Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Archive for the ‘Aufklärung’ Category

Begräbnis des Glaubens (L’enterrement de la foi)

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Update zu Paris Faustiens,
Dieses unnötige, ja sinnlose Hin und Her
und Moritz Under Ground:

Die junge, noch nicht Neue Zürcher Zeitung berichtete am 14. Juni 1780, und zwar aus ihrem Standort Berlin:

Heute ist der Sterbetag des Herrn von Voltaire auf Sr. Majestät Befehl in der hiesigen Katholischen Kirche feyerlich begangen worden. Es wurde bey dieser Gelegenheit eine hohe Messe gehalten, und in der Mitte der Kirche war ein Castrum doloris errichtet, auch die Kirche mit vielen Waxlichtern erleuchtet. Die Kosten hierzu haben Se. Majestät gegeben. – Diese andächtige Feyerlichkeit wurde in Gegenwart einer ansehnlichen Versammlung, Personen von allen Ständen verrichtet, welche nach deren Beendigung reichliche Allmosen unter die Armen austheilten.

Die Katholischen Mitglieder der hiesigen Königl. Akademie der Wissenschaften haben diese Messe veranlasset, und der hiesige Herr Pfarrer hat um so weniger Bedenken getragen darein zu willigen, da sie ungezweifelte Beweise beygebracht, daß der Herr von Voltaire kurz vor seinem Ende ein Christ-Katholisches Glaubens-Bekenntniß abgelegt, ordentlich gebeichtet, seinem christlichen Nebenmenschen durch Allmosen und andere gute Werke ein Beyspiel gegeben, und nach seinem erfolgten Ableben in die Abtey Scellieres […] nach den Gebräuchen der katholischen Kirche beerdiget, mithin der französischen Geistlichkeit um so mehr zur Ungebühr und boshafter Weise zur Last gelegt worden, daß sie ihm die kirchliche Beerdigung versaget, da dieser ehrwürdige Stand es nicht würde haben wollen an sich kommen lassen, daß er die Grundsätze der Gerechtigkeit[…] aus den Augen gesetzet, wodurch er den Verdacht eines mit der christlichen Liebe und aller wahren Tugend streitenden Privathasses gegen sich erweckt haben würde.

Jedenfalls hinterbringt es so die Neue Nachfolgerin ihrer selbst in in: Voltaires Totenmesse, Neue Zürcher Zeitung, 2. August 2005. Und für einen Todestag am 30. Mai 1778 wäre ein Begräbnis anno 1780 doch auffallend spät.

Das Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon von 1837 erklärt uns den Verzug:

Im Théâtre français wurde seine Büste und er selbst gekrönt; allein der 84jährige Greis ward von allen diesen Festlichkeiten und der veränderten Lebensweise so angegriffen, daß er erkrankte, eines Tages schwermüthig ausrief: „er sei blos nach Paris gekommen, um Ehre und Grab zu finden“, und im Mai 1778 starb. Da er nicht wie ein katholischer Christ verschieden war, verweigerte der Erzbischof ihm in Paris ein ehrliches Begräbniß und seine Leiche ward deshalb im Stillen nach der Abtei Scellières (zwischen Troyes und Noyent) gebracht und bestattet. Im J. 1791 ließ aber die Nationalversammlung V.’s Asche nach Paris holen und feierlich im Pantheon (s.d.) beisetzen.

Ausführlicher hat man es seit 1992:

——— Hans Pleschinski:

Voltaire – Friedrich der Große.
Briefwechsel.
Herausgegeben, vorgestellt und übersetzt von Hans Pleschinski

aus: ebenda, Haffmans Verlag, Zürich 1992, Seite 555:

Voltaire, Brockhaus 1837, 1841Eine größere Makabrität als das Nachspiel zum Sterben Voltaires ließe sich kaum erfinden. Bei der Sektion und Einbalsamierung des Leichnams, um den sich die Nichte und Haupterbin Marie-Louise Denis nicht mehr kümmert, nimmt der Chirurg das Gehirn Voltaires an sich und überläßt dem Marquis de Villette, Voltaires letztem Gastgeber, das Herz des Toten, in einer Kapsel verwahrt. Der Erzbischof von Paris lehnt eine ordentliche Beisetzung des Verstorbenen kategorisch ab. Einbalsamiert und angekleidet, wie ein Schlafender, wird der Leichnam aus Paris herausgebracht, wird tagelang kreuz und quer durch Ostfrankreich gefahren, bis Voltaires Neffe bei Troyes endlich einen Geistlichen findet, der bereit ist, die sterblichen Überreste des Freigeists in der Abtei Scellières beizusetzen. Ein Grabmal darf jedoch nicht errichtet werden, und überdies wird der hilfreiche Abbé Mignot alsbald seines Amtes enthoben.

Dreizehn Jahre lang ruht der Leichnam in der Champagne. 1791 wird er in der Abtei aufgestöbert und zum Heiligtum der Revolution erklärt. Am 11. Juli 1791, genau dreizehn Jahre nach Voltaires Tod, muß der schon halbwegs inhaftierte Ludwig XVI. aus den Tuilerien mitansehen, wie die leiblichen Überreste des Philosophen und Ex-Historiographen Ludwigs XV. in einem Prunkkatafalk nach Paris überführt und als Symbol des Umsturzes und der Freiheit ins Panthéon gebracht werden. Dort bleibt Voltaire – neben den Resten seines Antipoden Jean-Jacques Rousseau – bis 1814. Wiederum im Mai stürmen katholische Ultraroyalisten das Mausoleum der Revolution und Republik, brechen die Sarkophage auf und vernichten die Philosophengebeine vor der Stadt in ungelöschtem Kalk.

Voltaires riesige Bibliothek wird von seinen Erben gleich nach seinem Tod verkauft und trifft schon 1778 in Petersburg bei Katharine der Großen ein; Voltaires präpariertes Herz, eingeschlossen in einer goldenen Kapsel, wird im 19. Jahrhundert Eigentum der Bibliothèque Nationale in Paris.

Und das einem Mitglied der Académie française, dem eine Totenmesse zusteht. Offenbar kann sich die NZZ a. a. O. in Detailfragen des Voltaireschen Vermächtnisses recht sicher sein:

Zwar wünschte sich der Philosoph tatsächlich ein ordentliches christliches Begräbnis, aber er machte dem Klerus die geforderten Zugeständnisse nicht: Er legt auf dem Totenbett die Lebensbeichte ab, verweigert aber sowohl den vollen Widerruf seines Werks als auch die Kommunion.

Von Voltaires posthumer Odyssee, die in den absolutiven Stunt mit dem ahnungslosen Prior der Abtei Scellières mündete, über die quasireligiöse Überführung ins Panthéon kurz nach Ausbruch der Französischen Revolution und auf Betreiben des Enzyklopädisten d’Alembert bis hin zur Grabschändung durch die Allzukatholischen schien mein alter Religionslehrer (katholisch) nichts zu wissen. Der stellte es noch so dar, dass Voltaire allein in seinem Sterbekämmerlein jämmerlich vor sich hin verreckte, warum auch immer jemand dergleichen zugelassen haben sollte, und bis zu seiner Auffindung mit blutigen Fingernägeln „Ich bereue“ in die Wand neben seinem Bett geschürft hatte. Und dann wusste der Herr Lehrer nicht mal, um die Anschlagszahl pro Fingernagel einzuschätzen, was „bereuen“ auf französisch heißt.

Man kann immer nur das glauben, was einem aktuell hinterbracht wird. Mir selber sagt die Version Pleschinksi 1992 am meisten zu – was gut damit zusammenhängen kann, dass ich das wirklich wunderschöne Buch mal auf einem Nymphenburger Bücherramsch gefunden hab. Tipp für Neuanschaffungen: Das leichter erreichbare Taschenbuch bei dtv 2004 soll eine „völlig revidierte Neuausgabe“ sein.

Bild: Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4, Leipzig 1841.

Soundtrack: Aurelio Voltaire: Death Death (Devil, Devil, Devil, Devil, Evil, Evil, Evil, Evil Song),
aus: To the Bottom of the Sea, 2008:

Written by Wolf

2. Dezember 2022 at 00:01

Veröffentlicht in Aufklärung, Vier letzte Dinge: Tod

Kritik der reinen Unvernunft

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Update zu Der deutsche Sonderweg zur Hochkomik 1–10:

Carl Friedrich Hagemann, Kant rührt Senf an, 1801Das ist nun eine auffrisierte Zweitverwendung aus dem April 2004 fürs dahingegangene jetzt.de. Den kompetentesten Kommentar dazu – von einer aufrechten Kommunistin mit der DDR-Flagge als Profilbild – weiß ich noch auswendig:

Ist das Satire? Dann ist es schlecht. Ist es ernst? Dann ist es dumm, unendlich dumm.

Da sieht man wieder, wie die Rezeption von Immanuel Kant (* 22. April 1724; † 12. Februar 1804, beides in Königsberg) bis in die Postmoderne hinein polarisiert.

Seien wir ehrlich: Nicht einmal Kant hat ab 1802 noch seine eigenen Schriften aus dem 18. Jahrhundert verstanden.

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Der Philosoph und Alleszermalmer Immanuel Kant wurde in Deutschland geboren. Das war in Kaliningrad, das in Russland liegt, aber nur als Exklave. Deswegen müssen die Nachbewohner der Ostpreußen bis heute seine Bücher voll der abseitigsten Fremdwörter übersetzen und verstehen immer noch nicht mehr als jeder akademisch gebildete deutsche Muttersprachler.

In Kaliningrad fängt alles mit K an. Kant sowieso, der alte Name Königsberg, der allenthalben gerne genommene Kartoffelschnaps, die Königsberger Klopse sogar gleich zweimal, und der Kategorische Imperativ mit KI wie die Künstliche Intelligenz, die Kant noch auf natürlichem Wege zu erzeugen verstand.

Carl Friedrich Hagemann, Kant rührt Senf an, 1801Überhaupt von wegen Verstand: Kants Kategorischer Imperativ besagt: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu“, nur mit dem Nachteil, dass er sich nicht reimt. Kant hat es viel schwieriger formuliert, weil er an der Uni war, auf der richtigen Seite des Katheders (mit K!). Von dort aus unterrichtete er Pyrotechnik. Man kann ihn so oft lesen, wie man will, ohne einen Pieps zu verstehen, um am Ende der Vorlesung kleinlaut einzusehen: Besser hätte man es nicht sagen können.

Mit den Frauen hatte er’s nicht, lebte lieber sein Lebelang im Zölibat. Wer mal in Kaliningrad war, das Kant nur selten und unter Protest verließ, versteht gar nicht, warum. In der Fußgängerzone kann man sich alle zehn Meter in eine putinkritische Russin verlieben, wovor eindringlich gewarnt wird, weil die sich hüten wird, sich zurückzuverlieben. Folglich sagte sich Kant: Wozu denn? und handelte so, dass er wollen konnte, seine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden.

Und von wegen Alleszermalmer: Das ist rein geistig gemeint, was zu essen gab es bei Kant allerdings jeden Mittag in aller leiblichen Üppigkeit nicht unter drei Gängen in handverlesener Gesellschaft, am liebsten Kabeljau aus der anliegenden Ostsee, Schweinshaxen oder -braten, und den am liebsten mit Senf. Folgerichtig zeigt ihn eine maßgeblich charakterisierende Handzeichnung beim Anrühren eines Töpfleins mit Senf. Für die Klopse und die Wäsche hatte er eine Haushälterin, denn in Kaliningrad waren sie damals wie heute weit davon entfernt, der EU beizutreten, so dass ein Uniprofessor sich das leisten konnte. Wozu also noch mehr Weiber um sich scharen?

Der Senf war wahrscheinlich mit Knoblauch, wegen russischer Exklave und dem K – was wiederum das mit dem Zölibat erklären würde.

Als Nachspeise gab es Obst, Kuchen oder Pudding. Zu diesem Anlass ist 1995 ein handliches Buch mit seinen drei Hauptwerken in vier Bänden erschienen: Kritik der reinen Vernunft, Kritik der praktischen Vernunft und Kritik der Urteilskraft, und da fehlt sogar noch die kulinarische, aber nur, weil er die gar nicht geschrieben hat. Wer zwei Paar Hosen hat, mache eines zu Geld schaffe sich dieses Buch an; dann braucht er nie wieder ein anderes, bis er endlich versteht, was Kant andauernd gegen Vernunft, Urteilskraft und Essen hat.

In englischsprachigen Ländern wird Kant oft nicht als Philosoph, sondern als zwielichtiger Saubartel anerkannt. Das trauen die sich aber nur, weil sie ihn für einen Russen halten, der sie sowieso nicht versteht, und kommt wegen seiner unorthodoxen Auffassungen über die Bewohner anderer Planeten sowie die Spitzfindigkeit von Syllogismen. Und weil sie seinen Nachnamen so komisch aussprechen.

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Wikipedia ist keine Quelle„, aber das Brauchbarste, was man ohne Kosten und Mühen nicht scheuen muss:

Auf [Carl Friedrich] Hagemanns Frage, ob er ihn „ganz getreu“ nachbilden solle, antwortete Kant: „So alt und häßlich, wie ich nun bin, dürfen Sie mich eben nicht machen!“ Wie alt und gebrechlich Kant 1801 schon war, zeigt Hagemann in seiner berühmten Zeichnung, wie Kant Senfkörner im Mörser zermahlt. Diese 8 cm hohe Federzeichnung gibt Kant in ganzer Figur stehend wieder. Von unbekannter Hand wurde auf dem ca. 9 × 16 cm großen Blatt folgende Beischrift zugefügt:

Die Figur Emanuel Kants, wie er für seine Tischgenossen den Senf zubereitet, gezeichnet von dem Bildhauer Hagemann zur Zeit er dessen Büste modelliert im Jahre 1801.

Die Kleidung: Kniehosen mit Gamaschen, einen Rock, und eine Perücke mit Zopf und Schleife.

In England wurde Senf lange Zeit nicht als fertig gemischte Paste gekauft, sondern zu Hause aus Senfmehl und Wasser eigenständig angerührt. Für eine besonders intensive gelbe Farbe sorgte die Beigabe von Kurkuma. Nach etwa zehn Minuten Wartezeit entfaltet diese nach der so genannten Colman-Methode zubereitete Mischung ihr volles Aroma.

Bilder: Carl Friedrich Hagemann: Immanuel Kant, Senf zubereitend, 1801,
Vollansicht käuflich als Kant mixing mustard, 1801 (Kant mischender Senf).

Soundtrack: Heiðrikur á Heygum: Monster, Kaliningrad 2017,
bestes Video beim Føroysku Tónlistavirðislønirnar 2018:

Written by Wolf

11. Februar 2022 at 00:01

Veröffentlicht in Aufklärung, Nahrung & Völlerei

Die Sonne zeugt das Licht und hat doch selber Flecken (wie viel uns fehlt, wie nichts man weiß!)

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Update zu In einem anderen hochgewölbten, engen gotischen Zimmer:

Das wichtigste Vorbild für Faustens Sinn stiftenden und Handlung setzenden Eingangsmonolog haben wir uns soeben klar gemacht: die Knittelverse in Gottscheds Poetik für Knittelverse — grundlegender könnte Faust sich nicht auf eine Reise „vom Himmel durch die Welt zur Hölle“ (der Direktor im Vorspiel auf dem Theater, Vers 242) begeben; es liegt also nahe, dass durch den Zauberdoktor aus dem kindlich erlebten Puppenspiel der Autor Goethe selbst zu uns spricht — literaturwissenschaftlicher gesagt: die personale Erzählerrolle zu den Lesern.

Das mindestens zweitwichtigste Vorbild — wir sprechen immer noch von diesem speziellen einen Dramenmonolog — stammt von einem Schweizer naturwissenschaftlichen Universalgelehrten: Die Falschheit menschlicher Tugenden von Albrecht von Haller war bis nach der Aufklärung verbreitet genug, dass wir seine Kenntnis bei Goethe vorauszusetzen können — und Goethe damit rechnen durfte oder musste, dass Zitate daraus erkannt wurden.

Textnah bis wörtlich übernimmt der Faust-Monolog das „Er kennet von der Welt / was aussen sich bewegt [/] Und nicht die inn’re Kraft / die heimlich alles regt“ als „was die Welt im Innersten zusammenhält“, und „[s]chwingt ein erhobner Geist sich aus der Menschheit Schranken“, zieht Faust daraus die Selbsterkenntnis: „Zwar bin ich gescheidter als alle die Laffen“ pp.

„Warum die Sternen sich in eignen Gleisen halten ; [/] Wie bunte Farben sich aus lichten Strahlen spalten ; [/] Welch nimmer stiller Trieb der Welten Wirbel dreht ; [/] Welch Druk das grosse Meer zu gleichen Stunden bläht“ verweist schon anhand der Verbindung irdischer Mechanik mit Himmelsmechanik, der Brechung des weißen Lichtstrahls in ein Farbenspektrum und des universalen Gesetzes Gravitation auf Isaac Newton — den von Haller in einer seiner Anmerkungen (siehe unten) namentlich nennt und den Goethe nicht mochte, ja den er spätestens 1810 mit seiner Farbenlehre widerlegt haben wollte. Eigentlich qualifiziert sich der an so prominenter Stelle zitierte von Haller damit als Newtonist und Goethes Gegenspieler. Der Schweizer Berggelehrte mit seinem polyhistorischen Anspruch und einigen diskutierwürdigen Reimen, vor allem in seinem Monumentalwerk Die Alpen, wurde nach der Aufklärung folgerichtig eher zum Gegenstand der Lächerlichkeit. Nicht anders als späterhin Goethes Farbenlehre.

Dennoch erkennt Goethe mit seinen mehr oder weniger direkten Anklängen an Die Falschheit menschlicher Tugenden Newton weit genug an, um die Rolle eines die Neuzeit betretenden Naturwissenschaftlers auf den Doktor Faust zu übertragen: Faust ist damit kein spätmittelalterlicher Taschenspieler mehr, auf gotteslästerliche Weise hybrid bleibt er vorerst schon rein aus handlungsführenden Gründen.

Offensichtlich war einst eine Zeit, in der man auf schweizerdeutschem Gebiet ein ß schrieb. Zitiert wird die stilistisch gänderte und um einige Strophen erweiterte Fassung von 1732 – verlegt in Bern mit zahlreichen ß –, die seltener belegt ist als die Urfassung von 1730, dort noch mit dem Vorspruch in Prosa:

Der Ursprung dieses Gedichtes ist demjenigen gleich / der das fünfte veranlasst hat. Es ist auch eben in einer Krankheit gemacht worden / die mich eine Zeit lang von andern Arbeiten abhielt. Der Grund-Riß ist deutlicher / aber die Verse schwächer.

Vorsicht mit der Zählung: „Das fünfte“ ist in anderen Fassungen erst Nummer VI, Nummer VI ist wiederum auch die unten vollständig zitierte Nummer VII in der großen Ausgabe von 1882. – Für diejenigen unter uns, die wegen der Interpretation für den Deutschunterricht hier sind: Alle Fassungen stehen mitnichten im Knittelvers, sondern durchgehend im Alexandriner:

Tugendbrunnen Nürnberg aha

——— Albrecht von Haller:

VII. Falschheit menschlicher Tugenden.

An den Herrn Prof. Stähelin.

aus: Versuch Schweizerischer Gedichten,
bey Niclaus Emanuel Haller, Bern 1730, Fassung 1732:

Geschminkte Tugenden / ihr täuschet mich nicht mehr;
Scheint nur dem Pöbel schön / und sucht bey Thoren Ehr /
Bedekt schon euer Nichts die Larve der Gebärden /
Ich will ein Menschen-Feind / ein Swift / ein Hobbes werden /
Und biß ins Heiligthum / wo diese Gözen stehn /
Die Wahn und Tand bewacht / mit frechen Schritten gehn.

Ihr füllt / o Sterbliche! den Himmel fast mit Helden /
Doch laßt die Wahrheit nur von ihren Thaten melden /
Vor ihrem reinen Licht erblaßt der falsche Schein /
Und wo ein Held gewest wird izt ein Sclave seyn.

Wann Völker einen Mann sich einst zum Abgott wählen /
Da wird kein Laster sein / und keine Tugend fehlen /
Die Nachwelt bildet ihn der Gottheit Muster nach /
Und gräbet in Porphyr / was er im Scherze sprach.
Umsonst wird wider ihn sein eigen Leben sprechen /
Die Fehler werden schön / und Tugend strahlt aus Schwächen.
Was war ein Socrates? ein weiser Wollüstling;
Sein Sinn war wundergroß / die Tugend sehr gering.
Aus seinem Munde floß die reinste Sitten-Lehre /
Allein sein Herze gab den Lippen kein Gehöre.
Sein lüsternes Gemüht stund aller Wollust bloß /
Er lehnt das weiche Haupt auf schöner Knaben Schooß /
Tanzt wann sein Phädon tanzt / lehrt keusch zu sein und brennet /
Und diesen hat ein Gott den Weisesten genennet.

Zwar viele haben auch den frechen Leib gezähmt /
Und mancher hat sich gar ein Mensch zu seyn geschämt :
Ein frommer Simeon wurd alt auf einer Säulen /1
Sah‘ auf die Welt herab / und that noch mehr als Eulen.
Manch Caloyer verscherzt der Menschheit Eigenthum /2
Verbannt sein klügstes Glied / und wird aus Andacht stumm.
Assisens Engel löscht im Schnee die wilde Hize /3
Sein heisser Eifer tilgt biß in der Geilheit Size /
Des Ubels Werkzeug aus; und was an jedem Blat /
Für Thaten Surius mit roht bezeichnet hat.4

Allein was hilft es doch sich aus der Welt verbannen /
Umsonst o Stähelin wird man sich zum Tyrannen /
Wann Laster / die man haßt / vor grössern Lastern fliehn /
Und wo man Lolch getilgt / izt bittre Ratten blühn /
Wir meinen offt uns frey / wann wir nur Meister ändern /
Wir fluchen auf den Geiz / unn werden zu Verschwendern:
Der Mensch entflieht sich nicht / umsonst erhebt er sich /
Des Körpers schwere Last zieht stäts ihn unter sich.
So wann der rege Trieb in halb-bestrahlten Sternen /
Von ihrem Mittel-Punct sie zwingt sich zu entfernen /
Drükt sie ein innrer Zug vom Borte von dem Kreiß /
Mit ewiger Gewalt in ihr bestimmtes Gleiß.

Geht Menschen / schnizt nur selbst an euren Gözen-Bildern /
Laßt Gunst und Vorurtheil sie nach belieben schildern /
Erzehlt was sie gethan / und was sie nicht gethan /
Und was nur Ruhm verdient / das rechnet ihnen an /
Das Laster kennet sich auch in der Tugend Farben /
Wo Wunden zugeheilt / erkennt man doch die Narben.

Wo ist er? zeiget ihn / der Held / der Menschheit Pracht /
Den die Natur nicht kennt / und euer Hirn gemacht.
Erzehlt / wie soll er seyn? vollkommen / frey von Mängeln /
An Tugend gleicht er GOTT / und an Verstand den Engeln :
Sein Wunsch ist andrer Glük / und Wohlthun seine Raach /
Sich dämpffen / seine Lust / und beten seine Spraach:
Der Gottheit Siegel strahlt in ihm mit Wunder-Zeichen /
Ihm muß die Sonne stehn und ihm die Teuffel weichen :
Er sieht die ganze Welt / als eine Pilger-Bahn /
Den Tod als eine Thür zu neuem Leben an :
Die Wahrheit die ihn füllt / besiegelt er mit Blute /
Trozt seine Peiniger /besteigt mit frohem Muhte
Ein glühendes Gerüst / und glaubet sich verjüngt /
Wann nur sein laues Blut der Kirchen Aker düngt.

Sind diß die Heiligen von unbeflecktem Leben /
Die GOtt den Sterblichen zum Muster hat gegeben?
Viel Menschheit hänget noch den Kirchen-Engeln an /
Die Glauben zwar verdekt / Vernunft nicht dulden kan.
Traut nicht dem schlauen Blik / den Demuhts-vollen Minen /
Den Dienern aller Welt soll doch die Erde dienen.
War nicht ein Priester stäts des Eigensinnes Bild
Der Götter-Sprüche redt / und wenn er fleht / befiehlt?
Trennt nicht die Kirche sich von wegen dem Calender /
Des Abends Heiliger verbannt die Morgenländer /
Läßt Märtrer in den Streit auf andre Märtrer gehn /
Und Infuln in dem Feld vor Feindes Insuln stehn /5
Den Bann vom Nidergang zerblizt der Bann aus Norden.6
Die Kirche / Gottes Siz / ist offt ein Kampf-Plaz worden /
Wo Boßheit und Gewalt / Vernunfft und GOtt vertrieb /
Und mit der schwächern Blut des Zweyspalts Urtheil schrieb.
Grausamer Wüterich / verfluchter Kezer-Eifer !
Dich zeugte nicht die Höll‘ aus Cerbers gelbem Geifer /
Nein / Heil’ge zeugten dich / du stammst in Priester-Blut /
Sie lehren nichts als Lieb‘ und zeigen nichts als Wuht.
Eh‘ noch ein Pabst geherrscht / und sich ein Mensch vergöttert /
Hat schon der Priestern Zorn der Kezern Haupt zerschmettert;7
Wer hat Tholosens Schutt in seinem Blut ersäufft?
Und blutige Gebürg von Leichen aufgehäufft?
Den Bliz hat Dominic auf Albens Fürst erbeten;8
Und selbst mit Montforts Fuß der Kezern Haupt ertreten.

Doch vielleicht tadle ich und bin aus Vorsaz hart /
Und die Vollkommenheit ist nicht der Menschen Art :
Genug wann Fehler sich mit größrer Tugend deken /
Die Sonne zeugt das Licht / und hat doch selber Fleken.

Allein wie wann auch das / was ihren Ruhm erhöht /
Der Helden schöner Theil aus Wahn und Tand besteht ?
Wann der Verehrern Lob sich selbst auf Schwachheit gründet /
Und wo der Held soll seyn / man noch den Menschen findet ?
Stüzt ihren Tempel schon der Beyfall aller Welt /
Die Wahrheit stürzt den Bau / den eitler Wahn erhält.

Wie gut und böses sich durch enge Schranken trennen /
Was wahre Tugend ist / wird nie der Pöbel kennen.
Kaum Weise sehn die March / die beide Reiche schließt /
Weil ihre Gränze schwimmt / und in einander fließt.
Wie an dem bunden Tafft / auf dem sich Licht und Schatten /
So offt er sich bewegt / in andre Farben gatten /
Das Aug‘ sich widerspricht / sich selber niemal traut
Und bald das rohte blau / bald roth was blau war / schaut.
So irrt das Urtheil offt ; wo findet sich der Weise /
Der nie die Tugend haß‘ und nie das Laster preise ?
Der Sachen lange Reyh / der Umstand / Zwek und Grund
Bestimmt der Thaten wehrt / und macht ihr Wesen kund.
Der grösten Siegen Glanz macht ein Affect zu nichten;
Der Zeiten Unbestand verändert uns’re Pflichten /
Was heut noch rühmlich war / dient morgens uns zur Schmaach /
Ein Thor sagt lächerlich / was ein Held weislich sprach.
Diß weiß der Pöbel nicht / er wird es nimmer lernen /
Die Schaale hält ihn auf / er kommt nicht biß zum Kernen.
Er kennet von der Welt / was aussen sich bewegt /
Und nicht die inn’re Kraft / die heimlich alles regt.
Sein Urtheil baut auf Wahn / es ändert jede Stunde /
Er sieht durch andrer Aug‘ / und redt aus fremden Munde.
Wie ein gefärbtes Glas / dadurch die Heitre strahlt /
Des Auges Urtheil täuscht / und sich in allem mahlt /
So thut das Vorurtheil / es zeigt uns alle Sachen /
Nicht wie sie sind / nur so wie sie es will machen /
Legt den Begriffen selbst sein eigen wesen bey /
Heißt Gleißnen Frömmigkeit / und Andacht Heucheley.
Ja selbst des Vaters Wahn kan nicht mit ihm versterben /
Er läßt mit seinem Gut sein Vorurtheil den Erben /
Verehrung / Haß und Gunst flößt mit der Milch sich ein /
Des Ahnen Aberwiz wird auch des Enkels seyn.
So richt / so glaubt die Welt / so theilt man Schmaach und Ehre
Und dann o Stähelin gieb‘ ihrem Wahn gehöre !
Durch den erstaunten Ost geht Xaviers Wunder-Lauf /
Stürzt Japans Gözen um / und richtet seine auf;
Biß daß dem Amida noch Opfer zu erhalten /
Die frechen Bonzier des Heil’gen Haupt zerspalten :
Er stirbt / sein Glauben lebt / und unterbaut den Staat /
Der ihn aus Gnade nährt mit Aufruhr und Verraht.
Zulezt erwacht der Fürst / und lässt zu nassen Flammen /9
Die Feinde seines Reichs des Pabsts Schul verdammen;
Die meisten tauschen GOtt um Leben / Gold und Ruh /
Ein Mann von tausenden schließt seine Augen zu /
Stürzt sich in die Gefahr / geht muhtig in den Ketten /
Steift den gesezten Sinn / und stirbt zulezt im beten.
Sein Name wird noch blühn / wann längsten schon verweht
Die leichte Asche sich in Wirbel-Winden dreht.
Europa schmükt sein Bild auf schimmernden Altären /
Und mehrt mit ihm die Zahl von GOttes sel’gen Heeren.
Wann aber ein Huron im tiefen Schnee verirrt /
Bei Errie’s langem See zum Raub der Feinden wird /10
Wann dort sein Holz-Stoß glimmt / und schon von seinem Leben /
Des Weibes tödlich Wort den Ausspruch hat gegeben /
Wie stellt sich der Barbar? wie grüßt er seinen tod?
Er singt / wann man ihn quält / und lacht / wann man ihm droht :
Die aufgewölkte Stirn rümpft weder Angst noch Schmerzen /
Die Flamme / die ihn sängt / dient ihme nur zum Scherzen.
Wer stirbt hier würdiger? ein gleicher Helden-Muht /
Bestrahlet beyder Tod und wall’t in beider Blut;
Doch Tempel und Altar bezahlt des Märtrers Wunden /
Und Quebecs nakter Held / stirbt von dem Tod der Hunden :
So viel liegt es daran / daß wer zum Tode geht /
Geweyhte Worte spricht / wovon er nichts versteht.
Doch nein / der Outchipoue thut mehr als der bekehrte /11
Die Ursach von dem Tod‘ spricht selbst von seinem Wehrte.
Den Märtrer trifft der Lohn von seiner Ubelthat /
Wer seines Land’s Gesäz mit frechen Füssen trat /
Des Staates Ruh gestört / den Gottesdienst entweyhet /
Dem Kayser hat geflucht / der Aufruhr Saat gestreuet /
Stirbt weil er sterben soll / und ist dann der ein Held /
Der am verdienten Strick noch redt im Galgen-Feld?
Der aber der am Pfal der wilden Onontagen12
Den unerschroknen Geist bläs’t aus in tausend Plagen /
Stirbt weil sein Feind ihn töd’t / und nicht weil ers verschuldt /
Und in der Unschuld nur verehr‘ ich die Gedult.

Wann flüchtig vor dem Schwert ein Schwarm erscheuchter Christen /
In Thebens dürrem Sand in hole Felsen nisten ;
Ein Mönch die Welt verläßt / auf eignen Solen steht /
Von wilden Wurzeln lebt / in Haar und Sake geht :
Wann ein Bußfertiger / zerknirscht in hil’gn wehen /
Die Sünden / die er that / und die er wird begehen /
Mit scharfen Geisseln straft / mit Blut die Strik mahlt /
Und vor dem ganzen Volk mit seinen Streichen prahlt :
Da ruft man wunder aus / die Nachwelt wird noch sagen /
Was Lust sie sich versagt / was Schmerzen sie vertragen.
Alleine wann im Ost der reinliche Brachmann /
Mit Koht die Speisen würzt / und Wochen fasten kan;
Wann Ströme seines Bluts aus breiten Wunden fliessen /
Die seine Reu gemacht / und oft der Tod muß büssen /
Die Sünden / die Rom schenkt ; wann nakt und unbewegt /
Er Jahre lang die Hiz der hohen Sonne trägt /
Und den gestrupften Arm läßt ausgestreckt erstarren /
Wie heißen wir den Mann? Aufs beste einen Narren.

Wann in Iberien ein ewiges Gelübd /
Mit Ketten von Demant ein armes Kind umgiebt /
Wann die geweyhte Braut ihr Schwanen-Lied gesungen /
Und die gerühmte Zell die Beute hat verschlungen /
Wie jauchzet nicht das Volk / und ruft was rufen kan13
Das Weib hört auf zu seyn / der Engel fängt schon an.
Ja stoßt / es ist es wehrt / in thönende Trompeten /
Verbergt der Tempeln Wand mit Persischen Tapeten /
Euch ist ein Glük geschehn / dergleichen nie geschah /
Die Welt verjüngt sich schon / die güldne Zeit ist nah.
Gesezt / daß ohn Gefühl in ihr die Jugend blühet /
Und nur der Andacht Brand in ihren Adern glühet;
Daß kein verstohlner Blik in die verlaßne Welt
Mit sehnender Begierd zu spät zurüke fällt :
Daß immer die Vernunfft der Sinnen Feuer kühlet /
Und nur ihr eigner Arm die reine Brust befühlet :
Gesezt was niemals war / daß Tugend wird aus Zwang :
Was jauchzt das eitle Volk ? wen rühmt sein Lobgesang ?
Vielleicht / daß List und Geiz des Schöpfers Zwek verdrungen /
Was er zum Lieben schuf / zum Wittwen-Stand gezwungen /
Den vielleicht edlen Stamm / den Er ihr zugedacht /
Noch in der Blüht‘ erstekt / und Helden umgebracht ;
Daß ein verführtes Kind in dem erwählten Orden /
Sich selbst zum Uberlast / und andern unnüz worden.
O ihr / die die Natur auf beß’re Wege weist /
Was heißt der Himmel dann / wann er nicht lieben heißt ?
Ist ein Gesäz gerecht / das die Natur verdammet ?
Und ist der Brand nicht rein / wann sie uns angeflammet?
Was soll der Brüsten Schnee / der Gliedern holde Pracht ?
Ist alles nicht vor uns / und wir vor sie gemacht ?
Den Reiz / der Weise zwingt / dem nichts kan widerstreben /
Der Schönheit ewig Recht wer hat es ihr gegeben ?
Des Himmels erst Gebott hat keusche Brunst geweyht /
Und seines Zornes Pfand war die Unfruchtbarkeit:
Sind dann die Tugenden den Tugenden entgegen ?
Der alten Kirche Fluch wird bey der neuen Segen.

Fort / die Trompete schallt / der Feind bedekt das Feld /
Der Sieg ist / wo ich geh‘ / folgt Brüder! ruft ein Held.
Nicht forchtsam / wann vom Bliz zerschmetternder Metallen
Die blut’ge Erde bebt / und ganze Glieder fallen /
Er steht / wann wider ihn das ernste Schiksal ficht /
Fällt schon der Leib durchbohrt / so fällt der Held doch nicht.
Er acht ein tödlich Bley / als wie ein Freuden-Schiessen /
Und sieht mit gleichem Aug sein Blut und fremdes fliessen ;
Der Tod lähmt schon sein Herz / eh‘ daß sein Muht erliegt /
Er stirbet allzu gern / wann er im sterben siegt.
O Held / dein Muht ist groß / es soll was du gewesen /
Auf ewigem Porphyr die lezte Nachwelt lesen.
Alleine / wann im Harz / nun lang genug gequält /
Ein aufgebrachtes Schwein zulezt den Tod erwählt ;
Die diken Borsten sträubt / die starken Waffen wezet
Und wütend übern Schwarm entbauchter Hunden sezet ;
Oft endlich noch am Spieß / der ihm durchs Herze brach /
Den kühnen Feind erlegt / und Stirbt mit kaltr Raach :
Ist diß kein Helden-Muht ? wer baut dem Hauer Säulen ?
Die Jäger werden ihn mit ihren Hunden theilen.

Wer ist der weise Mann / der dort so einsam denkt?
Und den verscheuten Blik zur Erde forchtsam senkt?
Ein längst verschlissen Tuch umhüllt die rauhen Lenden
Ein Stük gebettelt Brod und Wasser aus den Händen /
Ist alles was er wünscht / und Armut sein Gewinn /
Er ist nicht vor die Welt / die Welt ist nichts vor ihn.
Nie hat ein glänzend Erzt ihm einen Blik entzogen /
Nie hat den gleichen Sinn ein Unfall überwogen /
Ihm wischt kein schönes Bild die Runzeln vom Gesicht /
An seinen Thaten beißt der Zahn der Mißgunst nicht.
Sein Sinn versenkt in GOtt / kan sonsten nichts betrachten /
Er kennt sein eigen Nichts was soll er andrer achten?
Der Tugend ernste Pflicht ist ihm ein Zeitvertreib /
Der Himmel hat den Sinn / die Erde nur den Leib.
O Heiliger / dein Ruhm geht billich an die Sterne /
Und zum Diogenes fehlt dir noch die Laterne! –
Ach kennte doch die Welt das Herze wie den Mund /
Wie wenig gleichen oft die Thaten ihrem Grund ?
Du beugst den Halß umsonst / die Ehre die du meidest /
Die Ehr‘ ist doch der GOtt vor den du alles leidest.14
Wie Surena den Sieg suchst du den Ruhm im fliehn /
Ein stärker Laster heißt dich schwächern dich entziehn /
Und wer sich vorgesezt ein halb-Gott einst zu werden /
Der baut ins künftige / und hat nichts mehr auf Erden;
Ihm zieht der eitle Ruhm der Tugend Larve an /
Was heischt der Himmel uns / das nicht ein Heuchler kan ?

Versenkt im tiefen Traum nachforschender Gedanken /
Schwingt ein erhobner Geist sich aus der Menschheit Schranken.
Seht den verwirrten Blik der stäts abwesend ist /
Und vielleicht izt den Raum von andern Welten mißt;
Sein stäts gespannter Sinn verzehrt der Jahren Blühte /
Schlaf / Ruh und Wollust fliehn sein himmlisches Gemühte.15
Wie durch unendlicher verborgner Zahlen Reyh
Ein krumm-geflochtner Zug gerad zu messen sey ;
Warum die Sternen sich in eignen Gleisen halten ;
Wie bunte Farben sich aus lichten Strahlen spalten ;
Welch nimmer stiller Trieb der Welten Wirbel dreht ;
Welch Druk das grosse Meer zu gleichen Stunden bläht ;
Diß alles weiß er schon ; die Nacht ist ihme Klarheit /
Er ist ein ewigs Quell von unerkannter Wahrheit.
Doch ach / es lischt in ihm des Lebens kurzer Tacht /
Den Müh und scharfer wiz zu heftig angefacht ;
Er stirbt von wissen satt / und einst wird in den Sternen /
Ein Kenner der Natur des weisen Nahmen lernen.
Erscheine grosser Geist / wann in dem tiefen Nichts
Der Welt Begriff dir bleibt / und die Begier des Lichts /
Und lasse von dem Wiz / den hundert Völker ehren /
Mein lehr-begierig Ohr die lezten Proben hören.
Wie unterscheidest du die Wahrheit von dem Traum?
Wie trennt im Wesen sich das feste von dem Raum?
Der Cörpern rauher Talg / wer schrankt ihn in Gestalten /
Die stäts verändert sind / und doch sich stäts erhalten?
Der Zug / der alles senkt / der Trieb / der alles dähnt /
Den Reiz in dem Magnet / wo nach der Stahl sich sehnt /
Des Lichtes schnelle Reis / die Erbschafft der Bewegung /
Der Theilen ewig Band / die Ursach neuer Regung /
Diß lehre grosser Geist / die schwache Sterblichkeit /
Worin dir niemand gleicht und alles dich bereut.
Doch suche nur im Riß von künstlichen Figuren /
Beym Licht der Ziffern-Kunst / der Wahrheit dunkle Spuren ;
Ins innre der Natur dringt kein erschafner Geist /
Zu glüklich / wenn sie noch die äußre Schaale weis’t ;
Du hast nach reiffer Müh / und nach durchschwizten Jahren /
Erst selbst wie viel uns fehlt / wie nichts man weiß / erfahren.

