbarin meiner Seele, gedacht, als ich im sogenannten Ehekalender, der neuerer Zeiten das Kirchenbuch und den Geburtsschein um dreiviertel Jahr antizipieret, nachschauete, um das heutige Datum zu unterlinieren: nun kam ich im Kalender, worin zugleich meine juristischen Fatalien und Termine stehen, zum Glücke mit darhinter, daß ich innerhalb zwei Tagen appellieren müßte, und daß der letzte Viertelhammer der zwölften Stunde den achten gar erschlüge. Ich raffte mich zusammen, beschnitt Papier (in Baiern wär’s unnötig) und legte stehendes Fußes die Appellation ein, die einzulegen war, und petschierte sie zusammen. „Ich habe nur“ – meldete ich ausgefroren der Braut „vom Judex a quo zum Judex ad quem appelliert; und du kannst dir denken, ob man es appellatischerseits werde erwartet haben.“ –

Da der Teufel eine eigne Liebhaberei für Zwiespalt hat: so sucht er mir gerade, wenn ich durch einen Ehrenbogen gehe, den Grimm meiner Freunde zuzuwenden. Ich erinnere mich, daß ich oft vermischten Gesellschaften mit der größten Deutlichkeit Lavaters Tierstücke aus seinem physiognomischen Schwabenspiegel repetierte und ihnen die Anwendung der Vieh- und Insektenköpfe auf die menschlichen so leicht machte, als ohne Kupferstiche möglich ist, ich erinnere mich, sag‘ ich, daß ich mich, wenn ich mich dann nach einiger Beistimmung umschauete, in einem Zirkel oder Trapezium von fatalen verdrüßlichen Gesichtern mit gekräuselten Nasen, faltigen Lippen, gestirnten überschriebnen Stirnen stehen sah – und wer mir aus der Gesellschaft die nächsten Wochen darauf ein Bein unterstellen konnte, der tats. Wenn ich nicht zuweilen in Gesellschaft einschliefe, so könnten alle nichts aufbringen, womit ich ihnen zu nahe träte: alles, was ich darin wage, ist, daß ich vor ihnen im Kopfe einige juristische Opuscula ausarbeite, anstatt daß Zimmermann ihnen im Kopfe gar seine philosophischen vorlieset. Newton sah den Finger einer Dame für einen Zwerghirschchen-Fuß an, den man zum Pfeifenstopfer nimmt; ich aber habe nichts auf mir, als daß ich einmal, da ich meine Pfeife ausklopfte, aus Höflichkeit einigemal rief: herein! weil ich dachte, man klopfe draußen an.

So werf‘ ichs mehr einem bösen Dämon als mir selber vor, daß ich in einem Jahre meinen Gevatter und meinen Beichtvater zugleich geärgert. Ich war sehr krank und ließ auf drei Sonntage eine Kirchenvorbitte für meine Genesung bestellen. Am dritten Sonntag saß ich während der Vorbitte selber mit unter den Leuten und schauete – während der Pfarrer oben an meiner Rekonvaleszenz arbeitete – unten aus meinem Gitterstuhl mit einem närrischen Gesichte genesen heraus. Ich wußt‘ aber am besten, warum ich mich als Rekonvaleszent öffentlich vorstelle: die Gemeinde sollte sehen, wie ihre Vorbitte angeschlagen, und zweitens sollte sie ermuntert werden zu Vorbitten gegen das Rezidiv.

Was meinen Gevatter, den Marschkommissar, anlangt, so ritt ich zu ihm bei der ersten Niederkunft meiner Frau und wollt‘ ihn, da er mein alter Universitäts-Jonathan und Orest ist und in der Nähe wohnt, zu Gevatter bitten, als er gerade reisefertig im Stalle auf den Durchmarsch der Ungarn paßte. Da sein erstes Wort war, ich möchte auf dem Pferde mit ihm reden und mitreiten: so verritt ich einen halben Tag, und erst vier Meilen vom Täufling macht‘ ich ihn bei einem Setzteiche zu meinem Gevatter in Beisein der Kompagnie. Den andern Tag erreichten ich und er mit zwei solchen Jagdpferden, wie wir reiten, leicht den Taufstein beizeiten.