Die Welt die Cäsarn dient / ist meiner nicht mehr wehrt /
Ruft Cato / Roms sein Geist / und stürzt sich in sein Schwert.
Nie hat den festen Sinn das Ansehn großer Bürgern
Der Glanz von theurem Erzt / der Dolch erkaufter Würgern /
Von seines Landes Wohl / vom bessern Theil getrannt:
In ihme lebte Rom / er war das Vaterland.
Sein Sinn war ohn Begier / sein Herze sonder Schreken /
Sein Leben ohne Schuld / sein Nachruhm ohne Fleken /
In ihm verneute sich der alten Helden Muht /
Der alles vor sein Land / nichts vor sich selber thut ;
Ihn daurte nie die Wahl / wann Recht und Glüke kriegten /
Den Sieger schüzt GOtt / und Cato die Besiegten.
Doch vielleicht fällt auch hier die Tugend-Larve hin /
Und seine Großmuht ist ein stolzer Eigensinn.
Der nie in fremdem Joch den steiffen Naken schmieget /
Dem Schiksal selber trozt / und eher bricht als bieget.
Ein Sinn / dem nichts gefällt / den keine Sanftmuht kühlt /
Der sich selbst alles ist / und niemahls hat gefühlt.

Wie ? hat dann aus dem Sinn der Menschen ganz verdrungen /
Die scheue Tugend sich den Sternen zugeschwungen?
Verläßt des Himmels Aug das sterbliche Geschlecht?
Von so viel tausenden ist dann nicht einer ächt?
Nein / nein / der Himmel kan / was er erschuf / nicht hassen /
Er wird der Güte Werk dem Zorn nicht überlassen /
So vieler Weisen Wunsch / der Zwek so vieler Müh /
Die Tugend wohnt in uns / und niemand kennet sie;
Des Himmels schönstes Kind / die immer gleiche Tugend /
Blüht in der holden Pracht der angenehmsten Jugend /
Kein saurer Blick umwölkt der Augen heiter Licht /
Und wer die Tugend haßt / der kennt die Tugend nicht.
Laßt keinen Aristipp auf ihre Strengheit lästern /
Die Tugend und Natur sind allzuächte Schwestern ;
Nie fodert die Natur was uns die Tugend wehrt /
Die Tugend weigert nie / was die Natur begehrt.
Sie heischt von uns kein Blut zur Prob erwählter Lehre /
Sie tauscht das Leben nicht um leichten Rausch der Ehre /
Sie löscht den holden Brand von keuscher Brunst nicht aus /
Und sie vergräbt sich nicht in ihres Landes Grauß.
Sie will nicht / daß man sich aus eitlem Wahn zerseze /
Sie hinterhält uns nicht der Schöpfung reiche Schäze /
Sie heischt von Sterblichen nicht die Allwissenheit /
Was sie von uns verlangt / ist unsre Seligkeit.
Sie ist kein Wahl-Gesäz / das uns ein Weiser lehret /
Sie ist des Himmels Stimm / die nur das Herze höret;
Ihr innerlich Gefühl beurtheilt jede That /
Warnt / billigt / mahnet / wehrt / und ist des Himmels Raht.
Wer ihrem Winke folgt / wird niemals unrecht wählen /
Er wird der Tugend nie / noch ihm das Glüke fehlen;
Nie stört sein Gleichgewicht der Sinne gäher Sturm /
Nie untergräbt sein Herz bereuter Lastern Wurm;
Er wird kein künfftig Glük um würklich Elend kauffen /
Und nie durch kurze Lust in langes Unglük lauffen;
Er sieht Gold / Ehr und Lust / wie schöne Früchten an /
Da weiser Brauch erfrischt / zu viel verlezen kan.
Nie störet seine Lust die Forcht von späten Jahren /
Er sucht kein fernes Gut / und laßt kein jetzigs fahren;
Die Welt ist ihm zu Dienst / er aber nicht der Welt /
Er laßt den Thoren Müh und wählt was ihm gefällt;
Der Menschen lezte Forcht wird niemal ihn entfärben /
Er hätte gern gelebt / und wird nicht ungern sterben.

[1732 gekürzt:]

Von dir / selbst-ständigs Gut / unendlichs Gnaden-Meer /
Kommt dieser innre Zug / wie alles gute / her!
Das Herz folgt unbewusst der Würkung deiner Liebe /
Es meinet frei zu sein und folget deinem Triebe;
Unfruchtbar von Natur / bringt es auf den Altar
Die Frucht / die von dir selbst in uns gepflanzet war.
Was von dir stammt ist ächt und wird vor dir bestehen
Wann falsche Tugend wird / wie Blei im Test / vergehen
Und dort für manche That / die itzt auf äußern Schein
Die Welt mit Opfern zahlt / der Lohn wird Strafe sein!

Fußnoten:

1 Simeon Stylites / dessen wunderlichen vieljährigen Aufenthalt auf einer Säule der Aberglaube als etwas großes angesehen hat. Die Absicht des Mannes mag gut gewesen sein / aber sie streitet sowohl wider das Exempel der Apostel als wider ihr Gebot.

2 Griechische Priester / die oft aus einem Gelübde das Reden verschwören.

3 Franciscus von Assisio / der Bilder aus Schnee ballte und umarmte.

4 Einer von den Beschreibern der fabelhaften Leben römischer Heiligen.

5 Adversas aquilas et pila minantia pilis.

6 Pabst Victor hatte mit den asiatischen Kirchen einen Streit wegen des Oster-Fests. Wegen seines ärgerlichen Verbannens aber ließ Irenäus von Lion einen scharfen Brief an den römischen Bischof abgehen / worin er ihm mehrere Mäßigung anbefahl. Es geht übrigens die ganze Absicht dieses jugendlichen Eifers bloß auf die hitzigen Heiligen der verfolgenden Kirche und zielt auf die protestantische Geistlichkeit um so weniger / je gewisser es ist / daß sie ihr Ansehen und ihre Vorzüge bei der Glaubens-Verbesserung nicht nur willig / sondern aus eigenem Trieb und ohne der Laien Zumuthen nur allzu freigiebig von sich gegeben hat.

7 Hier mangeln etliche Zeilen / worin die allzu große Heftigkeit Justinians und anderer orientalischen Kaiser wider die Heiden / Arianer und andre Irrgläubige getadelt wird / und die eben nicht poetisch sind.

8 Die Geschichte der unterdrückten Albigenser und des unrechtmäßig seiner Lande entsetzten Raimunds von Toulouse wird jedermann bekannt sein.

9 Die gröste Pein / die man den Christen anthat / war eine überaus heiße Quelle / in welche man die Märtyrer so oft hinunter ließ / bis sie starben oder den Glauben verleugneten. Man muß im übrigen diese unwissenden Märtyrer einer nur halb dem Christenthume ähnlichen Lehre nicht mit den Blutzeugen Christi verwechseln.

10 Ein See / an dem die Irocker wohnen / der Huronen Erbfeinde.

11 Das tapferste der Nord-Amerikanischen Völker (La Hontan). Man giebt dem Gefangenen ein Weib von irgend einem Erschlagenen. Will sie ihn behalten / so ist öfters sein Leben gerettet / und er wird sogar unter das sieghafte Volk aufgenommen. Verurtheilt sie ihn zum Tode / so ists um ihn geschehen / und sie ist die erste / an seinen zerfleischten Glidern sich zu sättigen.

12 Eines der fünf Völker der Mohocks oder Iroquois. Ich rede nur von den Märtyrern einer mächtigen Kirche / die allerdings öfters mit einem unerschrockenen Muth die angenommene Lehre mit ihrem Tode versiegelt haben. Die gleichen Märtyrer aber / und zwar hauptsächlich in einem bekannten Orden / haben gegen die Protestanten solche unverantwortliche Maßregeln gerathen / gebraucht und gelehrt / daß es unmöglich ist / zu glauben / der Gott der Liebe brauche Menschen von solchen Grundsätzen zu Zeugen der Wahrheit. Das erste / was er befiehlt / ist Liebe. Das erste / was diese Leute lehren / ist Haß / Strafe / Mord / Inquisition / Bartholomäustage / Dragoner / Clements / Castelle und Ravaillake.

13 Worte des heiligen Hieronymi.

14 Feld-Herr der Parthen / wie sie das römische Heer unter dem unglücklichen Crassus schlugen.

15 Newton hat keine Weibsperson berührt.

Tugendbrunnen Nürnberg Tourismus

Bilder: Der Tugendbrunnen zu Nürnberg, der touristisch besser denn künstlerisch belegt ist
(in der Schweiz war, was nichts heißen muss, überhaupt kein Monument der Tugend aufzutreiben):

  • Nürnberg aha!: Tugendkult am Lorenzplatz:

    Volksfern gekleidete Gestalten in theatralischen Posen, 1584–1589 von Benedikt Wurzelbauer für den modernen Menschen von heute geschaffen. Die Tugendgestalten wollen in allegorischer Weise Politiker und deren Hintermänner darstellen, die gerecht und weise auf dem Gipfel der Darstellung (also ganz oben und von oben herab) zum besseren Nachforschen eigener Erinnerung sich eine Augenbinde umtun und sich die Ohrenöffnungen eisern verschließen. So wissen sie nichts von Schwarzgeldkoffern, illegalen Waffengeschäften, erinnern sich aber an Versprechen, die sie gegeben haben. Und die sind heilig und verdienen einen sechsfachen Posaunenstoß durch aufgeblasene Bengel. Wichtig: neben der Gerechtigkeit noch ein Kranich, Symbol der Wachsamkeit. Der hört und sieht alles.

    Die maßgebenden Tugenden Glaube mit Kreuz und Kelch, Liebe mit zwei Kindern, Hoffnung mit dem Anker, Tapferkeit mit Löwe, Mäßigung mit Krug und Geduld mit einem Lamm (!). Lammfromm, aufopferungsvoll und gebärfreudig usw. – alles Eigenschaften, die sich als männliche Attribute wenig eignen. Deshalb ist kein Mann im Figurenreigen zu sehen. Die unschuldigen Muttersöhnchen unter der Gerechtigkeit zählen noch nicht. Ungerecht!

    Tugendbrunnen
    Realisierung: Benedikt Wurzelbauer, 1584–89
    Auftraggeber: Rat von Nürnberg
    zuletzt gesehen am Lorenzplatz
    im Winter undurchsichtig umbrettert. Da schläft die Tugend.

    Tugendsam in Nürnberg ist
    wenns Wasser aus den Brüsten gisst.

  • Nürnberg Tourismus: Tugendbrunnen.

Tugendbrunnen Nürnberg Tourismus

Soundtrack von der Falschheit menschlicher Tugenden:
Theodor Shitstorm: Rock’n’Roll, aus: Sie werden dich lieben, 2018:

Written by Wolf

9. April 2021 at 00:01

Veröffentlicht in Aufklärung, Weisheit & Sophisterei

Dornenstück 0007: Non stabat pater dolorosus

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Update zu Des Frühlings beklommnes Herz,
Show me a guy that doesn’t want to come down off the cross,
Oh my, oh my, oh my, what if it was true? (O wolle nicht ergründen, was einmal unergründlich ist)
und Nachtstück 0027: Uns lieben Brüdern Wohlgefallen und ein recht gutes Jahr!:

Karfreitag in siebenzeiligen Strophen.

Krypta Asamkirche München

Im übrigen halte ich in der christlichen Ikonographie den Pater dolorosus, der Sankt Joseph einmal gewesen sein muss, für unterrepräsentiert. Zwei Jahrtausende haben nicht zu überliefern für nötig befunden, ob ein Mensch und Vater namens ܝܰܘܣܶܦܢܳܨ ܡܶܢ ܪܰܬ݂ bei Jesu Kreuzigung überhaupt zugegen war; dass er vorher etwa 63-jährig verstarb, muss man sich nach Kirchenvater Hieronymus umständlich herbeideduzieren.

Umso anrührender finde ich es von Matthias Claudius, dass er in der Totenklage um einen noch nicht zweijährigen Sohn ganz selbstverständlich dem Vater wie der Mutter die Hoffnung auf Auferstehung zuschreibt: Er muss wieder lebendig werden, sonst hätte doch das ganze Leben keinen Sinn.

Die Hoffnung stirbt zuletzt, das ist das Perfide.

——— Matthias Claudius:

Die Mutter am Grabe

Auf den Tod des zweiten Sohnes, Matthias, geboren 6. Dezember 1786, gestorben 4. Juli 1788

aus: Asmus omnia sua secum portans, oder: Sämmtliche Werke des Wandsbecker Boten, Fünfter Theil,
Wandsbeck. Beim Verfasser, 1789, und in Comißion bey Carl Ernst Bohn in Hamburg, 1790:

Wenn man ihn auf immer hier begrübe,
          Und es wäre nun um ihn gescheh’n;
Wenn er ewig in dem Grabe bliebe,
          Und ich sollte ihn nicht wieder seh’n,
          Müßte ohne Hoffnung von dem Grabe geh’n –
Unser Vater, o du Gott der Liebe!
Laß ihn wieder aufersteh’n.

~~~\~~~~~~~/~~~

Der Vater

Er ist nicht auf immer hier begraben,
          Es ist nicht um ihn gescheh’n!
Armes Heimchen, Du darfst Hoffnung haben,
          Wirst gewiß ihn wieder seh’n
          Und kannst fröhlich von dem Grabe geh’n,
Denn die Gabe aller Gaben
Stirbt nicht, und muß aufersteh’n.

Krypta Asamkirche München

Bilder: Krypta der Asamkriche Sankt Johann Nepomuk in München,
Öffnungszeiten ausschließlich karfreitags und karsamstags mit Stillem Gebet 17 bis 20 Uhr,
selbergemacht am Karfreitag, 29. März 2013.

Soundtrack: Giovanni Battista Pergolesi: Stabat mater, 1736,
vermutlich einzige Einspielung mit dem deutschen Text von Christoph Martin Wieland, 1779,
in: Der Teutsche Merkur 1781, 1. Quartal, Seite 101 bis 106,
aufgenommen 2008 in der Peterskirche Oßmannstedt, als CD bei Naxos 8.551276, als Playlist:

Written by Wolf

2. April 2021 at 00:01

In einem anderen hochgewölbten, engen gotischen Zimmer

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Update zu The Metrum is the Message,
Doktor Faust thu dich bekehren
und Mit dem Faust im Ranzen:

Habe nun, ach! – :

Kilian Brustfleck (tritt auf)
Hab ich endlich mit allem Fleiß
Manchem moralisch politischem Schweiß
Meinen Mündel Hanswurst erzogen
Und ihn ziemlich zurechtgebogen.
Zwar seine tölpisch schlüfliche Art
So wenig als seinen kohlschwarzen Bart
Seine Lust in den Weg zu scheißen
Hab nicht können aus der Wurzel reißen.
Was ich nun nicht all kunnt bemeistern
Das wüßt ich weise zu überkleistern
Hab ihn gelehrt nach Pflichtgrundsätzen
Ein paar Stunden hintereinander schwätzen
Indes er sich am Arsche reibt
Und Wurstel immer Wurstel bleibt.

Goethe: Hanswursts Hochzeit oder der Lauf der Welt – Ein mikrokosmisches Drama, 1775.

Von sich selber klauen heißt nicht Plagiat, sondern Stil. Von Gottsched klauen ist — nun ja, so ähnlich. Bei diesem Vergleich kann einem auffallen, dass die oben zitierte Hanswursts Hochzeit stellte Goethe übrigens im gleichen Jahr fertig wie die Frühe Fassung von Faust — deren Bezeichnung als Urfaust aus überlieferungsgeschichtlichen Gründen überholt ist.

Rembrandt, Faust, StudierzimmerUnd es soll uns niemand erzählen, Goethe habe nun, ach! das Gratulationsgdicht an einen „zum Magister-Ampt“ Promovierten von Gottsched nicht gekannt, das im Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen 1730 steht. Darin konnte Goethe „von allen Dichtungsarten eine historische Kenntnis, sowie vom Rhythmus und den verschiedenen Bewegungen desselben; das poetische Genie ward vorausgesetzt!“ — so in: Dichtung und Wahrheit, Siebentes Buch — erlangen, unter anderem über den Knittelvers.

„Knittel“ — vom frühneuhochdeutschen knittel, was „Reim“ heißt, gern verunglimpft als „Knüttel“, was „Knüppel“ heißt — kannte und benutzte Goethe aus seiner Leipziger Studentenzeit 1763 bis 1768. Erst ab 1773 konnte er die strengere Form mit acht oder neun Silben von Hans Sachs her kennen, der bekannte Eingangsmonolog von Faust, der schon in der Frühen Fassung vorkommt — weswegen er gar nicht so zwingend zu Goethes frühesten Faust-Entwürfen zählt.

Gottscheds Poetiken waren für die angebrochene Zeit der Aufklärung die ersten allgemein verbindlichen, die nach dem überholt barocken Buch von der Deutschen Poeterey von Martin Opitz 1624 folgten, bei poetisch Beflissenen ab der Mitte des 18. Jahrhunderts dürfen sie darum als bekannt vorausgesetzt werden. Wie Gottsched den Knittelvers am praktischen Exempel vor- und ausführt, nimmt den Faust-Monolog in Teilen recht deutlich vorweg, ist — sobald einer die wendige Füllungsfreiheit des Knittelverses nicht als unbegabtes Herumgeholze, sondern als naturwüchsig begreifen mag — gar kein so „schlecht Carmen“ und hat sogar ein paar charmante anzügliche Stellen.

——— Johann Christoph Gottsched:

Auf Hn. M. Stuͤbners Magister-Promotion.
Als Juncker Stuͤbnern wohlgemuth
Frau Pallas ziern und schmuͤcken thut,
Mit Lorber-Zweigen huͤbsch und fein,
Sang dieß ein treuer Bruder sein.
in fremdem Nahmen.

Des II Theils VII Capitel: Von Sinn- und Schertzgedichten
aus: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen; Darinnen erstlich die allgemeinen Regeln der Poesie, hernach alle besondere Gattungen der Gedichte, abgehandelt und mit Exempeln erläutert werden: Uberall aber gezeiget wird Daß das innere Wesen der Poesie in einer Nachahmung der Natur bestehe, Bernhard Christoph Breitkopf, Leipzig 1730, Seite 503 bis 507:

Georg Friedrich Kersting, Faust, StudierzimmerFRewndlicher liber Bruder mein
Dem die neun Musen alle gmein
Apollo und Pallas insgesampt
Erhebn thun zum Magister-Ampt
Zum Lehrer gmachet han allhie
Der Waisheit oder Philosofi
Weil sie von wegen deiner Gabn
Der Eer dich werthgeschetzet habn
Seitdem du wol, daß gibt dir Praiß
Studirt mit unverdroßnem Flaiß
Als wellichs heit zu Tage nun
Schier wenige mit Eyffer tuhn
Hier wuͤnscht dir zu deim newen Standt
Auf Unversteten wolbekandt
Dein alter guter Bruder vil Gluͤck
Vnnd erhebt das himmlisch Gschick
Daß dich jzunder traun aufs best
Zum Meistr der Weißhait kroͤnen lest.
So wirst du ein Philosofus
Bist gleich sonst ein Theologus
Wilst dermahleinst in Zuͤchtn vnnd Ehrn
Ein Gmein den Weg der Sehlgkeit leren
Tust auch die weltlich Weisen-Zunfft
Nicht spoͤttlich verachten mit Unvernunfft
Sagst nit sie mach nur Kaͤtzerey
Atheisten vnnd Deysterey
Vnnd glaubst vilmehr on allen Scheu
Daß sie der rechte Vorhoff sey
On den man heitigs Tages nie
Kan eingan zur Teology
Lachst all verkehrte Stuͤmper aus
Die sich ins liebe Gotes Hauß
Tringen mit unsaͤchlicher Gwalt
Suchen da nur ihrn Auffenthalt
Jhr Weip und Kind wolln sie erneern
Nit abr die Ruchlosen bekern
Wolln da andre Gots Weißhait leren
Moͤchtn selbst erst Menschen Weißhait hoͤren
Gleich wie auch andre Stuͤmper sunst
Strebn nur nach Advocaten-Kunst
Durchblaͤttern den Justinian
Lernen den Acten-Schlaͤndrian
Vnnd verstehn nit die geringste Spur
Vom ewgen Gsaͤtz in der Natur
Wollen große Juristen seyn
Bleibn alzeit am Verstand sehr klain
Jmgleichen in der Medicin
Siht man fast vile sich bemuͤhn
Nichts nit mit groͤßerm Eiffer treiben
Als die Kunst ein Recept z’verschreiben
Verstehn nit die Anatomy
Patology Phisiology
Semiotic Pharmacevtic
Higiene vnnd Botanic
Machen doch ein gewaltig Gschrey
Als obs Galenus selber sey
Koͤn’n nichts als schwitzen purgiren
Zur Aderlaßn vnnd Leut vexiren
Von solichen Stimpern allzumal
Welcher da ist ein große Zahl
Hastu Herr Bruder z’jeder Frist
Abscheu bezeigt on argelist
Jch b’sinn mich deiner Jugend zart
Wie fain die angewendet ward
Jn Bayreuth der weidlichen Stadt
Die uns zusamm’n erzogen hat
Da waren im Gimnasio
Wir beyd vnnd andre vilmals fro
Wenn wir beisammen spat vnnd fruh
Lateinisch Griechsch noch mehr dazu
Was man noch sonst guts lernen kan
Begirig mochten hoͤren an
Die Saat hast da schon ausgestrewt
Die izt so schoͤn nach Wunsch gedeyt
Hast da schon mit Verstand gehoͤrt
Was Leibnitz vnnd was Wolff uns glert
Zwen deutsche Philosofen b’kant
Jn Franckreich Welsch- vnnd Engeland
Mit wellichen sich kein ander Mann
Jn der Weltweißhait gleichen kan
Dieweil sie nemlich fix vnnd schoͤn
Die Mathematic tief verstehn
Wellichs man auch dem Cartesius
Und Stagiriten nachruͤmen muß
Daher denn folgen tuht der Satz
Dem jdermann muß geben Platz
Daß Philosofen insgemein
Die nicht auch Geometern sein
Gegn sie nur muͤßen schencken ein
Als du nun gar nach Leipzigck kamst
Sah man daß du noch baß zunahmst
Weil du den Anfang, dort gemacht
Hier zur Vollkommenhait gebracht
Die tieffe Lehr der Welt-Weißhait
Mit noch vil groͤßrer Schicklichkeit
Wie man sie loͤbelichst docirt
Nach Wolffs Manir scharpff ausstudirt
Hast nicht nur halbicht zugehoͤrt
Wie man dieselb vortraͤgt vnnd lehrt
Bist selbst daheimb noch weiter gangen
Hast zu lesen vil angefangen
Nit wie die Faulentzer getan
Die daran ihn’n begnuͤgen lan
Daß sie den cursum mit gemacht
Die dictata ins rein gebracht
Jn den Cuffer sie gschloßen ein
Als soltn sie da gefangen seyn
Moͤchten auch hernach zu ihrem Hohn
Jn seim schoͤnen Collegio
Daß er haͤtt abgeschrieben fro
Als ers zum drittenmahl gehoͤrt
Wies ein beruͤhmter Mann geleert
Zur Stund wolt man sein Buch gern sehn
Darauf es denn fuͤrwahr geschehn
Als ers wollt aus dem Cuffer holen
Daß ihm sein Weishait war gestohlen
Kein Dib hett ihm den Putz gemacht
Hett er sie ins Gehirn gebracht
Vor so verkehrter Weiß vnnd Art
Hat dich Minerva stets bewahrt
Herr Bruder dich mit Vorbedacht
Zum wurdigen Magister gmacht
Nit nur dem Nahmen nach zum Schein
Die sonst wohl nit ein Wildpret seyn
Doch darf ichs traun nur keck verschweigen
Du thust es uns bald selber zaigen
Wenn du auf dem Catheder frisch
Wirst stehn so steiff als im Harnisch
Dem offt die schaͤrffsten Opponenten
Mit hundert spitz’gen Argumenten
Wenn sie gleich all auf dich loßrennten
Mit nichten doch durchboren koͤnten
Da wird man sehn was du verstehst
Wie gruͤndlich du im Schliessen gehst
Vnnd vor des Wiedersachers stuͤrmen
Die arme Wahrheit kanst beschirmen
Den Zaͤnckern bald das Maul kanst stopffen
Daß ihn’n das Herz im Leib thut klopffen
Vnnd sollichs wird kein Wunder seyn
Du sprichst behend vnnd schoͤn Latein
Vnnd ergerst nit den Prißzian
Wie mancher vor der Zeit gethan
Wirst auch nicht furchtsam stecken bleiben
Die Dißputation zu schreiben
Wie andre die zwar Weißhaits voll
Wenn mans von ihnen fordern soll
Nit wissen weder aus noch ein
Obs Maͤdgen oder Buͤbgen seyn
Fragen viel nach allem dißputiren
Wenn sie nur ein groß M kan ziren
Carl Gustav Carus, Faust, StudierzimmerNun werther Bruder nimm vorlieb
Daß ich dir ein schlecht Carmen schrieb
Seyend noch von der alten Werlet
Die ihr Gesaͤnglein nicht beperlet
Rubint verguld’t versilbert schoͤn
Thu dich nit nach der Kunst erhoͤh’n
Hab auch kein Zoten angebracht
Von Fickgen der so lieben Magt
Die der Magister insgemein
Jhr Buhlschafft vnnd Gespons muß seyn
Wellichs wenn mancher es nicht wuͤst
Er ganz vnnd gar verstummen muͤst
Vnnd braͤcht auf den Magister-Schmauß
Nicht einen kalen Reim heraus
Sag dir auch nichts von deinem Krantz
Auch nichts von dem Magister-Tantz
Vielminder vom zu Bette gehn
Darbey offt garstig Fratzen stehn
Daß werden andre je und nun
An meiner statt schier weidlich tuhn
Vor mein Person hielt ichs vor baß
Zu wuͤuschen Gluͤck ohn unterlaß
Auf redlich Deutsch vnnd alt Manier
Daß dir Herr Bruder fuͤr und fuͤr
Aus deiner schoͤnen M’gister Zier
Viel Seegen Heil vnnd Trost erwachß
Vnnd mach den Schluß wie sonst Hans Sachß.

Bilder: Rembrandt van Rijn: Faust, ca. 1652;
Georg Friedrich Kersting: Faust im Studierzimmer, 1829;
Carl Gustav Carus: Faust in sinem Studierzimmer, 1852.

Soundtrack: Frank Watkinson an Mazzy Star: Fade Into You, aus: So Tonight That I Might See, 1993
(im Vergleich zum Original):

Written by Wolf

12. März 2021 at 00:01

Veröffentlicht in Aufklärung, Weisheit & Sophisterei

Makkaroni, Melonen und Feigen, musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine commode Religion

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Update zu Fabel zur Senkung der Arbeitsmoral,
Die alte und neue Inertia (Warum hast du nichts gelernt?)
And such a life I wish to live und
Ein Buch gibt keine Gelatinesuppe:

William Hogarth, Industry and Idleness, 1747

(§. 2). Hier ist nun aber unsere Untersuchung auf die beste Verfassung gerichtet, Dies aber ist diejenige, durch welche der Staat am meißten glückselig wird. Glückseligkeit endlich, so wurde vorhin bemerkt, ist ohne Tugend unmöglich, und hieraus ergiebt sich denn, daß in dem aufs Schönste verwalteten Staate, dessen Bürger gerechte Männer schlechthin und nicht bloß bedingungsweise sind, dieselben weder das Leben eines Handwerkers noch das eines Kaufmannes führen dürfen, denn ein solches ist unedel und der (wahren) Tugend und Tüchtigkeit zuwider, und daß auch Ackerbauer Die nicht sein dürfen, welche hier Bürger sein wollen, denn es bedarf voller Muße zur Ausbildung der Tugend und zur Besorgung der Staatsgeschäfte.

Aristioteles: Über die Politik. Griechisch und Deutsch,
herausgegeben von Prof. Franz Susemihl, Erster Theil, Text und Übersetzung,
Verlag von Wilhelm Engelmann, Leipzig 1879, IV (VII), 9, Seite 417 f.

Die Arbeit kann uns lehren,
sie lehrte uns die Kraft,
den Reichtum zu vermehren,
der unsre Armut schafft.

Heinrich Eildermann: Lied der Jugend, 1907/1910.

Tja, eines der vielen großen Worte Alexander von Humboldt’s : ›Sie sind sämtlich faul, Majestät.‹, (als Fr. Wilhelm iv. ihn nach den großen allgemeinen Kennzeichen der Gattung Mensch fragte). / Naja; erhebt sich die Frage : ›Iss Fleiß ’ne Tugend?‹ / (Müßte man erst noch eine andre Frage davorschalten): ›Ist Fleiß für Menschen & Tiere eine einfache (Lebens)Notwendigkeit?‹

Arno Schmidt: Julia, oder die Gemälde. Scenen aus dem Novecento, 1979/1983,
Bargfelder Ausgabe Seite 141.

William Hogarth, Industry and Idleness, 1747

Eben wegen solcher unterschiedlich zweifelhafter, in manchen Fällen zu bekämpfender Einordnungen des Konstrukts der Arbeit in die eigenen Lebenswirklichkeiten reden Künstler seit jeher der Muße das Wort: jener in allen Wortsinnen freien Zeit, die der selbstbestimmter Gestaltung vorbehalten ist — nicht aber zu verwechseln mit der Todsünde der Acedia, die außer der lasterhaften Faulheit auch Feigheit, vorsätzliche Ignoranz, Überdruss und die Trägheit des Herzens einschließt.

William Hogarth, Industry and Idleness, 1747

Es liegt im Anliegen möglichst ausführlicher Mußezeiten selbst begründet, sich durch die Forderung nach möglichst wenig sicht- und messbarer Arbeit in der Außenwahrnehmung spätestens durch ihre Formulierung zu disqualifizieren. In Gesellschaften, in denen sämtliche Ausprägungen von Kunst nicht als unmittelbar lebensnotwendig begriffen werden, sind Künstler entbehrliche Mitglieder, die ihre Existenz erst plausibel machen, ja rechtfertigen müssen. Am wirksamsten tun sie das durch sicht- und messbare Arbeit, die ihrer Funktion als Künstler zuwiderläuft.

Konnte dem anerkannten Spaßmacher Karl Valentin noch eine so reine wie bittere Wahrheit erfolgreich zugeschrieben werden wie:

Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.

blieb er doch weiterhin ein Spaßmacher: der Hofnarr einer bürgerlichen Gesellschaft, den man köpfen müsste, wenn man ihn ernst nähme. Dagegen machte sich der oben in einer ganz anderen Tonart angespielte Arno Schmidt gerade unter seinesgleichen nachhaltig unbeliebt mit seiner Aussprache für die Arbeit. Und das in einer Dankadresse zum GoethePreis 1973:

Sei es noch so unzeitgemäß und unpopulär; aber ich weiß, als einzige Panacee, gegen Alles, immer nur ›Die Abeit‹ zu nennen; und was speziell das anbelangt, ist unser ganzes Volk, an der Spitze natürlich die Jugend, mit nichten überarbeitet, vielmehr typisch unterarbeitet : ich kann das Geschwafel von der ›40=Stunden=Woche‹ einfach nicht mehr hören : meine Woche hat immer 100 Stunden gehabt; und ›Zettels Traum‹ 25.000 erfordert ! — es war ein großer Tag, als er fertig war.

Das hätte so eine schöne Volte sein können: Der Inbegriff des erzdeutschen Schriftstellers, in der Bargfelder Heide eingehäuselt in einer betont anspruchslosen Fusion aus Dachsbau und Elfenbeinturm, wirft akkurat „den anderen“, der arbeitenden Bevölkerung, Faulheit vor und stellt sein Künstlertum als die wahre Maloche dar. Leider ist sie seinerzeit nach hinten losgegangen, weil die Vertretungen der Erwerbsarbeit 1973 schon eher nach 35, aber bestimmt nicht nach 100 Arbeitsstunden pro Woche schielten, und die Vertretungen des künstlerischen Schaffens noch zu sehr einem romantischen Geniebegriff anhingen, um „wahre Kunst“ als „Ware Kunst“ erworben zu sehen.

Dem angeführten valentinesken Bonmot steht die populäre Aufrechnung nahe, dass Kunst zu 10 Prozent aus Inspiration und zu 90 Prozent aus Transpiration bestehe. Die kolportierten Prozentsätze — und die Quellenzuschreibungen — wechseln, aber immer zugunsten der „Transpiration“ bis hin zur statistisch signifikanten Ausschließlichkeit. Eine Idee kann schnell entstanden sein. In so einem künstlerischen Schaffenprozess geht der Arbeitsfaktor Zeit nicht dahin, indem eine Idee innerhalb eines Ideenträgers — nennen wir ihn Künstler — herumgeistert, sondern indem sie zu Ende gedacht und schließlich anhand ihrer Materialien ausgeführt wird. Das erfordert einen vorerst nicht abzusehenden Aufwand an Zeit, der von anderweitiger Erwerbsarbeit zwangsläufig abgezogen werden, folglich aus irgendwelchen frei (!) verfügbaren Ressourcen herkommen muss.

Wir können uns deshalb darauf einigen: Faul waren Künstler nie — nicht solche, deren Werk dauerhaft überlebt hat. Praktische Beispiele aufzulisten wäre ebenso willkürlich wie uferlos.

Eine so relevante wie knappe Auswahl aus dem theoretischen Unterbau dagegen erscheint als Handhabe zur Argumentation unerlässlich. Vor allem, um das Bedürfnis nach bitter notwendiger Muße von dem Ruch des Schlawinertums zu befreien, die jeden nützlich arbeitenden Menschen „schon mal“ befallen kann, die aber als vorübergehende Schwäche weggelacht werden darf, ja sollte. Mit pointierter Ausdrucksweise ist einem Sachverhalt, nicht aber dessen gegnerischen Ansichten beizukommen. Dergleichen verkennt die politische, wirtschaftliche und soziale Dimension des Strebens nach Glück. Oder wenigstens Wohlbefinden. Oder wenigstens danach, dass es nicht die ganze Zeit ganz so weh tut, bis man endlich gnädig jämmerlich verrecken darf.

Schlimm genug, dass man im 21. Jahrhundert immer noch daran herumargumentieren muss, dass die Leute Freiheit brauchen, um wie Menschen zu leben. Und nochmal: Freiheit — gleichermaßen die Freiheit von wie die Freiheit zu etwas — bedeutet, eine Auswahl zu haben. Zum Beispiel zwischen Arbeiten oder Ruhen, körperlichem Ackern oder Kontemplieren, künstlerischem Schaffen oder Aufnehmen, oder Herumliegen und Mundhalten.

Die wünschenswerte chronologische Reihenfolge war nicht einzuhalten, daher nach argumentativ nutzbarer Dramaturgie. Perlen sind der Schlegel und der Kotzebue:

William Hogarth, Industry and Idleness, 1747

Schon fast trivial anzuführen ist Lessings Lob der Faulheit, das immer gern als erheiterndes Beispiel dient, dass die alen Klassiker eben „auch nur Menschen“ waren. Gewiss waren sie das, und dem lebenslang nimmermüde arbeitenden Lessing stand als Student durchaus zu, seinem Arbeitspensum durch befreiende Komik Lust zu verschaffen:

——— Gotthold Ephraim Lessing:

Lob der Faulheit

aus: Lieder, 1771:

Faulheit, jetzo will ich dir
Auch ein kleines Loblied bringen. –
O – – wie – – sau – – er – – wird es mir, – –
Dich – – nach Würden – – zu besingen!
Doch, ich will mein Bestes tun,
Nach der Arbeit ist gut ruhn.

Höchstes Gut! wer dich nur hat,
Dessen ungestörtes Leben – –
Ach! – – ich – – gähn‘ – – ich – – werde matt – –
Nun – – so – – magst du – – mirs vergeben,
Daß ich dich nicht singen kann;
Du verhinderst mich ja dran.

(Fakultatives, leichtherzig kuratiertes Zwischenspiel vom empfohlenen YouTube-Kanal Liederspiel.)

William Hogarth, Industry and Idleness, 1747

In Lessings Sammlung Lieder unmittelbar folgend:

Die Faulheit

aus: Lieder, 1771:

Fleiß und Arbeit lob‘ ich nicht.
Fleiß und Arbeit lob‘ ein Bauer.
Ja, der Bauer selber spricht,
Fleiß und Arbeit wird ihm sauer.
Faul zu sein, sei meine Pflicht;
Diese Pflicht ermüdet nicht.

Bruder, laß das Buch voll Staub.
Willst du länger mit ihm wachen?
Morgen bist du selber Staub!
Laß uns faul in allen Sachen,
Nur nicht faul zu Lieb‘ und Wein,
Nur nicht faul zur Faulheit sein.

William Hogarth, Industry and Idleness, 1747

Überraschend politisch in einer zu unterstützenden Richtung wird der nachmals aus politischen Gründen erschossene Kotzebue. Er spricht durch Personen eines Dramas, die Zielsetzung seiner Satire bleibt klar:

——— August von Kotzebue:

Der Hyperboreeische Esel, oder die Heutige Bildung:
Ein Drastisches Drama, und Philosophisches Lustspiel für Jünglinge, in Einem Akt

auf Kosten und im Verlag bey Joh. Baptist Wallishauser, Wien 1801:

KARL. Fleiß und Nutzen sind die Todes-Engel mit dem feurigen Schwerdte, welche dem Menschen die Rückkehr ins Paradieß verwehren.
FÜRST. Himmel! welche ungeheure Behauptung!
KARL. Kennen Sie, mein Fürst, die Gott ähnliche Faulheit?
FÜRST. Dem Himel sey Dank, nein!
KARL. O Müssiggang! Müssiggang! Du bist die Lebensluft der Unschuld und der Begeisterung!
FÜRST. Aber nicht die Lebensluft meiner Staaten.
KARL. Dich athmen die Seligen, und selig ist, wer dich hat und hegt, du heiliges Kleinod!
FÜRST. Bey diesem Kleinod würden meine Unterthanen verhungern.
KARL. Einzige Fragment von Gottähnlichkeit, das uns noch aus dem Paradiese blieb!
FÜRST (sich zu den übrigen wendend). Sie sehen, mit diesen jungen Menschen läßt sich nichts anfangen.

William Hogarth, Industry and Idleness, 1747

Noch schonungsloser politisch gegen sich und seine Ziele werden Büchner und Weidig im Hessischen Landboten, der seinerzeit justiziabel genug war, um die Polemiker mit der Todesstrafe zu jagen:

——— Georg Büchner und Ludwig Weidig:

Der hessiche Landbote

Juli 1834:

Im Jahr 1834 sieht es aus, als würde die Bibel Lügen gestraft. Es sieht aus, als hätte Gott die Bauern und Handwerker am 5ten Tage, und die Fürsten und Vornehmen am 6ten gemacht, und als hätte der Herr zu diesen gesagt: Herrschet über alles Getier, das auf Erden kriecht, und hätte die Bauern und Bürger zum Gewürm gezählt. Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag, sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigne Sprache; das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker. Der Bauer geht hinter dem Pflug, der Vornehme aber geht hinter ihm und dem Pflug und treibt ihn mit den Ochsen am Pflug, er nimmt das Korn und läßt ihm die Stoppeln. Das Leben des Bauern ist ein langer Werktag; Fremde verzehren seine Äcker vor seinen Augen, sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiß ist das Salz auf dem Tische des Vornehmen.

William Hogarth, Industry and Idleness, 1747

Zwei Jahre später ist Büchners Anliegen vom Pamphlet zur Farce gediehen — nein, nicht „verkommen“. Der Wechsel des Mediums von der Flugschrift zum Lustspiel erschließt sich möglicherweise aus dem Erreichen erweiterter Zielgruppen: Theaterpublikum erscheint freiwillig und bezahlt sogar Eintritt.

——— Georg Büchner:

Leonce und Lena

1836, aus der ersten Szene des Dramas und sein Schluss:

I.1

LEONCE. (…) Aber Edelster, dein Handwerk, deine Profession, dein Gewerbe, dein Stand, deine Kunst?

VALERIO mit Würde. Herr, ich habe die große Beschäftigung, müßig zu gehen, ich habe eine ungemeine Fertigkeit im Nichtstun, ich besitze eine ungeheure Ausdauer in der Faulheit. Keine Schwiele schändet meine Hände, der Boden hat noch keinen Tropfen von meiner Stirne getrunken, ich bin noch Jungfrau in . der Arbeit, und wenn es mir nicht der Mühe zu viel wäre, würde ich mir die Mühe nehmen, Ihnen diese Verdienste weitläufiger auseinanderzusetzen.

LEONCE mit komischem Enthusiasmus. Komm an meine Brust! Bist du einer von den Göttlichen, welche mühelos mit reiner Stirne durch den Schweiß und Staub über die Heerstraße des Lebens wandeln, und mit glänzenden Sohlen und blühenden Leibern gleich seligen Göttern in den Olympus treten? Komm! Komm!

William Hogarth, Industry and Idleness, 1747

III,3

LEONCE. Nun, Lena, siehst du jetzt, wie wir die Taschen voll haben, voll Puppen und Spielzeug? Was wollen wir damit anfangen? Wollen wir ihnen Schnurrbärte machen und ihnen Säbel anhängen? Oder wollen wir ihnen Fräcke anziehen und sie infusorische Politik und Diplomatie treiben lassen, und uns mit dem Mikroskop danebensetzen? Oder hast du[146] Verlangen nach einer Drehorgel, auf der die milchweißen ästhetischen Spitzmäuse herumhuschen? Wollen wir ein Theater bauen? Lena lehnt sich an ihn und schüttelt den Kopf. Aber ich weiß besser was du willst, wir lassen alle Uhren zerschlagen, alle Kalender verbieten und zählen Stunden und Monden nur nach der Blumenuhr, nur nach Blüte und Frucht. Und dann umstellen wir das Ländchen mit Brennspiegeln, daß es keinen Winter mehr gibt und wir uns im Sommer bis Ischia und Capri hinaufdestillieren, und (wir) das ganze Jahr zwischen Rosen und Veilchen, zwischen Orangen und Lorbeer stecken.

VALERIO. Und ich werde Staatsminister, und es wird ein Dekret erlassen, daß wer sich Schwielen in die Hände schafft, unter Kuratel gestellt wird; daß, wer sich krank arbeitet, kriminalistisch strafbar ist, daß Jeder der sich rühmt sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen, für verrückt und der menschlichen Gesellschaft gefährlich erklärt wird und dann legen wir uns in den Schatten und bitten Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, um musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine commode Religion!

William Hogarth, Industry and Idleness, 1747

Friedrich Schlegels einziger Roman Lucinde erschien auf so vielen Ebenen kritikwürdig, dass sein eigentlich revolutionäres Konzept des Müßiggangs, dazu noch als Idylle ausgewiesen, unter dem Radar entwischte. Man kann das bedauern. Der Vorteil ist die lückenlos erhaltene Überlieferung:

——— Friedrich Schlegel:

Idylle über den Müßiggang

aus: Lucinde. Bekenntnisse eines Ungeschickten, 1799:

„Sieh ich lernte von selbst, und ein Gott hat mancherlei Weisen mir in die Seele gepflanzt.“ So darf ich kühnlich sagen, wenn nicht von der fröhlichen Wissenschaft der Poesie die Rede ist, sondern von der gottähnlichen Kunst der Faulheit. Mit wem sollte ich also lieber über den Müßiggang denken und reden als mit mir selbst? Und so sprach ich denn auch in jener unsterblichen Stunde, da mir der Genius eingab, das hohe Evangelium der echten Lust und Liebe zu verkündigen, zu mir selbst: „O Müßiggang, Müßiggang! du bist die Lebensluft der Unschuld und der Begeisterung; dich atmen die Seligen, und selig ist wer dich hat und hegt, du heiliges Kleinod! einziges Fragment von Gottähnlichkeit, das uns noch aus dem Paradiese blieb.“ Ich saß, da ich so in mir sprach, wie ein nachdenkliches Mädchen in einer gedankenlosen Romanze am Bach, sah den fliehenden Wellen nach. Aber die Wellen flohen und flossen so gelassen, ruhig und sentimental, als sollte sich ein Narcissus in der klaren Fläche bespiegeln und sich in schönem Egoismus berauschen. Auch mich hätte sie locken können, mich immer tiefer in die innere Perspektive meines Geistes zu verlieren, wenn nicht meine Natur so uneigennützig und so praktisch wäre, daß sogar meine Spekulation unaufhörlich nur um das allgemeine Gute besorgt ist. Daher dachte ich auch, ungeachtet mein Gemüt in seiner Behaglichkeit so matt war, wie die von der gewaltigen Hitze aufgelösten und hingesunknen Glieder, ernstlich über die Möglichkeit einer dauernden Umarmung nach. Ich sann auf Mittel das Beisammensein zu verlängern, und künftig lieber alle kindlich rührenden Elegien über plötzliche Trennung zu verhüten, als uns wie bisher an dem Komischen einer solchen Fügung des Schicksals zu ergötzen, weil es nun doch einmal geschehen und unabänderlich sei. Erst nachdem die Kraft der angespannten Vernunft an der Unerreichbarkeit des Ideals brach und erschlaffte, überließ ich mich dem Strome der Gedanken, und hörte willig alle die bunten Märchen an, mit denen Begierde und Einbildung, unwiderstehliche Sirenen in meiner eignen Brust, meine Sinne bezauberten. Es fiel mir nicht ein das verführerische Gaukelspiel unedel zu kritisieren, ungeachtet ich wohl wußte, daß das meiste nur schöne Lüge sei. Die zarte Musik der Fantasie schien die Lücken der Sehnsucht auszufüllen. Dankbar nahm ich das wahr und beschloß, was das hohe Glück mir diesmal gegeben, auch künftig durch eigne Erfindsamkeit für uns beide zu wiederholen, und dir dieses Gedicht der Wahrheit zu beginnen. So erzeugte sich der erste Keim zu dem wundersamen Gewächs von Willkür und Liebe. Und frei wie es entsprossen ist, dacht‘ ich, soll es auch üppig wachsen und verwildern, und nie will ich aus niedriger Ordnungsliebe und Sparsamkeit die lebendige Fülle von überflüssigen Blättern und Ranken beschneiden.

Gleich einem Weisen des Orients war ich ganz versunken in ein heiliges Hinbrüten und ruhiges Anschauen der ewigen Substanzen, vorzüglich der deinigen und der meinigen. Größe in Ruhe, sagen die Meister, sei der höchste Gegenstand der bildenden Kunst; und ohne es deutlich zu wollen, oder mich unwürdig zu bemühen, bildete und dichtete ich auch unsre ewigen Substanzen in diesem würdigen Styl. Ich erinnerte mich, und ich sah uns, wie gelinder Schlaf die Umarmten mitten in der Umarmung umfing. Dann und wann öffnete einer die Augen, lächelte über den süßen Schlaf des andern und wurde wach genug um ein scherzendes Wort, eine Liebkosung zu beginnen: aber noch ehe der angefangene Mutwille geendigt war, sanken wir beide fest verschlungen in den seligen Schoß einer halbbesonnenen Selbstvergessenheit zurück.

Mit dem äußersten Unwillen dachte ich nun an die schlechten Menschen, welche den Schlaf vom Leben subtrahieren wollen. Sie haben wahrscheinlich nie geschlafen, und auch nie gelebt. Warum sind denn die Götter Götter, als weil sie mit Bewußtsein und Absicht nichts tun, weil sie das verstehen und Meister darin sind? Und wie streben die Dichter, die Weisen und die Heiligen auch darin den Göttern ähnlich zu werden! Wie wetteifern sie im Lobe der Einsamkeit, der Muße, und einer liberalen Sorglosigkeit und Untätigkeit! Und mit großem Recht: denn alles Gute und Schöne ist schon da und erhält sich durch seine eigne Kraft. Was soll also das unbedingte Streben und Fortschreiten ohne Stillstand und Mittelpunkt? Kann dieser Sturm und Drang der unendlichen Pflanze der Menschheit, die im Stillen von selbst wächst und sich bildet, nährenden Saft oder schöne Gestaltung geben? Nichts ist es, dieses leere unruhige Treiben, als eine nordische Unart und wirkt auch nichts als Langeweile, fremde und eigne. Und womit beginnt und endigt es als mit der Antipathie gegen die Welt, die jetzt so gemein ist? Der unerfahrne Eigendünkel ahndet gar nicht, daß dies nur Mangel an Sinn und Verstand sei und hält es für hohen Unmut über die allgemeine Häßlichkeit der Welt und des Lebens, von denen er doch noch nicht einmal das leiseste Vorgefühl hat. Er kann es nicht haben, denn der Fleiß und der Nutzen sind die Todesengel mit dem feurigen Schwert, welche dem Menschen die Rückkehr ins Paradies verwehren. Nur mit Gelassenheit und Sanftmut, in der heiligen Stille der echten Passivität kann man sich an sein ganzes Ich erinnern, und die Welt und das Leben anschauen. Wie geschieht alles Denken und Dichten, als daß man sich der Einwirkung irgend eines Genius ganz überläßt und hingibt? Und doch ist das Sprechen und Bilden nur Nebensache in allen Künsten und Wissenschaften, das Wesentliche ist das Denken und Dichten, und das ist nur durch Passivität möglich. Freilich ist es eine absichtliche, willkürliche, einseitige, aber doch Passivität. Je schöner das Klima ist, je passiver ist man. Nur Italiäner wissen zu gehen, und nur die im Orient verstehen zu liegen; wo hat sich aber der Geist zarter und süßer gebildet als in Indien? Und unter allen Himmelsstrichen ist es das Recht des Müßiggangs was Vornehme und Gemeine unterscheidet, und das eigentliche Prinzip des Adels.

Endlich wo ist mehr Genuß, und mehr Dauer, Kraft und Geist des Genusses; bei den Frauen, deren Verhältnis wir Passivität nennen, oder etwa bei den Männern, bei denen der Übergang von übereilender Wut zur Langenweile schneller ist, als der Übergang vom Guten zum Bösen?

In der Tat man sollte das Studium des Müßiggangs nicht so sträflich vernachlässigen, sondern es zur Kunst und Wissenschaft, ja zur Religion bilden! Um alles in Eins zu fassen: je göttlicher ein Mensch oder ein Werk des Menschen ist, je ähnlicher werden sie der Pflanze; diese ist unter allen Formen der Natur die sittlichste, und die schönste. Und also wäre ja das höchste vollendetste Leben nichts als ein reines Vegetieren.

Ich nahm mir vor, mich zufrieden im Genuß meines Daseins über alle doch endliche, und also verächtliche Zwecke und Vorsätze zu erheben. Die Natur selbst schien mich in diesem Unternehmen zu bestärken, und mich gleichsam in vielstimmigen Chorälen zum fernern Müßiggang zu ermahnen, als sich plötzlich eine neue Erscheinung offenbarte. Ich glaubte unsichtbarerweise in einem Theater zu sein: auf der einen Seite zeigten sich die bekannten Bretter, Lampen und bemalten Pappen; auf der andern ein unermeßliches Gedränge von Zuschauern, ein wahres Meer von wißbegierigen Köpfen und teilnehmenden Augen. An der rechten Seite des Vorgrundes war statt der Dekoration ein Prometheus abgebildet, der Menschen verfertigte. Er war an einer langen Kette gefesselt, und arbeitete mit der größten Hast und Anstrengung; auch standen einige ungeheure Gesellen daneben, die ihn unaufhörlich antrieben und geißelten. Leim und andre Materialien waren im Überfluß da; das Feuer nahm er aus einer großen Kohlenpfanne. Gegenüber zeigte sich auch als stumme Figur der vergötterte Herkules, wie er abgebildet wird mit der Hebe auf dem Schoß. Vorn auf der Bühne liefen und sprachen eine Menge jugendlicher Gestalten, die sehr fröhlich waren, und nicht bloß zum Schein lebten. Die jüngsten glichen Amorinen, die mehr erwachsenen den Bildern von Faunen: aber jeder hatte seine eigne Manier, eine auffallende Originalität des Gesichts, und alle hatten irgend eine Ähnlichkeit von dem Teufel der christlichen Maler oder Dichter; man hätte sie Satanisken nennen mögen. Einer der kleinsten sagte: „Wer nicht verachtet, der kann auch nicht achten; beides kann man nur unendlich, und der gute Ton besteht darin, daß man mit den Menschen spielt. Ist also nicht eine gewisse ästhetische Bosheit ein wesentliches Stück der harmonischen Ausbildung?“ „Nichts ist toller“, sagte ein andrer, „als wenn die Moralisten euch Vorwürfe über den Egoismus machen. Sie haben vollkommen unrecht: denn welcher Gott kann dem Menschen ehrwürdig sein, der nicht sein eigner Gott ist? Ihr irrt freilich darin, daß ihr ein Ich zu haben glaubt; aber wenn ihr indessen euren Leib und Namen oder eure Sachen dafür haltet, so wird doch wenigstens ein Logis bereitet, wenn etwa ja noch ein Ich kommen sollte.“ – „Und diesen Prometheus könnt ihr nur recht in Ehren halten“, sagte einer der größten; „er hat euch alle gemacht, und macht immer mehrere eures gleichen.“ – In der Tat warfen auch die Gesellen jeden neuen Menschen, so wie er fertig war, unter die Zuschauer herab, wo man ihn sogleich gar nicht mehr unterscheiden konnte, so ähnlich waren sie alle. „Er fehlt nur in der Methode!“ fuhr der Satanikus fort: „Wie kann man allein Menschen bilden wollen? Das sind gar nicht die rechten Werkzeuge.“ Und dabei winkte er auf eine rohe Figur vom Gott der Gärten, die ganz im Hintergrunde der Bühne zwischen einem Amor und einer sehr schönen unbekleideten Venus stand. „Darin dachte unser Freund Herkules richtiger, der funfzig Mädchen in einer Nacht für das Heil der Menschheit beschäftigen konnte, und zwar heroische. Er hat auch gearbeitet und viel grimmige Untiere erwürgt, aber das Ziel seiner Laufbahn war doch immer ein edler Müßiggang, und darum ist er auch in den Olymp gekommen. Nicht so dieser Prometheus, der Erfinder der Erziehung und Aufklärung. Von ihm habt ihr es, daß ihr nie ruhig sein könnt, und euch immer so treibt; daher kommt es, daß ihr, wenn ihr sonst gar nichts zu tun habt, auf eine alberne Weise sogar nach Charakter streben müßt, oder euch einer den andern beobachten und ergründen wollt. Ein solches Beginnen ist niederträchtig. Prometheus aber, weil er die Menschen zur Arbeit verführt hat, so muß er nun auch arbeiten, er mag wollen oder nicht. Er wird noch Langeweile genug haben, und nie von seinen Fesseln frei werden.“ Da dies die Zuschauer hörten, brachen sie in Tränen aus, und sprangen auf die Bühne um ihren Vater der lebhaftesten Teilnahme zu versichern; und so verschwand die allegorische Komödie.

William Hogarth, Industry and Idleness, 1747

Wiklich brisant bis heute bleibt Paul Lafargue: Le droit à la paresse. Réfutation du „droit au travail“ de 1848 von 1883. Wichtig — und immerhin möglich — zu lesen — und zu wissen — ist für unsereinen der deutsche Text:

Widerlegung des „Rechts auf Arbeit“ von 1848

neu übersetzt und herausgegeben als Sondernummer der „Schriften gegen die Arbeit“, Ludwigshafen 1988. Der Text hat Buchstärke, wenngleich eine eher schmale, und würde den hiesigen Rahmen sprengen. Kann sein, dass ich zu gegebenen Anlässen darauf zurückkommen werde, denn wie, geschweige denn warum bitteschön soll man die Reste seiner Lebenszeit an jemanden wenden, der nicht einmal ahnt, wie viel Freiheit mit Freizeit überhaupt zu tun hat.

Rot Front und angenehme Ruhe.

William Hogarth, Industry and Idleness, 1747

Fleiß vs. Faulheit: William Hogarth: Industry and Idleness, 1747:

  1. Plate 1 — The Fellow ‚Prentices at their Looms;
  2. Plate 2 — The Industrious ‚Prentice performing the Duty of a Christian;
  3. Plate 3 — The Idle ‚Prentice at Play in the Church Yard, during Divine Service;
  4. Plate 4 — The Industrious ‚Prentice a Favourite, and entrusted by his Master;
  5. Plate 5 — The Idle ‚Prentice turn’d away, and sent to Sea;
  6. Plate 6 — The Industrious ‚Prentice out of his Time, & Married to his Master’s Daughter;
  7. Plate 7 — The Idle ‚Prentice return’d from Sea, & in a Garret with common Prostitute;
  8. Plate 8 — The Industrious ‚Prentice grown rich, & Sheriff of London;
  9. Plate 9 — The Idle ‚Prentice betrayed (by his Whore), & taken in a Night-Cellar with his Accomplice;
  10. Plate 10 — The Industrious ‚Prentice Alderman of London, the Idle one brought before him & Impeach’d by his Accomplice;
  11. Plate 11 — The Idle ‚Prentice Executed at Tyburn;
  12. Plate 12 — The Industrious ‚Prentice Lord-Mayor of London,

via John Ireland and John Nichols: Hogarth’s Works: With Life and Anecdotal Descriptions of His Pictures. First Series, Chatto and Windus, Publishers, 1874.

Preaching to the converted: Отава Ё: Посеяли Девки Лён, aus: Любишь Ли Ты, 2018:

Written by Wolf

30. Oktober 2020 at 00:01

4. Katzvent: Hier liegt ein Kater der schönsten Art

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Update zu Im Bewusstsein seines Wertes sitzt der Kater auf dem Dach:

Im heurigen Katzvent befassen wir uns nach Inhalten über Katzen 2015 und Inhalten von Katzen 2016 mit Inhalten über tote Katzen.

Das ist erfreulicher, als man spontan glaubt — Kunststück. Wer die Morbidität nicht aushält, darf sich damit trösten, dass Katzen sieben Leben haben, in angelsächsischen Kulturen sogar neun.

In dem parodistischen Epos, um nicht zu sagen: in der epischen Parodie Murner in der Hölle stirbt der Kater gleich am Anfang und kommt in die Hölle, läuft aber erst posthum in beiden Welten zu seiner Hochform auf. Und ich kann nur versprechen, dass mir diese ganze Unternehmung der deutschen Aufklärung erst Mitte 2018 und vor allem unabhängig von ihrer Neuveröffentlichung 2017 aufgefallen ist: herausgegeben von Matthias Wehry, nach der Erstauflage 1757 und mit den Kupfern von Johann Caspar Weinrauch aus dem Jahre 1794, Wehrhahn Verlag (Edition Wehrhahn, Band 21), Hannover 2017.

Außer dieser jederzeit erhältlichen Erstauflage von 1757 (64 Seiten verlagsfrisch gebunden 22,99 Euro, als Taschenbuch schon 12,99 Euro, zum Beispiel bei Amazon.de, besser aber in einem katzenkuschligen, kompetenten Sortimentsbuchladen Ihres Vertrauens) ist eine Wiener Almanachvariante 1794 nachzuweisen — aber nicht, wie tiefgreifend und worin genau sich diese Versionen unterscheiden. Am brauchbarsten erscheint wie so oft der Volltext auf Zeno.org, allerdings konnte ich bei Stichproben immerhin drei verschiedene Schlussvarianten feststellen. Unverständlich bleibt — jedenfalls mir — der unmotivierte Namenswechsel des Katers zwischen Cyper und Murner.

Jörn Münkner unterrichtet uns in der einzigen eingehenden Rezension des Wiederabdrucks — Poetischer Katzenjammer. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae macht einem Kater den Garaus, in: Literaturkritik.de, Rezensionsforum, 17. Juli 2018 — über des Dichters Zachariae literarische Nachfolge von Alexander Pope, vor allem dessen mock heroic von 1712 The Rape of the Lock: An heroic-comical poem, das Zachariae bekannt sein konnte, weil 1744 von Luise Adelgunde Victorie Gottsched übersetzt. Als komisches Versepos und „Mixtur aus Adelssatire, Parodie des klassischen Epos mit burlesker Verhöhnung der antiken Mythologie und augenzwinkernder Moralkritik“ (Münkner, a. a. O.) fiel der Murner 1757 gerade unter eine Modegattung, 1898 entsetzt sich Carl Schüddekopf in der Allgemeinen Deutschen Biographie darüber, wie Zachariae den Alexandriner nur „in seinen späteren Epopöen mit einem lottrigen Hexameter vertauschen, vereinzelt sogar zur Prosa zurückkehren“ und den Murner damit in die „lange, abwärts führende Reihe von epischen Dichtungen“ stellen konnte.

Tatsache bleibt aber auch, dass selbst sein ach so lottriger Hexameter über eine längere Strecke im Deutschen dessen Gebrauch in der Odyssee-Übersetzung von Johann Heinrich Voß 1781 mit spielerischer Selbstverständlichkeit vorwegnimmt, und selbst die jahrhundertelang beispielgebende Leistung von Voß ist auf begründete Kritik gestoßen. Dabei wird sich nicht mehr belegen lassen, ob Zachariae seine „gewitzte Verkehrung der erwarteten Sprache und Metrik“ nicht sogar als atmosphärestiftendes Stilmittel gemeint hat. Jedenfalls macht der beherzte Kater heute noch mehr Spaß als die formale Perfektion mit nicht enden wollendem Kriegsgetümmel, Elend und moralischer Verworfenheit bei Homer. — Ungekürzt:

Black Cat via Abecedarian

——— Justus Friedrich Wilhelm Zachariae:

Murner in der Hölle.

Ein scherzhaftes Heldengedicht

bey Johann Christian Koppe, Rostock 1757:

Erster Gesang

Singe, scherzende Muse, die großen heroischen Thaten,
Und den kläglichen Tod von einem unsterblichen Kater;
Welcher den schwarzen Cocytus beschifft und seine Gebeine,
Gleich den Gebeinen der Helden, mit Marmor bedecket gesehen.

Du, o holde Rosaura, die du das Ende des Lieblings
Fast drei Stunden beweint; (wie öfters weinet so lang‘ nicht
Um den Tod des podagrischen Manns die buhl’rische Wittwe!)
Holde Rosaura, beseele dies Lied mit dem siegenden Auge,
Welches so viele Herzen entflammt, und lächle der Muse
Würdige Kühnheit in’s Herz, wenn sie die Stygischen Wasser
Unter sich brausen hört, und zu den traurigen Schaaren
Wandelnder Schatten sich mischt, die Charons Ueberfahrt fordern!

Mitten in einem veralteten Schloß am Ufer der Elbe
Wohnte der ehrliche Raban mit seiner Nichte Rosaura.
Artiger war kein Fräulein umher, als seine Rosaura;
Holder waren die Grazien nicht, und schöner nicht Venus,
Als sie, vom Schaume des Meers noch tröpfelnd, die Fluthen herausstieg,
Zärtlich liebte die Nichte den Onkel, und was sie nur wünschte,
War zu ihrem Befehl; doch wünschte das Fräulein nur wenig,
Welches d’rum mehr noch das Herz des häuslichen Alten ihr neigte.
Einsam im Zimmer, zufrieden mit sich, durchlebte sie Tage,
Nicht vom Neide getrübt, noch von dem Stolze verdunkelt.
Mit ihr wohnten in einem Gemach zwei gesellige Thiere,
Cyper, ein fleckiger Kater, und ein geschwätziges Papchen,
Welches über das Weltmeer kam, und seiner Gebiet’rin
Manche Stunde, so gut wie ein leerer Stutzer, verplaudert.

Eben hatte der weichende Winter von stürmischen Schwingen
Seine letzten Schauer von rieselndem Hagel geschüttelt;
Ueber sanft wallende bunte Tapeten und Veilchen und Tulpen
Fuhr im Triumph der Frühling daher; und Pandions Tochter
Stammelte schon gebrochene Versuche zu mächtigen Liedern
Unter halbgrünendem Laub; als an dem östlichen Himmel
Blutroth sich Aurora erhob, und schneidende Lüfte
Vor ihr her das einsame Schloß lautheulend umbrausten.
Daß die murrende Magd zum Vorrath des Holzes hinabstieg,
Und von Neuem wohlthätige Feuer die Ofen erhitzten.
Jetzt kam Cyper über das Dach. Er hatte die Nacht durch
Einsame Böden durchirrt, und Legionen von Ratten
Aus einander gejagt; mit ihrem rinnenden Blute
Seinen zähnvollen Rachen genetzt, und trunken von Siegen
Ueber die todten Leichname her sich brüllend gewälzet.
Leise schlüpft‘ er zum Zimmer hinein, als eben die Zofe
Brausendes Wasser geholt, mit sanftem Chinesischen Tranke
Ihre Gebiet’rin zu wecken. Doch als sie das gnädige Fräulein
Schlummernd noch fand, da fiel auf’s Neu‘ der rauschende Vorhang
Wieder über das seidne Bett, und schleichend verließ sie
Ihrer Fräulein Gemach. Von Abenteuern ermüdet,
Legte nun Cyper sich hin dicht an den glühenden Ofen;
Streckte die Löwenklauen von sich, und sank bald geruhig
In den süßesten Schlaf. Die phantasirenden Sinne
Schweiften in güldenen Träumen umher. Er sah die Gestalten
Schöner Katzen versammelt um sich, und hörte die Seufzer,
Welche vom moosigen Dach, von alten verwachs’nen Gemäuern,
In vertraulicher Nacht um seinetwegen erschollen,
Und dann dünkt‘ ihm, er läge Rosauren vertraulich im Schooße,
Würde von ihrer marmornen Hand liebkosend gestreichelt,
Und vom hölzernen Junker und zierlichen Fähndrich beneidet.
Eitle Gedanken! Er sollte nicht mehr die Höhlen der Ratten,
Noch die Geliebten, Minzchen, besuchen! er sollte nicht wieder,
In Rosaurens Armen gewiegt, sanftschnurrend entschlummern!
Eine der Furien, welche das Herz der wildesten Xanthippe
Mit der brennenden Fackel zum Zank mit dem Eh’mann entflammet;
Wollte die Oberwelt jetzt mit der finstern Hölle vertauschen,
Und flog, scheußlich und schwarz, auf einer stinkenden Wolke,
Bei Rosaurens Fenster vorbei. Ihr plauderndes Papchen
Saß im drähternen Haus, und rief laut schimpfend: Du Scheusal!
Als die schlangenhaarige Furie bei ihm vorbei flog.
Auch die Furien tragen den Stolz im scheußlichen Busen,
Schön zu seyn, zum Mindesten schön für der Hölle Bewohner.
Selbst Alekto war Dame genug, voll Zorn zu entbrennen,
Daß sie der Vogel für häßlich geschimpft. Wie leicht, o Verweg’ner,
(Sagte sie bei sich selbst) kann dich Alekto bestrafen!
Deinen verräth’rischen Hals könnt‘ ich im Zorne dir umdrehn,
Oder mit dieser höllischen Fackel zu Asche dich brennen!
Aber du bist zu klein für einer unsterblichen Göttin
Eigene Hand! Geh‘, schimpfe mich mehr im Magen des Katers,
Der hier schläft, und welchem ich dich zum Opfer bestimme!

Rasend für Wuth begab sich Alekto zum schlafenden Kater;
Hauchte mit Mordsucht ihn an, und sprach mit gleißenden Worten:
Ist es möglich? du schnarchst hier ruhig unter dem Ofen,
Edler Murner, du Zierde der Kater; und hast es vergessen,
Daß dich die Ehre zu herrlichen Thaten, zu Siegen gerufen,
Welche vor dir kein Kater erstritt? – Verwandter der Tiger,
Willst du die Schaaren allein der fliehenden Mäuse verfolgen,
Und mit tapferer Klau‘ langschwanzige Ratten nur würgen?
Durstet dich nicht nach edlerem Blut? O siehe, wie trotzig
Sitzt der Liebling Rosaurens in seinem güldenen Käfich,
Schimpft nach seinem Gefallen dich aus, und waget oft selber
Flüche wider die holde Rosaura, worüber sie lächelt,
Und ihn mit gütigem Blick und Schmeicheleien belohnet,
Da sie indeß dich, Cyper, vergißt. O leide nicht länger,
Da der geschwätzige Vogel die Gunst des Fräuleins dir raube,
Und den männlichen Laut von deiner Stimme verspotte,
Wenn er so oft dich lächerlich macht! Den Plauderer schützet
Nur sein Käfich umsonst! Wie mancher Canarienvogel
Ward von deinen tapferen Ahnen im Käfich zerrissen!
Würge denn du auch den plaudernden Spötter und streu‘ im Triumphe
Seine Federn, worauf er stolzirt, in alle vier Winde!

Also sagte die höllische Göttin. Der Kater erwachte,
Sah mit funkelnden Augen umher und brüllte nach Blute.
Wie ein Blitz sich vom hohen Olymp in die Felder hinabreißt
Und den blühenden Baum zerschmettert, worunter der Schäfer
Oft auf seinem harmonischen Horn die Auen ergötzet:
So riß Cyper sich auch, den Nebenbuhler zu tödten,
Unter dem Ofen hervor, und sprang so behend wie ein Panther
Auf den goldenen Käfich. Der Vogel sinket vor Schrecken
Auf den Boden des Käfichs; doch hätt‘ ihn Cyper unfehlbar
Voller Mordsucht gewürgt, wenn nicht der ehrliche Raban
Auf das wilde Geschrei dem Vogel zu Hülfe geeilet.
Eben hatte der häusliche Greis den knotigen Dornstock,
Seinen Feldstab, in zitternder Hand; kaum sah er den Kater
Ueber den Käfig geklammert, so schlug er mit männlichen Kräften
Seiner Nichte Liebling auf’s Haupt. Die grausame Parce
Schnitt sein neunfaches Leben entzwei, und Cyper, entseelet,
Fiel vom Käfich, der Käfich auf ihn, und über den Käfich
Stürzte der Alte; vom donnernden Lärm erbebte das Zimmer!

Aengstlich erwacht die holde Rosaura vom wüsten Getümmel;
Fliegt im leichten Gewand zu ihrem Gemache, worin sie
Mit erstarrendem Blick das blutige Trauerspiel wahrnimmt.
Dreimal klang mit ängstlichem Schall die silberne Schelle
Durch das hallende Schloß; doch eh‘ Lisette sich nahet,
Hilft das Fräulein dem Alten bereits in den sammeten Lehnstuhl.
Als er Athem geschöpft, erhub er zur weinenden Nichte,
Welche den Leichnam des Cypers erblickt, die donnernde Stimme:
Siehe, der Hund! Schon war er bereit, den Papen zu würgen!
Doch, potz Stern! ich habe noch Kraft in den Knochen! da liegt er
Todt der gierige Räuber! Er thut es nicht wieder, ich wette!
Also sprach er prahlend und stolz, und drohte noch dreimal
Mit dem knotigen Stock dem schon verblichenen Cyper.
Aber das Fräulein weinte laut; ihr Antlitz verbarg sich
Tief in ihr Schnupftuch, mit Thränen genetzt sie fiel in den Lehnstuhl.
Sage mir, Muse, die schmerzlichen Klagen des traurigen Fräuleins,
Und vergiß nicht das laute Geheul der Zofe Lisette,
Welche der Wiederhall ward von ihrem gnädigen Fräulein.
Armes Cyperchen! (seufzete laut die holde Rosaura)
Welch ein erbärmlicher Tod entreißet dich meiner Gesellschaft! –
So unrühmlich fällst du dahin in der Blüthe des Lebens,
Todtgeschlagen, mit einem Stock, unedel und grausam –
Todtgeschlagen von dem, der dich mir selber geschenket!
Regt kein Leben sich mehr in dir? Und haben auf ewig
Deine grünen funkelnden Augen für mich sich geschlossen?
Werd‘ ich dir nicht mehr den Knebelbart streichen und nicht mehr im Dunkeln
Feuer dem seidenen Haar entlocken? und wirst du mich nicht mehr
Mit dem krummen Buckel, mit scherzenden Sprüngen ergötzen?
Also Rosaura. – Die Zofe fuhr fort: Du Krone der Kater,
O, wie vornehm sahest du aus! Ganz anders, wie Kater
Niedrer Bauern im Dorf! Dein rothes, schimmerndes Halsband
Wurde von allen Katzen im ganzen Umkreis beneidet.
O, wie artig ließ es dir nicht! Nun sollst du vermodern
Und das schöne Halsband mit dir? das niedliche Halsband,
Nein! ich nehm‘ es für mich! es soll nicht mit dir vermodern!
O, wie rinnet dein purpurnes Blut nicht über dein Haupt her!
Ja, du bist todt! Du bist es auf ewig, du armer Cyper!

Als sie dies sprach, erhub sich von Neuem der Fräulein Gewinsel,
Und der Alte weinete selbst. Er faßte die Nichte
Bei der Hand und führte sie weg vom traurigen Zimmer.
Und die Zofe heulete lauter: Der arme Cyper!
Und das Fräulein antwortete schluchzend: Der arme Cyper!
Cyper! rufte die Wand, und Cyper! Cyper! der Pape,
Welcher dem Feind im Tode vergab. Die Furie sah es
Voller höllischen Fröhlichkeit an, und stürzte sich zischend
Durch die verdunkelte Luft, und sank in die Fluthen des Orkus.

Black Cat via Abecedarian

Zweyter Gesang

Kaum beherrschte Lisette nunmehr das einsame Zimmer
Unumschränkt und allein, so nahm sie die Maske der Trauer
Von dem Gesicht, und war nicht mehr der Seufzer Rosaurens
Stets gefälliges Echo. Sie warf auf den Leichnam des Katers,
Den sie so sehr im Leben gehaßt, zufriedene Blicke.
Also schaut der würgende Sieger zufrieden in’s Schlachtfeld;
Weidet die Augen am Blut der Erschlagenen; die wiehernden Rosse
Tragen ihn hoch auf Leichnamen her. – Indem die Posaune
Siegender Heerschaaren um ihn ertönt, so dünkt er ein Gott sich.
Höhnisch stieß die erbitterte Zofe den blutigen Leichnam
Mit dem Fuß, doch riß sie vorher mit entweihenden Händen
Von dem Halse den blendenden Purpur, mit silbernen Blumen,
Und mit Laubwerk gestickt; besah ihn mit geizigen Blicken,
Rollt ihn zusammen und sprach: Dem Himmel sey Dank, daß du endlich
Deinen verräth’rischen Hals gebrochen, verworf’nes Geschöpfe!
Wohl mir, daß ich dich todt, du falsche Bestie, sehe!
O, wie bin ich so sicher nunmehr, daß künftig mein Fräulein
In dem Schooße dich wiegt und dich aus Zärtlichkeit küsset.
Pfui! wie konnten die schönsten Lippen so zärtlich dich küssen,
Und wie konnte die weicheste Hand dein Fuchshaar so streicheln!
Geh‘ nun hin, du hungriger Räuber, und friß mir den Braten,
Oder das braune Ragout, das ich vom Munde mir sparte!
Geh‘ nun hin und würge dir Tauben, und hole dir ferner
Papageyen zum leckeren Fraß! es sey dir erlaubet!

Also spottete sie des armen getödteten Murners.
O, wie plötzlich ändern sich nicht die gleißenden Reden
Eines veränderten Hofs, der nichts mehr fürchtet und hoffet!
Jetzt eröffnete Lisette das Fenster; sie fasset den Körper
Bei dem hintersten Bein, und wirft ihn zum Fenster herunter
Auf den schimpflichen Mist. So stürzten die Statuen eh’mals
Eines Tyrannen herab; so ward das Schrecken der Römer,
Nun ein verstümmelter Rumpf, in faule Kanäle geschmissen.

Fern vom traurigen Zimmer befand sich indessen Rosaura
Bei dem gütigen Alten, der sie mit holden Gesprächen,
Von anmuthigen Reisen in’s Bad, zu trösten bemüht war,
Ihr Geschenke versprach von neuen, modischen Stoffen,
Und mit Soucis, und Lila, und Dauphine sie erfreute.
Muntrer kam sie zu ihrem Gemach; des Lieblings vergessend,
Denket sie nicht an sein Grab, und setzt zum Putze sich nieder.
Schachteln gingen da auf, und Büchsen wurden eröffnet;
Eisen glühten in schwarzen Vulkanen, und Wolken von Puder
Wälzten sich gegen den Tag; dann rollte die rasselnde Kutsche
Glänzender Fremden über den Hof. Es dampfte die Küche
Hohen Geruch von Braten, Pasteten und kräftigen Brühen.
Eine muntere Tafel, von leichten Scherzen umflattert,
Schmauste den langen Nachmittag durch; die hellen Pokale
Taumelten unter den Junkern herum, bis durch die Gewölke
Freundlich der Abendstern blinkte; da unterdessen das Fräulein,
Von der horchenden Schaar am silbernen Flügel umringet,
Mit dem holden Gesang die eilenden Stunden verkürzte.
So ward alles Leid und alle Trauer vergessen.

Und nun eilte bereits die murrende Seele des Katers
Zu der Hölle hinab. – Verzeiht es, Stygische Mächte
Ihr Beherrscher der Seelen, ihr einsamen Schatten; du, Chaos,
Phlegeton, und ihr öden Behausungen, daß ich es wage,
Vor der Lebenden Blick des Abgrunds Tiefen zu zeigen,
Murner wandelte fort durch dicke Cimmerische Nächte
Ueber Pluto’s finstre Gefilde. Der Vorhof der Hölle
Schlang ihn ein. Da wohnten die Klagen, die räch’rischen Sorgen,
Bleiche, tödtliche Seuchen, das traurige Alter, der Hunger,
Armuth und Furcht. Viel scheußliche Larven, der Krieg und die Zwietracht
Mit dem Schlangenhaar hauseten hier. In rauschenden Hainen
Dunkeler Ulmen flatterten da die schrecklichen Träume.
Schaarenweis gingen hier auch viel schreckende Ungeheuer,
Wilde Centauren, Gorgonen, Hyänen und schmutzige Harpyen.
Bang und zitternd eilete Murner durch diese Gestalten
Zu den Stygischen Ufern, und wallte verlassen und traurig
Am Gestade des dunkeln Cocytus. Es brausten die Wasser
Unaufhaltsam und wild zu den Pforten des Todes hinüber.
Durch sie fuhr der finstere Charon; ein schmutziger Alter,
Dessen grauer, verworrener Bart den Gürtel herabfloß.
Mürrisch saß er im Kahn und steuerte langsam sein Fahrzeug
Gegen die brausende Fluth zum Ufer, wo Schaaren von Seelen
Zum Gestade sich drängten. Hier gingen unter einander
Fürsten, Komödianten und Dichter, und Huren und Nonnen,
Goldmacher, Räuber und Prokuratoren, und Aerzte; mit ihnen
Todtengräber, nebst lachenden Erben. Auch gingen hier Seelen
Vornehmer Damen, mit Seelen von Hunden und Katzen, und Vögeln;
Da die Schatten indeß von ihren verachteten Kindern
Einsam an dem Gestade zur Mutter die Stimmen erhuben,
Welche sie vornehm verließ und lieber die Seele des Hündchens,
Ihres Vergnügens im Leben in Charons Nachen mit wegnahm,
Wie im Herbste der Nord die gelbgewordenen Wälder
Brausend durchfährt, und dicke Wolken von fallenden Blättern
Ueber die Thäler verstreut; und wie an Thulens Gestaden
Schreiende Schaaren von wandernden Vögeln die Wogen bedecken:
Also stürzten die Schatten zum Ufer, und streckten die Hände
Bittend zum Charon empor, der einige Bittende einnahm,
Aber andre mit schwankendem Ruder vom Kahne zurückhielt.
Denn der mürrische Greis führt keine verstorbenen Seelen
Ueber die Stygischen Wasser und hohen Cocytischen Fluthen,
Wenn nicht ihr Körper auf Erden die letzten Ehren erhalten
So ward auch der Schatten des Katers vom Fahrzeug entfernet.
Traurig ging er am Ufer herum, und hoffte vergebens
Ueber den Fluß zu kommen. Er sprang zuletzt in die Fluthen,
Und versuchte herüber zu schwimmen; doch Charon ergriff ihn
Mit dem mächtigen Ruder, und schlug ihn zum Ufer zurücke.
Voller Verzweiflung mischt‘ er sich d’rauf zu bleichen Gespenstern,
Welche zur Oberwelt eilten, und kam mit ihnen von Neuem
Zu dem Schlosse zurück, wo sein verachteter Leichnam
Auf dem Miste noch lag, dem Knecht und der Viehmagd zum Abscheu.

Black Cat via Abecedarian

Dritter Gesang

Lange schon hatte die finstre Nacht mit mächtigen Schwingen
Ueber die Welt und das Dorf sich verbreitet. Die furchtsame Schloßuhr
Schlug jetzt zwölf; die schreckliche Stunde, worin die Gespenster
Frei umhergehn, mit rasselnden Ketten, mit glühenden Augen,
Und mit scheußlichen Larven. Die tiefste Ruhe beherrschte
Das altvät’rische Schloß; der alte Raban, Rosaura,
Koch und Kutscher und Magd lag tief im Schlafe vergraben.
Nur Lisette stickete noch, bei nächtlicher Lampe,
Ihrem Geliebten, dem schwarzen Jäger, Manschetten, als plötzlich
Die gefürchtete Mitternachtstunde mit silberner Stimme
Durch das einsame Schloß erschallt; da fiel ihr die Nadel
Aus der zitternden Hand; im Augenblick nahm sie das Nachtlicht
Und ging bebend aus Angst zur schneckenförmigen Treppe.
Aber wie blind macht öfters die Furcht! Anstatt daß die Zofe
Zu dem niedern Gemach dicht an dem Dache hinaufstieg,
Kam sie in ihrer Bestürzung herab zur Thüre des Kellers.
Dieser war, schrecklich und wüst, schon lange die schwarze Behausung
Aller Gespenster gewesen. In bangen Mitternachtstunden
Hörte man oft ein Winseln darin, auch hatte der Kutscher
Blaue Lichter bei flimmernden Schätzen d’rin brennen gesehen.
Wie vom Donner gerührt stand jetzt die furchtsame Zofe
Vor dem Schlunde des Kellers; ein kalter panischer Schrecken
Sträubte der zitternden Nymphe das Haupthaar empor; mit Entsetzen
Stieg sie die Stufen von Neuem hinauf, und wollte nun sichrer
Ihre Kammerthür öffnen; da kam ihr der Schatten der Katze
Wild entgegen gebraust. Sie sahe die funkelnden Augen,
Und den zähnefletschenden Schlund, und stürzte sich schreiend
Tief in ihr Bette. Hier lag sie in Angst drei schreckliche Stunden,
Ohne den Kopf aus dem tiefen Gewühle der Federn zu wagen;
Bis sie der Schlaf mit dem Anbruch des Tags voll Mitleid besuchte.

Aber der Schatten des Katers begab sich zur Kammer des Alten,
Schnaubte Rache, sprang wild auf den Tisch, auf welchem ein Nachtlicht
Sterbende blaue Strahlen verstreute. Die zitternde Flamme
Fuhr in die Höh‘ und erlosch; d’rauf schallte durch’s einsame Zimmer
Murner’s Todtengeheul. Der Alte fuhr auf aus dem Schlafe,
Furchtsam und blaß; da sah er den Cyper mit glühenden Augen,
Welcher höllische Flammen aus seinem Nasenloch brauste.
Schrecklich riß er den Mund auf und schrie. Vom wilden Geheule
Schallte das Schloß, und endlich verschwand der spukende Murner.
Er flog jetzo mit weniger Schrecken zum Zimmer Rosaurens,
Und erschien ihr im Schlaf mit blassem, entstelltem Gesichte.
Schönste Rosaura, (so sprach zu ihr) vergib es der Seele
Deines getödteten Cypers, wofern er die süßeste Ruhe
Mit der blassen Erscheinung dir stört! vergib es der Seele,
Welche, sogar von den Ufern des dunkeln Cocytus gewiesen,
In der Irre sich quält, da unbegraben mein Leichnam
Auf dem Miste verachtet liegt, und meine Gebeine
Nicht einmal mit ein wenig Staub mitleidig bedeckt sind.
Ach, Rosaura! verdienet denn dies dein gewesener Liebling?
Hab‘ ich dir darum so oft im Leben die Hände geküsset,
Und die scharfen Klauen verborgen? und hab‘ ich dir darum
Deine widrigsten Feinde, die Ratten, so treulich gefangen,
Um nicht einmal ein Grab nach meinem Tode zu haben?
Ach! was kann ich dafür, daß einer Furie Listen
Mich auf deinen Vogel erhitzt? und kann ich die Triebe,
Welche die mächt’ge Natur zum Morden mir einblies, verändern?
Bin ich dafür nicht genug mit dem schmerzlichsten Tode bestrafet?
Göttliche Schöne, wenn anders dein Herz Erbarmen empfindet,
Wenn dein Cyper dir je in seinem Leben gefallen:
O, so lass‘ es nicht zu, daß sein verachteter Leichnam
Den gefräßigen Hunden und schnatternden Enten ein Raub sey!
Gib den armen Gebeinen ein Grab, und gönne die Ruhe
Seinem irrenden Schatten, daß ihm der mürrische Charon
Ueber die Stygische Fluth die Fahrt verstatte; daß nicht mehr
Sein gepeinigter Geist mit andern Gespenstern umhergeh‘,
Und in finsterer Nacht mit seiner Erscheinung erschrecke.
Also sagte der Schatten des Katers, und flog in die Lüfte.

Aengstlich erwachte Rosaura. Die Morgenröthe bedeckte
Die Gebirge mit Purpur. Es tönte vom blumigen Anger
Das erweckende Horn des Hirten. Die nützlichen Stiere
Gingen langsam am Pfluge zum Acker. Der frühe Verwalter
Trabte mit seinem wiehernden Fuchs durch Haiden und Felder;
Dreimal zog Rosaura mit Macht die tönende Schelle,
Welche mit hellem, scharfem Geläute Lisetten erweckte.
Sie erschien vom nächtlichen Schrecken noch blaß und entstellet,
Und das Fräulein red’te zu ihr mit geflügelten Worten:
Ach! wie haben wir’s denn vergessen, den armen Cyper
In die Erde zu scharren! Im Traum erschien mir sein Schatten,
Welcher herumirrt, weil wir ihn nicht mit Ehren bestattet.
Ich vergeb‘ es mir nie, ich Undankbare! Wie hast du
Mich nicht erinnert, Lisette! So lägen seine Gebeine
Nicht verachtet in freier Luft, den Thieren zum Raube!
Eile, befiehl dem Gärtner, sogleich vom Mist ihn zu nehmen,
Und ihm unter den Linden am Wasser ein Grab zu bereiten.
Also das Fräulein. Lisette versetzt‘: Noch beb‘ ich vor Schrecken,
Denn auch mir ist der Schatten des todten Cypers erschienen.
O, wie gräßlich drohte sein Blick, indem er wildheulend
Ueber den Weg mir lief! Wir wollen ihn schleunig begraben,
Daß er nicht wieder mit seiner Erscheinung die Nacht durch uns störe!
Als sie noch sprach, da kam auch der Alte mit zitternden Füßen,
Lehnte sich auf den Dornstock und sprach: Ihr Kinder, begrabet
Schleunig den Leichnam des Katers! Noch bin ich des Todes vor Schrecken!
Denn, potz Stern! ich hab‘ ihn gesehn! Wie glühten dem Teufel
Seine höllischen Augen! Wie schnaubte die grimmige Nase
Flammen umher – ich verlang‘ es nicht wieder noch einmal zu sehen!

Eilend begab sich die Iris des Fräuleins zum Gärtner und sagte:
Conrad, folge mir nach, und nimm vom Miste den Leichnam
Unsers verstorbenen Cypers. Am Wasser unter den Linden
Mach‘ ihm ein Grab, und leg‘ ihn darein; damit er nicht wieder
In dem Schlosse mit seiner Erscheinung die Lebenden schrecke.
Deine Mühe soll dir ein blanker Gulden belohnen,
Und ein Glas voll herrlichen Branntweins die Kehle dir netzen.

Also sprach sie. Ihr folgete Conrad, von Branntwein ermuntert,
Ging auf den Hof, und nahm auf den Spaten den Leichnam des Cypers,
Trug ihn unter die Linden, und legte die starren Gebeine
Tief in ein kühles Grab. Gleich flog sein irrender Schatten
Wieder zur Hölle hinab und mischte sich unter die Seelen,
Die zum schwankenden Kahn des alten Charons sich drängten.

Black Cat via Abecedarian

Vierter Gesang

Und nun waffne dein Herz mit Muth von Neuem, Rosaura,
Wenn du die Muse zur Hölle begleitest; zur Hölle, die oftmals
Dich im Schauspiel geschreckt, wenn Teufel mit seidenen Strümpfen
Und mit blitzenden Schuhen getanzt; wenn Flammen von Pulver
Ueber die bunten, papiernen Wände des Abgrunds sich wälzten,
Und Colophoniendampf aus tiefen Schlünden heraufschlug.
Strahlte nicht durch die Nacht mir dein Auge; wie könnt‘ ich es wagen,
Zu den finstern Gefilden des Erebus zweimal zu wandeln.
Doch damit du das Schicksal des Cypers vollendet erfahrest,
Soll ihn die kühnere Muse noch jenseits des Styxes begleiten.

Charon sah den Schatten des Katers dem Flusse sich nahen.
Weil er wußte, sein Leichnam sey zur Erde bestattet,
Rückt‘ er den Kahn an’s Ufer und nahm den Murner in’s Schiff ein.
Rauschend eilte der Kahn von selbst zum Ufer hinüber,
Wo an den Pforten des Orkus der grausame Cerberus wachte,
Als die Katze den Höllenhund sah, der seine drei Rachen
Fürchterlich aufriß und bellte: da fuhr sie erschrocken zurücke,
Krümmte den Buckel und schnaubte, daß selbst der finstere Charon!
Seine Runzeln zum Lächeln verzog. Doch setzt‘ er sie endlich
An das Ufer des Tartarus aus. Sie schlüpfte verstohlen
Bei dem Höllenhunde vorbei, und kam durch die Höhle
Zu den Gestaden des flammenden Phlegetons, welcher lautbrausend
Ueber die schallenden Felsen die feurigen Wogen verfolgte.
Hier erblickte der Cyper die hohen ehernen Mauern,
Und die demant’nen Pforten, die zu dem Qualenreich führten.
Auf der eisernen Warte, die hoch in die Lüfte sich hebet,
Sitzet die immer wache Tisiphone schrecklich am Eingang,
Peitschet mit Schlangen den Flüchtling zurück, der voller Verzweiflung
Aus den schwarzen Gefilden der Pein zu entwischen gedenket.
Schaudernd hörte der Cyper die brüllenden Seufzer, die Schläge,
Mit dem Geschwirre des Eisens und schwerer rasselnder Ketten,
Welche die Elenden zogen, die hier der höllische Richter,
Rhadamantus, zu langen und grausamen Martern verdammte.
Jetzo sprangen mit schrecklichem Schall die demant’nen Pforten
Aus den donnernden Angeln. Alekto mit brennender Fackel
Fuhr heraus und faßte den Cyper, und wollte schon scheltend
Vor den Richter ihn schleppen, als sie ihn plötzlich erkannte.
O, bist du es, (erhob sie die Stimme) du trauriges Opfer
Meiner Rache, die du gewagt, für mich zu vollbringen?
Dafür sollst du die Qualen nicht sehn, die räub’rische Thiere
Hier Jahrhunderte peitschen. Denn wisse! hier werden die Löwen,
Blutige Tiger und Panther, und alle die stolzen Erob’rer,
Eh’mals das Schrecken der klagenden Wälder, verschieden gemartert,
Wölfe werden allhier bei langsamem Feuer gebraten;
Räub’rische Füchse liegen gefesselt an feurigen Ketten,
Sehn die Hühner vor sich und können sie niemals erreichen.
O, was nützet es hier dem Adler, dem König der Vögel,
Daß er Monarch war, von allen Poeten und Rednern gepriesen!
Ewig sitzet er hier in einem glühenden Käfich,
Und verfluchet, daß man in ihm den Räuber vergöttert.
Aber wie könnt‘ ich dir, Murner, unzählbare Qualen beschreiben,
Welche das räub’rische Thier hier strafen, wofern es die Unschuld,
Oder die nützlichen Thiere gewürgt! Doch trifft nicht dies Urtheil
Dich, und alle die Thiere, die mit den räch’rischen Zähnen,
Oder mit scharfen Klauen und Schnäbeln das Ungeziefer,
Ratten und Mäuse, Schlangen und Eidechsen, Spinnen und Raupen
Zu verderben gesucht; die gehn in schattigen Hainen
Glücklich einher; doch müssen die Katzen nicht singende Vögel,
Oder unschuldige Hühner erwürgen, sonst werden sie gleichfalls
Mit den Wölfen gebraten und mit den Füchsen gepeinigt.
Wohl dir, daß dich dein Schicksal bewahrt! Verfolge nun ferner
Deinen Weg von diesem Flusse nach jenen Gefilden,
Wo die glücklichen Thiere wandeln – dir wird man auf Erden
Unter den Linden am Bach ein prächtiges Denkmal errichten,
Und bei dem Grabe weinen. – So sprach sie. Die Pforten
Sprangen hinter ihr zu, und über die ehernen Säulen
Schlug ein schwefliger Dampf, mit blauen Flammen vermischet.
D’rauf ging Murner mit muthiger’m Schritt durch dunkele Wege,
Bis er zu jenen glücklichen Wäldern und Auen gelangte,
Wo die milderen Thiere nach ihrem Tode spazieren.
Hier herrscht ewiger Lenz; hier fließen die Quellen des Aethers
Sanfter aus gütigen Sonnen; und über die lachenden Felder
Hat die güt’ge Natur ihr ganzes Füllhorn verschüttet.
Durch die blühenden Auen ergießt in gleißenden Wellen
Lethe den schlängelnden Strom. Hier trinken mit durstigen Zügen
Alle Thiere Vergessenheit ein, und ihre Naturen
Werden hier milder gemacht. Auch baden hier alle die Seelen,
Welche vom Schicksal zur Wand’rung in andre Leiber bestimmt sind.
Hier sah Cyper den Schatten des Hofhunds, welcher erwählt war,
Eines künftigen Harpagons Körper zur Wohnung zu haben.
Seelen von Papageyen, bestimmt, in Weise zu fahren,
Und in Dichter, welche für sich zu denken nicht wagen,
Gingen allhier; auch Seelen von Pfauen für eitele Damen,
Seelen von Raben für Richter, und Seelen von Füchsen für Schreiber.
Andere Seelen von besseren Thieren genossen hier Ruhe,
Freiheit und ewigen Lenz in ihren elysischen Feldern.
Hier ging munter das edle Roß auf grünenden Wiesen;
Frische Winde kräuselten ihm die fliegenden Mähnen,
Und es wieherte Freiheit. Auf holden blumigen Angern
Stand der nützliche Stier, auf ewig vom Joche befreiet.
Das unschuldige Schaf sprang auf dem lachenden Hügel
Scherzend einher, und erntete hier die süße Belohnung
Seiner Geduld und Nützlichkeit ein. Die blühenden Wälder
Schallten wieder von farbigen Sängern. Der Colibri Schaaren
Hingen wie Gold an den Aesten. Der holden Nachtigall Lieder
Drangen bis in der Seelen Gefild‘, wo zärtliche Dichter
Ihren Seufzern zuhörten. Die gold’nen Canarienvögel
Füllten die Luft mit Musik; der strahlende Vogel der Sonne
Machte die Ufer umher von seinen Gesängen ertönen.
Murner trank den Letheischen Fluß mit geizigen Zügen,
Und sein räub’risches Wesen ward bald in Sanftmuth verwandelt.
Als er freundlich im Sonnenschein saß, da kamen die Tauben
Zu ihm vertraulich herab, und scherzend spielt‘ er mit ihnen,
Er vergaß den schmerzlichen Tod, in stiller Erwartung,
Einst in einem edleren Körper in’s Leben zu kehren.

Black Cat via Abecedarian

Fünfter Gesang

Muse, lass‘ uns nunmehr aus unterirdischen Reichen
Wieder zur Oberwelt kehren! Und wenn du mit goldener Leier
Mir die einsamen Stunden versüßt, und wenn dich Rosaura
Mit holdseligem Beifall beehrt, so höre gelassen,
Was der tiefgelehrte Pedant, das spitzige Fräulein,
Oder der Duns in der Knotenperücke zum Hohne dir sagen.

Conrad hatte nunmehr das Mausoleum des Katers
Mit der letzten Erde bedeckt. Er hob nun den Spaten
Auf die breiten Schultern, und ging, stillschweigend und feiernd,
Ueber den Edelhof weg. So wenden sich Todtengräber
Langsam feierlich wieder zurück, wenn unter dem Beileid
Christlicher Juden und Wechsler ein reicher Geizhals verscharrt ist.
Ihn sah über den Hof Rosaura; da stiegen ihr Thränen
In die himmlischen Augen; sie rührten den ehrlichen Raban,
Und er begleitete sie mit seinem zärtlichen Mitleid.
Endlich brach Rosaura das traurige Schweigen und sagte:
Geh‘ nun hin, getreue Lisette, bezahle den Gärtner
Für den letzten dem Cyper erwiesenen Dienst, und befiehl ihm
Veilchen zu pflücken, damit ich sein Grab mit Blumen bestreue!

Also Rosaura; darauf nahm sie den Hut und stieg mit dem Onkel
Ueber den Hof. – Am Graben der Burg stehn heilige Linden
Mit den dicken waldigen Wipfeln bei zackigen Tannen.
Ihre Wurzeln waschen beständig die silbernen Wellen,
Und ein höheres Grün belebet die saftigen Zweige.
In der Mitte strecket ihr Haupt die größte von allen
Stolz zu den Wolken empor; es wohnen die Vögel des Himmels
Im ehrwürdigen Baum, der fast den Augen ein Wald scheint.
Ein erfrischender Balsamgeruch von Thymiansbüschen
Und Lavendel herrschet allhier; und über dem Rasen
Blitzen viel tausend gesternte Ranunkeln und schimmernde Blumen,
Welche die wilde Natur, die Kunst zu beschämen, hervorbringt.
Hier lag Murner am Fuß der großen Linde verscharret;
Angenehm war sein einsames Grab von Bäumen umschattet,
Gleich den Gräbern der Alten, die nicht mit Leichengerüchen
Ihre Tempel erfüllt, und todt noch Seuchen erweckten.
Bei dem Grabe standen Rosaura, der Onkel, mit ihnen
Conrad, Lisette, nebst Herrmann, dem Jäger. Die holde Rosaura
Nahm zwei Hände voll Veilchen, und streute sie über das Grabmal
Ihres geliebten Cypers. Da nahm der Jäger sein Jagdhorn,
Wie der gehörnete Mond gestaltet, von männlichen Schultern,
Und fing an mit kläglichem Ton in die Haine zu blasen,
Wie nach Jägers Gebrauch der todte Hase beklagt wird.
Alle Hunde wurden d’rauf laut; auch kamen die Katzen
Auf den Dächern des Schlosses zusammen, und heulten erbärmlich
Ueber den Tod des treuen Gefährten, da Ratten und Mäuse
Heimlich jauchzten und Festtage hielten, daß Cyper gefallen.
Endlich wandte Rosaura sich von dem Grabe; sie sprach noch,
Als sie ging: So ruhet denn sanft im Schatten der Linden,
Werthe Gebeine des Cypers! O, daß nicht die Musen die Stirne
Mir mit Lorbeer gekrönt, und daß nicht hier in dem Dorfe
Jemand die Sprache der Götter gelernt; sonst sollte dein Name,
Zu den Sternen erhöht, den spätesten Zeiten noch werth seyn.
So das Fräulein, und kehrte zurück nach ihren Gemächern.

Fama begab sich indeß mit ihrer hellen Posaune
Durch das Dorf, und ließ sich herab zum Hause des Küsters,
Welcher mit majestätischem Ernst die Jugend des Dorfes
Vor sich sah. Mit lautem Geschrei und stammelnder Zunge
Wiederholen sie oft die schweren Versuche zum Lesen.
Ihm naht sich die Göttin und spricht: Du Liebling Apollo’s,
Schweigst du jetzt bei’m Tode des Cypers des gnädigen Fräuleins
Und versäumst nachlässig, unsterblichen Ruhm zu erlangen?
Gab die Natur dir umsonst die Wundergabe zu reimen,
Neujahrswünsche zu machen, mit mancher poetischen Inschrift
Häuser und Scheuern zu zieren? Und jetzo wolltest du zaudern,
Einen klingenden Vers dem Cyper zu Ehren zu machen?
Also goß sie den dicht’rischen Trieb in die Seele des Küsters,
Der sich erhob vom krachenden Thron, aus Binsen geflochten.
Und sogleich der lärmenden Schule die Freiheit ertheilte.
Wie die Heerde geschwätziger Gänse, vom Schießhund gejaget,
Mit Geschrei über die Lüfte sich hebt, und über dem Dorfteich
In das sichre Schilf sich rettet, so drangen die Knaben
Jauchzend aus ihrem dumpfigen Kerker und liefen zum Spielplatz,
Wo mit Jubelgeschrei der elastische Ball in die Luft stieg.
Aber der Küster steckte die Fasces des wichtigen Lehramts,
Seine birkene Ruth‘ und den Stock, an das schwitzende Fenster.
Jetzo war er allein. Er nahm die zaub’rische Feder,
Zog an der Stirne schreckliche Runzeln, verkehrte die Augen,
Und fing an mit tiefen Gedanken auf Reime zu sinnen.
Dreimal schmiß er die Feder halb aufgefressen zur Erde,
Dreimal beschwor er die Muse und seinen getreuesten Hübner.
Endlich sprang er freudenvoll auf und las mit Entzücken
Den erstaunenden Wänden die herrliche Grabschrift der Katze.
Muse! dir ist nichts verhüllt, erzähle der Nachwelt die Grabschrift,
Wenn dein freierer Vers nicht vor den Reimen zurückbebt.
Also lautete sie:

Hier liegt ein Kater der schönsten Art,
Der Cyper von Fräulein Rosauren zart.
Zu seinen Ehr’n hat dieses gestellt
Der Küster Martin Schinkenfeld.

Als er nunmehr auf Papier, mit Todtenköpfen gezieret,
Diese Reime gemalet und seine Perücke gekämmet,
Ging er voll Hochmuth zum Schloß und überreichte Rosauren
Feierlich seine Geburt mit krummem, scharrendem Fuße.
Lächelnd nahm Rosaura die Grabschrift und sagte: Herr Küster,
Dieses werde dem Cyper zu Ehren in Marmor geätzet,
Als ein ewiges Denkmal sein frühes Grab zu bedecken.
Ihm, dem Dichter, sollen zwei Lüneburgische Rosse,
Welche, noch neu, im Silbergewölk die Nasen erheben,
Seine Mühe versüßen. So sprach sie, und schickte den Jäger
Nach dem Steinmetz, welcher die Grabschrift mit künstlichem Griffel
Auf den adrischen Marmor schrieb. Er liegt nun auf ewig
Ueber der Gruft; der gefällige Fremde betrachtet ihn oftmals;
Und der neugierige Wand’rer erzählt in fernen Provinzen
Von dem redenden Stein. So steigt der Name des Cypers
Zu den Sternen hinauf und reicht in die fernesten Zeiten.

[Alternativer Schluss: An die Sterne; die späteren Nachwelten werden ihn kennen.]

[Alternativer Schluss 2: An die Sterne; die späteste Zeit wird von ihm erschallen.]

Black Cat via Vantawan, 15. September 2015

Katzenbilder: — entgegen der Beschreibung des Protagonisten als „fleckiger Kater“ — mit schwarzen Katzen: Alle Zeichnungen via Abecedarian, meistens mit dem Hinweis:

Inexplicable images from generations ago invite us to restore the lost sense of immediacy. We follow the founder of the Theater of Spontaneity, Jacob Moreno, who proposed stringing together „now and then flashes“ to unfetter illusion and let imagination run free. The images we have collected for this series came at a tremendous price, which we explained previously.

Das Foto erreicht uns über Vantawan, 15. September 2015.

Soundtrack: Jack & Amanda Palmer: Wynken Blynken, & Nod, aus: You Got Me Singing, 2016:

Written by Wolf

21. Dezember 2018 at 00:01

So habt ihr nie den Mond bedacht

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Update zu Drum dein Stimmlein lass erschallen:

Ich erinnere mich an eine Nacht auf dem Balkon der Wölfin, katzenfreundlich im Erdgeschoss ihrer letzten eigenen Wohnung in Nürnberg-Zerzabelshof. An dem Tag hatte ich die Complete Poems 1904–1962 von E. E. Cummings gekauft, und damals war sie noch gelegentlich interessiert an dem Bücherkram, den ich bis heute nicht müde werde anzuschleppen.

Über dem Beaufsichtigen der freundlichen Katzen beim Auf- und Abhüpfen nach beiden Seiten des Balkongeländers und dem Konsum leichter legaler Drogen war die Sommernacht unversehens so weit fortgeschritten, dass man den verwzickten typographischen Grashüpfersprüngen des verstorbenen Herrn Cummings kaum mehr folgen konnte, nur beim Schein einer Duftpetroleumlampe und des Mondes.

Rafal Olbinski, Dimension of Time, 2001„Das kann man alles gar nicht laut lesen“, maulte die Wölfin.

„Kann man schon …“ verteidigte ich meine 30 D-Mark Auslandsbestellung über eine bedeutende (und mittlerweile erloschene) Erlanger Universitätsbuchhandlung.

„Alles kann man. Ist aber witzlos.“

„Hast du grade Cummings und witzlos im selben Satz untergebracht?“

„Hast du so was gehört?“

„Nein, das kann man auch gar nicht laut sagen.“

„Kann man schon …“

„Ist aber witzlos.“

„Hat der Kerl keine Mondgedichte?“

„Mo … Mondgedichte?“

„Alle toten Dichter haben Mondgedichte. Füllest wieder Busch und Tal und alles.“

Ein Mondgedicht von E. E. Cummings, was denn nicht noch alles. Ich rückte mir die Petroleumlampe, das Bier und den Tabak näher und blätterte um mein Leben.

Ein Insider-Späßchen ist seither unter uns geblieben, beim Anblick zumal des vollen Mondes das bekannteste — es ist schon auch das raffinierteste — Cummings-Gedicht mit „r-p-o-p-h-e-s-s-a-g-r“ oder noch durchtriebener deutsch: „r-h-ü-p-f-e-s-s-a-g-r“ zu zitieren, so mondfrei sommertäglich der Gang der Handlung auch daherkommen mag. Für den hiesigen Gebrauch sei gesagt: Wer Mondgedichte von E. E. Cummings sucht, kann welche finden. Wer nicht zufällig am Vortag dessen sämtliche Gedichte angeschafft hat und jetzt seine nachmalige Ehefrau mit Mondgedichten beeindrucken muss, wende sich vorerst ans Goethezeitportal:

[Es] gibt ein Motivvokabular der „Mondscheingemälde“, das Ruinen, bemooste Trümmer, Wald, Gewässer und Felsenklüfte umfasst. Als „Gefährte der Nacht“ ist der Mond ein „Gedankenfreund“: er regt die Fantasie an, verzaubert die Welt und ruft Erinnerungen und Traumgestalten auf. Dem Einsamen ermöglicht er ein „wollustvolles“ Gedenken an liebe Verlorene oder Tote, den Beladenen tröstet er und wiegt ihn in „sanften Schlummer“. Der Mond ist aber auch ein „Kinderfreund“. Vor allem aber ist er „ein Kuppler ohne gleichen“, der „Liebeshehlerei geheimer Liebsgeschichtchen“ treibt, denn er hilft den Liebenden in der Nacht, indem er ihnen zum Stelldichein leuchtet, oder, falls Liebeskosen unbeobachtet sein will, sich hinter Wolken verbirgt. Hier vor allem setzen die Parodien an, die es gleichfalls seit dem späten 18. Jahrhundert gibt. Von den wiedergegebenen 17 Gedichten verspotten den Mondkult Aloys Blumauer („An den Mond“) und Lenau („Hypochonders Mondlied“).

Bis wir uns an Cummings trauen, schauen wir einstweilen nach, wer da wen verspottet. Das waren nämlich gerade die zwei besten Gedichte aus der Sammlung:

——— Johann Aloys Blumauer:

An den Mond

Herr Mond, von mir erwart‘ er nicht,
     Daß ich nach Dichterweise
Nun auch sein Alletagsgesicht
     Aus vollen Backen preise.
Ich habe lang ihn observirt,
Und wahrlich wenig ausgespürt,
     Was ihm gedieh‘ zur Ehre,
     Und lobenswürdig wäre.

Da pflegt er, wie ein kleines Kind,
     Mit seinem Licht zu prahlen;
Allein, man weiß ja wohl, es sind
     Nur seines Weibes Strahlen.
Wär‘ nicht sein Weib, es ging ihm dann
Gewiß wie manchem Ehemann,
     Den Niemand regardirte,
     Wenn nicht sein Weib brillirte.

Vicente Romero RedondoUnd glaub‘ er ja nicht, daß dies Licht
     Ihn so besonders kleide;
Er hat darin ein bleich‘ Gesicht,
     Als wär’s gemalt mit Kreide,
Und gleichet dann bald einem Stier,
Bald einem Becken vom Barbier,
     Und wird er voll und heller,
     Gar einem Suppenteller.

Mit seinem Weib führt er von je
     Ein skandalöses Leben;
Kann man den Männern in der Eh‘
     Ein schlechter Beispiel geben?
Kaum kömmt Madam nach Haus, so rennt
Er fort, und geht am Firmament
     Die ganze Nacht spazieren,
     Um sie nicht zu geniren.

Kein Hahnrei noch auf Erden war
     So ein publiker Lappe.
Oft steckt er seinen Hauptschmuck zwar
     In eine Nebelkappe;
Allein vergißt er die zu Haus,
So geht er auch mit Hörnern aus,
     Daß manchen, die ihn sehen,
     Die Augen drob vergehen.

Und macht Madam ihm dann und wann
     Zu Haus zu viele Schwänke,
So geht er, wie so mancher Mann,
     In der Frau Thetis Schenke,
Ersäuft im Meere seinen Groll,
Und kömmt nicht selten toll und voll
     Zurück vom vollen Glase
     Mit einer Kupfernase.

Bei all‘ dem Hauskreuz sucht er doch
     Stets Herzen zu erweichen,
Und ist nebst allem diesem noch
     Ein Kuppler ohne gleichen;
Er hält dem liebenden Gezücht
Bei dunkler Nacht so lang das Licht,
     Bis oft die guten Lappen
     Aus Inbrunst sich verschnappen.

Und dieser Liebeshehlerei
     Geheimer Liebsgeschichtchen
Verdankt er manche Reimerei
     Und manches Lobgedichtchen;
Allein bei mir trägt’s ihm nichts ein;
Denn auch ohn‘ allen Hörnerschein
     Verstehen uns’re Schönen
     Sich gut genug auf’s Krönen.

~~~\~~~~~~~/~~~

——— Nikolaus Lenau:

Hypochonders Mondlied

Singt ihr in eurem Freudenliede:
Der heitre Mond am Himmel lacht,
Und ihm entstrahlt ein süßer Friede –
So habt ihr nie den Mond bedacht.

Seht ihr ihn dort herüberschweben,
Bleich, ohne Wasser, ohne Luft,
Er zieht mit ausgestorbnem Leben,
Ein Totengräber samt der Gruft.

Dort dringt der Mond mit seinem Schimmer
Still dem Nachtwandler ins Gemach
Und winkt und lockt aus Bett und Zimmer,
Der Schläfer folgt ihm auf das Dach

Und huscht, geschloßner Augenlider,
Hin, her, des Daches steilsten Bug,
Als hielte geistiges Gefieder
Enthoben ihn dem Erdenzug.

Edward Burne-Jones, Cupid Flying away from Psyche, 1872–81Der Mond zieht traurig durch die Sphären,
Denn all die Seinen ruhn im Grab;
Drum wischt er sich die hellen Zähren
Bei Nacht an unsern Blumen ab.

Darum durchschleicht er Fenster, Türen,
Auf Diebessohlen leis und lind,
Der Erde heimlich zu entführen
Im Schlafe dies und jenes Kind.

Den Schläfern um den Leib zu schlingen
Sucht er sein feines Silbernetz
Und sie zu sich hinaufzuschwingen;
Doch seine Fäden reißen stets.

Und ewig wird es ihm mißglücken,
Zu stehlen sich ein Spielgesind,
In seine Wüste zu entrücken
Ein lebenswarmes Erdenkind.

Der Mond wohl auch die Schlummerlosen
Der Erde zu entlocken sucht;
Er will mit schwärmerischem Kosen
Bereden sie zu früher Flucht.

Oft wenn ich ging durch Wald und Wiesen,
Log mir der Mondenschein so lang,
Ich sei auf Erden nur verwiesen,
Bis ich hinweg mich sehnte bang.

Weil er uns nicht vermag zu stehlen,
Nicht wachend, nicht in Schlafesruh,
Schickt er mit Blicken, stieren, scheelen,
Der Erde Todeswünsche zu.

Als Knabe schon konnt ich nicht schauen
Zum stillen, blassen Mond empor,
Daß nicht ein wunderliches Grauen
Mir heimlich das Gebein durchfror.

Nirgends, auf Wald und Feld und Straßen,
Frohlockt so hell des Mondes Licht,
Wie auf dem Kirchhof, wo verlassen
Ein armes Herz vor Leide bricht.

Ja, Gräber sind für ihn die Stelle,
Und an Ruinen Dorngesträuch;
Doch vor des Mondes schlimmer Helle
Bewahrt das Brautbett, rat ich euch.

Laßt ihr den Mond ins Brautbett scheinen,
Ist euer künftig Kind bedroht,
Denn viele Stunden wird es weinen,
Und wünschen wird es sich den Tod.

Wenn Schiffer nachts das Meer befahren,
Umhüllen sie das Haupt genau,
Denn spielt der Mond mit ihren Haaren,
So färbt er sie frühzeitig grau.

Und bei Banditen geht die Kunde:
Ein Dolch, gewetzt im Mondenschein,
Sticht eine ewig stumme Wunde,
Trifft mittendurch ins Herz hinein.

Und jene grausen alten Weiber,
Die man nicht gern genauer nennt,
Weil ihnen sonst die dürren Leiber
Das tolle Volk zu Asche brennt;

(– Wenn auch von Ärzten, Philosophen,
Ein volkverwirrendes Komplott
Sie Hexen nennt und Teufelszofen,
Der aufgeklärten Zeit zum Spott –)

Tsuyoshi Nagano, Power of the Witch: The Earth, the Moon, and the Magical Path to Enlightenment, 1990Die ziehn auf mondbestrahlten Heiden
Und pflücken murmelnd Gras und Kraut,
Woraus zu manchen Zauberleiden
Manch böses Tränklein wird gebraut.

Bergjäger, der kein Raubschütz, meidet
Den Mond; ein Wild, im Mondenstrahl
Geschossen oder ausgeweidet,
Verwest so frühe noch einmal.

Und eine Tann im Wald geschlagen,
Wenn hell der Mond am Himmel blinkt,
Als Mastbaum in das Meer getragen,
Zerbricht der Sturm – das Schiff versinkt.

Tief in den höchsten Steyrerfelsen
Kenn ich ein Dörflein, wo man meint:
Der Mond wird schuld an dicken Hälsen,
Wenn er in einen Brunnen scheint.

Dort meint man auch, wenn Mondsgefunkel
Die Spinnerin am Rad umspinnt
Und widerglänzt von ihrer Kunkel,
Daß sie ein Leichenhemd gewinnt. – –

Weil mich der Mond, ins Zimmer glotzend,
Nicht schlafen ließ in dieser Nacht,
Hab ich Poet, hinwieder trotzend,
Dies Lied zum Schimpf auf ihn gemacht.

Noch wüßt ich viel von ihm zu melden,
Doch seh ich dort im Untergang
Hinunterducken meinen Helden,
Bevor ich noch das Schlimmste sang.

Es ist dann auf die eine oder andere Art noch eine lange Nacht geworden.

Bilder:

  1. Rafal Olbinski: Dimension of Time, 2001;
  2. Vicente Romero Redondo;
  3. Sir Edward Burne-Jones: Palace Green Murals of Cupid and Psyche – Cupid Flying away from Psyche, 1872–81. Oil on canvas, Birmingham Museum and Art Gallery, UK. From the series of twelve panels, based on The Story of Cupid and Psyche from William Morris’s epic poem The Earthly Paradise, commissioned by the 9th Earl of Carlisle for his newly-built home in No 1 Palace Green, Kensington;
  4. Tsuyoshi Nagano für Laurie Cabot: Power of the Witch: The Earth, the Moon, and the Magical Path to Enlightenment, 1990:

    Some would say that in these moments of ecstasy we actually stand outside ourselves, and the God and Goddess within us become brighter, more powerful, and we touch the All.

Soundtrack für den Cummings-Teil: Pierre Boulez: Cummings ist der Dichter
für 16 Solostimmen oder gemischten Chor und Instrumente, 1970, Neufassung 1986,
Ensemble intercontemporain unter George Benjamin, 29. Januar 2013:

Soundtrack für den Mondteil: Juliane Werding: Stimmen im Wind, aus: Sehnsucht ist unheilbar, 1986. Der Text geht wie so ziemlich alle bekannteren Schlager aus jener Zeit auf Michael Kunze, die Musik — einschließlich des nicht weniger denn genial zu heißenden Halbtonintervalls auf die Silben von „Suzanne“ — ausnahmsweise nicht auf Ralph Siegel, sondern Harald Steinhauer. Das Video ist nicht etwa aus Copyright-Gründen gespiegelt, sondern mit den zwei verdienten Studiogitarristen Ludwig Stiefel und Georg Bär, beide Linkshänder. Also, ich finde dergleichen wichtig:

Soundtrack für alle der Vollständigkeit halber, weil’s schon wurscht ist:
Mike Oldfield featuring Maggie Reilly: Moonlight Shadow, aus: Crises, 1983:

Written by Wolf

12. Oktober 2018 at 00:01

Bitchy Lessing

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Sie wünschen ein deutsches Stück, das lauter solche Szenen hätte? Ich auch!

G. E. L., a. a. O., s. u.

Update zu Lessing aktuell (Das Vergnügen ist entbehrlich) und
Die Zueignung der Zuneigung:

Wo immer eine Lessing-Auswahl zusamengestellt wird, ist der 17. Literaturbrief dabei. Praktisch keine der Werkausgaben von Lessing ist vollständig, aber alle stehen angesichts des Meisters Produktionsmengen dazu — und ersparen sich (und uns) sogar noch seine umfangreiche Korrespondenz.

Wie viel Lessing zu sagen hatte, erschließt sich wenn schon nicht beweiskräftig, so doch hinweisartig aus der Atemlosigkeit, mit der er unterschiedliche Themen und Formen ins selbe Medium zusammenkleben konnte, wie sie ihm gerade wichtig vorkamen und heute in solcher Heterogenität in keiner Form des Journalismus mehr zu vertreten wären. Das zieht sich durchs ganze Werk bei ihm. Am 17. Literaturbrief zum Beispiel hängt am Schluss der größte Teil von Lessings — erhaltener — Beschäftigung mit dem Fauststoff dran. Der Rest kommt nächstes Jahr (nicht versprochen, aber wohlwollend geplant). Es fängt an:

Gotthold Ephraim Lessing, Briefe, die neueste Literatur betreffend, 17. Brief, 1759, Anfang

——— Gotthold Ephraim Lessing:

Briefe, die neueste Literatur betreffend

17. Brief, Erster Teil. VII. Den 16. Februar 1759:

French postcard, Witches Sabbat in Paris, ca. 1910„Niemand, sagen die Verfasser der Bibliothek, wird leugnen, dass die deutsche Schaubühne einen grossen Theil ihrer ersten Verbesserung dem Herrn Professer Gottsched zu danken habe.“

Ich bin dieser Niemand; ich leugne es gerade zu. Es wäre zu wünschen, dass sich Herr Gottsched niemals mit dem Theater vermengt hätte. Seine vermeinten Verbesserungen betreffen entweder entbehrliche Kleinigkeiten, oder sind wahre Verschlimmerungen.