Ich kann nicht erzählen, wie ich meinen Gevatter grimmig und zwieträchtig gemacht, wenn man mich nicht vorher über die Tücke meines Dämons abhört, der mir, solang‘ ich Geburtstage in meinem Leben antraf, noch keinen einzigen zu begehen erlaubte. Kurz vor, kurz nach den Geburtstagen veranstalt‘ ich viel und schaffe Vorreiter und Voressen an; ist aber einer von den Geburtstagen da, so merk‘ ich nichts von ihm, und ich kann ihn also nicht durchfeiern. Endlich dacht‘ ich, es würde zu etwas führen und gescheut sein, wenn ich satteln ließe und schon vier Wochen vorher meinen Gevatter auf Barnabas-Tag – da fiel meine Geburt – samt den sieben lieben Kleinen invitierte, mit mir vorlieb zu nehmen. Ich saß auf und überraschte und überredete den Marschkommissär, ohne ihm jedoch etwas vom Geburtsfeste zu entdecken: ich setzte nicht eher einen Fuß in den Steigbügel, als bis er – weil er kaum aus den Reisekleidern wegen der Durchmärsche kam, die halb-frankieret waren und nicht viel anderes Geld gaben als Fersengeld – doch in meinem Beisein ein viersitziges Fuhrwerk auf Barnabas bestanden hatte. Nun hatt‘ ich alles abgetan und brauchte nicht weiter daran zu denken: ich wußte, der Kommissär vergesse nichts. – Unter dieser Zeit ließ ich das schöne Bau-Wetter nicht wieder verstreichen, sondern machte mich einmal im Ernste über die Hauptreparatur und Reproduktion meines brüchigen Hauses her. Als nun am Barnabastermin bei früher Tageszeit der alte Marschkommissar samt seiner jungen Frau und sieben lebendigen, meinetwegen in Putz gesetzten, vergnügten Kindern wirklich unten vor meinem Hause gleich ihrem Fähr- und Fuhrmann, der schon vom Bocke war, freudig auszusteigen gesonnen waren: wars eine platte Unmöglichkeit, weil um das Haus mehrere Schutt-Kettengebirge umhersaßen und weil besonders die Beine und Pfahlwerke des Gerüstes die ganze Anfurt verschränkten. – Ich selber spazierte oben auf letzterem mit einem abgekürzten strangulierten gummierten Schlafrock herum, reine Luft zu schöpfen, und guckte staunend auf den großen Kutschkasten herunter, ungemein neugierig, was wohl aus dem Kasten springe. Aber der Fuhrmann schwang sich wieder über das Rad hinauf und fuhr die Familie vor einen wohlfeilen Gasthof, an dem ich erst, weil er meinem Gerüste gegenüber stand, beim Aussteigen und Hineinziehen meinen guten Gevatter und seine geputzte Familie leicht wie Dokumente rekognoszierte. Ich ließ sie erst drüben allein essen, weil ich nicht gern schmarutziere, und dann kam ich schleunig nach. Ich trat mit dem Scherze vor ihr Tischtuch, ich könne sie heute nicht in meinen vier Pfählen, sondern in meinen zwanzig Pfählen – aufs Gerüste wird angespielet – empfangen; „aber bei uns zu Hause“, setzt‘ ich hinzu, „kann sich kaum der Mauermeister mit dem Borstpinsel umkehren.“ – Ich bekenne mit Dank – so sehr mich jetzt mein Gevatter anfeindet –, dieser letzte Nachmittag, den ich bei ihm versaß, war einer meiner heitersten. Ich nötigte ihn, die Nacht dazubleiben; und ich hielt mich beim Kommissar von Vormitternacht bis ein wenig gegen den Morgen auf, weil er, ob er gleich so schläfrig war wie seine von der Apoplexie des Schlafes um ihn hingestreckten Kinder, doch aus Zerstreuung nicht merken mußte, welche Zeit es sei: denn der Mann hat einen außerordentlich zerstreueten Kopf, und seine Gehirnkammern sind bis an die Decke mit Marschreglements vollgeschlichtet … Ich hätte an so einem vergnügten Tage noch gar wissen sollen, daß es der meiner Geburt ist.

Lilli Hill via The Art of ObesityÜberhaupt aber war ich nie für ordentliche Freß-Gelage und erschien ungern darauf. Ich war ein einziges Mal bei einer Ratsmahlzeit, die ich als Amtsvogt mitessen mußte nach der Ratswahl: denn ich habe ja schon erzählt, daß der Vorfahrer des neuen Bürgermeisters begraben worden, als ich Leichenmarschall war. Ich würde mich von allem ausgeschlossen haben, wäre nicht in einem Marktflecken wie unserem, der Stadtgerechtigkeit begehrt, Bürgermeister und Rat viel: in Rom vertauschte der Diktator den Pflug gegen das Staatsruder; – hier bei uns hält man beide leicht in einer Hand, und wir besitzen Ratsherren, denen es einerlei ist, ob sie votieren oder gerben, mähen oder strafen, an- oder unterschreiben und also die Kreide oder die Feder führen.

Bloß der närrische Ratsherr und Lohgerber Ranz bringt dem Kollegio Nachteil, weil er bei den Mahlzeiten solcher Parlamentswahlen so entsetzlich isset. Es zirkuliert über die ganze Ratsmahlzeit, zu der ich mich ex officio mit setzen mußte, und besonders über diesen Lohgerber eine hübsche Satire, die ein Unbekannter im Manuskript herumschickt und die ich hier unkastriert einrücken kann:

„Zuerst muß die Phantasie des Lesers die konsularische Tischgenossenschaft nehmen und ihr alle menschliche Glieder abschneiden, abbeißen und wegstreifen, nur Schlund und Magen ausgenommen, die wir bei der Sache keine Minute entraten können. Hierauf müssen wir, ich und der Leser, die Mägen samt ihren angeschraubten Stechhebern von Schlünden um den Tisch, auf dem die Ratsmahlzeit raucht, die der jüngste zum Ratsherrn erwählte Magen kochen lassen, titularisch auf den Stühlen herumlegen und dann zuschauen und aufschreiben, wie diese einsaugende Gefäße sich einbeißen – wie sie eintunken – wie sie austrinken – wie sie schneiden – wie sie stechen – und was sie forttragen im Magen, Darmkanal und auf dem Teller. – Aber der Gerber-Meister Ranz wirft einen langen Schatten über die ganze Tafel und übermannt und überfrisset jeden, sich ausgenommen. Eh‘ ich protokolliere: so will ich vorher sechs Bierhähne wie Quellen gegen diesen Streckteich richten und den Weiher voll lassen und die Hechte unter – Bier setzen. Nun schwimmt! –