Die eingangs erwähnte Bibliothek versteht sich allzu leicht als die Rezensionszeitschrift Allgemeine deutsche Bibliothek, die von Lessings engem Freund und Kollegen Friedrich Nicolai und herausgegeben wurde. Ein kurzer Datenabgleich ergibt aber, dass Lessings 17. Brief von 1759 stammt, die erste Ausgabe dieser Bibliothek aber erst von 1765. Lessing kann also viel eher die Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste meinen, ebenfalls unter Friedrich Nicolai zusammen mit Moses Mendelssohn, und als „Deutsche Zeitschrift zur Literatur und Ästhetik, insgesamt 9 Jahrgänge in 12 Bänden zu 24 Stücken und 2 Anhängen“ von 1757 bis 1765 als Vorgängerin der ersteren zu begreifen.

——— Hugh Barr Nisbet:

Lessing. Eine Biographie

Kapitel VIII: Berlin 1759–1760. Aus dem Englischen überssetzt von Karl S. Guthke, C. H. Beck, München 2009, Seite 336 ff.:

French postcard, Witches Sabbat in Paris, ca. 1910Der Witz und die Ironie dieses berühmten Auftakts sind nur dem ganz klar, der zweierlei erkennt: daß die zurückgewiesene Feststellung von dem mit Lessing eng befreundeten Nicolai stammt, dem Verleger eben der Zeitschrift, in der ihm hier widersprochen wird, und ferner daß Lesing selbst Gottscheds „unwidersprechliche Verdienste um das deutsche Theater“ etwa zehn Jahre zuvor ebenso begeistert gelobt hatte. Und bereichert wird die literarische Resonanz schließlich noch im letzten Satz durch das Echo der Antwort des listenreichen Odysseus auf die Frage des Polyphem, wer er sei. Das hat jedoch nicht verhindert, daß der siebzehnte Brief, dessen schelmischer Ton in diesen Zeilen angeschlagen wird, beinahe zwei Jahrhunderte lang ernster genommen wurde als fast alles sonst in Lessings nicht-dramatischen Schriften und eine Zeitlang sogar, wie ein Beurteiler es ausdrückt, „in einen Luthers fünfundneunzig Thesen vergleichbaren Rang“ erhoben wurde.

Oder einfacher:

——— Katrina Clara Liszt:

I love Lessing, he’s so bitchy.

Dabei kommt’s jetzt erst: Lessing schreibt Faust — als helle, schnelle Komödie. Oder jedenfalls als Fragment davon. Der vorgeschobene „Freund“ ist eine dramaturgisch gebrauchte Fiktion, das Fragment ist Lessings eigene Arbeit, vermutlich von wenigen Jahren zuvor. Für gewöhnlich — will sagen: zum Beispiel in der großen Hanser-Ausgabe — wird die Stelle getrennt vom Brief, nur mit gegenseitigem Verweis, als dramatisches Fragment geführt:

French postcard, Witches Sabbat in Paris, ca. 1910Daß aber unsre alten Stücke wirklich sehr viel Englisches gehabt haben, könnte ich Ihnen mit geringer Mühe weitläuftig beweisen. Nur das bekannteste derselben zu nennen; „Doctor Faust“ hat eine Menge Szenen, die nur ein Shakespearesches Genie zu denken vermögend gewesen. Und wie verliebt war Deutschland, und ist es zum Teil noch, in seinen „Doctor Faust“! Einer von meinen Freunden verwahret einen alten Entwurf dieses Trauerspiels, und er hat mir einen Auftritt daraus mitgeteilet, in welchem gewiß ungemein viel großes liegt. Sind Sie begierig ihn zu lesen? Hier ist er! – Faust verlangt den schnellsten Geist der Hölle zu seiner Bedienung. Er macht seine Beschwörungen; es erscheinen derselben sieben; und nun fängt sich die dritte Szene des zweiten Aufzugs an.

Faust und sieben Geister

Faust. Ihr? Ihr seid die schnellesten Geister der Hölle?

Die Geister alle. Wir.

Faust. Seid ihr alle sieben gleich schnell?

Die Geister alle. Nein.

Faust. Und welcher von euch ist der Schnelleste?

Die Geister alle. Der bin ich!

Faust. Ein Wunder! daß unter sieben Teufel nur sechs Lügner sind. – Ich muß euch näher kennen lernen.

French postcard, Witches Sabbat in Paris, ca. 1910Der erste Geist. Das wirst du! Einst!

Faust. Einst! Wie meinst du das? Predigen die Teufel auch Buße?

Der erste Geist. Ja wohl, den Verstockten. – Aber halte uns nicht auf.

Faust. Wie heißest du? Und wie schnell bist du?

Der erste Geist.. Du könntest eher eine Probe, als eine Antwort haben.

Faust. Nun wohl. Sieh her; was mache ich?

Der erste Geist. Du fährst mit deinem Finger schnell durch die Flamme des Lichts –

Faust. Und verbrenne mich nicht. So geh auch du, und fahre siebenmal eben so schnell durch die Flammen der Hölle, und verbrenne dich nicht. – Du verstummst? Du bleibst? – So prahlen auch die Teufel? Ja, ja; keine Sünde ist so klein, daß ihr sie euch nehmen ließet. – Zweiter, wie heißest du?

Der zweite Geist. Chil; das ist in eurer langweiligen Sprache: Pfeil der Pest.

Faust. Und wie schnell bist du?

Der zweite Geist. Denkest du, daß ich meinen Namen vergebens führe? – Wie die Pfeile der Pest.

Faust. Nun so geh, und diene einem Arzte! Für mich bist du viel zu langsam. – Du Dritter, wie heißest du?

Der dritte Geist. Ich heiße Dilla; denn mich tragen die Flügel der Winde.

Faust. Und du Vierter? –

Der vierte Geist. Mein Name ist Jutta, denn ich fahre auf den Strahlen des Lichts.

Faust. O ihr, deren Schnelligkeit in endlichen Zahlen auszudrücken, ihr Elenden –

Der fünfte Geist Würdige sie deines Unwillens nicht. Sie sind nur Satans Boten in der Körperwelt. Wir sind es in der Welt der Geister; uns wirst du schneller finden.

Faust. Und wie schnell bist du?

Der fünfte Geist. So schnell als die Gedanken des Menschen.

Faust. Das ist etwas! – Aber nicht immer sind die Gedanken des Menschen schnell. Nicht da, wenn Wahrheit und Tugend sie auffordern. Wie träge sind sie alsdenn! – Du kannst schnell sein, wenn du schnell sein willst: aber wer steht mir dafür, daß du es allezeit willst? Nein, dir werde ich so wenig trauen, als ich mir selbst hätte trauen sollen. Ach! – Zum sechsten Geiste. Sage du, wie schnell bist du? –

Der sechste Geist. So schnell als die Rache des Rächers.

Faust. Des Rächers? Welches Rächers?

French postcard, Witches Sabbat in Paris, ca. 1910Der sechste Geist. Des Gewaltigen, des Schrecklichen, der sich allein die Rache vorbehielt, weil ihn die Rache vergnügte. –

Faust. Teufel! du lästerst, denn ich sehe, du zitterst. – Schnell, sagst du, wie die Rache des – Bald hätte ich ihn genennt! Nein, er werde nicht unter uns genennt! – Schnell wäre seine Rache? Schnell? – Und ich lebe noch? Und ich sündige noch? –

Der sechste Geist. Daß er dich noch sündigen läßt, ist schon Rache!

Faust. Und daß ein Teufel mich dieses lehren muß! – Aber doch erst heute! Nein, seine Rache ist nicht schnell, und wenn du nicht schneller bist als seine Rache, so geh nur. (Zum siebenden Geiste) – Wie schnell bist du?

Der siebende Geist. Unzuvergnügender Sterbliche, wo auch ich dir nicht schnell genug bin – –

Faust. So sage; wie schnell?

Der siebende Geist. Nicht mehr und nicht weniger, als der Übergang vom Guten zum Bösen. –

Faust. Ha! du bist mein Teufel! So schnell als der Übergang vom Guten zum Bösen! – Ja, der ist schnell; schneller ist nichts als der! – Weg von hier, ihr Schnecken des Orcus! Weg! – Als der Übergang vom Guten zum Bösen! Ich habe es erfahren, wie schnell er ist! Ich habe es erfahren! etc. – –

Was sagen Sie zu dieser Szene? Sie wünschen ein deutsches Stück, das lauter solche Szenen hätte? Ich auch!

Fll.

Bilder: Katrina Clara Liszt: Lessing: 17. Brief, die neueste Literatur betreffend, 1759;
French postcard: Witches‘ Sabbat in Paris, ca. 1910, via Those Naughty Victorians, 31. Oktober 2013;
Soundtrack: Franz Liszt: Au Lac de Wallenstadt, aus: Années de pèlerinage, 1855
mit Tatia Pilieva: First Kiss Experiment, 2014:

Written by Wolf

16. Februar 2018 at 00:01

2. Stattvent: Rorate coeli desuper! (Die Welt, ein weites Grab)

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Wer an dieser Stelle ernstzunehmende Adventsinhalte wünscht, sei innerhalb des Weblogs freundlich auf die Sammlung über Weihnachtsengel (Dezember 2013), die Einschläferungsgedichte von Friedrich Rückert (Dezember 2014), das künstlerische Schaffen über Katzen (Dezember 2015) sowie das künstlerische Schaffen von Katzen (Dezember 2016) verwiesen.

Naturgemäß gibt es wenige martialische Weihnachtslieder. Selbst in Tauet, Himmel, den Gerechten, das ungefähr die energische Größe eines Weihnachtsoratoriums hat, findet sich die Stelle mit den von Gott verfluchten Gründen, in denen Satan, Tod und Sünden herrschen, nur in der Urfassung von 1774. Irgendwie schade, dergleichen Todesbezüge kriegen eben nur die Österreicher hin. Aus dem Goethezeitportal zu Weihnachten 2012 weiß man:

Die Erstfassung des Textes stammt vom Jesuitenpater Michael Denis und erschien 1774 in dessen Sammlung Geistliche Lieder zum Gebrauche der hohen Metropolitankirche bey St. Stephan in Wien und des ganzen wienerischen Erzbistums. Eine erste Melodiefassung des Herrenchiemseer Augustiner-Chorherrn Norbert Hauner erschien in Franz von Kohlbrenners Landshuter Gesangbuch (Landshut 1777).

——— Michael Denis:

Thauet, Himmel, den Gerechten

1. Thauet, Himmel den Gerechten!
Wolken! regnet ihn herab!
Also rief in langen Nächten
Einst die Welt, ein weites Grab!
In von Gott verfluchten Gründen
Herrschten Satan, Tod und Sünden.
Fest verschlossen war das Thor
Zu des Heiles Erb’ empor.

2. Doch der Vater ließ sich rühren,
Dass er uns zu retten sann,
Und den Ratschluss auszuführen
Trug der Sohn sich freudig an.
Gabriel flog schnell hernieder,
Kehrte mit der Antwort wieder:
Sieh! ich bin die Magd des Herrn,
Was er will, erfüll‘ ich gern!

3. Dein Gehorsam ist mein Leben,
Jungfrau demutvoll und keusch!
Gottes Geist wird dich beschweben,
Und des Vaters Wort wird Fleisch.
Menschen betet an im Staube!
Weh der Höll‘ und ihrem Raube!
Aber Adamskindern wohl!
Weil ein Heiland kommen soll.

4. Einen Zuruf hör‘ ich schallen,
Brüder wacht vom Schlummer auf!
Denn es naht das Heil uns allen,
Nacht ist weg, der Tag im Lauf.
O dann fort mit allen Taten,
Die die Nacht zur Mutter hatten!
Künftig ziehe jedermann
Nur des Lichtes Waffen an!

5. Lasst uns wie am Tage wandeln,
Nicht in Fraß und Trunkenheit!
nicht nach Fleischbegierden handeln,
Weit verbannt sei Zank und Neid!
Jenem gänzlich nachzuarten,
Dessen Ankunft wir erwarten,
Dieses ist nun unsre Pflicht;
So wie sein Apostel spricht.

6. Welterlöser, ich erfülle
deines treuen Knechtes Rath,
Komm in meines Fleisches Hülle!
Wie dein Bot verkündet hat.
Komm und bringe mir den Frieden!
Menschen ist er nur beschieden,
Die von gutem Willen sind,
Komm! ich bin es göttlichs Kind!

Frank Walka, Tauet, Himmel, den Gerechten, Liederprojekt. Ein Benefizprojekt für das Singen mit Kindern, 2009

Bild: Frank Walka: Tauet, Himmel, den Gerechten,
aus: Liederprojekt. Ein Benefizprojekt für das Singen mit Kindern, 2009.

Written by Wolf

8. Dezember 2017 at 00:01

Nachtstück 0011: Weiß ich nur, wer ich bin

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Update zu Schwatzen nach der Welt Gebrauch
und Was tat der Eitele, ein Emo zu scheinen?:

——— Gotthold Ephraim Lessing:

Ich

Stammbuch, unterschrieben „Wittenberg den 11. Oct. 1752. Gotthold Ephraim Lessing.“ [23-jährig];
Erstdruck in: Obersächsische Provinzialblätter, 15. Band, Altenburg 1804:

Die Ehre hat mich nie gesucht;
Sie hätte mich auch nie gefunden.
Wählt man, in zugezählten Stunden,
Ein prächtig Feierkleid zur Flucht?

Auch Schätze hab ich nie begehrt.
Was hilft es sie auf kurzen Wegen
Für Diebe mehr als sich zu hegen,
Wo man das wenigste verzehrt?

Wie lange währts, so bin ich hin,
Und einer Nachwelt untern Füßen?
Was braucht sie wen sie tritt zu wissen?
Weiß ich nur wer ich bin.

Beim Erstdruck war Lessings Gedicht eingeleitet:

Er improvisirte oft (in Wittenberg) an geselligen Abenden in Versen, und schrieb stehenden Fußes seinen Freunden ein Andenken in die Bücher, wie es ihm eben die augenblickliche Stimmung aus der Seele lockte. Folgendes leichtmüthige Lebensgnomon gab er so in das Stammbuch eines seiner Wittenberger Universitätsbekannten (des verstorbenen OK. H. zu L. in Thüringen), welches Ich zur Aufschrift hat, und mit so äußerst flüchtigem Federzuge hingeworfen ist, daß man selbst einige Interpunctionszeichen vergessen oder unrichtig gesetzt findet (auch im 2. Verse der 2. Strophe das Wörtchen sie wie die gelesen werden kann, weil es ein s und d zugleich ist).

Reading Girl, Lomo LC-A, 9. April 2006

Weiß sie nur wer sie ist: Reading Girl, mit der Lomo LC-A, 9. April 2006;
Soundtrack: Polina Tschischik in Tom Waits: Watch Her Disappear aus: Alice, 2002:

Written by Wolf

6. Oktober 2017 at 00:01

Einigen wir uns auf Unentschieden

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Update zu Dieses unnötige, ja sinnlose Hin und Her:

Für Friedrich kämpfend sank er nieder,
So wollte es sein Heldengeist.
Unsterblich groß durch seine Lieder
Der Menschenfreund, der weise Kleist.

Grabdenkmal für Ewald Christian von Kleist, seit 1780.

Hans Mentz, dem ich jedes Wort glaube, unterstellt in seinem Humorkritik-Artikel Lieblingsplagiat in der Titanic vom Juni 2017 auf Seite 51, Monty Python hätten 1975 in Die Ritter der Kokosnuß ein „dreistes Plagiat“ geliefert. Mentz stützt sich dazu auf eine Beobachtung des Lesers S. aus G. und lässt den Erfindern der postmodernen Komik wohlwollend durchgehen, dass sie nicht alles allein aus dem Boden stampfen können, aber dergleichen würde ich ungern auf Monty Python sitzen lassen.

Gottfried Hempel, Ewald Christian von Kleist, 1751, Gleimhaus HalberstadtDie im kollektiven Gedächtnis gut verankerte Szene mit dem Schwarzen Ritter „parodiert bzw. plagiiert laut S. ein Ereignis, welches sich tatsächlich zugetragen und in die Literatur Eingang gefunden hat (nachzulesen in Reimar F. Lachers Buch „‚Friedrich, unser Held‘ – Gleim und sein König„, Wallstein).“ Das Buch ist auffind- und lieferbar, liegt mir aber leider nicht vor (19,90 Euro, erschienen im Februar 2017). Weiter Mentz:

In einem Brief vom 26.9.1759 an Johann Wilhelm Ludwig Gleim schildert Samuel Gottlieb Nicolai, wie sich der Dichter Ewald Christian von Kleist in der Schlacht bei Kunersdorf im Siebenjährigen Krieg [am 12. August 1759] Verletzungen zuzog, an deren Folgen er schließlich starb.

Siehe Nicolais Briefausschnitt unten.

Jener Kleist, der sich nicht mit dem gleichnamigen Selbstmörder mit den brillanten Aufsätzen deckt, ist mir ein Begriff, weswegen ich umso hellhöriger geworden bin: Dessen Sämtliche Werke hab ich mir spontan mit ungefähr 14 Jahren als Reclamheft gekauft, weil es eben ein taschengeldverträgliches Reclamheft war (6,40 DM), auf dem ausdrücklich „Sämtliche“ und kein diffuses „Gesammelte“ oder überhaupt keine näher bezeichneten „Werke“ stand, und weil ich schon den verwandten Heinrich von den Tempel-Klassikern (15 DM) hatte.

Begeistert war ich von seiner schäferidyllischen Lyrik nie, aber heute, in einem Alter, in dem man ernstlich anfängt, sich zu fragen, wie ein Mensch beschaffen sein muss, damit er „Korrektheit des Ausdrucks, glücklich gewählte Bilder, in denen er gewöhnlich die Natur lebendig zeichnet, sowie Fülle und Wohlklang der Diktion“ mit einer Todesart vereinen kann, die zwei Jahrhunderte später als Parodie taugt, habe ich das Bedürfnis, bei dem Freimaurer und Offizier um Entschuldigung zu bitten. Es scheint wirklich, er war ein guter Mensch.

——— Samuel Gottlieb Nicolai:

Brief an Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 26. September 1759,
aus: Reimar F. Lacher: „‚Friedrich, unser Held‘ – Gleim und sein König„, Wallstein Verlag 2017,
cit. Hans Mentz: Lieblingsplagiat, aus: Humorkritik, in: Titanic, Juni 2017, Seite 51:

Er half 3 Batterien erobren; und ward an der rechten Hand verwundet. Er hielt den Degen in der linken Hand; Er ward in den linken Arm geschoßen und da Er den Degen nicht mehr halten konte faßte er ihn mit dem Daum und zwei lezten Fingern der rechten Hand … Er rief die Fahnen zu sich. Sie kamen, Er faßte einen Fahnenjunker an, der schon 3 Fahnen trug und will weiter. Das Bataillon folgte. Ohngefehr 30 Schritte von einer neuen Batterie zerschmettern ihm zwischen 4 und 5 Uhr 3 Cartetschen Kugeln das rechte Bein. Er fiel vom Pferde, versuchte, zweimahl vergeblich wieder aufzusteigen, und blieb in Ohnmacht liegen … Ein Feldscheer kam, band den Schnupftuch um das Bein, goß etwas Spiritus auf die Wunde, und ward durch einen Schuß in den Kopf am fernern Verbinden gehindert.

Emil Hünten, Kleist fällt bei Kunersdorf, Holzstich

In Die Ritter der Kokosnuß wird König Artus von Graham Chapman gespielt, der stark lädierte, aber unbesiegbare Schwarze Ritter ist John Cleese. Zum ersten Mal habe ich in dem Filmausschnitt das Schiller-Zitat entdeckt. Wem fällt’s noch auf?

Bilder: Gottfried Hempel: Ewald Christian von Kleist, 1751,
Öl auf Leinwand, 48,8 cm x 38,8 cm, Gleimhaus Halberstadt;
Emil Hünten (1827–1902): Kleist fällt bei Kunersdorf, Holzstich nach Zeichnung,
aus: F. Bülau, Die deutsche Geschichte in Bildern, 2. Band, C. C. Meinhold & Söhne, Dresden 1862.

Soundtrack: Subway to Sally: Grabrede, aus: MCMXCV, 1995:

Written by Wolf

8. September 2017 at 00:01

Veröffentlicht in Aufklärung, Herrschaft & Revolte

Historische Post vom Verleger

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Update zu Deine so oft entweihte Frühlingsfeier:
und Der den Wasserkothurn zu beseelen weiß:

Sehr geehrter Herr Klopstock!

Wo bleibt der Messias?

Ihr
Hermann Hemmerde.

——— Arno Schmidt:

S. H. Herrn
F.G. Klopstock, Superintendent.
Schul-Pforta
bei Naumburg/Saale.

Sehr geehrter Herr!

Anbei den Messias zurück.

Ihr
Arno Schmidt.

Bild: Arno Schmidt lacht, Bargfeld, nach 1972,
vermutlich von Alice Schmidt und Copyright Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld, via Arnoschmidt.

Soundtrack: Georg Friedrich Händel: Messiah, 1741,
unter Václav Luks, Collegium 1704 und Collegium Vocale 1704, 2014:

Written by Wolf

30. Dezember 2016 at 00:01

Schnabel–Tieck–Schmidt: Reise in die Wirklichkeit: Im vorliegenden Fall ist es um 1 entscheidende Spur unheimlicher

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Update zu Hastig die ärmlichen Verse
und Der Fluch des Albatros:

Tristan da Cunha, NASA Karte der Insel Felsenburg

Ohne Arno Schmidt wäre die Insel Felsenburg von Johann Gottfried Schnabel 1731 ein obskurer Abenteuerroman geblieben. Was Insel Felsenburg statt dessen mit Arno Schmidt ist? Weiterhin ein obskurer Abenteuerroman — aber außer einer in die Relevanz erhobenen Utopie auch noch ein unerklärlich genaues Abbild der äußeren Wirklichkeit.

Die äußere Wirklichkeit besteht in einem ihrer unzugänglichsten, abgelegensten Ausschnitte: Tristan da Cunha. Das erfahren wir aus Schmidts dialogförmigem Radio-Essay Herrn Schnabels Spur. Vom Gesetz der Tristaniten, gesendet am 14. Dezember 1956, zuerst gedruckt 1958, heute am besten erreichbar in der Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe II, Band 1 auf Seite 235 bis 264.

Tristan da Cunha, Kirchturmspitze mit Wetterwal

Wie tief Schmidt dort bohrt, dass einen nach den bisherigen sechzig Jahren noch wundern muss, wie da eine literaturhistorische und gleichzeitig geographische Revolution ausbleiben konnte, das kriegen wir noch, versprochen. Vorerst schauen wir nach, wie Schnabels Insel Felsenburg auf uns gekommen ist.

Die kurze Reihe geht über Ludwig Tieck, einen der ganz wenigen erklärten Hauptlieblinge von Arno Schmidt. Tieck hat den Roman nämlich einmal neu herausgegeben, woruch er Schmidt auffallen konnte. Zu seiner Zeit war Insel Felsenburg offenbar einer der paar Bestseller, die wegen großer Frömmigkeit und leicht verdaulicher Handlung in besonders vielen deutschen Haushalten das einzige Buch neben der Bibel sein durften. Vergessen wurde es wahrscheinlich wegen seines enormen Umfangs — die ungekürzte Neuausgabe von 1997 zählt in Neusatz 2686 Seiten — und seiner sperrigen Überschrift, die sich kaum süffig abkürzen lässt („Wunderliche Fata einiger See-Fahrer“?):

Tristan da Cunha, Hinterglasbild MadonnaWunderliche Fata einiger See-Fahrer, absonderlich Alberti Julii, eines gebohrnen Sachsens, Welcher in seinem 18den Jahre zu Schiffe gegangen, durch Schiff-Bruch selb 4te an eine grausame Klippe geworffen worden, nach deren Übersteigung das schönste Land entdeckt, sich daselbst mit seiner Gefährtin verheyrathet, aus solcher Ehe eine Familie mit mehr als 300 Seelen erzeuget, das Land vortrefflich angebauet, durch besondere Zufälle erstaunens-würdige Schätze gesammlet, seine in Teutschland ausgekundschafften Freunde glücklich gemacht, am Ende des 1728sten Jahres, als in seinem Hunderten Jahre, annoch frisch und gesund gelebt, und vermuthlich noch zu dato lebt, entworffen Von dessen Bruders-Sohnes-Sohnes-Sohne, Mons. Eberhard Julio, Curieusen Lesern aber zum vermuthlichen Gemüths-Vergnügen ausgefertiget, auch par Commission dem Drucke übergeben Von Gisandern. Nordhausen. Bey Johann Heinrich Groß, Buchhändlern. Anno 1731.

Ludwig Tieck, der nicht nur vom Erdichten eigener Fiktionen lebte, sondern auch vom Übersetzen und Verlegen, richtete den verblassenden Kometen vor dem Verschwinden noch einmal neu ein. Nach Arno Schmidt ist ihm das ungewohnt schlecht gelungen:

Bestenfalls taucht, wie schon gesagt, antiquarisch, und auch das schon sehr selten, noch eine von Ludwig Tieck bevorwortete Redaktion auf, die auf 2.000 Kleinoktavseiten etwa Dreiviertel des Originals bietet. Allerdings hat Tieck, was bei seinem sonst superfeinen Gefühl für Stil und Sprache merkwürdigst überrascht, damit leider eine den Ton und Geist der Urschrift böse verwischende Überarbeitung eines Ungenannten nicht nur passieren lassen, sondern sanktioniert — zur Strafe werden wir sie im Folgenden die ‚Tieck’sche Redaktion‘ nennen !

Tristan da Cunha, Kirchenraum

Das konnte geschehen, weil Tieck, wie schon Schnabel im ganzen zweiten bis vierten Theil der uferlosen Vorlage, „nur wegen des Honorars“ so eine lieb- und verständnislose Redaktion daraus gemacht hat. Zum Kauf und Studium empfohlen wird deshalb ausnahmsweise nichts, was der verlässliche Tieck angefertigt hat, schon gar nicht, wenn es „nur“ oder — immerhin — drei Viertel eines epischen Monstrums bietet, auch nicht das heute am besten erreichbare Reclam-„Heft“ in der Redaktion von Volker Meid und Ingeborg Springer-Strand mit etwa 40 % des Gesamttextes auf 607 Seiten, sondern das verlegerische Husarenstück von Zweitausendeins 1996 in seiner Reihe „Haidnische Alterthümer. Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts“: Der Text ist in zwei knuffigen Kleinoktavbänden zu 100 % vorhanden, ein dritter Band bietet Anmerkungen, Forschungsberichte, Konkordanzen, Emendationen und was einer sich nur wünschen mag; das Nachwort ist ein ausgewachsener Bücherkrimi.

Es fehlen eigentlich nur der Radiodialog von Arno Schmidt, für den man sich an die zweite Bargfelder Kassette wenden mag, die in jeden Haushalt gehört, und das dort erwähnte Vorwort von Ludwig Tieck, das wiederum in der Reclam-Augabe steht. Und hier unten.

Das Bildmaterial stammt aus den National Archives UK 1927, weil Tristan da Cunha heute „der englischen Krone“ untersteht, und vom Inselreisenden Brian Gratwicke März 2012, um noch einmal auf den Punkt zu bringen, was selbst der unbestechliche Schreibtischentdecker Schmidt an mehr als nur ausreichenden Fakten nachgewiesen, aber kaum angemessen herausgestellt hat („Im vorliegenden Fall ist es um 1 entscheidende Spur unheimlicher !“):

Was Johann Gottfried Schnabel da 1731 veröffentlicht hat, ist kein vorgeblicher Einbruch der Realität in die Fiktion, wie ihn jeder begabtere Krimiheftchenschreiber beherrscht, es ist der Einbruch der Fiktion in die Realität. In diesem Ausmaß auf ein ganzes Staatswesen ist das ein einzigartiger Vorgang. Das hätte nie passieren dürfen, weil es — eigentlich — nicht passieren kann.

Tristan da Cunha, Albatross Bar

——— Ludwig Tieck:

XII. Kritik und deutsches Bücherwesen. Ein Gespräch
(Einleitung zu: „Die Insel Felsenburg etc.“)

in: Kritische Schriften, Band 2, Seite 133 bis 170, 1828:

Tristan da Cunha, Prince Philip Hall

Ein Freund, mit dem ich in den wichtigsten Sachen einig bin, und eben deshalb oft von seiner Meinung dennoch abweiche, trat herein und rief, indem er die Ueberschrift sah: Wie? auch dieses alte Buch „die Insel Felsenburg“ soll neu gedruckt werden? ist denn noch nicht der schlechten Leserei sogenannter Romane genug? Diese alte Robinsonade, diese weitläusige, umständliche Geschichte, die schon bei unsern Eltern sprichwörtlich ein schlechtes Buch bedeutete, soll wieder in einem neuen Gewande, welches das Flickwerk nur schlecht verbergen wird, auftreten? Und Sie haben nichts Besseres zu thun, als zu einer so vergessenen oder berüchtigten Waare eine Vorrede und Einleitung zu schreiben?

Ich habe es dem Verleger, meinem Freunde, versprochen, der mich darum ersuchte; antwortete ich, ohne jene Verlegenheit in der Miene, die der zürnende Freund wahrscheinlich erwartete.

Tristan da Cunha, The National Archives UKUnd doch, fuhr jener fort, sind wir Beide längst darüber einig und haben es oft gemeinsam beklagt, daß diese Flut unnützer Bücher immer mehr anschwillt, daß auch die geringere Menschenklasse, Dienstboten und Bauern in so vielen Gegenden, Kinder und Unmündige, Mädchen und Weiber, immer mehr und mehr in diesen verschlingenden Wirbel hineingezogen werden: daß das Bedürfniß, die Zeit auf diese Weise zu verderben, immer mächtiger wird, und daß auf diesem Wege Charakter, Gesinnung, Empsindung und Verstand, die besten Kräfte des Menschen, vorzüglich aber jene Frische der Unschuld, ohne welche der Begabte selbst nur ohnmächtig erscheint, nothwendig zu Grunde gehen müssen. — Oder halten Sie denn etwa diese weitschichtige Felsenburgische Chronik für so vortrefflich, daß ihre Erneuung nothwendig und ein literarisches Verdienst wird? Ihre Vorliebe für das Alterthümliche und Unreife ist mir zwar bekannt, aber diese Bücher, in die ich nur flüchtige Blicke geworfen habe, werden Sie doch gewiß nicht jenen Heldenliedern, oder Liebesdichtern des Mittelalters, oder den wenigen originellen Ersindungen beizählen wollen, die unsere Vorfahren, mit weniger Zärtlichkeit begabt, als die frühere Zeit, so hoch hielten?

Der Fragen, sagte ich, sind zu viele, um sie schnell zu beantworten, da überdies in jeder dieser Fragen wieder andere neue enthalten sind.

Freund. Erörtern Sie, welche Sie wollen, wenn Sie mir die Antwort nur nicht überall schuldig bleiben. Ist wol jemals so viel gelesen worden, als heutzutage? Ist je so viel Unnützes, Geschmackloses geschrieben?

Kann sein.

Fr. Soll dies nicht die Menschen von besserer Beschäftigung abhalten?

Möglich; haben Sie doch auch manches unnütze Buch gelesen, von mir zu schweigen, der ich weniger gewissenhaft bin, als Sie.

Fr. Eifern Sie nicht aber selbst genug gegen das Schlechte und Mittelmäßige?

Vielleicht zu viel, weil es unnütz ist, immer den höchsten Maßstab anzulegen. Wer seine Familie heutzutage nur von einem Titian will malen lassen, wird sein Geld in der Tasche und seine Leinwand ungefärbt behalten.

Fr. Sie sind heute wieder vom Geist des Widerspruchs beseelt, und freilich, wenn man durchaus Recht behalten will, so kann einem dies Vergnügen nicht entgehen.

Aber warum so ungeduldig? Ist es denn Unrecht, selbst wenn ich mit Ihnen in der Hauptsache einverstanden wäre, auch von andern Seiten den Gegenstand zu betrachten? Wie in einem Prozesse auch die Umstände hervorzuheben, welche die Anklage mildern, den angeklagten Theil wenn auch nicht rechtfertigen, oder frei sprechen, doch entschuldigen könnten? Mich dünkt, dann erst wären wir ganz und unparteiisch des Gegenstandes Meister.

Fr. Ist das auch bei einer Sache nothig, die längst abgeurtheilt, wo die Akten schon seit Iahren geschlossen sind?

Zuweilen hat sich auch in entschiedenen Prozessen ein Jrrthum versteckt, der den Forschenden wol schon sonst veranlaßt hat, die längst ausgemachte Sache vor ein neues Urtheil und eine neue Untersuchung zu citiren.

Fr. Meinethalben. So will ich Ihnen auch glauben, daß Griechen und Römer, so wie die kräftigen Menschen des Mittelalters, so viel gelesen haben, als wir, ob sie gleich die Presse noch nicht erfunden hatten; so will ich ebenfalls zugestehen, daß es nicht möglich sei, daß ein Volk durch diesen lesenden Müssiggang sich schwächen und am Ende ganz verderben könne; ich will glauben, daß das Lesen unbedingt etwas Heilsames und diese Romanliteratur vortrefflich sei, und ich beklage nur, daß ich meinen Irrthum und Widerwillen größtentheils aus Ihren Gesprächen geschöpft habe.

Warum so heftig? Können Sie sich denn mit der Meinung vertragen, daß irgend etwas Großes in der Geschichte aus einer einzigen Ursach hervorgegangen sei? Ist eben nicht das nur eine wahre Begebenheit, ein wirkliches Schicksal, was an tausend sichtbaren und unsichtbaren Fäden hängt und Vorzeit und Gegenwart verknüpft? Waren Gelehrsamkeit, Bildung und Theologie, bei den spätern Byzantinern mit der traurigsten Scholastik, Disputirsucht und der schlechtesten Sophistik vermählt, auch bis zum Abgeschmackten und Nichtigen herabgesunken: so hat doch diese Entartung der geistigen Kräfte gewiß nicht das Kaiserthum gestürzt. Grund und Boden muß schon längst untergraben sein, wenn das Vaterland, so wie damals, verloren gehen kann, und jene geistlose Gelehrsamkeit kann alsdann wol als ein Symptom der Krankheit, nicht aber für die Krankheit selber gelten. Sollte Athen wol an seinen Komödien oder dem Ueberflusse seiner Bildsäulen sich vernicktet haben? Eben so wenig als eine Anzahl von Schriftstellern die französische Revolution hervorbringen konnte. Wie Ursach und Wirkung sich gegenseitig bedingen und im Verlauf der Begebenheit ihre Stelle wechseln, wie ein Ding des andern Spiegel wird, und der Weise oder Geschichtforscher mit Kennerblick auch im Fuß die Figur der Pallas erräth und entziffert, ist freilich eine andere Frage und Untersuchung.

Fr. Um uns nicht zu weit von unsern Romanen zu verschlagen, — ist es denn nicht eine Seelenkrankheit, die unser Zeitalter charakterisirt, eine Art von Blödsinn oder Geistesschwäche, ein Bedürfniß in sich zu erzeugen und zu nähren, das die Menge zu Büchern und Zeitschriften treibt, die so unverhohlen schlecht sind, daß viele der Genießer ihre Erbärmlichkeit kennen, und so im Zusammenstoß der Naivetät mit der Naivetät der Beschauer draußen ein fast rührendes Schauspiel genießen kann, wenn er sich nicht daran ärgern will?

Manchmal sich ärgern, zuweilen gerührt sein, dann wieder lachen, und es größtentheils ganz vergessen und selber nicht mitlesen, ist wol das Beste. — Uebrigens meine ich doch, die Zeiten sind mehr in Rücksicht der Bedürfnisse der Menschen, als in Ansehung der Menschen selbst wesentlich verschieden, und wenn nur die großen Verhältnisse der Regierung und Verfassung dem Richtigen nahe bleiben, so gleichen sich, nach längeren oder kürzeren Schwankungen, die geringeren von selbst wieder aus, und man darf von diesen weder zu viel Heil, noch zu schädliches Unheil erwarten. Gelesen ward immer, Gutes und Schlechtes. Und welches von beiden sollen wir schlecht oder gut nennen? Erleben wir nicht oft, daß das beste Buch unter den Augen des Lesenden ein schlechtes wird, weil es dessen körperlichen Augen an den geistigen fehlt? Ganze Zeitalter und Nationen dürften nur aufrichtig sein, um den Homer und Sophokles den elendesten Scribenten beizugesellen. Es ist auch mehr oder minder schon öffentlich geschehen. Gibt es nicht noch Menschen, die sich Geist zuschreiben, welche die Nibelungen nicht begreifen und verwerfen? Wie lange blieb Hamann unverstanden? Ist nicht zu unseren Zeiten Calderon gewissermaßen wie eine verlorene Insel neu entdeckt worden? Und haben Sie es nicht erlebt, daß in der Einsamkeit des Landes, oder auf der Reise, im Gebirge, Ihnen ein zufällig gefundenes Buch, selbst wenn es nicht zu den besseren gehörte, ungemein tröstlich und lehrreich werden konnte? Eben so in verwirrten, zu lebendigen Gesellschaften, wo, wenn alles geistreich, scharfsinnig, vielseitig, höchst gebildet, durch und aneinander rennt, und unbeantwortete Fragen sich kreuzen, und Urtheile sich übereilen, und neue Ansichten hundert verwirrende Perspective bilden: wie gern nimmt man auch dort den trivialen Mann in ein ruhigeres Fenster, und erbaut sich an seinen mäßigen Gedanken wie an tiefer Weisheit! Dürfte man irgend ein Buch in diesem Chaos aufschlagen und lesen, so würde uns fast jedes ein Sirach dünken.

Fr. Ietzt sind wir in das Gebiet der Sophismen gerathen. Denn so gibt es freilich weder gute noch schlechte Bücher, und die Auslegung ist älter wie der Text.

Wie immer; und wie kann es anders sein, da jeder Text nur die Bestätigung einer früheren Auslegung wird? Woher käme er sonst? Erst, wenn er anfängt mißverstanden zu werden, kommt ihm eine spätere Ausdeutung zu Hülfe.

Fr. In dieser scheinbaren Antwort liegen mehr Fragen, als in meinen ersten, mit welchen ich Sie bestürmte. Lassen wir dergleichen Räthselspiele und bleiben wir bei unserer eigentlichen Aufgabe stehen, die, beim besten Willen, vielleicht keinen sonderlichen Tiefsinn zulassen dürfte.

Sprechen wir also mit Leichtsinn. Wenn wir den rechten antreffen, dürfte er von seinem ernstblickenden Bruder nicht so gar weit entfernt wohnen.

Fr. Sie äußerten, es wäre immer viel gelesen worden. Auch zu jenen Zeiten, als die süßen Legenden von Tristan, die heitern von Gawain und Iwain, oder die tiefsinnigen von Titurel die damals gebildete Welt bewegten und entzückten?

Wenn das Volk selbst, so wie der Bauer und die Knechte, nicht gerade viel lasen, so hörten sie doch oft die großen Sagen von Siegfried und Dietrich, von Bänkelsängern auf Iahrmärkten und Kirmsen, in den Winterstuben und bei ihren fröhlichen Gelagen absingen. Zum Lesen, auch wenn sie die Buchstaben gekannt hätten, hatten sie freilich die Zeit nicht. Denn jedem Iahrhunderte und Menschenalter ist seine Zeit auf eine, ihm eigenthümliche Weise zugemessen, und wenn jene früheren Menschen also nicht ihre Zeit im Sinn der gegenwärtigen verdarben, so möchte ich ihnen das nicht zum Verdienst anrechnen.

Fr. Und warum nicht? Und warum fehlte ihnen Zeit zum Lesen, selbst wenn es so viele gekonnt hätten, wie in unserm Iahrhundert?

Weil sie zum Leben selbst mehr brauchten. Und so wie es Zeiten gab, wo man sich ohne Geld behalf, waren Buch und Lesen damals nicht so, wie jetzt, ein Zeichen für das Leben, eine Quelle des Unterrichts, eine Anregung aller Kräfte, der religiösen so gut wie der heiteren, wie in unsern Tagen. In einer belagerten Stadt, wo man jede Minute Sturm und Eroberung fürchtet; am Tage eines glänzenden Festes, wo die Menge sich drängt, den Einzug eines geliebten Fürsten zu sehen; auf Iahrmärkten, wo jeder sieht, kauft und genießt, werden auch jetzt nicht viele Bücher aufgeschlagen. Eben das Leben nahm damals die Zeit, auch des Geringsten, ganz anders in Anspruch. Die Kirchenfeste, die Prozessionen, die Turniere, die Aufzüge der Ritter und Gilden, das Schönbartlaufen, das Scheibenschießen, Waffenübungen, die ländlichen Belustigungen, die Reisen der Dienstleute und Lehnsmänner, die Religion und ihr Kultus: nicht zu vergessen, daß Ersindungen und Maschinen damals bei vielen Arbeiten und Gewerken, nicht wie bei uns, viele Zeit ersparten, und daß der Mensch bis zum Niedrigsten hinab mehr öffentlich und im Staate, auf dem Markt und in den Versammlungen oder Schenkhäusern lebte, von einem nahe liegenden wichtigen Interesse durchdrungen, daß er auf tausend Fragen Rede und Antwort geben mußte, und also unmöglich — den Klosterbruder abgerechnet — darauf fallen konnte, seine Zeit so einzutheilen, wie heute, wo man ihm alles dergleichen erspart, ihm aber zugleich alle jene Ergötzlichkeiten oder Erholungen genommen hat. Es ist ganz natürlich, daß der Mensch sich auf das Hausleben, auf Genuß an sich selbst zurückzieht, und daß er sich in seinen müßigen Stunden von seinen Romanziers ergötzen läßt, so wie auch damals jede Zunge die Helden nannte, welche die Dichter verherrlicht hatten.

Fr. Sie mögen Recht haben; aber alles dies berührt meine erste Frage und Anklage immer noch nicht.

Und gab es denn damals nicht auch viele unnütze und anstößige Lieder? so viele Frechheiten, wie die neuere Zeit sie nur irgend ausgeboren hat, um sich selbst zu beschämen? Und von denen in jener frühen Zeit, die auch dergleichen nicht auswendig lernten und sangen, werden nicht dennoch viele von diesen ganz Unwissenden in der Rohheit selbst und in wüsten Gelagen, in schlechtem Wandel und Verruchtheit untergegangen sein?

Fr. Sie weichen mir immer mehr aus. Es ist hier nicht vom Unabänderlichen die Rede, sondern von dem, was sein soll, was frommt, sich geziemt und nützt.

Ich wollte nur andeuten, daß ich mich nicht davon überzeugen kann, daß unsere Zeit schlimmer sei, als eine frühere: am wenigsten durch Bücher. Denn als sich früher die Welt in Krieg und Frieden auch schon zu beschränkteren Ansichten wandte, und damit zugleich der höhere Glanz der Poesie erlosch, — damals, als jene Unzahl der prosaischen Ritterromane entstand, jene Folianten, die von den Gebildeten so fleißig gelesen und wieder gelesen und in alle Sprachen übersetzt wurden, — diese Dichtungen können uns so wenig ergötzen, daß wir im Gegentheil nicht begreifen, wie sich unsere Vorfahren mit ihnen die Zeit vertreiben konnten.

Fr. Sind sie denn eben schlechter, oder auch nur langweiliger, wie Tausende von neueren Büchern?

Gewiß nicht, und es wird sich nur die obige Bemerkung bestätigen, daß die meisten Schriften nur ein Bedürfniß der Zeit befriedigen, was aber doch, wenn es ein wahres Bedürfniß ist, befriedigt werden muß, mag eine spätere Kritik auch dagegen einzuwenden haben, was sie will, so wie die Aerzte ehemals und jetzt gegen Gewürze und Wein vergeblich geeifert haben.

Fr. Bedürfniß! Ist es denn nicht Pflicht, auch dieses zu bewachen und zu Zeiten einzuschränken? Mag man über Wein und Gewürze hin und her streiten, könnte man aber dem unglücklichen Volke den vergiftenden, zu wohlfeilen Branntwein durch Gesetze nehmen, so würde ohne Zweifel unsere Zeit einen wesentlichen Vortheil erringen, und dadurch mehr thun, als hundert moralische Bücher und Anstalten.

Ganz gewiß, und die Gesetzgebung wäre dazu verpflichtet, wenn sie nur zugleich das alte, gesunde Bier zu wohlfeilen ehemaligen Preisen, so wie die früheren ermäßigten Abgaben herstellen konnte. Dann würde jene Vergiftung von selbst wegfallen, — und wie viele schlechte Leserei, könnten wir das gesündere, fröhlichere Leben der Vorzeit wieder in unsere Städte hineinführen.

Fr. Und hiemit wäre denn unser Gespräch eigentlich zu Ende?

Warum? Wir können unsern Streit, der eigentlich keiner ist, vielleicht noch inniger ausgleichen. — Sie werden mit mir überzeugt sein, daß jedes Zeitalter nur wenige ächte Dichterwerke hervorbringen kann. Ist zugleich eine ächte Schule, wie bei den Griechen, begründet, so werden sich mehr große Meister zeigen, und sehr vieles, was man nicht dem Höchsten und Vollendeten beigesellen darf, wird doch den Stempel einer Großheit tragen, der es wieder unablöslich als Anhang, Erklärung und’Verherrlichung des Besten dem Zeitalter sowol als der Nachwelt nothwendig macht. — In den späteren Iahrhunderten und bei den neueren Völkern hat eine unbestimmte Sehnsucht, aus welcher ein wechselndes Bedürfniß und vielfach wandelnde Stimmung entstanden sind, die Schule ersetzen müssen; und daraus erklärt sich die Erscheinung von selbst, daß uns nicht nur das langweilt, was vor hundert oder zweihundert Iahren die Welt entzückte und begeisterte, sondern wir nehmen auch wahr, daß oft kaum dreißig, dann zwanzig und zehn, und neuerdings wol nur fünf Iahre und noch weniger dazu gehören, um unbegreiflich zu sinden, wie ein Buch, welches allgemein gefallen hat, nur irgend interessiren konnte.

Fr. Man will ja bemerken, daß dies mit vielen schon von Messe zu Messe eintreten soll. Dann aber, dächte ich, verlohnte es sich gar nicht mehr der Mühe, über diesen Gegenstand zu sprechen.

Ueber Bücher, die blos Mode sind, und weiter nichts als Mode, gewiß nicht. Lehrreich aber möchte es sein, jenen Wechsel von Stimmungen und sich verändernden geistigen Bedürfnissen von einem höhern Standpunkte aus zu betrachten; geschichtlich diesen Wandel und seine innere Nothwendigkeit zu erforschen, um zu erfahren, was der Geist gemeint oder gesucht habe, um auf diesem Wege die ächte Geschichte des Menschen und der Staaten, so gut wie die der Poesie zu vergegenwärtigen: statt daß wir seit langer Zeit Alles haben liegen lassen, was uns nicht unmittelbar interessirt oder beim ersten Anblick verständlich ist, und so selbst wieder in der Geschichtsansicht einem kleinlichen Zeitgeist, einer vorübergehenden Stimmung, einem wechselnden Bedürfniß, ja einer nichtigen Mode dienstbar sind, ohne diese traurige Knechtschaft in unserem Hochmuth auch nur im mindesten zu ahnen.

Fr. Deutet Voltaire nicht einmal eine ähnliche Forderung für die Geschichte an?

Seine eigenen Mode- und Galanteriewaaren hat er uns allerdings, als Patentarbeiten für die Ewigkeit, mit ähnlich lautenden Worten einschwärzen wollen.

Tristan da Cunha, The National Archives UKFr. Freilich also sinken dann Bücher, Gedichte, Romane zu Fabrikaten herab, und müssen ganz aus diesem Gesichtspunkte betrachtet werden.

Warum sinken? Soll es denn etwas Geringeres sein, ein gutes Buch — wenn es auch nicht Iahrhunderte überdauert — seinen Zeitgenossen in die Hände zu geben, als gesundes Getreide zu erzeugen, Wolle und Tuch hervorzubringen und zu fabriciren, das Erz aus den Bergen zu graben, oder Kinder zu Soldaten und Staatsbeamten zu erziehen? Gehen Sie nur zum berühmten Walter Scott in die Lehre, und nehmen Sie von jenem merkwürdigen Selbstgeständniß in seiner Vorrede Unterricht. — Und trifft denn diese Ansicht etwa nur diese Seite der Literatur? Von der Geschichte habe ich Ihnen schon vorher meine Meinung merken lassen; diese lag wol mehr im Argen als die Romane. Wenden wir uns aber zu jener Zeit, als bald nach Ersindung der Druckerkunst eine hochwichtige Angelegenheit zuerst Deutschland und bald darauf ganz Europa in heftige Bewegung setzte. Wem könnte es einfallen, von dieser ebenso großen als nothwendigen Umwandlung, oder von der Andacht selbst und der Anschauung des Göttlichen auf geringe Weise sprechen, oder gar, wie es wol auch einmal Mode mar, darüber scherzen und spotten zu wollen? Mir am wenigsten; und die neueste Mode verbietet es auch der Menge und den Tagesschriftstellern. Doch schlagen Sie einmal in den Bibliotheken die unzähligen Bücher jener Tage auf, in denen — die trefflichen natürlich abgerechnet — die widrigste Polemik schreit und tobt, die widerwärtigste Erniedrigung vor dem Schöpfer ekelhaft kriecht, winselnde Demuth Unsinn ächzt, und gottlose Knechtschaft und Thierheit sich für Andacht und Gottseligkeit ausgibt. Verzweifelnd wendet man sich von der Menschheit ab, wenn man bedenkt, daß Tausende viele Iahre hindurch nur in diesem Wuste und in dieser sinstern Verwirrung ihren Trost und ihr Heil suchten und fanden. Und ist es nachher, ist es in unfern Tagen nicht in vieler Hinsicht eben so geblieben? Wie vielen Aberwitz, wie viel Unchristliches, Gottloses und die Menschheit Erniedrigendes kann der Forscher, der sich diesem Geschäft hingeben mag, auftreiben? Ia, so vieles, was recht sichtbar und mit Anmaßung auf der Oberfläche schwimmt, was Ieder kennt, was Viele begeistert, und welches Mancher der Gemäßigten mit einer Art von furchtsamer Achtung doch halb gelten läßt, wenn er es auch nicht billigen kann, gehört diesen Regionen der sinstersten Finsterniß an. Können Sie mir nun viele Romane nennen, — die ganz vergifteten ausgenommen — die schlimmer, abgeschmackter oder schädlicher wären, als diese angedeuteten Erzeugnisse, die sich eine so vornehme Miene geben? , Fr. Somit käme freilich alles auf eine Linie zu stehen. Mit Nichten; ich mache Sie nur darauf aufmerksam, wie jedes Bedürfniß seine Befriedigung sucht. Auch der Trieb, die Wahrheit zu erkennen, nach dem heitern Licht, nach dem Tiefsinn, oder dem rein Menschlichen und Guten, offenbart sich oft in den schwachen Productionen harmloser Menschen, und diese haben gerade Kraft genug, auch andere zu befeuern, die ebenfalls nicht mit mehr Stärke ausgerüstet sind.

Fr. Wenn man die Sachen so geschichtlich betrachtet, so geht freilich die eigentliche Kritik unter.

Doch nicht; sie muß nur nicht zu früh anfangen wollen. Ein wahres Buch bezieht sich auch doppelt, zunächst auf sich selbst, dann aber auch auf seine Zeit, und beides muß sich innigst durchdringen. Ist aber unser Urtheil selbst nur aus der Zeit erwachsen, so verstehen wir das Werk des Genius niemals, welches eine neue Zeit, und natürlich auch eine andere Mode, durch seine Großartigkeit erschafft. Und so sind es auf der andern Seite oft die dunkeln, verhüllten Ahndungen, unausgesprochene quälende Stimmungen, Gesühle und Anschauungen die der Worte ermangeln, und die der große Autor ihrer Qual entbindet, indem er ihnen für Jahrhunderte die Zunge löst; ein ganz nahe liegendes Verstandniß, welches keiner sinden konnte, macht der Genius zum innigsten Bedürfniß seiner Welt, und gibt so dem Worte seine Schöpferkraft wieder, die es noch nie verloren hat.

Fr. So könnte man vieles Dichten wie ein Erlösen von dunkeln Gefühlen, anderes wie ein Erobern heiterer Lebenselemente ansehen, Manches wie ein Schaffen von neuen Geräthen und Genüssen, die der Mensch um sich stellt, um an Glanz und Freude sein trübes Leben zu erheitern, und so möchte man z. B. den Cervantes als einen Helden ansehen, der sich um die Menschheit Lorber und Bürgerkrone verdiente, indem er sie von der Langenweile und der falschen Poesie der Ritter- und Liebesfolianten auf immer befreite.

Hat er sie wirklich davon befreit? Sehen wir nicht, daß dieselbe Muse, selbst ganz kürzlich, nur in Octav und bessern Druck hineingeschlüpft ist? Und glauben Sie nicht, daß der Ueberdruß zur Zeit des Cervantes schon da war, und das Bewußtsein sich in den Bessern regte?

Fr. Kann wohl sein, indessen sagt man doch allgemein, daß wir diesem Widerwillen, der sich kund geben wollte, dieses herrliche Buch zu danken haben.

Ich glaube, daß der edle poetische Cervantes selbst lange Zeit ein Liebhaber dieser Ritterbücher war, und auch in seinem Alter, als er seinen Manchaner beschrieb, seine Vorliebe noch nicht ganz hatte aufgeben können. Was er im ersten Theile des Don Quixote dem Kanonikus in den Mund legt, ist wol ganz seine eigene Meinung, und das Gelüst, selbst eine solche Rittergeschichte zu dichten, sieht ihm ganz ähnlich. Wie viel kommt doch auf die Zeit an, in welcher ein großer Dichter lebt! Der ächte alte Rittergesang war längst abgeblüht, diese Ritterromane waren nur ein todter Niederschlag jener früheren wundervollen bunten Dichtung, willkürlich und fast ohne Bedeutung war Zauber und übernatürliche Kraft hier aufgenommen und schlecht mit den Begebenheiten verbunden; die Liebe klang noch wie ein Echo edeln Gesanges in die verwirrte Masse hinein. Die Beschreibung der Kämpfe und Schlachten ist auch viel ermüdender und lebloser, als in den alten Liedern, weil die Verfasser der wirklichen Anschauung schon ermangelten. Kannte Cervantes die alten, schönen Gesänge, und hätte eine ähnliche Dichtung seiner Zeit und seinem Lande irgend angeeignet werden können, — wer kann bestimmen oder ausmessen, wie viel ein Genius, wie dieser, in jener epischen Poesie hätte ausführen können.

Fr. Ein großer Mann — so habe ich öfter gehört — hat den Ausspruch gethan, Don Quixote habe darum seine Zeit so gewaltig bewegt und allgemeines Glück gemacht, weil er den Enthusiasmus so witzig verspotte und eine ältere, schönere Zeit und deren poetische Kräfte verhöhne.

Auch ich habe diesen Ausspruch vernommen und, ehrlich gesagt, nicht verstanden, oder Don Quirote und Cervantes selbst erscheinen mir in einem falschen Lichte. Das eigentliche Ritterthum war schon lange vor Cervantes untergegangen. Welche trübselige Zeit erschlaffte Deutschland schon vor Maximilian; in Frankreich hatten die Bürgerkriege Rohheit und Grausamkeit zu alltäglichen Erscheinungen gemacht; Italien, in welchem mit einigen edeln Geschlechtern die Künste zugleich blühten, hatte von je diese Poesie des früheren Iahrhunderts weniger ergriffen, und Ariost spottete schon auf seine Weise über das Ritterthum; in Spanien selbst war am meisten noch jene ältere Begeisterung zu sinden, die sich aber nach völliger Bezwingung der Mauren mehr in Zügen und Reisen nach der neu entdeckten Welt erschöpfte. Iene Tage, in welchen Lichtenstein und Eschilbach, Gottfried und Hartmann von der Aue so ritterlich von Liebe, Frühling und Wundern, ihrer Gegenwart allgemein verständlich, singen durften, waren längst vergessen; jene Gebilde, Sitten und Gesinnungen waren schon seit vielen Iahren in Unglück, Bürgerkriegen und nüchterner Rohheit, die schon in demselben Iahrhundert, als jene glänzenden Gebilde entstanden, diese verschlangen, zur erblaßten Lüge geworden, und die lallende Ersindung gerieth eben deshalb in das Ungeheure, Maßlose und Thörichte, weil sie in der Gegenwart nirgend mehr die belebende Wahrheit antraf. Außerdem bezweifle ich aber auch, ob etwas anderes als Enthusiasmus selbst einen so allgemeinen und dauernden Enthusiasmus hervorbringen könne, als dieses große Werk des Cervantes damals erregte, so wie es noch immer mit derselben ungeschwächten Kraft wirkt. Auch ist es das Wundersame dieses einzigen Buches, daß man die Hauptperson eben so sehr verehren wie belachen muß, und daß beides fast immer zusammenfällt, so daß er in unserer Imagination, so sehr er auch Parodie ist, doch zum wirklichen Helden wird. Zugleich spricht sich in diesem Werke eine so ächte Begeisterung für Vaterland, Heldenthum, den Soldatenstand, das Ritterwesen, Karl den Fünften, Geschichte, Liebe und Poesie aus, daß viele Erkaltete sich wol eher an diesem Enthusiasmus erwärmen, als die Glühenden daran erkalten könnten.

Fr. Die außerordentliche Wirkung dieses ächten Gedichtes ist auch wol daraus abzuleiten, daß es endlich einmal, nach vielen Iahren, Wirklichkeit, das Alltägliche, Gegenwärtige, unverkünstelt hinstellte, ohne falschen Schmuck, und daß dieses doch zugleich das Wunderbare und die Poesie war.

Die Erscheinung ist um so auffallender, weil man in Spanien noch fortfuhr, jene falsche Poesie, jenes unächte Wunderbare zu lieben, welches Cervantes ja so wenig hat verdrängen können, daß der herrliche Calderon noch diese Farben in seinen frischen Märchengemälden hat anwenden können. Die unsinnigste Ersindung, das Schloß der Cindabridis, hat er zur Dichtung brauchen können, in welcher man aber sieht, daß die Bekanntschaft mit dem tollen Roman vorausgesetzt wird. Sehen wir auf Frankreich, so lebten und entzückten ja noch lange jene weitausgesponnenen Romane, die zwar nicht immer Ritter und ihre Zweikämpfe und befreundeten Zauberer schilderten, wol aber in mehr oder minder kennbaren Verkleidungen die Intriguen des Hofes Ludwigs des Dreizehnten und Vierzehnten, die kleinen Eitelkeiten der Damen, süßliche Sentimentalität, schmachtende Liebhaber, und eine weitschichtige redselige Politik und galante langweilige Moral vortrugen, die wahrlich, wenn man die Summe zieht, noch armseligere Bücher dick angeschwellt haben, als nur jemals der Inhalt jener verbrannten Romane in der Bibliothek des Manchaners war. Und dieselben Hofleute, Gelehrte und gebildeten Damen, die geistreich mit dem edeln Cervantes über die Belianis, Esplandians und Tirantes lachten, erbauten sich an den Astreas, den Cassandern, und wie sie alle heißen mögen, jene Werke der Scudery, d’Urft’s, und so vieler Scribenten jener Tage, gegen welche die frühere Arkadia des Sidney, und noch mehr die Diana des Montemayor, ja selbst die geschmähete Fortsetzung derselben, für Meisterwerke gelten können.

Fr. Diese getadelten und in der That höchst langweiligen Bücher der Franzosen konnten doch wol nur gefallen, weil sie so ganz ihre Gegenwart, wenigstens den vornehmen Schein derselben darstellen.

Gewiß, wir sehen eben, wie man das Wahre, Große erkennen kann, freilich nur scheinbar, wie die damaligen Leser den Don Quixote, und doch zugleich in dem Unü’ch- ten und völlig Nichtigen untergehen, indem man in diesem eine höhere Bildung sucht. Eine Erscheinung, die sich in allen Zeiten immer von neuem wiederholt.

Fr. Eben so konnte auch damals eine so nüchterne Parodie, wie die des Scarron, Glück machen, und freilich, wenn ich mir diese Zeit vergegenwärtige, in welcher Moliere, Corneille, Racine, Boileau, Cervantes, Scarron, viele Spanier, und viele schwächere, jetzt vergessene, französische Autoren, nebst jenen bändereichen politischen Romanen bewundert wurden, so tritt mir eine so chaotische Verwirrung entgegen, daß ich an eine ächte Kritik jener Tage nicht glauben kann.

Kritik! — Wol nur bei den Griechen war sie wirklich da, und außerdem ein Versuch, eine Annäherung an sie bei uns Deutschen in den neuesten Tagen.

Fr. Doch bei den Griechen wol auch mehr als Schule, so wie in ihrer Bildhauerkunst, die sich Iahrhunderte hindurch, selbst bei den Römern, großartig erhielt und als Schule noch spät Meisterwerke lieferte. In der Poesie erlosch diese Schule freilich viel früher. Die neuere Zeit hat sich, seit sechzig oder siebenzig Iahren etwa, bemüht, die Kritik zu einer eigenen, selbstständigen Wissenschaft zu erheben. Diese Bestrebungen sind vorzüglich in Deutschland mit Glück und Anstrengung von den begabtesten.Männern in vielseitiger Richtung zu einer außerordentlichen Höhe geführt worden, von welcher derjenige, der ihnen folgen kann, immer mehr und mehr mit Sicherheit das ganze Gebiet der Kunst und Schönheit überschauen mag. Neben andern ausgezeichneten Namen glänzen hier vorzüglich die von Lessing, Schiller, Wilhelm und Friedrich Schlegel, so wie Solger, dem es in seinem Erwin wol zuerst gelungen ist, über das Schöne und die Grundsätze der Kunst genügend zu sprechen. — Wir haben uns aber jetzt ziemlich weit von unserm ersten Gegenstande entfernt. Mir schien es, als wenn Sie meinen Eifer gegen die Unzahl der schlechten Romane und das unmäßige Lesen derselben so wenig begriffen, daß Sie diese ganze zeitverderbende Anstalt für völlig unschädlich, wo nicht gar selber für nützlich zu erklären im Begriffe waren.

Wie man es nimmt; wenn wir nämlich nicht über Worte streiten wollen. Daß das Bedürfniß des Lesens in Deutschland ziemlich allgemein geworden ist, und sich mit jedem Iahre wol noch weiter ausbreiten wird, ist nicht abzuleugnen. Wenn das größere öffentliche Leben untergegangen ist, und ebenfalls jenes dürftige, wo der Bürger und Kaufmann sich nicht mehr in den öffentlichen Trinkstuben unterhalten und belehren will, indessen Weiber und Töchter in den langweiligsten Besuchen mit albernen Klätschereien und elender Verleumdung ihre Zeit tödten, so ist diese Lesesucht, die doch auch zuweilen auf das Gute fällt, wol immer eine Erhebung zu nennen, da die Zustände jener traurigen Iahre, die Geselligkeit des Volks, der Umfang der Kenntnisse und die Gesinnungen von damals wol nicht empfehlungswerth — will man anders die Toleranz nicht zu weit treiben — zu nennen sind. Dieser zu kleinstädtische Umfang der engsten und trübseligsten Stubenwände hat sich denn doch vergrößert und erheitert, das, was diese Gemüther bedürfen, wird ihnen doch meistentheils in einer ziemlich gebildeten Sprache gereicht, diese Bedürfnisse selbst wechseln und streben sich oft zu verklären, Verstand, Kenntnisse, zuweilen eine edle Ansicht des Lebens reihen sich an die mehr oder minder wunderbaren Ersindungen, und wenn dieser oder jener Autor ein aufgeregtes Gemüth irre führt, so hat dieselbe Büchersammlung auch das Gegenmittel gegen die doch nur schwächliche Vergiftung, und die Mode der geistigen Putzwerke wechselt eben so wohlbehaglich, wie mit den baumwollenen und seidenen Kleidern und ihren vielfach geänderten Mustern.

Fr. Sie mögen nicht ganz Unrecht haben. Diese Art Schriften verräth dem schärferen Auge oft mehr vom Geiste der Zeit, als die moralischen oder historischen Autoren je von ihm gesehen haben. Zur selben Zeit, als man in Frankreich sich an jenen langweiligen feierlichen Romanen ergötzte, schilderte uns der deutsche Simplicissimus die Greuel des dreißigjährigen Krieges. Der Verfasser selbst, noch mehr aber seine Nachahmer, verstiegen sich sogleich in eine so ungemeine Gemeinheit, in so widerwärtige Schilderungen, die aber fast immer mit Geist entworfen sind, daß ihre Abschculichkeit bei weitem den spanischen Gusman von Alfarache und ähnliche Bücher übertrifft, und sich die Phantasie mit Ekel von ihnen wendet.

Da berühren Sie den Punkt, der die Barbarei der Deutschen jener Tage, gegen die der anderen Nationen gehalten, charakterisirt. Wie die Franzosen schon früh das Unzüchtige und Anstößige liebten und ausbildeten, so fand der Deutsche schon lange am Ekelhaften und Gemeinen ein verdächtiges Vergnügen. In der Geschichte wie in der Literatur sehen wir dies Volk schon seit den Hussitenkriegen und noch früher, wie verbauert. Die große Angelegenheit der Reformation und die aus dieser erwachsenen Bürgerkriege, in welchen die Völker immer am meisten verwildern, rückte ihnen die Schönheit und das Bedürfniß nach achter Poesie auf lange aus den Augen. Und kehrt nicht dieser Zustand einer gewissen Verwilderung immerdar und bei allen Gelegenheiten zu uns zurück? Als unsere neuere Literatur schon durch Lessing und Goethe schön begründet war, als Schiller schon Freunde gewonnen hatte, ergriff bei den Nachrichten von der Französischen Revolution einen großen Theil unseres Volkes ein solcher Schwindel, daß die begeisterte Thorheit auf lange Kunst und Wissenschaft vergaß, die Unterdrückung der menschlichen und edeln Gefühle zum Heroismus stempelte, in grausamer Schadenfreude schwelgte, und den Verzückten die milde Schönheit als Kindertand und die Spiele der Phantasie als des Mannes unwürdig erschienen.

Tristan da Cunha, The National Archives UKFr. Sein wir billig. Die Poeten selbst nährten diesen Taumel, der im Anfang wol eben so natürlich, als nicht unlöblich war. Und wie viele Kräfte wurden neu aufgeregt, wie manche Talente entwickelten sich in jenen inhaltschweren Tagen. Wie die Deutschen auf das große Schauspiel ein aufmerksames Auge wandten, und an ihm ihren eigenen Zustand messend, gewissermaßen aus Betäubung und Schlaf erwachten, so kehrten sie auch besonnener zu ihrer Literatur zurück, und prüften sie mit neugeschärften Blicken. Von dieser Zeit an wenigstens schreibt sich die höhere Anerkennung ihres Goethe, dessen Werke nach einem kurzen Rausche früher Begeisterung schon vernachlässigt und ungefähr doch den übrigen gleichgestellt wurden. Damals also, als man so scharf König, Adel und Geistlichkeit recensirte, und die Ne- censenten bald nichts mehr als sich selbst zu lesen hatten, erwachte doch auch, seit Lessing schwieg, die bessere Kritik wieder, und suchte Poesie und Kunst inniger und tiefer zu ergreifen. Es war auch wol natürlich, daß das größte Ereigniß der neuesten Iahrhunderte den Deutschen in mehr als einer Hinsicht zur Besinnung brachte, und dies bessere Erkennen seines größten und mildesten Dichters sänftigte auf lange jenen unnatürlichen Kosmopolitismus, und weckte zugleich bei Wielen das Studium der Dichtkunst und Philosophie. Aber auch in allen guten Bestrebungen artet der Deutsche so leicht, mit falscher Heftigkeit und ungebildeter Glut, in Einseitigkeit und Barbarei aus. Welchen Fanatismus, immer nur die Methode, niemals die rohe Anmaßung wechselnd, haben wir in den vielfältigen Schulen unserer Philosophie erlebt! Wie treuherzig gutmeinend und zugleich wie komisch steht der Deutsche da, indem er in den oft geänderten Erziehungskünsten das Heil seiner Nation und der Welt sucht, und mit verfolgendem Eifer das Glück aufbauen will, indeß der Stein immer wieder herabfällt, und der Arbeiter doch nicht müde wird, ihn in anderer Manier wieder hinauf zu wälzen. Selbst die Regierungen bieten sich diesen wilden Träumen, die niemals von Erfahrung und wahrer Erkenntniß ausgehen können, und noch weniger jemals etwas Gutes bewirken werden. So gewaltig und roh diese Erzieher verfolgen und vernichten, was ihren Kram stört., so weichlich und unmännlich ist die Erziehung selber, in der Familie sowohl, wie in den öffentlichen Anstalten, geworden, und aus dieser Entwöhnung alles Gehorsams und aller Zucht sind uns auch schon traurige Früchte hervorgewachsen. Am meisten zerstörend und barbarisch hat sich wohl jene falsche Aufklärung bewiesen, die, so weit sie nur reichen konnte, das Christenthum und alles religiöse Gefühl zu vernichten strebte, die echte Philosophie verachten wollte, den Tiefsinn verhöhnte, Natur und Kunst auf ihre klägliche Weise umzudeuten suchte und die Poesie nur zum Träger armseliger Kunststücke erniedrigte. Vaterlandsliebe konnte dem, der diese Ueberzeugungen theilte, auch nicht mehr ehrwürdig bleiben. Das Fremde, Ferne, ward sophistisch und gewaltthätig herbeigezogen, um Götzendienst mit ihm zu treiben. Deutsches Alterthum ward nicht nur verkannt, sondern verfolgt, und Gebäude, Gemälde, Bildsäulen, so wie Sitten und Feste der früheren Iahrhunderte vernichtet. Wie sollten Stiftungen, Vermächtnisse, Eigenthum nun noch geschont werden? Nun konnte, in einer bessern Zeit, unsere Vorwelt fast wie ein verloren gegangenes Land wieder neu entdeckt werden. Die Freude über diesen Fund verwandelte sich aber bald wieder in rohe Einseitigkeit. Mit kleinstädtischer Vorliebe ward das Fremde nun eben so eigensinnig geschmäht und verachtet, man war nur Patriot, indem man das Ausländische, und folglich auch das Vaterland, verkannte. In Kunst, Poesie und Geschichte wollte man mit Willkühr alte Zeiten wiederholen, und ein Mittelalter, wie es nie war, wurde geschildert und als Muster empfohlen, Ritterromane, kindischer als jene veralteten, drängten sich mit treuherziger Eilfertigkeit hervor, predigten süßlich ein falsch-poetisches Christenthum, und lehrten mit dem steifsten Ernst eine Rittertugend und Vasallenpflicht, Ergebenheit unter Herrschern und Herzogen, Minne und Treue; in Ton und Gesinnung so über allen Spaß des Don Quixote hinaus, daß Scherz und Satire eben deshalb keine Handhabe an diesen Dingen fanden, um sie von den Tischen der Modegöttin herabzuwerfen. Die alte, erst verkannte und geschmähte Kunst galt nun für die einzige, das Zufällige und Ungeschickte an ihr für die höchste Vollendung. Die erneute religiöse Gesinnung artete bald in Sectengeist und Verfolgung aus, und selbst Lehrer der Wissenschaft glaubten nur fromm sein zu können, wenn sie die Wissenschaft zu vernichten suchten, so wie sich Künstler fanden, die nur begeistert zu sein vermochten, wenn sie sich von der Schönheit und den Göttergebilden der Griechen mit einem heiligen Grauen abwendeten. So wenig ist es in unserer Deutschen Natur, das Neue und Wahre mit Milde aufzunehmen, von dem Wein, der uns von der Göttertafel wohlwollend herabgesendet wird, mit weiser Mäßigung zu schlürfen, um uns nicht im wilden Rausch in Satyre und Faunen oder Bacchanten zu verwandeln, die in ihrer Verzückung alles eher, als Spaß verstehen, und von jener holdseligen, echt menschlichen Stimmung, die auch das Verschiedenartige im edlen Genuß verknüpft, durch eine Unendlichkeit von Verblendung und Irrthum getrennt sind.

Fr. Genug der Klagen. Diese unschuldigen Romane, um auf diese zurückzukommen, sind es denn doch auch wieder, die alle diese Irrsale bestätigen, und sich recht eigen ein Geschäft daraus machen, die Verwirrung zu einer allgemeinen zu erhöhen.

Vielleicht nicht so durchaus. Unsere leidenschaftliche Nation, die den Ernst fast immer zu ernsthaft nimmt, würde in allem Anlauf zu einer neuen Heilsordnung vielleicht noch höher springen und noch müder zurückfallen, wenn nicht gerade eben so viele unserer Romanziers, als die neueste Mode bestätigen wollen, mit der Strömung des Zeitgeistes im Widerspruch segelten, sehr oft — muß ich zugeben — ohne daß sie recht begreifen, wovon die Rede sei: aber dennoch, sie witzeln, satirisiren, machen lächerlich, und wenn bessere Köpfe mitsprechen, dringen sie oft mit ihrem Veto früh genug durch. Auf allen Fall aber sind es doch diese allgelesenen Schriften, die so häusig schon ein Gegengewicht, wenn auch anfangs nur Grane, in die andere Wagschale gelegt haben, und so durch die Vermittelung der Töchter, Frauen, Geliebten dem eifernden Enthusiasten nach und nach eine mildere Gesinnung in Gesprächen und Scherzen eingeflößt haben, die sie selbst erst aus Poesie und Langeweile schöpfen mußten. Fr. Wenn unser Gespräch für den Gegenstand oft zu ernst scheint und die Sache zu schwer anfaßt, so haben Sie jetzt den Knoten wieder auf eine zu leichtsinnige Art zerhauen. Möchte ich Ihnen auch nicht durchaus widersprechen, so können Sie doch nimmermehr leugnen, daß zu Zeiten diese Romanenleserei auf die schlimmste Art gewirkt hat, daß weichliche Bücher oft allen Sinn für Wahrheit und Ernst, so wie allen Trieb zur Arbeit in unzähligen jungen Leuten aufgelöst und zerstört haben, daß falsche Sentimentalität und nüchtern schwärmende Liebe, oft lüsterne Sinnlichkeit, die Gemüther verdorben, daß eben so oft ein Freiheitstaumel und Haß gegen Obrigkeit der unreifen Iugend beigebracht, und zu andern Zeiten durch ein sophistisches Geschwätz der Glaube an Moral, oder mit süßlicher Mystik, mit Freigeisterei wechselnd, Vernunft und Religion, bis zu den niedrigsten und dienenden Ständen hinab, ist erschüttert worden. Ja, es ist wol ausgemacht, daß durch diese Lesewuth selbst Bücher großer Autoren, ächte Kunstwerke, indem sie in unrechte Hände gerathen, gefährlich werden können. Wollen Sie mir diese Wahrheiten wieder wegstreiten, oder denken Sie darüber so leicht hin, daß Ihnen eine solche Ueberzeugung gleichgültig ist? Nein, ich denke nur von der menschlichen Natur anders als Sie, und meine, daß die Geschichte, die im steten Wechsel begriffen ist und sein muß, bald diesen bald jenen Stand mehr zur Thätigkeit oder zum Leiden ergreift und auffordert, daß es keine Geschichte gäbe, wenn die Gemüther der Menschen nicht auf mannichfaltige Weise, durch vielerlei Triebe und Bedürfnisse aufgereizt würden, und aus dem Gemüthe wieder äußerliche Begebenheiten erwüchsen. Die Zeichen, an denen diese Strömung zu erkennen ist, wechseln nach den verschiedenen Iahrhunderten, und in unfern Tagen gehört für den Beobachter diese von Ihnen verschmähte Gattung von Büchern eben auch zu jenen Zeichen, um sich zu erkennen und zurecht zu sinden. So wie diese Schriften manchen schadenden Stoff ableiten und mildern, so erregen und verbreiten sie auch wieder Krankheit oder Gesundheit, wie wir es nennen wollen, die sich aber immer wieder gelind zu Boden setzen und in der Masse unschädlich werden; dies aber, ist ein Volk erst fanatisirt und der verständigen Negierung Ordnung und Zügel aus den Händen gerissen, kann man von Libellen, politischen Flugschriften, Tageblättern oder religiösen Schwärmerbüchern gewiß nicht behaupten.

Fr. Wenn ich Sie verstehe, so meinen Sie, daß diese Erfindungen, indem sie sich einerseits an das Leben innigst anschmiegen, doch wieder dadurch, daß sie sich eben nur für Ersindung geben, und nicht absolute Wahrheit darstellen wollen, sich selbst wieder durch diese mannichfaltig gestellten Bedingungen sZnftigen. Wie sie aus Leichtsinn hervorgehen, so werden sie auch dem Leichtsinne wieder preisgegeben. Aber, ist dies wol derselbe Fall mit den Gedichten, in welchen die Leidenschaft der Liebe erregt und gelehrt wird, die das Herz zerreißen, indem sie es erheben wollen, und das empörte Gemüth bis zum Wahnsinn steigern können, um, wie es so oft heißt, die Seele zu malen und die Natur zu ergründen? Die schlimmen Einflüsse sind zu oft schon da gewesen, kehren nur allzuhäusig wieder, um vor dergleichen wild und zugleich allzu weichlich aufregenden Büchern unverschanzte Gemüther nicht warnen und bewahren zu müssen. — Sie schweigen?

Können wir diese Periode, welche Sie jetzt bezeichnen wollen, nicht die allerneueste nennen? Fängt sie nicht eigentlich mit dem Werther an?

Fr. Allerdings: wenn wir nicht Rousseau’s Neue Heloise voranstellen, die mir ebenfalls so merkwürdig und originell erscheint, daß ich immer geglaubt habe, der Werther hätte nicht entstehen können, wenn dieses wunderbare Buch nicht schon das neue Land aus der Ferne gesehen hätte.

Wenn Sie recht haben, so haben Sie auch schon Ihre Frage selbst, und zwar in meinem milderen Sinne beantwortet und anders gestellt.

Fr. Wie das?

Diese großen Erscheinungen sind dann eben nur merkwürdige und tiefsinnige Andeutungen der Geschichte und Anzeigen mächtiger und umgreifender Revolutionen in Verhältnissen des Lebens, Denkens und Empsindens. Und in wiefern diese Veränderungen des Innern, die anfangs oft dem blöden Auge noch unsichtbar bleiben, auch auf die äußere Geschichte und den großen Gang der Weltbegebenheiten, den Fortschritt und Rückschritt der Menschheit, die Bildung und den Charakter der Nationen wirken, bleibe dem ächten Geschichtschreiber zu bemerken und zu würdigen überlassen.

Fr. Sollte in der wahren Darstellung der Geschichte nicht beides zusammenfallen müssen? Nur möchte freilich die Ausführung von der höchsten Schwierigkeit sein.