Was uns äußerst frappieret und äußerst interessieret, ist bloß der Ratsherr und Lohgerber Ranz, der gleich der Natur voll Wunder ist und sie nun anfängt zu tun … Er bringt, als Widerspiel eines Wasserscheuen, nichts Festes in seinen Leib, aber nicht weil sein Leib selber fest ist, und genießet, als Widerspiel eines Katholiken, dieses Abendmahl unter einerlei Gestalt, nämlich unter der flüssigen, aber nicht weil er glaubt, die feste stecke schon mit darin – er schöpfet mit dem Pumpenstiefel seiner Hand alles Feuchte auf und ziehet mit den Punschlöffeln seines Wasserrades alle Suppenschüsseln in seine Schlund-Gosse und ins Magenbassin ab, nicht weil er ein Abführungsmittel damit abführen will, womit er erst morgen das heutige abzuführen gedenkt – er wischet mit seinem Brotschwamm alle Brühen weg und hält seinen Gabel-Saugstachel über jede Senf- und Meerrettich-Lache, nicht um seine Magenhaut mit dieser Gerberslohe erst gar zu machen – er setzt sich wie Schimmel auf Brot und schlägt darauf mit seinem Gebisse Wurzel, nicht weil er ein Franzos oder sein Pferd ist und Brot liebt – er macht seinen inkommensurablen Magen zum zweiten Einmachglas eines jeden Eingemachten, zur Grummetpanse eines jeden Gemüses, zum Treibscherben eines jeden Salats, nicht weil er einen Bissen Fleisch dazu absägt – er mauert das Zorngefäß und den Schmelztiegel seines Magens mit Breien aus, aber nicht weil dieser Sprünge hat und die Velutierung braucht – –

Sondern er vollführt diese schöpferische Scheidung der Wasser vom Festen, er befestiget diese Kluft zwischen seinem Teller und seinem Magen, bloß um in beiden eine gleiche Masse aufzuschütten und wegzubringen, bloß um auf dem Zimmerplatz des Tellers mit dem Eßhandwerkszeug ein Fruchtmagazin und Speisegewölbe aus Fleisch-Quadern aufzuführen für sich und seine Kinder … Beim Himmel! er sollte noch sitzen und mauern hinter seinem Viktualien-Verhau aus Beinen, Gräten und Rinden, er sollte noch schweben wie ein dürres Jahr über der Tafel und jede nasse Stelle austrocknen: so wären wir imstande, mit ihm nach Hause zu gehen, wo sich das Messer dieses Schwertfisches gerade umgekehrt nur ans Fleischige ansetzt, sobald das aus den verlaufnen Wassern abgesetzte Viktualien-Flözgebirge nur anlangt. Der Meister – und der Gesell – und die Gerberin und die Gerbersbuben – und der Dachshund bohren sich jetzt in den gebrachten Berg bis an die Fersen hinein, und wir können sie nagen hören. Fresset zu! – Hat sich euer armer Ranz, dieses ätzende fressende Mittel, nicht genug gequält, um nicht wie Knochenfraß alles anzugreifen? Hat er nicht mit allen peristaltischen Bewegungen seines Schlundes den Magen-Luftballon bloß mit Windsbräuten aufgefüllet und gehoben und mit einer Wasserhose die Blase? – Aber sollt‘ ich einmal eines außerordentlichen Typus vonnöten haben, um damit ein außerordentliches Chaos zu erläutern und anzuleuchten, das Chaos und den Zank eines Nonnenklosters oder einer Theatertruppe oder eines heiligen deutschen römischen Reichs – so bring‘ ich bloß deinen aufgesteiften gespannten Magenglobus mit seinen Brühen und Luftarten getragen als Typus, Ranz!“ …

– Ei, ganz herrlich – lieblich – und recht erwünscht und verdammt! – Ich will mir aber den Schreib-Arm absägen lassen, wenn ich hier noch einen Buchstaben schreibe. Wahrlich der Kirchner ist dagewesen, und ich hab‘ ihn über den entsetzlichen Vielfraß verpasset …

Concep. z. Amtsvogt Freudel.

[3. Es gibt weder eine eigennützige Liebe noch eine Selbstliebe, sondern nur eigennützige Handlungen]

[4. Des Rektors Florian Fälbels und seiner Primaner Reise nach dem Fichtelberg]

[5. Postskript]

Lilli Hill via The Art of Obesity

Bilder: Lilli Hill via The Art of Obesity.

Klagelied: Soggy Bottom Boys: I Am a Man of Constant Sorrow, Dick Burnett 1913,
in: O Brother, Where Art Thou?, 2000.

Written by Wolf

22. März 2019 at 00:01

Veröffentlicht in Klassik, Nahrung & Völlerei

Das zum Werk gewordene Gefühl

leave a comment »

Joseph Karl Stieler, Johann Wolfgang von Goethe, 1828 via Neue PinakothekUpdate zu Und Beethoven so: WTF??!!!
(Aufmerksam hab‘ ich’s gelesen)

und Neulich in München:

Schock 1: Das Bild, das man von Goethe hauptsächlich kennt, quasi das Dichterfürst gewordene kollektive Gedächtnis, hängt in der Neuen Pinakothek zu München — das Museum gegründet von Ludwig I. von Bayern, das Gemälde praktischerweise lange vorher aus erster Künstlerhand angekauft.