Tristan da Cunha, The National Archives UKOhne Zweifel, im höchsten Sinne vielleicht unmöglich. — Darum eben ist der ächte Dichter so groß und lehrreich, für Gegenwart und Zukunft. Auf jener Schaukel, die sich erhebt und senkt, und auf welcher er, die Laute spielend, hin und wieder schwankt, erschaut er, wenn ihn die Begeisterung hoch hinauf wirft, neben der Muse sitzend, von oben viele Wunder und ihre Erklärung, die der Philosoph und der Wissenschaftkundige nicht sieht oder nicht versteht. Mit den ausgeströmten Liedern spielt dann die Menge, und Knaben und Thörichte ahmen sie nach, und dasjenige, was als ein Orakel aus geweihtem Munde erklang, wird oftmals bald Narrentheiding der schwatzenden Menge. Seit Rousseau, und noch mehr seit Werther, ist die Wunde des Lebens, die Krankheit der Liebe, weil sie schon vorher mit allen Schmerzen da war, auch der Menge durch geweihte Priester fühlbar und bekannt geworden. Wie oft war seit dem grauesten Alterthum in allen Zungen schon von der Liebe gesprochen worden; auch das Unglück dieser Leidenschaft und ihre tragischen Folgen waren schon, wie oft, bis zum Entsetzlichen gesungen; aber dennoch war allen Fühlenden, als sie den Werther lasen, als hätte noch niemand je das vernommen, als sei eine neue Sprache entdeckt. Wie lallte und stotterte alles in dieser Manier, und wie schwach süßlich klang der Mißverstand aus dem Siegwart und ähnlichen Büchern. Schon damals glaubten viele Deutsche, die Nation verdürbe an diesem Schmerz und dieser Weichlichkeit, und gutgemeinte Mittel aller Art, der Parodie und des seichtesten Spaßes wurden versucht, um nur wieder Gesundheit hervorzubringen. Und doch ist es gewiß, daß auch das blöde Auge die Natur seitdem anders betrachtet, daß selbst dem Kältesten Gefühle wunderbarer Natur dadurch näher getreten sind. Diese Auflösung des Lebens, diese Entfaltung des Geheimnißreichen unserer Brust, diese Angst und Freude klingt seitdem immerfort, am tiefsten schneidend und am zerstörendsten wol in dem Meisterwerke desselben großen Dichters, den Wahlverwandtschaften. Seit das Wort gefunden und ausgesprochen ist, läßt sich das Dasein dieser Krankheit weder mehr leugnen noch ignoriren, und wie sie schmerzend um sich greift, welche Kuren oder Palliative Religion und Staat oder Philosophie, mit Glück oder Unglück versuchen werden, muß die Folgezeit lehren; was wir in unsern Tagen haben beobachten können, was die Revolution unternahm, was in süßlichen oder aufgeklärt moralischen Büchern geschehen ist, war ungeziemend oder unbedeutend. Die laueste und ohnmächtigste Hülfe ist jenes Maskenspiel häuslichen Glücks, dessen kraftlose Heuchelei in so vielen gut gemeinten Büchern und langweiligen Familien seitdem herrscht. Wie mächtig tönt die Verzweiflung aus dem Faust? Und hat der Dichter beruhigende Töne aufgefunden? Kann er sie wol sinden? Ganz anders als im Hamlet erhebt sich die Angst der Seele und der Zwiespalt des Daseins. Der größte, der heilendste Trost ist immer der, daß das tödtendste Uebel dadurch schon gemildert wird, wenn der große Dichter nur das Wort gefunden und es ausgesprochen hat.

Fr. Und früher wäre diese Krankheit, wie Sie es nennen, noch niemals von der Poesie berührt oder angedeutet worden?

Die Ausgleichung des Lebens, die Enthüllung seiner Näthsel haben die Alten wenigstens in einem ganz andern Sinne versucht; und was sie in ihrer Tragödie Schicksal nannten, das Unbegreifliche, Unabwendbare, und wo Religion, Versöhnung, und der Schmerz den Schmerz selbst besiegte, alles dies Irrsal, das Ungeheure und Furchtbare, das immerdar das Menschengeschlecht mit ahndungsvollem Grauen umgibt, bedeutete ihnen ganz etwas anderes, löste sich milder oder großartiger, wenn gleich im Innersten selbst der Widerspruch und die Verzweiflung blieb. Aber sie deckten die Wurzel des Lebens nicht so vorwitzig auf, wie wir es gethan haben, die wir nur zu oft durch Anatomiren Kunde vom Geist und den Empsindungen zu erhalten streben.

Fr. So angesehen, muß Ihnen freilich alles, was damals in Deutschland gegen die sogenannte Empsindsamkeit geschah, nur in einem komischen Lichte erscheinen.

Um so mehr, da alles der Art, was die Kritik mit Recht tadelt, immer wieder von einer andern Seite hereinbricht, und als unverdächtig eingelassen wird. Ueber Siegwart glauben sie hinweg zu sein, viele Vernünftige tadeln ihn wol noch jetzt, und bewundern in dem herrlichsten Humoristen, Iean Paul, eine noch schlimmere Weichlichkeit, die, wenn sie jemals ein zartes Wesen ganz ergreifen sollte, es nothwendig völlig aushöhlen, und ihm auf eine Zeit lang allen Sinn für Wahrheit und Natur rauben müßte. Wer zuckt nicht über den verschollenen Cramer und seine rohen Ritterromane jetzt die Achseln? Selbst der Gemeinheit ist er zu gemein geworden, und doch schreit den feinsten Lesern aus manchem neuen gefeierten Autor das Aehnliche entgegen, ohne daß sie es im Enthusiasmus bemerken: manche Kapitel des weltberühmten Walter Scott erinnern mich an jene herabgesetzten Bücher, ohne daß ich darum das große Talent und die Ersindungsgabe dieses Autors zu verkennen brauche. England und Deutschland nennt jetzt manches im Tom Iones unsittlich, Iungfrauen wollen das Buch nicht mehr lesen oder gelesen haben, und erfreuen sich doch laut eines Clauren und ähnlicher Schriftsteller, gegen deren unsittliche Lüsternheit der Menschenkenner Fielding wahrhaft unschuldig ist. Ia, es gibt eine Darstellung der Keuschheit und Unschuld, im wirklichen Leben wie in so vielen gepriesenen Büchern, die einem freien Sinne und reinen Herzen höchst anstößig ist, und deren zu schamhafter Schamhaftigkeit man sich selber schämt, weil man hinter der moralischen Maske die verderbte Phantasie nur zu deutlich wahrnimmt. Auch die Engländer predigen in ihrem puritanischen Eifer zu oft diese falsche Sittlichkeit, sie lassen sich aber wenigstens die groben Widersprüche der Deutschen nicht zu Schulden kommen: der Muthwille ihres Sterne ist ihnen jetzt anstößig, aber in ihrer Prüderie verstehen sie auch unseres Goethe Wilhelm Meister nicht.

Fr. Vieles also, was die Welt Fortschritt des Zeitalters, Verbesserung der Sitten und Tugend, höheren moralischen Sinn, feineres und edleres Gefühl nennt, taufen Sie nach Ihren freigeistigen Ansichten nur als Mode?

Vieles, wie Sie sagen: das Rechte zu sinden, ist eben schwer und gelingt selbst den Besten nicht immer. Weiß ich doch, daß ich mit manchem verehrten Freunde wegen mancher jener edelmännischen Dichtungen in Streit gerieth, denen ich, wenn ich sie nicht komisch nahm, gar keine Seite des Verständnisses abgewinnen konnte. Ietzt hat freilich die Mode selbst längst wieder eingerissen, was sie aufbaute, und man ist nun schon gegen das Talent dieses Autors eben so unbillig, wie man es früher zu hoch erhob.

Tristan da Cunha, CaféFr. Ich hoffe, daß Sie diese Gedanken und Ueberzeugungen, die ich jetzt so zufällig von Ihnen vernehme, einmal gründlicher und umständlicher darlegen. Wie Sie in der neuesten Zeit eine Auflösung des Lebens sehen, des häuslichen, der Ehe und der Verhältnisse der Liebe, der Zufriedenheit, der Sicherheit und so weiter, so trat freilich um dieselbe Zeit auch ein Mißbehagen gegen den Staat und die öffentlichen großen Verhältnisse sichtbar hervor. Auch hier geschah das, was geschah, in einem andern, viel zerstörenderen Sinn, als in früheren Zeiten. Die Kraft der Zerstörung ist noch fühlbar, und das meiste, was zur Wiederherstellung versucht ist, scheint mir unverständig und ohnmächtig.

Eben, weil man nur wieder herstellen will, und mancher sogar denselben Thurm mit denselben Bausteinen, die zerschmettert vor seinen Füßen liegen. Neu sein, und doch alt, fortgehen in der Zeit, und doch nicht der Sklave jeder Thorheit werden, die Weisheit des Bestehenden, Festen, mit dem spielenden Witz des Wandelbaren verknüpfen, diese Widersprüche zu lösen, war die große Aufgabe aller Zeiten, wenn nicht das Starre bald welken und abbrechen, oder der flatternde Schmetterling der Tagesneuigkeit für Kraft und Schönheit gelten soll. Freilich mag es in unserm Iahrhundert schwieriger sein, als ehemals, weil alles verwickelter, künstlicher gestaltet ist, und die Revolution zu schmerzhaft und abschreckend gelehrt hat, daß das Durchhauen wol nur einem Alexander, und auch nur bei einem geflochtenen Knoten zu verzeihen ist.

Fr. Und wo bleiben die Romane? oder gar unsere Insel Felsenburg, von welcher wir anhoben? Ist es nicht dennoch verdächtig, ein Buch wieder auftreten zu lassen, dessen barbarische Schreibart uns empsindlich daran erinnert, wie zu derselben Zeit Richardson und Fielding, vieler anderer zu geschweigen, den Engländern ihre gebildeten Werke gaben? So wie Frankreich schon damals seine berühmtesten Autoren besaß.

Die Deutschen erwachten eben später, weil sie in dem ungeheuern Bürgerkriege zu ohnmächtig geworden waren. Wo alles verloren gegangen war, konnte sich die Literatur nicht retten. Seit dem großen Umschwung aller Verhältnisse durch die Reformation war der Kampf gegen das Papstthum, das an die Stelle der Hierarchie getreten war, eingeleitet, mit ihm der Streit gegen den Ueberrest des Kaiserthums, dessen hohe Würde im fünften Karl noch einmal und zum letztenmal hell aufgeleuchtet hatte. Alles, was fest bestanden, was die Welt regieret und geordnet hatte, versank, und es schien kaum möglich, bei der allgemeinen Zertrümmerung noch neue Stützen aufzusinden. Ein kläglicher Friede, der aus der allgemeinen Ohnmacht hervorging, schläferte endlich die letzten Kräfte betäubend ein. Hundert Iahr später erhob sich der Streit wieder, nicht mehr gegen Kirche und Papst, sondern gegen das Christenthum selbst, gegen die Religion ohne Weiteres, und in diesem Gelüst nach Auflösung, in welchem zugleich ein Krieg gegen Stände und Verfassung, gegen Geistlichkeit und Adel, gegen König und Gesetz hervorbrach, zeigte sich auch endlich jenes Streben, welches wir vorher bezeichneten, Ehe, Liebe, Treue, Häuslichkeit, Verstand und Vernunft durch eben so phantastische Sehnsucht als tiefsinnige Melancholie aufzulösen, und alles einem verzweifelnden Lebensüberdruß preiszugeben. Wie hat man nun auch hier den Grund und Boden wiedersinden wollen! Möchte derjenige, dem Frömmigkeit und Wahrheit ein Bedürfniß ist, nicht fast jene alte verrufene Aufklärung wieder zurückwünschen, die doch wenigstens redlich war, und doch etwa nur Christenthum, und was sie Schwärmerei nannte (freilich auch unendlich viel), verfolgte? da die neue Religiosität ihren Eifer darin zeigt, alles, was noch irgend Wahrheit und Schönheit bietet, Kunst, Poesie, Philosophie und Wissenschaft, bilderstürmerisch zu vernichten, und sich selbst zugleich? Mit dem Fanatismus, das ewig Wahre in jeder Verirrung zu tödten?

Fr. In dem Einschlag der vielfarbigen Lebenstapete werden aber, so hoffe ich, von dem Webemeister schon muntere und helle Fäden eingelegt sein, die auch wol schon in Bewegung sind, um das Gemälde mit Lichtern zu erfreuen.

Sie rührte wol sonst — weder Zeichnung noch Ausführung — von keinem weisen Meister her. — Von diesem Standpunkte aus, wo wir über so vieles Wichtige zu klagen Ursach fänden, möchten wir aber die Romane, die doch fast alle ziemlich unschuldig sind, nur unten in der Menge ungestört umlaufen lassen, bald dieses, bald jenes Bedürfniß befriedigend, vermittelnd, die Trauer und den Schmerz des Lebens sänftigend, sich an die Poesie lehnend, und vieles Wahre und Unwahre verspottend. Denn noch schlimmer wäre es, wenn der Mensch nicht seinem Treiben und so oft falschem Eifer wieder selbst hemmende Kräfte einschöbe, um sich das, was er das Gute und Rechte nennt, zu erschweren und zu verzögern. Verfährt die sogenannte Natur doch eben auch nicht anders.

Fr. In diesem Sinne könnte aber eine nicht uninteressante Geschichte der Nomanenlecture geschrieben werden. Wir haben in unserer Literatur viel mit den Worten „Naiv“ und „Sentimental“ gespielt: mir scheint, als könne man dergleichen Benennungen, wenn man sich erst über die Bedeutung der Zeichen verstanden hat, auch auf Zeitalter übertragen. In diesem Sinne möchte man die Iahre seit Rousseau, im Gegensatz der früheren, sentimental nennen, und jene früheren, da sie alle die Bedürfnisse, die sich seitdem ausgesprochen haben, noch nicht kannten, mit naiv bezeichnen.

Am meisten aber die Versuche jener Schriftsteller, die noch ohne Kunst und Bildung, ohne eigentliches Studium, aber auch ohne alle Kränklichkeit und süße Verweichlichung, wie ohne falsches Bewußtsein und literarischen Hochmuth, nur ihrer Phantasie und den Eingebungen ihrer Laune so bescheiden und redlich folgten, und eben deshalb so vieles in einem richtigen Verhältnis?, ja mit einem großartigen Verstande darstellen konnten, was bei anscheinend größern Mitteln so vielen ihrer Nachfolger, die so oft das Verzerrte für das Geniale nahmen, nicht gelingen wollte. Und so wären wir denn doch wieder zu unserer Insel Felsenburg gelangt. Ich weiß wohl, daß lange Zeit dieser Name bloß galt, um etwas ganz Verächtliches zu bezeichnen. Auel, damals noch, als der Rivaldo Rinaldini (das trockenste, was je diese Art Literatur hervorgebracht hat) viele Editionen und selbst eine Prachtausgabe erlebte. Aber eben, weil jene treuherzige Chronik der Insel, und das Leben des Altvaters, so wie die Erzählungen der Bewohner und Ankömmlinge, aus jener naiven Zeit herrühren, sind sie in unserer verwirrten und verstimmten Zeit von neuem, und mehr wie so vieles andere, ergötzlich und lehrreich, ja sie können für Manchen, der vor Allwissen nicht aus und ein weiß, wahrhaft erbaulich werden. Dieser Autor, welcher in jenen Iahren viele Bücher geschrieben hat, zeigt eine vielseitige Kenntniß seines Zeitalters und des damaligen Wissens, auch Chemie, Astrologie und die Goldmacherkunst sind ihm nicht fremd, er hat die Menschen mit scharfem und sicherem Auge beobachtet. Vorzüglich interessant sind die mannichfaltigen Lebensbeschreibungen der Colonisten, von denen fast alle den ächten Beruf eines Schriftstellers beurkunden. Wenn also der neue Bearbeiter nur den Canzleisiyl jener Tage mildert und verbessert, vorzüglich aber manche Stellen des Buches abkürzt, am meisten die Beschreibungen des Gottesdienstes, welche zu oft wiederkehren und für einen Roman mit zu großer Vorliebe ausgemalt sind, kurz, wenn er, ohne das Gute zu verkennen, nur das ausläßt oder neu darstellt, was als bloße Zufälligkeit jener Tage sich dem Buche einmischte, so hat er der Lesewelt ohne Zweifel ein lobenswerthes Werk wieder in die Hände gegeben, die ihm für seine Bemühung danken muß.

Fr. Ein berühmter dänischer Dichter, Oehlenschläger, hat mit dem deutschen Bearbeiter zugleich dies Buch angekündigt.

Ein Zeichen, wie sehr man etwas Besseres und Veraltetes in unserer neuen Zeit wieder bedarf.

Fr. Nur nicht wörtlich, wie Sie bemerken.

So wenig als die Vorzeit im Staat, welche Anmerkung wir auch schon gemacht haben.

Fr. Und Ihre versprochene Vorrede?

Unser Gespräch kann diese vielleicht vertreten.

Internet Café

Bilder: NASA Terra ASTER image of Tristan da Cunha Island, South Atlantic Ocean, 25. Oktober 2006;
Karte der Insel Felsenburg für den Roman;
The National Archives UK: Tristan da Cunha, 1927;
Brian Gratwicke: Tristan da Cunha, Urlaubsfotos März 2012.

Belohnungslied nach 71 kB Nettobuchstaben: Marius Müller-Westernhagen: Auf ’ner einsamen Insel,
aus: Ja Ja, 1992 — sein letztes richtig gutes Lied:

Written by Wolf

4. November 2016 at 00:01

Veröffentlicht in Aufklärung, Land & See, ~~~Olymp~~~

Wie werde ich Schriftsteller? (Von den Exkrementen hirnloser Köpfe)

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Update zu Die alte und neue Inertia (Warum hast du nichts gelernt?):

Zur Frankfurter Buchmesse wird ja wieder turnusmäßig lamentiert, wer das alles lesen soll. Wir bringen deshalb im Text zahlreiche gute Gründe, alles, bloß kein kein Schriftsteller zu werden, und im Bild ein paar gute Gründe, doch Schriftsteller zu werden.

Audrey Hepburn ReadsDer Abratende ist glaubwürdig, denn kein Vater würde seinem Sohn im Ernst empfehlen, den Sockel seiner Existenz auf das geschriebene Wort zu setzen (auf das gesprochene sonderbarerweise schon). Der Abratende macht sich wiederum unglaubwürdig, indem er selbst Schriftsteller ist.

Mehr noch: Christoph Martin Wieland war Bestsellerautor; noch mehr: ein Viertel des „Weimarer Viergestirns„, also in einer seit Jahrhunderten als selbstverständlich hingenommenen Reihe mit Herder, Goethe und Schiller. Dass er einer der ganz wenigen deutschen Klassiker werden sollte, war noch nicht so zu benennen, aber schon zu seiner langen Wirkungszeit nicht anders zu erwarten.

Desto erstaunlicher ist es zu lesen, wie sich dieser Halbgott von Ausnahmekünstler offenbar mit den gleichen Problemen wie ich kleinstes aller Lichter herumgeschlagen hat: Er balgt sich mit der Konkurrenz, die er selbstmörderisch unterbieten muss, um Textaufträge, übersetzt im selbstruinierten Akkord um sein Leben, leistet sich aller fünf Jahre eine neue Klamotte, beneidet den gerne verachteten Kotzebue um seinen Verdienst und stellt aus Kostengründen seine oft im Alleingang bestückte, verlegte und vertriebene Zeitschrift ein — er allerdings nach 30 Jahren in einem Verbreitungsgebiet zwischen Riga und Triest.

Ähnliches hat mein Vater mir gesagt, und Väter werden in gleicher Tonart fortfahren, Söhne von ruinösen Erwerbszweigen abzuhalten und zu einträglichen zu ermutigen. Leider bin ich selbst der Vater von nichts und niemandem, aber befragt, würde ich empfehlen, lieber Bestatter zu lernen: Gestorben wird immer.

Marilyn Monroe Reads.

——— Christoph Martin Wieland:

An Ludwig F. A. Wieland in Bern

Brief an seinen Sohn Ludwig Wieland, Tiefurt, angefangen den 9. August 1802,
cit. die vollständigste Version außerhalb großer Gesamtausgaben: Wieland-Lesebuch, Insel Verlag 1983:

Debbie Harry Reads MadWeißt Du auch was Schriftstellerei, als Nahrungszweig getrieben, an sich selbst, und besonders heut zu Tag in Deutschland ist? Es ist das elendeste, ungewisseste und verächtlichste Handwerk, das ein Mensch treiben kann – der sicherste Weg im Hospital zu sterben. Das Bettlerhandwerk nährt seinen Mann besser und ist kaum schmählicher. Hast du dich geprüft? Kannst du in einem Dachstübchen des Winters frieren, des Sommers dorren? Kannst du von Salz und Brot und Kartoffeln leben, so oft du dich nicht etwa bei andern, die ein besseres ordinaire haben, zu Gaste bittest? Jene magere Kost und alle 5 Jahre ein neuer Caputrock von Görlitzer Tuch, ist alles, wozu ich dir bei der Schriftstellerei, wie du es nennst, Hoffnung machen kann, wofern du nicht etwa, als Corrector in Druckereien oder durch irgend einen andern modum acquirendi dieser Art, Mittel findest, dein Einkommen zu verbessern. — Und mit was für Zweigen deines neuen Gewerbes denkst du dich zu nähren? Mit Übersetzenwaren sonst ein paar Taler per Bogen zu verdienen; aber diese Innung ist so fürchterlich übersetzt, daß die Arbeit das Salz und den Lausewenzel nicht mehr abwirft, den diese Ehrenmänner, um den Hunger dadurch abzutöten, rauchen müssen. Auf jede neue Brochure, die in Frankreich und England herauskommt, warten 10 Übersetzer mit weitoffnen Mäulern; der Buchhändler, dessen Profit bei dergleichen Sachen gewöhnlich auch sehr gering ist, gibt das Buch dem wohlfeilsten Arbeiter, und dieser muß sich zu Schanden abschächern, wenn er täglich soviel als ein Holzhacker verdienen will. Ich weiß, was du mir sagen wirst — Romane, Schauspiele, Zeitschriften, Taschenbücher — und die Beispiele von Goethe, Schiller, Richter, Kotzebue, La Fontaine. In der Tat machen diese fünf eine Ausnahme; aber was sind 5 gegen mehr als 6000 Buchmacher, die es jetzt gibt? […] Der Buchhandel liegt in einem so tiefen Verfall und wird mit jeder Messe so viel schlechter, daß selbst angesehene Buchhändler erschrecken, wenn ihnen ein Manuskript, das nicht einen schon berühmten Namen zum Garant hat, angeboten wird. Die Buchläden sind mit Romanen und Theeaterstücken aller Art dermaßen überschwemmt, daß ihnen jeder Taler zu viel ist, den sie für ein Schauspiel, das nicht von Kotzebue oder Schiller, oder einen Roman, der nicht von Richter, La Fontaine oder Huber kommt, geben sollen. […] Mit Journalen ist vollends gar nichts mehr zu verdienen; es stechen zwar alle Jahre etliche Dutzend neue, wie Pilze aus sumpfichtem Boden, aus den schwammichten Wasserköpfen unsrer literarischen Jugend hervor; aber es sind Sterblinge, die meistens das zweite Quartal nicht überleben. Die alten Journale sind bisher immer noch die dauerhaftesten gewesen; aber auch diese nehmen mit jedem Jahrgange ab, und der ‚Teutsche Merkur‚, der sich dreißig Jahre erhalten hat, wird, allem Anscheine nach, mit diesem Jahre seine corvée beschließen. […]

Lauren Bacall ReadsIch gestehe gern, daß alles, was ich von der Misere der Schriftstellerei, als modus acquirendi betrachtet, gesagt habe, einige Modifikation erleiden möchten wenn die Rede von einem jungen Manne wäre, der sich aus Drang eines inneren Berufs, mit dem Bewußtsein großer und ungemeiner Geisteskräfte und Talente, folglich mit einer vorgefühlten Gewißheit, Sensation in unsrer geschmacklosen, erschlafften und am liebsten von den Exkrementen hirnloser Köpfe sich nährenden Lesewelt zu machen, zur Schriftstellerei entschließen wollte. Ich weiß nicht, ob du dieser junge Mann bist, wiewohl ich einige Ursache habe, sehr daran zu zweifeln. […] Du glaubst Talent für die echte Komödie zu haben! Es mag sein, daß du Anlage dazu hast; aber damit reichst du nicht aus: es gehört noch ein großer Fond von Welt und Menschenkenntnis, aus Erfahrung und Umgang mit allen Arten von Menschen und allen Ständen und Klassen geschöpft, dazu, den du dir unmöglich schon erworben haben kannst; es gehören Studien dazu, die du nicht gemacht hast, und eine Fertigkeit und Gewandtheit des Stils, wovon ich noch keine Probe von dir gesehen habe. Doch, auf alles das läßt sich am Ende eine Antwort geben, die allem Streit ein Ende macht. Schreibe eine Komödie, die in Deutschland wirklich Sensation macht, die zu Berlin, Wien, Frankfurt, etc. zehnmal hintereinander gegeben wird, die jeder Theaterdirektor haben will, — und ich verstumme. […]

Ich habe dir nun, mein lieber Louis, über […] die Schriftstellerei, als angeblich einzigen dir übrigbleibenden Nahrungszweig […] meine Gedanken mit der Offenheit eröffnet, die einem Vater gegenüber seinen Sohn Pflicht ist. […] Seit dem Tode deiner guten Mutter haben sich die Umstände sehr verändert. Ich kann und werde nicht länger zu Oßmannstedt leben, sondern werde, sobald als möglich wieder in die Stadt ziehen. Den größten Teil der Sommerszeit habe ich in Tiefurt bei der Herzogin zugebracht, und gehe, nach einem Aufenthalt von wenigen Tagen im Schoß meier Familie, morgen wieder dahin zurück. Ich bin im Begriff das mir äußerst lästig gewordene Oßmannstedtische Gut zu verkaufen, um mich von den Schulden, in die es mich gesteckt hat, frei zu machen, und den Rest meiner Tage ohne Sorge und Kummer zu verleben. Ich behalte bloß Haus und Garten in Oßmannstedt, weil deiner Mutter Grab darin ist und ich selbst neben ihr begraben sein will. […]

Wonder Woman Reads.

Gute Gründe, Schreiber zu werden: Audrey Hepburn, Marilyn Monroe, Debbie Harry, Lauren Bacall und Wonder Woman lesen — via Awesome People Reading.

Soundtrack: Ein Schreiber, der nicht schreibt: der 37-jährige Jerry Lewis in: Who’s Minding the Store? (deutsch: Der Ladenhüter), 1963. Seine beiläufig entgleisende Mimik ist bis heute einzigartig.
Musik: Joseph J. Lilley:

Written by Wolf

21. Oktober 2016 at 00:01

Veröffentlicht in Aufklärung, Handel & Wandel

Wie Franz Melchior von Bremen sich einmal einer Bastonade gewärtigte

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Update zu Grabesdunstwitterlich:

Eine Lanze gilt’s zu brechen für die Volksmärchen von Musäus.

Stumme LiebeSeine Sammlung Volksmärchen der Deutschen ist drei Jahrzehnte älter als die bekanntere der Brüder Grimm (ab 1812) und ein gut Teil „deutscher“ als die von Ludwig Bechstein (ab 1845), der vor welschen Stoffen nicht zurückschreckte. Thematisch stehen die Märchen den Deutschen Sagen nahe, ebenfalls von den Brüdern Grimm (ab 1816), verbreiten sich aber ungleich ausführlicher. In der Stärke sind alle fünf Teile, erschienen zwischen 1782 und 1786, den Grimmschen Kinder- und Hausmärchen vergleichbar, umfassen aber statt Grimms 200 autorisierten Märchen deren nur 14 — nicht als möglichst authentisch eingefangener Volksmund nach der Auffassung von Jacob Grimm, sondern literarische Bearbeitungen nach der Auffassung von Wilhelm Grimm. Musäus hegt weder falsche Scheu vor dem langen Atem noch vor waghalsigen Handlungsbrüchen, die außerhalb eines jahrhundertelang organisch veränderten Stoffs nicht zu vertreten wären.

Heute muss niemand mehr glauben, dass der Zeitraum zwischen Antike und Neuzeit ein geschlagenes Jahrtausend andauern und dabei mit dem Sammelbegriff „Mittelalter“ ein für allemal zutreffend beschrieben werden könne. Musäus deckt mit seinen vierzehn Märchenstoffen die ganzen heterogenen, je nach Definiton acht bis zwölf Jahrhunderte ab und alle europäischen Gegenden, die währenddessen jemals deutsch waren, dazu. Dabei schafft er das Kunststück, jedes Märchen in einem unterschiedlich archaisierenden Tonfall zu verfassen. Der Mann hat einen enormen Wortschatz, der ohne historisches Studium diachronisch und diatopisch nicht so punktgenau einzusetzen wäre. Das halte ich für beispiellos.

Das längste und bekannteste der Musäus-Märchen, bei denen allzeit unklar bleibt, ob wir es bei ihnen wie ausgewiesen mit Volksmärchen oder nach den tiefgreifenden Bearbeitungen doch schon mit Kunstmärchen zu tun haben, sind die Legenden vom Rübezahl aus Böhmen im zweiten Teil, die allerdings naturgemäß in sich unterteilt sind. Ein unbekannteres, dabei eins der längsten voll allerhand dramaturgischer Kapriolen, ist Stumme Liebe aus dem hanseatischen Bremen — bis Antwerpen samt westfälischem Zwischenreich — im vierten Teil.

Gang der Handlung: Um 1530 bringt der Bremer Kaufmannssohn Franz Melchior das schier unüberschaubare Erbe seines Vaters mehr aus Gutmütigkeit gegenüber falschen Freunden denn aus Verschwendungssucht durch und muss aus Armut eine Kammer in einer ärmlichen Gegend beziehen. Gegenüber wohnt eine Näherin mit ihrer sehr hübschen Tochter Meta. Die jungen Leute verlieben sich von aller Welt unbemerkt ineinander und können nur auf dem sonntäglichen Kirchgang heimlich Blicke tauschen (die „stumme Liebe“ als Romeo-und-Julia-Thema). Eine Werbung um die Hand der Tochter wäre aussichtslos für den verarmten Franz, weil die Mutter sich eine wirtschaftliche Verbesserung durch eine gute Heiratspartie ihrer Tochter erhofft und niemals einwilligen würde. Deshalb verabschiedet sich Franz von Meta durch eine versteckte Botschaft, die er dem Pastor von der Kanzel zu verlesen aufgibt, und reist nach Antwerpen, um alte Schulden von Geschäftspartnern seines Vaters einzutreiben. Damit hat er keinen Erfolg, sitzt vielmehr selbst kurzzeitig im Antwerpener Schuldturm ein, wird aus Gründen der Steuerersparnis entlassen (Sozialkritik) und tritt den Heimweg an. In einem Spukschloss, in dem er unterwegs übernachten darf, erweist er dem Poltergeist zufällig den richtigen Dienst, der ihn von seinem Fluch — und das zugehörige Dorf von ihm — befreit. Zum Dank verrät ihm der Geist noch, dass er sich am kommenden Herbstanfang auf der Bremer Weserbrücke einfinden müsse, um jemanden zu treffen, der ihm sein Glück bereiten kann. Franz folgt dem Rat, hält den Termin ein und treibt sich den ganzen bezeichneten Tag lang auf der Brücke herum. Niemand erscheint, sodass sich Franz nur mit einem der Bettler unterhalten kann, die auf der Brücke für gewöhnlich ihrem Gewerbe nachgehen. — Ich vermeide hier Spoiler, darf aber verraten: Das Ende ist ein so gutes wie durchaus überraschendes.

Stumme LiebeWahr und gut und schön und meines Wissens die einzige, die etwas Grundlegenderes bringt als eine kindgerechte Version vom Rübezahl, ist die Winkler-Ausgabe, die immer wieder jemand beim großen bösen Steuerhinterziehungsriesen halb verschenkt. Nach ihr wird der folgende Schwank aus Stumme Liebe zitiert. Die wenigsten orthographischen Auffälligkeiten darin sind Schreibfehler, weil Musäus eine besonders eigenwillige Schreibweise pflegt. Das Nachwort erklärt dazu:

Eine der Hauptschwierigkeiten, der man sich bei der Herausgabe von Werken aus früherer Zeit (etwa bis Mitte des 19. Jh.) gegenübersieht, ist die Frage: Was ist Spracheigenheit, und was ist Druckfehler? Gerade hier ist man mit dem Verbessern sehr schnell bei der Hand; aber mancher „offensichtliche“ Druckfehler ist bei näherem Hinschauen gar nicht so offensichtlich. Hierfür aus dem vorliegenden Band nur zwei Beispiele. Auf Seite 255/18 [in den Legenden vom Rübezahl] heißt es: die Schicksale des Abenteuers … Man hat hier in das naheliegende Abenteurers verbessert, indes gibt es die Nebenform Abenteuer = Mißgestalt, und in der Tat handelt es sich um eine solche. Kann man im vorliegenden Fall keiner der beiden Formen den Vorzug geben, so liegt der Sachverhalt bei folgendem „Druckfehler“ schon etwas klarer. Seite 262/38 [immer noch Rübezahl] ist die Rede von Beuteln, in denen das Geld wohl druhe. Hier hat man in das naheliegende ruhe verbessert; dennoch ist an dieser Stelle das originale druhen, welches so viel wie gedeihen, zunehmen, Profit bringen bedeutet, vorzuziehen. Im Grimmschen Wörterbuch ist die zitierte Stelle überdies als Beleg angeführt. Die vorliegende Ausgabe hat daher nur in wirklich eindeutigen Fällen stillschweigend verbessert, d. h. wo etwa in dem Wörtchen den anstelle des n ein u gesetzt wurde.

Und das ist schon der halbe Spaß.

Stumme Liebe

——- Johann Karl August Musäus:

Stumme Liebe

aus: Volksmärchen der Deutschen, Vierter Teil, 1786, Auszug:

Tief in dem öden Westfalen ritt er an einem schwülen Tage bis in die sinkende Nacht, ohne eine Herberge zu erreichen. Es türmten sich gegen Abend Gewitterwolken auf, und ein heftiger Platzregen durchnäßte ihn bis auf die Haut. Das fiel dem Zärtling, der von Jugend an aller ersinnlichen Bequemlichkeiten gewohnt war, sehr beschwerlich, und er befand sich in großer Verlegenheit, wie er die Nacht in diesem Zustande hinbringen sollte. Zum Trost erblickte er, nachdem das Ungewitter vorüber gezogen war, ein Licht in der Ferne, und bald darauf langte er vor einer dürftigen Bauerhütte an, die ihm wenig Trost gewährte. Das Haus glich mehr einem Viehstalle als einer Menschenwohnung, und der unfreundliche Wirt versagte ihm Wasser und Feuer, wie einem Geächteten, denn er war eben im Begriff, neben seine Stiere sich auf die Streue zu wälzen, und zu träge, um des Fremdlings willen das Feuer auf dem Herde wieder anzufachen. Franz intonierte aus Unmut ein klägliches Miserere, und verwünschte die westfälischen Steppen mit emphatischen Flüchen. Der Bauer ließ sich das wenig anfechten, blies mit großer Gelassenheit das Licht aus, ohne von dem Fremdling weiter Notiz zu nehmen, denn er war der Gesetze des Gastrechts ganz unkundig. Weil aber der Wandersmann vor der Tür nicht aufhörte, ihm mit seinen Lamenten Überlast zu machen, die ihn nicht einschlafen ließen, suchte er mit guter Art seiner los zu werden, bequemte sich zum Reden und sprach: „Landsmann, so Ihr Euch wollt gütlich tun und Euer wohl pflegen, so findet Ihr hier nicht was Ihr suchet. Aber reitet dort, linker Hand, durch den Busch, dahinter liegt die Burg des ehrenfesten Ritters Eberhard Bronkhorst, der herbergt jeden Landfahrer, wie ein Hospitalier die Pilger vom Heilgen Grabe. Nur hat er einen Tollwurm im Kopf, der ihn bisweilen zwickt und plagt, daß er keinen Wandersmann ungerauft von sich läßt. So Euch’s nicht irret, ob er Euch das Wams bläuet, wird’s Euch bei ihm baß behagen.“

Für eine Suppe und einen Schoppen Wein die Ribben einer Bastonade preiszugeben, ist freilich nicht jedermanns Ding, obwohl die Schmarotzer und Tellerlecker sich rupfen und zausen lassen, und alle Kalamitäten der Übermütler willig dulden, wenn ihnen der Gaumen dafür gekitzelt wird. Franz bedachte sich eine Weile, und war unschlüssig, was er tun sollte, endlich entschloß er sich dennoch, das Abenteuer zu bestehen. „Was liegt daran“, sprach er, „ob mir hier auf einer elenden Streu der Rücken geradebrecht wird, oder vom Ritter Bronkhorst? Die Friktion vertreibt wohl gar das Fieber, das im Anzuge ist, und mich wacker schütteln wird, wofern ich die nassen Kleider nicht trocknen kann.“ Er gab dem Gaul die Sporen, und langte bald vor der Pforte eines Schlosses von altgotischer Bauart an, klopfte ziemlich deutlich an das eiserne Tor, und ein ebenso vernehmliches „Wer da?“ hallete ihm von innen entgegen. Dem frostigen Passagier kam das lästige Passagezeremoniell der Torwächterinquisition so ungelegen als unsern Reisenden, die mit Recht über Wächter- und Mautamtsdespotismus, bei Toren und Schlagbäumen, seufzen und fluchen. Gleichwohl mußte er sich dem Herkommen unterwerfen und duldsam abwarten, ob der Menschenfreund im Schlosse bei Laune sei, einen Gast zu prügeln, oder geruhen würde ihm ein Nachtlager unter freiem Himmel anzuweisen.

Der Eigentümer der alten Burg hatte von Jugend an, als ein rüstiger Kriegsmann im Heere des Kaisers, unter dem wackern Georg von Fronsberg gedienet, und ein Fähnlein Fußvolk gegen die Venediger angeführet, sich nachher in Ruhe gesetzt, und lebte auf seinen Gütern, wo er die Sünden der ehemaligen Feldzüge abzubüßen, viel gute Werke verrichtete, die Hungrigen speiste, die Durstigen tränkte, die Pilger herbergte, und die Beherbergten wieder aus dem Hause prügelte. Denn er war ein roher wüster Kriegsmann, der des martialischen Tons sich nicht wieder entwöhnen konnte, ob er gleich seit vielen Jahren in stillem Frieden lebte. Der neue Ankömmling, der bereitwillig war, gegen gute Bewirtung sich der Sitte des Hauses zu unterwerfen, verzog nicht lange, so rasselten von innen die Riegel und Schlösser am Tor, die keuchenden Türflügel taten sich auf, als wenn sie durch den Jammerton, den sie hören ließen, den eintretenden Fremdling warneten, oder beseufzeten. Dem bangen Reisigen überlief’s mit einem kalten Schauer nach dem andern den Rücken herab, als er durch das Tor einritt, demungeachtet wurde er wohl empfangen: einige Bediente eilten herbei, ihm aus dem Sattel zu helfen, erzeigten sich geschäftig das Gepäck abzuschnallen, den Rappen in den Stall zu ziehen, und den Reuter zu ihrem Herrn in ein wohlerleuchtetes Zimmer einzuführen.