Schock 2: Der Maler ist derselbe Joseph Karl Stieler, von dem non solum das mindestens so kollektiv bekannte acht Jahre ältere Beethoven-Portrait stammt, sed etiam fast die gesamte berüchtigte Schönheitengalerie desselben Ludwig I. im Schloss Nymphenburg:

„Schönes Fräulein, wenn Sie sich bitte hier in die Kutsche bequemen will, der König findet Gefallen an Ihr.“

„Bin weder Fräulein, weder schön …“

„Sie hat mich schon verstanden. Folgen.“

——— Neue Pinakothek:

Joseph Karl Stieler: Johann Wolfgang von Goethe, 1828

Öl auf Leinwand, 78,0 cm x 63,8 cm, 1828 durch König Ludwig I. vom Künstler erworben, Inv. Nr. WAF 1048,
in: Neue Pinakothek: Erläuterungen zu den ausgestellten Werken, München 1981, Seite 327:

Neue Pinakothek, München, 21. Dezember 2014Das Bildnis Goethes schuf Joseph Stieler im Auftrag König Ludwigs I. von Bayern. 1828 reiste der Künstler mit einem Empfehlungsschreiben des Königs nach Weimar, um dort die Vorarbeiten anzufertigen. Über den Aufenthalt Stielers in Weimar und die Porträtsitzungen geben die Tagebücher Goethes Auskunft. Drei dieser Vorstudien sind noch erhalten.

Stieler hat den Dichter und Gelehrten Goethe als Halbfigur an seinem Schreibtisch sitzend dargestellt. Der Oberkörper ist frontal dem Betrachter zugekehrt, während der Kopf nach rechts gewandt und der Blick seitlich aus dem Bild heraus gerichtet ist. Die statische Gefasstheit der Gesamtkomposition und die genaue Wiedergabe von Gesichtszügen und Kleidung werden somit gelockert und erhalten ein lebensnahes Element.

In seiner rechten Hand hält der Dichter ein Blatt Papier, auf dem die letzten Zeilen eines von Ludwig I. verfassten Gedichtes zu lesen sind. Der König war der Autor einer Vielzahl von schwärmerischer Begeisterung getragener Gedichte, die zumeist antikem Versmaß folgten. 28 seiner Distichen ließ er in den Münchner Hofgartenarkaden als Beschriftungen zu Carl Rottmanns Italienzyklus öffentlich anbringen. Mit dem Gedicht Ludwigs in Händen erweist Goethe — dessen Urteil in Kunstdingen besonderes Gewicht besaß — dem bayerischen König und dessen dichterischen Hervorbringungen seine Reverenz. Andere Zeitgenossen hielten sich mit Kritik und Spott über die meist ungelenken Verse Ludwigs weniger zurück.

Schock 3: Das heißt, auf seinem eigenen berühmtesten Bild hält Goethe ein Gedicht in der Hand, das nicht er selber geschrieben hat, sondern der Auftraggeber seines Malers. Schon bitter, sowas:

——— Ludwig I.:

An die Künstler

„Im Herbste 1818, Ludwig“:

Ja! Wie sich der Blume Flor erneuet,
Durch den Saamen den sie aus gestreuet,
Zieht ein Kunstwerk auch das andre nach,
Aus dem Leben keimet frisches Leben,
Das zum Werk gewordene Gefühl
Wird ein Neues künftig herrlich geben,
Selber nach Jahrtausenden im Gewühl.

Und dann feiert Goethe noch seit 22. März 1832 Todestag und muss sich heute von mir dergleichen ins Grab hinterherfeixen lassen. Der Beethoven von 1820 — Todestag: fünf Jahre früher und fünf Tage später, 27. März 1827 — darf wenigstens bis heute mit seiner eigenen Missa solemnis in der Hand posieren. Und die adligen wie bürgerlichen Jungfern in der Schönheitsgalerie von Ludwig I. sind noch ganz gut bedient: Sein durchgeschmorter Enkel Ludwig „Märchenkönig“ II. führte nebenan im Marstallmuseum dann schon eine Schönheitsgalerie der Pferde.

Bilder: Joseph Karl Stieler: Johann Wolfgang von Goethe, 1828, via Neue Pinakothek a. a. O.;
selber gemacht, Neue Pinakothek, München 21. Dezember 2014.

Soundtrack: K A R O L A: Women in Art (Joseph Karl Stieler), 3. November 2008,
featuring Ludwig van Beethoven: Bagatelle No. 25 in a-Moll, WoO 59, „Für Elise“, 1810:

Bonus Track, damit wenigstens einer der von Stieler Portraitierten zu seinem Recht kommt:
Beethoven, Missa Solemnis, opus 123, 1820, John Eliot Gardiner live im Lübecker Dom 1994:

Written by Wolf

15. März 2019 at 00:01

Veröffentlicht in Herrschaft & Revolte, Klassik

Wölfe haben scharfe Zähne

leave a comment »

Update zu Rotkäppchen und der Penishase:

See! sweet and sound she sleeps in granny’s bed, between the paws of the tender wolf.

Angela Carter: The Company of Wolves, Victor Gollancz Ltd, London 1979, Schluss.

Wahrscheinlich ist es gar kein Naturgesetz, dass Spielfilme über die Mythologie von Wölfen der hinterletzte Schrott sein müssen, es scheint nur ein ehernes Gestaltungsgesetz.

Poster The Company of Wolves, 1984Bezugsgrößen seien die bekanntesten: American Werewolf, 1981, Wolfen, ebenfalls 1981, Die Zeit der Wölfe, 1984, und der vielleicht hanebüchenste von allen: Pakt der Wölfe, 2001. Ihren größten Ehrgeiz setzen solche Filme darein, dass sich ein böser — oder unschuldig dem Bösen anheim gefallener — Mensch in wild durcheinander geschnittenen, detaillierten Close-ups in einen Werwolf verwandelt, indem sich seine Glieder schmerzhaft verkrümmen und zusehends behaaren, ihm Ohren und eine Schnauze voller Reißzähne wachsen, während insinuiert wird, dass ich mich davor jetzt bitteschön „gruseln“ solle.

Als entfernten Namensvettern der Wölfe hat mich das von jeher betrübt. Das Beste an dem ganzen Genre ist der Belgische Schäferhundmischling, der den echten Wolf gibt: immer der beste Darsteller und schön flauschig. In diesem Sinne, habe ich immer gehofft, sollte es gemeint sein, wenn mich die mir nahestehenden Mädchen in halb romantischer, halb neckischer Weise mit Werwölfen verglichen; die lykanthropische Leistungsschau der Maskenbildner war es ja wohl nicht im Ernst.

Auffallend oft verwendeten meiner ungestützten Erinnerung nach drei Mädchen in ihrer romantischen Post an mich eine (jedenfalls ohne internetbasierte Möglichkeiten zur Recherche) obskure Stelle, die offensichtlich etwas mit Rotkäppchen zu tun hatte, aber auch in der erweiterten Version der Brüder Grimm, mehrere Auflagen seit 1812, nicht vorkam. Zur Erinnerung: Nachdem der Jäger dem Wolf den Pelz abgezogen hat, kommt ein alternatives Ende:

Es wird auch erzählt, dass einmal, als Rotkäppchen der alten Großmutter wieder Gebackenes brachte, ein anderer Wolf es angesprochen und vom Wege habe ableiten wollen. Rotkäppchen aber hütete sich und ging geradefort seines Wegs und sagte der Großmutter, dass es dem Wolf begegnet wäre, der ihm guten Tag gewünscht, aber so bös aus den Augen geguckt hätte: „Wenn’s nicht auf offener Straße gewesen wäre, er hätte mich gefressen.“ […]

Wie zu erwarten, stammt das folgende Gedicht, das mir wiederholt gewidmet wurde, weder aus Grimm noch sonst einer besonders verbreiteten Version von Rotkäppchen, die man von Kind auf lernt, ohne sie aktiv aufzusuchen. Dazu noch gereimt in einer Qualität, die gerade mal so volljährige Mädchen wahrscheinlich nicht ohne weiteres aus dem Ärmel schütteln:

——— Die Zeit der Wölfe, 1984,
Drehbuch: Neil Jordan und die Autorin der literarischen Vorlage, Angela Carter:

Und die Moral von der Geschicht‘:
Mädchen, weich vom Wege nicht!
Bleib allein und halt nicht an,
Traue keinem fremden Mann!
Geh‘ nie bis zum bitt’ren Ende,
Gib Dich nicht in fremde Hände!

Deine Schönheit zieht sie an
Und ein Wolf ist jeder Mann!
Merk Dir eines: In der Nacht
Ist schon mancher Wolf erwacht!
Weine um sie keine Träne!
Wölfe haben scharfe Zähne!

Solche Widmungen schmeicheln einem gerade mal so volljährigen Jungen natürlich bis in fortgeschrittene Lebensjahrzehnte. Sobald er Zugang zum Internet hat, beginnt er sich dafür zu interessieren, wo seine Verflossenen unabhängig voneinander das Zeug hergenommen haben, und sobald er heraus hat, dass man eine DVD mit der Leertaste pausieren kann, erfährt er ganz am Ende des Nachspanns von Die Zeit der Wölfe, einem leider heillos überschätzten und mit Filmpreisen fehlausgezeichneten Sammelsurium beliebig zusammengeklebter Episoden, die irgendwie von Wölfen handeln, um sich als geschlossene Filmhandlung auszugeben:

Es sind die letzten Worte in Die Zeit der Wölfe in der deutschen Synchroniation der englischen Übersetzung des französischen Originals von Charles Perrault, welch letzteres die Vorlage für die Brüder Grimm bildete. Gesprochen werden sie aus dem Off von Angela „Mord ist ihr Hobby“ Lansbury, die darin so lange die Großmutter gespielt hat, bis sie stirbt, indem ihr Kopf malerisch in ein Rauchwölkchen aufgeht, aber sonst eine höchst verdiente Schauspielfachkraft ist. — Das Original aus dem Film wird im Nachspann nachgewiesen als:

Quotation from ‚Petit Chaperon Rouge‘
by Charles Perrault
translated from the original
by S. R. Littlewood (1912)

——— The Company of Wolves, 1984:

Little girls, this seems to say
Never stop upon your way,
Never trust a stranger friend,
No-one knows how it will end,
As you’re pretty, so be wise,
Wolves may lurk in every guise.
Now, as then, ‚tis simple truth:
Sweetest tongue has sharpest tooth.

In der deutschen Version gegenüber der englischen stimmen also weder Form noch Inhalt überein, die Off-Stimme muss sich nicht einmal in der Verszahl ans Timing des parallel ablaufenden Filmgeschehens halten. Was man als Original vermuten möchte, weil es als Übersetzung von Charles Perrault ausgewiesen erscheint, ist dieselbe Stelle in der französischen Synchronfassung:

——— La Compagnie des loups, 1984:

Petite fille jamais en chemin ne vous arrêté,
jamais ne faites confiance à l’étranger
car nul ne sait comment cela peut se terminer.
Plus vous êtes jolies, plus il vous faut être avisée,
car l’homme le plus séduisant peut être un loup déguisé.
Aujourd’hui comme demain, resté donc sur vos gardes.
Car les paroles les plus belles se cachent les dents cruelles.

Das ist wesentlich näher am englischen Original-Drehbuch, nicht aber an Perrault. In dessen Histoires ou contes du temps passé, avec des moralités. Les Contes de ma mère l’Oye — übrigens gerade schmale acht an der Zahl — heißt es nämlich anno 1697 als abschließende Moral seines Ur-Rotkäppchens, in vergleichbarer dramaturgischer Funktion wie in Die Zeit der Wölfe, hier in der Rechtschreibung von 1697:

——— Charles Perrault: Le Petit Chaperon rouge, 1697:

Moralité

On voit icy que de jeunes enfans,
Sur tout de jeunes filles,
Belles, bien faites et gentilles,
Font tres-mal d’écouter toute sorte de gens,
Et que ce n’est pas chose étrange
S’il en est tant que le loup mange.
Je dis le loup, car tous les loups
Ne sont pas de la mesme sorte :
Il en est d’une humeur accorte,
Sans bruit, sans fiel et sans couroux,
Qui, privez, complaisans et doux,
Suivent les jeunes demoiselles
Jusque dans les maisons, jusque dans les ruelles.
Mais, hélas ! qui ne sçait que ces loups doucereux
De tous les loups sont les plus dangereux !

Und schließlich diese Stelle in der Übersetzung von Ulrich Friedrich Müller, 1962 im zweisprachigen Paralleldruck Contes de Fées/Märchen bei dtv:

——— Charles Perrault: Rotkäppchen, 1697:

Moral

Hier sieht man, dass ein jedes Kind
und dass die kleinen Mädchen (die schon gar,
so hübsch und fein, so wunderbar!)
sehr übel tun, wenn sie vertrauensselig sind,
und dass es nicht erstaunlich ist,
wenn dann ein Wolf so viele frisst.
Ich sag ein Wolf, denn alle Wölfe haben
beileibe nicht die gleiche Art:
Da gibt es welche, die ganz zart,
ganz freundlich leise, ohne Böses je zu sagen,
gefällig, mild, mit artigem Betragen
die jungen Damen scharf ins Auge fassen
und ihnen folgen in die Häuser, durch die Gassen.
Doch ach, ein jeder weiß, gerade sie, die zärtlich werben,
gerade diese Wölfe locken ins Verderben.

Es war also ein langer Weg seit 1697, bis freundliche Mädchen mir gegen 1986 kokette Wolfsgedichte widmen konnten. Bildmaterial im Übermaß erspare ich deswegen taktvoll uns allen.

Charles Perrault, Le petit chaperon rouge, 1695

Bilder/images/images: The Company of Wolves, 1984;
Charles Perrault: Contes de ma Mère l’Oye, [eigenes] manuscrit de 1695 (pièce ou n° 3 / 6),
The Pierpont Morgan Library, New York, MA1505, via Utpictura. Die bildliche Vorstellung, wie der Wolf die Großmutter im Bett überfällt, war also schon zwei Jahre vor Ur-Rotkäppchens Veröffentlichung ausgeprägt.

Soundtrack: First Aid Kit: Wolf, aus: The Lion’s Roar, 2012:

Written by Wolf

8. März 2019 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Das Tier & wir

Das Herz in meinem Leibe gehört ja allzeit dein (for life is just that way)

leave a comment »

Update zu Wære diu werlt alle mîn,
Quis me amabit? (Wer sol mich minnen?),
Diu minne minnesam und die lieben passiv-aggressiven Lieben
und Lache, liebez frowelîn:

Der meteorologische Frühlingsanfang, festgelegt auf den 1. März jeden Jahres, bedeutet: Der Winter ist vergangen. Derselbe Satz bedeutet zugleich ein Highlight im Volksliedschaffen des vergangenen halben Jahrtausends: Die Ursubstanz stammt allen Anzeichen nach von 1537, und wenn man sich heute — in Zeiten verlorener Heimaten und unzuverlässiger Gefühle in Dingen der eigenen Zugehörigkeit und Zuneigungen — fragt, wie eigentlich noch ein Volkslied zu spielen sei, ohne sich vor sich selber und anderen genieren zu müssen, so wende man sich an die Version Der Winter ist vergangen von Hannes Wader auf seinem Album Volkssänger von — auch schon wieder — 1975.

Das war die Zeit, in der eine ganze Musikrichtung der Liedermacher teils zur Klampfe die Tageszeitung vorlas — zum anderen Teil aber angetreten war, eine überlebte (dabei bis heute überlebende) Interpretation des deutschen Volksliedes ihren politisch „rechts“ assoziierten Missbrauchern zu entwinden. Verdienstreich in Erhaltung und Fortführung waren außer Hannes Wader noch Peter Rohland, schon 1966 mit 33 Jahren verstorben, Ougenweide, seit 1970 bis ins Mittelhochdeutsche zurückforschend, Zupfgeigenhansel, mit Unterbrechungen aktiv seit 1974, Liederjan, zuständig fürs Nordische seit 1975, oder die Biermösl Blosn, zuständig fürs Bairische 1976 bis 2012.

Hans Zatzka, FrühlingsliedBei allem modischen Antiamerikanismus traf man wirksame Vorbilder in der nordamerikanischen contemporary folk music in der Tradition von Woody Guthrie, der Carter Family oder dem frühen Bob Dylan. Gerade Hannes Wader schaffte es, mit solchen amerikanischen Vorlagen musikalisch mitzuhalten — der Mann ist außer dem letzten echten Volks-Sänger in allen Sinnen des Wortes ein nachgerade genialer Gitarrist. Es reicht, auf YouTube ein beliebiges Live-Video von ihm herauszusuchen: Was Hannes „Ich spiele alles zu überhastet (2004)“ Wader allein mit seinem rechten Daumen auf den Basssaiten veranstalten kann, während er als Erschwernis die korrekten Liedertexte wiedergibt, ist gegenüber jedem halbwegs fingerfertigen Lagerfeuerklampfer einfach nicht fair. Und dann noch das: „Ich habe mir, von vier Wochen Unterricht bei meinem Schwager abgesehen, das alles selbst beigebracht.“ Immerhin eine antiquiert gefühlige Stelle wie „Das Herz in meinem Leibe gehört ja allzeit dein“ auf ein böses transatlantisches Zupfmuster so singen, dass es zeitgemäß cool und trotzdem aufrecht „links“ bleibt — das muss einer erst mal hinkriegen.

Hannes „Ich habe keine Vorbilder – ich bin selbst eins“ Waders Gitarrenzupfmuster (die heißen wirklich so) orientieren sich an französischen Chansonniers wie Georges Brassens und seinem andernorts erklärten Vorbild Bob Dylan — Erscheinungen also, die sich ihrerseits wenigstens als respektvolle Referenz oder auf Umwegen auf keltische Wurzeln berufen: Selbst was die junge Kultur der USA als ihre Volksmusik begreift, country and western, besteht zur Hälfte aus „schwarzem“ Blues, zur anderen aus Irish folk. Und Waders Der Winter ist vergangen von 1975 fängt ganz gegen seine sonstigen Gebräuche mit einem scheinbar unmotivierten und nicht weiter erläuterten irischen Intro an, das deutlich weder von ihm selbst noch sonst einem deutschen Muttersprachler gesungen wird.

Nun weisen seit Mai 2009 Frauke Schmitz-Gropengießer und Eckhard John im Historisch-kritischen Liederlexikon der Uni Freiburg im Breisgau unter Berufung auf Gerhard Saupe: Der Winter ist vergangen, in: Deutsche Musikkultur 4, 1939/1940, Seite 200 bis 205, nach:

Hans Zatzka, FrühlingsgöttinDie erwähnte Ursubstanz des Liedes von 1537 findet sich erstmals von einem unbekannten Verfasser in einer Liederhandschrift aus dem gelderländischen Zutphen, kurz danach auch in der Darfelder Liederhandschrift und einer Hanauer Handschrift, erfuhr mehrere Umdichtungen vom Frühlings- zum Liebes- bis hin zum Tagelied – was für Beliebtheit und häufigen Gebrauch spricht –, erscheint nach einer Art Ruhezeit während des 17. Jahrhunderts erst 1854 bei Hoffmann von Fallersleben wieder, wurde aber von Franz Magnus Böhme 1894 im Erk/Böhme: Deutscher Liederhort auf eine Lautentabulatur aus Het Luitboek van Thysius ab 1595 festgelegt. In der Gestalt aus dem Erk/Böhme wurde Der Winter ist vergangen „eins der beliebtesten deutschen Volkslieder des 20. Jahrhunderts“, was etwas gehässiger gesagt bedeutet: Schulstoff seit der Nazizeit, also unter Verleugnung des niederländischen Ursprungs. Ausgewiesen mit „1980“, aber offensichtlich während der Amtszeit von Ronald Reagan zwischen 1981 bis 1989 erscheint schließlich eine Parodie als Protestsong der Bewegungen gegen Atomkraft und Raketenstationierung.

Die historischen Versionen sind schon im Wikipedia-Artikel, in aller wünschbaren erschöpfenden Tiefe spätestens im Historisch-kritischen Liederlexikon zugänglich. Zum eingehenden Verständnis der krönenden Version von Hannes Wader folgen hier sein irisches Intro mit dem vollständigen Text von Finbar Furey 1974, ein durchaus „links“ gerichtetes Umweltschützerlied, danach der gängige Volksliedtext seit 1894 samt der Anti-Atomkraft-Parodie ab 1981. Venceremos.

——— Finbar Furey:

Life Is Just That Way

Tabulatur 17. Jahrhundert, aus Eddie & Finbar Furey: A Dream in My Hand, 1974,
als Intro zu Hannes Wader: Der Winter ist vergangen, aus: Volkssänger, 1975,
dort 1. Strophe (vermutlich als Sample) gesungen von Eddie Furey:

Hans Zatzka, FrühlingsschönheitWhy do the children frown like this,
and why not do they smile?
And tell me why not do they play
just for a little while?
The ponds they are all polluted
and the little fish are gone away.
So wipe your tears, little baby,
for life is just that way.

You ask me where the grass is gone,
They’ve taken it away.
To build a concrete playground,
They call the motorway.
And the trees they went all black and damp,
And the leaves they did decay.
So wipe your tears, little baby,
for life is just that way.

You ask me where the birds have gone,
And did they really fly?
They fed them poisonous seed to eat,
And they also had to die.
And the eggs went hard with the yellow crust,
And they all died on that way.
So wipe your tears, little baby,
for life is just that way.

You ask me where all life has gone,
With eyes that look so sad.
Pollution was the cause of it,
It spread all through this land.
With sours and wounds they fell all night,
And they all died through that day.
So wipe your tears, little baby,
for life is just that way.

So now you see little baby,
You can not play out there.
We really tried to tell them,
But they did not really care.
You may sit and play with your toys in here,
But you must not stay away.
So wipe your tears, little baby,
for life is just that way.

Der Winter ist vergangen

1. Der Winter ist vergangen,
ich seh des Maien Schein,
ich seh die Blümlein prangen,
des ist mein Herz erfreut.
So fern in jenem Tale,
da ist gar lustig sein,
da singt die Nachtigalle
und manch Waldvögelein.

2. Ich geh, ein Mai zu hauen,
hin durch das grüne Gras,
schenk meinem Buhl die Treue,
die mir die liebste was,
und bitt, daß sie mag kommen,
all vor dem Fenster stahn,
empfangen den Mai mit Blumen,
er ist gar wohl getan.

3. Und als die Allerliebste
sein Reden hatt gehört
da stand sie traurigliche
und sprach zu ihm ein Wort:
„Ich hab den Mai empfangen
mit großer Würdigkeit!“
Er küßt sie an die Wangen,
war das nicht Ehrbarkeit?

4. Er nahm sie sonder Trauern
in seine Arme blank,
der Wächter auf der Mauern
hub an ein Lied und sang:
„Ist jemand noch darinnen,
der mag bald heimwärts gahn.
Ich seh den Tag herdringen
schon durch die Wolken klar.“

5. „Ach Wächter auf der Mauern,
wie quälst du mich so hart!
Ich lieg in schweren Trauern,
mein Herze leidet Schmerz.
Das macht die Allerliebste,
von der ich scheiden muß;
das klag ich Gott dem Herren,
daß ich sie lassen muß.“

6. Ade, mein Allerliebste,
ade, schöns Blümlein fein,
ade, schön Rosenblume,
es muß geschieden sein!
Bis daß ich wieder komme,
bleibst du die Liebste mein;
das Herz in meinem Leibe
gehört ja allzeit dein.

Der Winter ist vergangen

Edition G, 1980 [1981–1989]:

1. Der Winter ist vergangen,
ich seh‘ des Maien Schein.
Ich seh‘ die Blümlein prangen
und tät mich gern dran freu’n.
Dort drüben in jenem Tale
da ist gar lustig sein –
vorausgesetzt, es kommt kein
Raketenstützpunkt rein.

2. Ich ging um nachzuschauen
hin durch das grüne Gras,
bis daß ein Stacheldraht war,
wo ich solch‘ Inschrift las:
„Hier baut die US-Army
ein Waffenarsenal.“
Da fand ich’s plötzlich gar nicht
mehr lustig in dem Tal.

3. Der Wächter auf dem Turme
schrie und hub an Gesang:
„Hau ab oder ich zieh Dir
die Hammelbeine lang!“
Von derlei Freundlichkeiten
im Innersten berührt,
hab‘ ich in mir den Stachel
des Widerstands verspürt.

4. „Ach Wächter auf dem Turme,
wie quälst Du mich so hart.
Ich mach mir nämlich Sorgen
um Ronald Reagan’s Art,
den Frieden zu beschützen,
denn – tut er das einmal –
ich fürcht‘, dann bleibt nichts übrig
von uns in diesem Tal.“

5. So macht‘ ich mich von hinnen,
ade, schön’s Blümlein fein.
Ade, saugrober Wächter,
es muß geschieden sein,
bis ich dann wiederkomm‘ und
vieltausend Menschen mehr.
Dann schallt’s durch’s Tal: „Hier kommt kein
Raketenstützpunkt her!“

Bilder: Hans Zatzka: Frühlingslied; Frühlingsgöttin; Frühlingsschönheit,
via Anemalon’s Blog: Hans Zatska Austrian Academic Painter, (1859–1949), 9. August 2011.

Soundtrack: Midnight Skyracer: Winter’s Come and Gone (das ist englisch und heißt: Der Winter ist vergangen), live am 9. März 2017 — ein Cover von Gillian Welch, auf die ich in letzter Zeit nix mehr kommen lasse, aus: Hell Among the Yearlings, 1998:

Written by Wolf

1. März 2019 at 00:01