Das kriegerische Ansehn des athletischen Mannes, der seinem Gaste entgegenkam, und ihm so nachdrücklich die Hand schüttelte, daß er hätte laut aufschreien mögen, auch ihn mit stentorischer Stimme willkommen hieß, als wenn der Fremdling taub gewesen wär, übrigens ein Mann in seinen besten Jahren schien, voll Feuer und Tatkraft, setzte den scheuen Wanderer in Furcht und Schrecken, also, daß er seine Zagheit nicht verbergen konnte, und am ganzen Leibe erbebte. „Was ist Euch, junger Gesell“, frug der Ritter, mit einer Donnerstimme, „daß Ihr zittert wie ein Espenlaub, und erbleichet als woll Euch eben der Tod schütteln?“ Franz ermannete sich, und weil er bedachte, daß seine Schultern nun einmal die Zeche bezahlen müßten, ging seine Poltronnerie in eine Art Dreustigkeit über. „Herr“, antwortete er traulich, „Ihr seht, daß mich der Platzregen durchweicht hat, als sei ich durch die Weser geschwommen. Schaffet, daß ich meine Kleider mit trocknen wechseln kann, und lasset zum Imbiß ein wohlgewürztes Biermus auftragen, das den Fieberschauer vertreibe, der an meinen Nerven zuckt: so wird mir wohl ums Herz sein.“ „Wohl!“ gegenredete der Ritter, „heischt was Euch not tut. Ihr seid hier zu Hause.“

Stumme LiebeFranz ließ sich bedienen wie ein Bassa, und weil er nichts anders als Podoggen zu erwarten hatte, so wollte er sie verdienen, foppte und neckte die Diener, die um ihn geschäftig waren, auf mancherlei Weise, es kommt, dacht er bei sich, doch alles auf eine Rechnung. „Das Wams“, sprach er, „ist für einen Schmerbauch, bringt mir eins, das genauer auf den Leib paßt; dieser Pantoffel brennt wie Feuer auf dem Hühnerauge, schlagt ihn über den Leisten; diese Krause ist steif wie ein Brett und würgt mich wie ein Strick, schafft eine herbei, die mir sanfter tue, und durch keinen Stärkenbrei gezogen sei.“

Der Hausherr ließ über diese bremische Freimütigkeit so wenig einen Unwillen spüren, daß er vielmehr seine Diener antrieb, hurtig auszurichten, was ihnen befohlen war, und sie Pinsel schalt, die keinen Fremden zu bedienen wüßten. Als der Tisch bereitet war, setzten sich Wirt und Gast, und ließen sich beide das Biermus wohl behagen. Bald darauf trug jener: „Begehret Ihr auch etwas zur Nachkost?“ Dieser erwiderte: „Laßt auftragen was Ihr habt, daß ich sehe, ob Eure Küche wohl bestellt sei.“ Alsbald erschien der Koch und besetzte den Tisch mit einer herrlichen Mahlzeit, die kein Graf würde verschmähet haben. Franz langte fleißig zu, und wartete nicht bis er genötiget wurde. Als er sich gesättiget hatte, sprach er: „Eure Küche, seh ich, ist nicht übel bestellt, wenn’s um den Keller auch so stehet, so muß ich Eure Wirtschaft fast rühmen.“ Der Ritter winkte dem Kellner, dieser füllte flugs den Willkommen mit dem gewöhnlichen Tischwein und kredenzte ihn seinem Herrn, der ihn auf die Gesundheit des Gastes rein ausleerte. Drauf tat Franz dem Junker ehrlichen Bescheid, welcher sprach: „Lieber, was saget Ihr zu diesem Weine?“ „Ich sage, daß er schlecht sei“, antwortete Franz, „wenn’s vom besten ist, den Ihr auf dem Lager habt, und daß er gut sei, wenn’s Eure geringste Nummer ist.“ „Ihr seid ein Schmecker“, entgegnete der Ritter: „Kellner, zapf uns aus dem Mutterfasse!“ Der Schenke brachte einen Schoppen zum Kostetrunk, und als ihn Franz versucht hatte, sprach er: „Das ist echter Firnewein, dabei wollen wir bleiben.“

Der Ritter befahl einen großen Henkelkrug zu bringen, und trank sich mit seinem Gaste heiter und froh, fing an von seinen Kriegszügen zu reden, wie er gegen die Venediger zu Felde gelegen, die feindliche Wagenburg durchbrochen und die welschen Scharen wie die Schafe abgewürgt habe. Bei dieser Erzählung geriet er in einen solchen kriegerischen Enthusiasmus, daß er Flaschen und Gläser niedersäbelte, das Trenchiermesser wie eine Lanze schwang, und seinem Tischgenossen dabei so nahe auf den Leib rückte, daß diesem für Nase und Ohren bange war.

Es wurde spät in die Nacht, gleichwohl kam dem Ritter kein Schlaf in die Augen, er schien recht in seinem Elemente zu sein, wenn er auf den Kriegszug gegen die Venediger zu reden kam. Die Lebhaftigkeit der Erzählung mehrte sich mit jedem Becher, den er ausleerte, und Franz fürchtete, daß dieses der Prolog zu der Haupt- und Staatsaktion sein möchte, bei welcher er die interessanteste Rolle spielen sollte. Um zu erfahren, ob er innerhalb oder außerhalb des Schlosses pernoctieren werde, begehrte er einen vollen Becher zum Schlaftrunk. Nun meinte er, werde man ihm den Wein erst einnötigen, und wenn er nicht Bescheid tät, ihn unter dem Scheine eines Weinzwistes, nach der Sitte des Hauses, mit dem gewöhnlichen Viatikum fortschicken. Gegen seine Erwartung, wurde ihm ohne Widerrede gewillfahrt, der Ritter riß augenblicklich den Faden seiner Erzählung ab, und sprach: „Zeit hat Ehre, morgen mehr davon!“ „Verzeihet, Herr Ritter“, antwortete Franz, „morgen wenn die Sonne aufgehet, bin ich über Berg und Tal, ich ziehe einen fernen Weg nach Brabant und kann hier nicht weilen. Darum beurlaubt mich heut, daß mein Abschied morgen Eure Ruhe nicht störe.“ „Tut, was Euch gefällt“, beschloß der Ritter; „aber scheiden sollt Ihr nicht von hinnen, bis ich aus den Federn bin, daß ich Euch noch mit einem Bissen Brot und einem Schluck Danziger zum Imbiß labe, dann bis an die Türe geleite, und nach Gewohnheit des Hauses verabschiede.“

Franz bedurfte zu diesen Worten keiner Auslegung. So gern er dem Hauspatron die letzte Höflichkeit der Geleitschaft bis in die Haustür entlassen hätte, so wenig schien dieser geneigt, von dem eingeführten Ritual abzuweichen. Er befahl den Dienern den Fremden auszukleiden, und ins Gastbette zu legen, wo sich Franz wohl sein ließ, und auf elastischen Schwanenfedern einer köstlichen Ruhe genoß, daß er sich, ehe ihn der Schlaf übermannte, selbst gestund, eine so herrliche Bewirtung sei, um eine mäßige Bastonade, nicht zu teuer erkauft. Bald umflatterten seine Phantasie angenehme Träume. Er fand die reizende Meta in einem Rosengehege, wo sie mit ihrer Mutter lustwandelte und Blumen pflückte. Flugs verbarg er sich hinter eine dichtbelaubte Hecke, um von der strengen Domina nicht bemerkt zu werden; wiederum versetzte ihn die Einbildungskraft in das enge Gäßgen, wo er durch den Spiegel die schneeweiße Hand des lieben Mädchens, mit ihren Blumen beschäftiget, sah; bald saß er neben ihr im Grase, wollte ihr seine heiße Liebe erklären, und der blöde Schäfer fand keine Worte dazu. Er würde bis an den hellen Mittag geträumet haben, wenn ihn nicht die sonore Stimme des Ritters und das Geklirr seiner Sporen aufgeweckt hätte, der bei Anbruch des Tages schon in Küch und Keller Revision hielt, ein gutes Frühstück zuzurichten befahl, und jeden Diener auf den ihm zugeteilten Posten stellte, um bei Handen zu sein, wenn der Gast erwachen würde, ihn anzukleiden und zu bedienen.

Es kostete dem glücklichen Träumer viel Überwindung, sich von dem sichern gastfreundlichen Bette zu scheiden, er wälzte sich hin und her; doch die grelle Stimme des gestrengen Junkers engte ihm das Herz ein, und einmal mußte er in den sauren Apfel beißen. Also erhob er sich von den Federn, und sogleich waren ein Dutzend Hände geschäftig ihn anzukleiden. Der Ritter führte ihn ins Speisegemach zu einer kleinen wohl zugeschickten Tafel; aber da es jetzt zum Abdrücken kam, fühlte der Reisende wenig Eßlust. Der Hauswirt ermunterte ihn: „Warum langt Ihr nicht zu? Genießt etwas für den bösen Nebel.“ „Herr Ritter“, antwortete Franz, „mein Magen ist noch zu voll von Eurem Abendmahl; aber meine Taschen sind leer, die mag ich wohl füllen für den künftigen Hunger.“ Er räumte nun wacker auf, und bepackte sich mit dem Niedlichsten und Besten, was transportabel war, daß alle Taschen strotzten. Wie er sahe, daß sein Gaul wohl gestrichelt und aufgezäumt vorgeführet wurde, trank er ein Gläslein Danziger zum Valet, in der Meinung, das werde die Losung sein, daß ihn der Wirt beim Kragen fassen und sein Hausrecht werde fühlen lassen.

Stumme LiebeAber zu seiner Verwunderung schüttelte er ihm, wie beim Empfang, traulich die Hand, wünschte ihm Glück auf die Reise, und die Riegeltür wurde aufgetan. Er säumte nun nicht den Rappen anzustechen, und zak zak war er zum Tor hinaus, ohne daß ihm ein Haar gekrümmt wurde.

Jetzt fiel ihm ein schwerer Stein vom Herzen, da er sich in völliger Freiheit befand, und sahe, daß er so mit heiler Haut davongekommen war, er konnte nicht begreifen, warum ihm der Wirt die Rechnung kreditiert hatte, die seinem Bedünken nach hoch an die Kreide lief, und umfaßte nun den gastfreien Mann mit warmer Liebe, dessen faust- und kolbengerechten Arm er gefürchtet hatte; trug aber noch groß Verlangen, Grund oder Ungrund des ausgestreueten Gerüchtes an der Quelle selbst zu erforschen. Darum wendete er flugs den Gaul und trabte zurück. Der Ritter stund noch im Tor, und glossierte mit seinen Dienern, zu Beförderung der Pferdekunde, die sein Lieblingsstudium war, über Abkunft, Gestalt und Bau des Rappen und seines harten Trabes, wähnte, der Fremdling vermisse etwas von seinem Reisegepäck, und sahe die Diener wegen ihrer vermeinten Unachtsamkeit scheel an. „Was gebricht Euch, junger Gesell“, rief er dem Kommenden entgegen, „daß Ihr umkehret, da Ihr wolltet förderziehen?“ „Ach, noch ein Wort, ehrenfester Ritter!“ antwortete der Reisige. „Ein böses Gerücht, das Euch Glimpf und Namen bricht, sagt, daß Ihr jedes Fremdlings wohl pfleget, der bei Euch einspricht, um ihn, wenn er wieder davon scheidet, Eure starken Fäuste fühlen zu lassen. Dieser Sage hab ich vertrauet, und nichts gesparet, die Zeche Euch abzuverdienen: ich gedachte bei mir, der Junker wird mir nichts schenken, so will ich ihm auch nichts schenken. Nun laßt Ihr mich in Frieden ziehen, sonder Strauß und Gefährde, das nimmt mich wunder. Lieber, sagt mir darum, ist einiger Grund oder Schein an der Sache; oder soll ich das faule Geschwätz Lügen strafen?“ Der Ritter entgegnete: „Das Gerücht hat Euch keinesweges mit Lügen berichtet; es treibt sich keine Rede im Volk um, es liegt ein Körnlein Wahrheit darinnen. Vernehmt den eigentlichen Bericht, wie die Sache stehet. Ich beherberge jeden Fremdling, der unter mein Dach eingehet, und teile meinen Mundbissen mit ihm, um Gottes Willen. Nun bin ich ein schlichter deutscher Mann, von alter Zucht und Sitte, rede wie mir’s ums Herz ist, und verlange, daß auch mein Gast herzig und zuversichtlich sei, mit mir genüße was ich habe, und frei sage was er bedarf. Aber da gibt’s einen Schlag Leute, die mir mit allerlei Faxen Verdruß tun, foppen und äffen mich mit Kniebeugen und Bücklingen, stellen all ihre Worte auf Schrauben, machen viel Redens ohne Sinn und Salz; vermeinen mit glatten Worten mir zu hofieren, gebärden sich bei der Mahlzeit, wie die Weiber beim Kindtaufschmause. Sag ich: ›Langt zu!‹ so erwischen sie aus Reverenz ein Knöchlein von der Schüssel, das ich meinem Hunde nicht böt; sprech ich: ›Tut Bescheid!‹ so netzen sie kaum die Lippen aus dem vollen Becher, als wenn sie Gottes Gabe verschmäheten; lassen sich zu jedem Dinge lang nötigen, tät schier not, auch zum Stuhlgang. Wenn mir’s nun das leidige Gesindel zu bunt und kraus macht, und ich nimmer weiß, wie ich mit meinem Gaste dran bin: so werd ich endlich wild und brauche mein Hausrecht, fasse den Tropf beim Fell, balge ihn weidlich und werf ihn zur Tür hinaus. Das ist bei mir so Sitt und Brauch, und so halt ich’s mit jedem Gaste, der mir Überlast macht. – Aber ein Mann von Eurem Schlag ist mir stets willkommen: Ihr sagtet rund und deutsch heraus, was Euch zu Sinne war, wie’s der Bremer Art ist. Sprecht getrost bei mir ein, wenn Euch der Weg wieder vorbeiträgt. Damit Gott befohlen.“

Franz trabte nun, mit heiterm frohen Mute, nach Antwerpen zu, und wünschte allenthalben eine so gute Aufnahme zu finden, als bei dem Ritter, Eberhard Bronkhorst genannt.

Fachliteratur: Claudia Hillebrandt und Elisabeth Kampmann (Hg.): Seelenräume und Sympathieebenen statt skeptischer Erzählartistik. Ludwig Richter und Josef Hegenbarth illustrieren Musäus’ ‚Stumme Liebe‘, in: Sympathie und Literatur. Zur Relevanz des Sympathiekonzepts für die Literaturwissenschaft, Erich Schmidt Verlag, Berlin 2014, Seite 168–202.

Stumme Liebe

Bilder: die gängigen, anonymen Illustrationen um 1860, leider nirgends in besserer Qualität als im Gutenberg-Text. Das letzte ist der Holzstich Reiter in dem öden Westphalen ritt bis in die sinkende Nacht ohne eine Herberge zu erreichen, über wen sonst denn das Antiquariat Murr, sympathischerweise ohne eigene Website, wo sonst denn in Bamberg.

Written by Wolf

25. September 2015 at 00:01

Veröffentlicht in Aufklärung, Handel & Wandel

Grabesdunstwitterlich

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Update zu Was tat der Eitele, ein Emo zu scheinen?:

Vincent Serbin, Toward Omega, 1997

Eine gothic Auffassung der Trauer stand noch nie in gutem Ruf, weder 1759 bei Lessing noch ein Vierteljahrhundert später bei Musäus. Was sich Menschen, die sich der Vergänglichkeit allen Seins samt des damit verbundenen Schmerzes allzu bewusst sind, postmodern anhören müssen, gebe ich möglichweise in weiteren zweihundert Jahren in geeigneter Auwahl wieder.

Vincent Serbin, Toward Omega, 1997

——— Johann Karl August Musäus:

Liebestreue
(oder das Märchen à la Malbrouk)

in: Volksmärchen der Deutschen, Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1782–1786, 3. von 5 Bänden:

Unter allen Leidenschaften scheinet indessen das Schmerzensgefühl am wenigsten geneigt das Leben zu zerstören, absonderlich bei dem tränenreichen Geschlecht, das allen Kummer sich so leicht vom Herzen weint. Die tiefgebeugte Wittib unterlag also nicht ihren Schmerzen, so sehr sie auch wünschte des Leibes entledigt zu sein, damit ihr von Sehnsucht beflügelter Geist den geliebten Schatten ihres Gemahls noch auf dem Wege in die Ewigkeit einholen möchte. Doch diesmal war ihr Wunsch vergebens; es wär auch ungerecht gewesen, wenn ihre Seele die reizende Wohnung welche ihr zum Aufenthalt angewiesen war, so eilfertig hätte verlassen wollen. Denn ein niedliches bequemes Obdach zu verschmähen um unter freiem Himmel zu wohnen, ist eigentlich Übermut; ein anders ist’s wenn jemand in einer räuchrichen oder gebrechlichen Hütte hauset, die alle Augenblick den Einsturz droht, da ist der Wunsch zu emigrieren verzeihbar. Darum wenn eine Matrone bei der schon jeder Balken im Gesparre knackt sich nach ihrer Auflösung sehnet, so ist gegen ein so billiges Verlangen mit Grunde nichts einzuwenden; aber wenn junge frische Mädchen so grabesdunstwitterlich reden, wenn irgend eine empfindsame Saite in ihrem Gehirn verstimmt, oder eine Intrike gescheitert ist, so ist das eitel Ziererei. Die schöne Jutta wünschte mit ihrem Herrn zu sterben, wie die Gemahlin des weisen Seneca, die sich zur Gesellschaft mit ihm die Adern öffnen ließ. Da er aber früher ausgeblutet hatte, und der Tod bei ihr noch zögerte, folgte sie gutem Rat und ließ schnell zubinden, denn sie meinte sein entflohener Geist habe bereits einen zu weiten Vorsprung genommen, um ihn einzuholen.

Vincent Serbin, Toward Omega, 1997

Bilder: Vincent Serbin: Toward Omega, 1997.

Written by Wolf

16. Juli 2015 at 00:01

Veröffentlicht in Aufklärung, Vier letzte Dinge: Tod

Das Geld hat einen bessern Klang

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Update zu Der kluge Narr flüchtet vor der Inflation in die Sachwerte,
Des eigenen Herzens süße Melodie
und vor allem Frohnleichnamsfahnen wehen:

Der Seifensieder von Hagedorn wird von Gottfried Keller in Die drei gerechten Kamm(m)acher 1855 derart beiläufig zitiert, dass er offenbar bekannt sein muss. Die einzige ernstzunehmend kommentierte Ausgabe in der Bibliothek Deutscher Klassiker (seit 2006 gut erreichbar als Taschenbuch) merkt dazu an, das sei „ein im Biedermeier beliebtes Gedicht […], dessen Titelfigur sich als das Gegenteil seines Handwerkerkollegen Jobst [aus Die drei gerechten Kammmacher] erweist“.

Biedermeier? Hagedorn zählt zum Rokoko, ein Jahrhundert vorher. Und schon versteht man, warum das Biedermeier als wertkonservativ gilt: Ein Gedicht, das Spaß macht, macht ihn auch nach Jahrhunderten. — Wir erfreuen uns am Tag der Arbeit an:

——— Friedrich von Hagedorn:

Johann der Seifensieder

aus: Versuch in poetischen Fabeln und Erzehlungen,
Mit Königl. Poln. und Churfürstl. Sächsis. allergnädigster Freyheit,
Hamburg, verlegts Conrad König 1738:

Erste österreichische Seifensieder-Gewerks-Gesellschaft Apollo, Apollo Kerzen und Seifen, 1899Johannes war ein Seifensieder;
Der wuste viele schöne Lieder,
Und sang, mit unbesorgtem Sinn,
Vom Morgen bis zum Abend hin.
Sein Tagwerk konnt‘ ihm Nahrung bringen;
Und wann er aß, so mußt er singen;
Und wann er sang, so war s mit Lust,
Aus vollem Hals‘ und freier Brust.
Beim Morgenbrodt, beim Abendessen
Blieb Ton und Triller unvergessen;
Der schallte recht ; und seine Kraft
Durchdrang die halbe Nachbarschaft.
Man horcht; man fragt: Wer singt schon wieder?
Wer ists? Der muntre Seifensieder.

Im Lesen war er anfangs schwach;
Er las nichts als den Almanach,
Doch lernt‘ er auch nach Jahren beten,
Die Ordnung nicht zu übertreten,
Und schlief, dem Nachbar gleich zu seyn,
Oft singend, öftrer lesend ein.
Er schien fast glücklicher zu preisen
Als die berufnen sieben Weisen,
Als manches Haupt gelehrter Welt,
Das sich schon für den achten hält.

Es wohnte diesem in der Nähe
Ein Sprößling eigennützger Ehe,
Der, stolz und steif und bürgerlich,
Im Schmausen keinem Fürsten wich:
Ein Garkoch richtender Verwandten,
Der Schwäger, Vettern, Nichten, Tanten,
Der stets zu halben Nächten fraß
Und seinen Wechsel oft vergaß.

Kaum hatte mit den Morgenstunden
Sein erster Schlaf sich eingefunden,
So ließ ihm den Genuß der Ruh
Der nahe Sänger nimmer zu.
Zum Henker! lärmst du dort schon wieder,
Vermaledeiter Seifensieder?
Ach wäre doch zu meinem Heil,
Der Schlaf hier wie die Austern, feil!

Den Sänger, den er früh vernommen,
Läßt er an einem Morgen kommen,
Und spricht: Mein lustiger Johann!
Wie geht es Euch? Wie fangt ihrs an?
Es rühmt ein jeder Eure Waare;
Sagt, wieviel bringt sie euch im Jahre?

Im Jahre, Herr? Mir fällt nicht bey,
Wie groß im Jahr mein Vortheil sey.
So rechn‘ ich nicht! Ein Tag beschehret,
Was der, so auf ihn kömmt, verzehret.
Dieß folgt im Jahr (ich weiß die Zahl)
Drey hundert fünf und sechzig mal.

Ganz recht; doch könnt ihr mirs nicht sagen,
Was pflegt ein Tag wol einzutragen?

Mein Herr, Ihr forschet allzusehr:
Der eine wenig, mancher mehr;
So wie’s dann fällt, mich zwingt zur Klage
Nichts, als die vielen Feiertage;
Und wer sie alle roth gefärbt
Der hatte wol, wie ihr, geerbt,
Dem war die Arbeit sehr zuwider;
Das war gewiß kein Seifensieder.

Dieß schien den Reichen zu erfreun.
Hans, spricht er, du sollst glücklich seyn.
Itzt bist du nur ein schlechter Prahler.
Da hast du bare funfzig Thaler.
Nur unterlasse den Gesang.
Das Geld hat einen bessern Klang.

Anda Wolf-Robl, 100 Jahre Nivea-Pflege. Der Kult in der Dose, Cosmopolitan 10. Juni 2011Er dankt und schleicht mit scheuem Blicke,
Mit mehr als diebscher Furcht zurücke.
Er herzt den Beutel, den er hält,
Und zählt, und wägt und schwenkt das Geld,
Das Geld, den Ursprung seiner Freude
Und seiner Augen neue Weide.

Es wird mit stummer Lust beschaut
Und einem Kasten anvertraut,
Den Band‘ und starke Schlösser hüten,
Beim Einbruch Dieben Trotz zu bieten,
Den auch der karge Thor bey Nacht
Aus banger Vorsicht selbst bewacht.
Sobald sich nur der Haushund reget,
Sobald der Kater sich beweget,
Durchsucht er alles, bis er glaubt,
Daß ihn kein frecher Dieb beraubt,
Bis oft gestossen, oft geschmissen,
Sich endlich beide packen müssen:
Sein Mops, der keine Kunst vergaß
Und wedelnd bey dem Kessel saß:
Sein Hinz, der Liebling junger Katzen,
So glatt von Fell, so weich von Tatzen.

Er lernt zuletzt, je mehr er spart,
Wie oft sich Sorg‘ und Reichtum paart,
Und manches Zärtlings dunkle Freuden
Ihn ewig von der Freiheit scheiden,
Die nur in reine Selen strahlt,
Und deren Glück kein Gold bezahlt.

Dem Nachbar, den er stets gewecket,
Bis er das Geld ihm zugestecket,
Dem stellet er aus Lust zur Ruh
Den vollen Beutel wieder zu,
Und spricht: Herr, lehrt mich bessre Sachen,
Als, statt des Singens, Geld bewachen.
Nehmt immer euren Beutel hin
Und laßt mir meinen frohen Sinn.
Fahrt fort, mich heimlich zu beneiden,
Ich tausche nicht mit euren Freuden.
Der Himmel hat mich recht geliebt,
Der mir die Stimme wieder giebt.
Was ich gewesen, werd‘ ich wieder:
Johann, der muntre Seifensieder.

Friedrich von Hagedorn: Versuch in poetischen Fabeln und Erzehlungen, 1738

Alte Seifen: Erste österreichische Seifensieder-Gewerks-Gesellschaft „Apollo“:
Apollo Kerzen und Seifen, 1899;
Anda Wolf-Robl (48, Chefin vom Dienst): 100 Jahre Nivea-Pflege. Der Kult in der Dose!,
Cosmopolitan, 10. Juni 2011;
Frontispiz (hier Schlussvignette): Friedrich von Hagedorn:
Versuch in poetischen Fabeln und Erzehlungen, 1738.

Written by Wolf

1. Mai 2015 at 02:01

Veröffentlicht in Aufklärung, Handel & Wandel

Nous sommes Voltaire, Muhammad et Charlie

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Update zu Die west-östlichen Sofata:

Mesdames et Messieurs, die meinen uns. Egal wer die fehlgeleiteten Wurstel in Paris zu ihrem unheiligen Kriegszug beauftragt hat — es war niemand, dem etwas an irgend einer Religion liegt; es war jemand, der Errungenschaften wie die Encyclopédie und französische Comics endlich mal ernst nimmt — tödlich ernst.

——— Voltaire: Brief an Abbé Le Riche, 6. Februar 1770:

Portrait Muhammad Abduh, MoviesPictures.orgMonsieur l’abbé, je déteste ce que vous écrivez, mais je donnerai ma vie pour que vous puissiez continuer à écrire.

Mesdames et Messieurs, die meinen uns. In offen konsumkapitalistischen Gesellschaften sind solche wie wir nur volkswirtschaftlich so entbehrlich, dass wir von den Machtinhabern grundsätzlich gewürdigt und bis jetzt sogar ein bisschen schamhaft aussortiert werden; in religiös affirmativen Gesellschaften gehören wir offenbar dutzendweise abgeknallt.

——— Großmufti Muhammad Abduh,
1849 bis 11. Juli 1905:

Ich ging in den Westen und sah Islam, aber keine Muslime. Ich kehrte in den Osten zurück und sah Muslime, aber keinen Islam.

Mesdames et Messieurs, die meinen uns. Mein faustisch geprägter Pantheos und ich nehmen das persönlich. Wenn das Religion ist, nehm ich die Comics.

Bild: Alchetron.

(Tim Neshitov: Irland, das islamischste Land der Welt erschien in der Süddeutschen Zeitung vom Mittwoch, 7. Januar 2015, entstand also noch ohne den Eindruck der gegen eine Pariser Witzheftchenbude, Denken, Sprechen, Schreiben, Kunst und Anstand gerichteten Nine-Eleven-Aktion.)

Written by Wolf

8. Januar 2015 at 06:44

Veröffentlicht in Aufklärung, Glaube & Eifer

Was tat der Eitele, ein Emo zu scheinen?

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Update zu Lessing aktuell:

——— Lessing: Der Hirsch, XXVIII.,
in: Fabeln. Drey Bücher. Nebst Abhandlungen mit dieser Dichtungsart verwandten Inhalts,
Voß, Berlin 1759, Drittes Buch:

Die Natur hatte einen Hirsch von mehr als gewöhnlicher Grösse gebildet, und an dem Halse hingen ihm lange Haare herab. Da dachte der Hirsch bey sich selbst: Du könntest dich ja wohl für ein Elend ansehen lassen. Und was that der Eitele, ein Elend zu scheinen? Er hing den Kopf traurig zur Erde, und stellte sich, sehr oft das böse Wesen zu haben.

So glaubt nicht selten ein witziger Geck, daß man ihn für keinen schönen Geist halten werde, wenn er nicht über Kopfweh und Hypochonder klage.

Lilly Yellow, Wrist Cutter Minus the Cuts, 28. August 2009

Emo-Pic: Lilly Yellow: Wrist Cutter (Minus the Cuts), 28. August (!) 2009:

This is Marisa.
It was raining.
I stuck the camera inside a plastic bag, with a hole for the lens.
It came out amazingly.
Our first shoot failed.

I really need a waterproof camera.

Written by Wolf

14. Oktober 2014 at 00:01

Paris Faustiens

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Semaines aux pieds nus en DFWuH, suite 3:

Erin Wasson, Zadig et Voltaire, 2012

J’aimerais bien être une Parisienne –
si belle, si cultivée, so prestigieuse aux quatre coins du monde,
si consciente comme tous les serendipités proviennent du Zadig Voltairien,
et comme tous les paris faustiens sont des arrangements avec Méphistophélès.

Même Erin Wasson est une Américaine,
Emily Loizeau est une Canadienne,
tandis que les Parisiennes fument des Gauloises et se risent des calembours –
ah, comme j’aimerais être une Parigote.

Pieds nus: Erin Wasson: Zadig & Voltaire, 2012 via Marlowe;
Emily Loizeau: L’Autre Bout du monde, de L’Autre Bout du monde, 2006.

Bonus Track en chaussettes: L’Italienne Carla Bruni: Quelqu’un m’a dit, de Quelqu’un m’a dit, 2002:

Written by Wolf

18. März 2014 at 00:01

Veröffentlicht in Aufklärung, Land & See

Lessing aktuell

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Wir lachen, wenn wir hören, daß bei den Alten auch die Künste bürgerlichen Gesetzen unterworffen gewesen. Aber wir haben nicht immer Recht, wenn wir lachen. Unstreitig müssen sich die Gesetze über die Wissenschaften keine Gewalt anmaaßen; denn der Endzweck der Wissenschaften ist Wahrheit. Wahrheit ist der Seele nothwendig; und es wird Tyranney, ihr in Befriedigung dieses wesentlichen Bedürfnisses den geringsten Zwang anzuthun. Der Endzweck der Künste hingegen ist Vergnügen; und das Vergnügen ist entbehrlich. Also darf es allerdings von dem Gesetzgeber abhangen, welche Art von Vergnügen, und in welchem Maaße er jede Art desselben verstatten will.

Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon, 1766.

Arno Schmidt by Alice Schmidt, ca. 1950, Arno Schmidt Stiftung Bargfeld

——— Arno Schmidt: Das steinerne Herz, Stahlberg, Karlsruhe 1956,
cit. Zürcher Kassette Band 4, Seite 28:

Wenn man Lessing verachten lernen will, muß man den Laokoon vornehmen : „Der Endzweck der Künste ist Vergnügen. Und das Vergnügen ist entbehrlich. Also darf es allerdings vom Gesetzgeber abhängen, welche Art von Vergnügen er gestatten will.“ Und das ganz im tierischsten Klassikerernst : das waren ooch dolle Hähne ! !

Leider ist dieses Video in Deutschland nicht verfügbar, da es Musik enthalten könnte, für die die erforderlichen Musikrechte nicht eingeräumt wurden. Von wem, dürfen wir nach einem Prozess gegen die GEMA nicht sagen.

Das Vergnügen ist entbehrlich: Alice Schmidt ca. 1950,
Arno-Schmidt-Stiftung via Bayern 2 Radio, 15. Januar 2014;
Das tut uns leid: GameStar, 26. Februar 2014.

Written by Wolf

14. März 2014 at 00:01

Veröffentlicht in Aufklärung, Herrschaft & Revolte

Dreidreiviertel Arbeitstage oder Die CDs wechseln muss man schon

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Hörbuch Christoph Martin Wieland, Aristipp und einige seiner Zeitgenossen, Vollständige Lesung von Herausgeber Jan Philipp Reemtsma auf 24 CDs mit Begleitbuch, Hoffmann und Campe 2007, Exemplar der Stadtbibliothek München

Normalerweise ist es ein Graus, wenn angesichts neuer Klassikerausgaben, am schlimmsten im Vorfeld und Gefolge von Gedenktagen, betont wird, wie hochaktuell ein Klassiker doch noch sei und was er uns Heutigen noch zu sagen habe: Anpreisungen und Komplimente, in denen „noch“ vorkommt, sind Warnungen und Herabsetzungen.

Als Insel-Taschenbuch führt der Aristipp eher ein Backlist-Dasein um der Vollständigkeit willen, bei der Bibliothek Deutscher Klassiker können ihn sich sowieso nur gutsituierte Universitätsbibliotheken leisten, also niemand. Wurde das schon mal in Leder verkauft?

Als Hörbuch, das Hoffmann und Campe als Audiobook ausgeweist, ist es der Idealfall von einem Hörbuch (außer, dass es als „Audiobook“ ausgewiesen wird): Der Herausgeber hat es auch gleich eingesprochen, obwohl er kein ausgebildeter Sprecher ist — sondern Jan Philipp Reemtsma, der aus Hamburg kommt, wo die Leute von Geburt an so reden, wie man es sich für Hörbücher wünscht. Falls daran Zweifel aufkommen, hat er in dem ungewöhnlich informativen, kenntnisreichen und schmuck aufgemachten Beibuch seitenlang erklärt, warum manche Wörter so und nicht anders, als er es tut, ausgesprochen werden müssen; denn für Schreibweise und Betonung altgriechischer Transkriptionen sind zwischen anno 1800 bis 2007 kaum Selbstverständlichkeiten übrig geblieben.

Zusätzlich ist der Herausgeber auch der Kommentator: Der Artikel über den Aristipp, den Reemtsma 1996 für Interpretationen. Romane des 17. und 18. Jahrhunderts bei Reclam geschrieben hat, ist für dasselbe Beibuch überarbeitet und wiederveröffentlicht. Und sehr hilfreich.

Endlich bekommt man einfach mal das, was draufsteht: ein Buch vollständig vorgelesen und erklärt — und eben keine Hörspielbearbeitung, die nie den Ruch einer Pumuckl-Episode verlieren wird, und keine gekürzte, bestenfalls sogar autorisierte Lesung; autorisiert von wem auch? Von Wieland vielleicht? Entweder ist dieses Hörbuch ein Monument seines Mediums oder eine unerschöpfliche Einschlafhilfe.

Natürlich ist sowas vergriffen. Anfang November hab ich in Amazon.de nachgeschaut, da kostete die Box, die es 2007 im Buchhandel original für 99,95 Euro gab, gebraucht 538 — in Worten: fünfhundertachtunddreißig — Euro und ein paar zerquetschte Cents. Genau 1 Exemplar, das eine Woche später verschwunden war. Das wird also von geschäftsfähigen Menschen für ein halbes Monatsgehalt gekauft.

Bei mir ist zur Zeit das Exemplar der Münchner Stadtbibliothek für ein paar Wochen eingezogen. Muss man Medien der Stadtbibliothek eigentlich um jeden Preis ersetzen, wenn sie, mal ganz hypothetisch dahingedacht, mirum in modum verloren gehen? Die Wölfin meint ungestützt: Wär ja noch schöner.

Wieland ist mit seinem Aristipp nicht mehr fertig geworden, da fehlt das fünfte Buch. Das kommt, weil er nach eigenem Bekunden fünfzig Jahre gebraucht hatte, um ihn überhaupt anzufangen. Bei so einer Verzögerung kann einer schon mal über den ersten vier Büchern sterben. In denen geht es darum, dass Philosophie eine eigentlich wertlose Disziplin ist, die von allen anderen Disziplinen mühelos ersetzt wird.

Das wiederum kommt daher, dass Wieland weder der schwärmerischen Romantik angehört, die gleich Novalis Zahlen und Figuren verunglimpft, noch im eigentlichen Sinne der Klassik. Sondern der Aufklärung — als Philosophie noch kein eingeführtes Studienfach war. Philosophie war ab der griechischen Antike eine Denkweise innerhalb der Naturwissenschaften und ab dem Mittelalter ein Weg zum Beweis der Existenz Gottes. Ab den weltzugewandten Ansichten des Idealismus war sie unnötig.

Die Wölfin meint: „Ist doch gut? Wie topaktuell geht’s denn noch?“

Ich meine: „Richtig. Genau das hab ich gemeint.“

„Und auf welcher von den 24 CDs kommt das jetzt genau vor?“

„Und das … meine ich auch.“

„Hey, wir reden hier von geschlagenen dreißig Stunden Wortschwall, ohne Musik, ohne Bilder und ohne Pinkelpause.“

„Naja, die CDs wechseln muss man schon …“

„Dreißig Stunden, mein Bester! Das sind dreidreiviertel Arbeitstage! Weißt du, was man in dieser Zeit alles erledigen kann?“

„Und das hat Wieland gemeint.“

Bild: Hörbuch Christoph Martin Wieland: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. Vollständige Lesung von Herausgeber Jan Philipp Reemtsma auf 24 CDs mit Begleitbuch, Hoffmann und Campe 2007, Exemplar der Stadtbibliothek München, Zustand November 2012.

Written by Wolf

19. November 2012 at 06:54

Veröffentlicht in Aufklärung, Weisheit & Sophisterei

Zwischennetzsurferey

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Die Welt geht unter, seit sie entstanden ist, und Medienkritik ist älter als Medien. Ganz sicher aber als die neuen Medien. Vor allem die Kritilk an der Romanleserey ab dem 18. Jahrhundert greift eigentlich erst ab etwa 1997, als „jeder“ ins Internet drängte.

Darauf komme ich anhand Felix Müllers Artikel in der Welt vom 2. November 2012: Als die Lesesucht die Menschen krank machte, der leider seine Quellen allzu lieblos und vor allem bei weitem zu großzügig behandelt. Das Richtige hat wie immer schon vor mindestens drei Jahren die große Kathrin Passig gesagt:

——— Kathrin Passig: Standardsituationen der Technologiekritik, Merkur 1. Dezember 2009:

  1. Wozu zum Kuckuck sollte das denn gut sein? Bisher ging es doch auch so.
  2. Wer will denn sowas?
  3. Die Einzigen, die das wollen, sind zweifelhafte oder privilegierte Minderheiten.
  4. Das geht wieder vorbei.
  5. Die Erfindung wird keine Auswirkungen haben.
  6. Ok es ist sinnvoll, aber nicht gut genug!
  7. Schwächere als ich (die Jungen) können damit nicht umgehen!
  8. Die gute Etikette wird verletzt!
  9. Unsere Denk-, Schreib- und Lesetechniken verschlechtern sich!

Pierre-Antoine Baudoin, La Lecture. c. 1760. Gouache on paper. Musée des Arts décoratifs, ParisVor solchen Ansichten waren die Besten nicht gefeit: Der übermäßige Konsum von Ritterromanen ist das Setting für die Mutter des modernen — jawohl: — Romans, den Don Quixote. Ludwig Tieck berichtet 1792, also 19-jährig, seinem Herzensbruder Wilhelm Heinrich Wackenroder von einer nächtlichen zehnstündigen Leseorgie unter Missbrauch des Romans Der Genius von Carl Grosse, worauf der ihn zur Ordnung ruft:

Gütiger Himmel! auf welchem entsetzlichen Rande hast Du gestanden! […] Ein Buch, was alle Fantasie aufs äusserste umherjagt, über die Gränzen der Besinnung herumjagt!

Es ist dann noch alles gut geworden: Ludwig Tiecks nachmalige Übersetzung des Don Quixote gilt bis auf weiteres.

——— Karl G. Bauer: Über die Mittel dem Geschlechtstrieb eine unschädliche Richtung zu geben, 1787:

Die erzwungene Lage und der Mangel aller körperlichen Bewegung beym Lesen, in Verbindung mit der so gewaltsamen Abwechslung von Vorstellungen und Empfindungen Schlaffheit, Verschleimung, Blähungen und Verstopfung in den Eingeweiden, mit einem Wort Hypochondrie, die bekanntermaassen bey beydem, namentlich bey dem weiblichen Geschlecht, recht eigentlich auf die Geschlechtstheile wirkt, Stockungen und Verderbniss im Bluthe, reitzende Schärfen und Abspannung im Nervensysteme, Siechheit und Weichlichkeit im ganzen Körper.

Und Kindles stehen jetzt dem sinnlichen und bildungsfördernden Genuss des Bücherlesens im Wege, jawoll. Meine größere Befürchtung ist, dass Welt-Autor Felix Müller den besser recherchierten und kenntnisreichen Artikel von Peter Schneider Von der Lese- zur Internetsucht aus dem Schweizer Tagesanzeiger, 30. Oktober 2010 sehr wohl kannte.

Immerhin sind mit dem Gebrauch des Internets die von Karl G. Bauer befürchteten Auswirkungen unschädlich: iPads kann man zur Not mit aufs Klo nehmen, und die vergrößernde, befeuchtende und belebende Wirkung allfälliger Internetseiten auf die Geschlechtsteile wird nicht einmal von ihren schärfsten Kritikern geleugnet — von denen am wenigsten. Die Tieck-Übersetzung des Don Quixote steht heute online, wobei man nicht einmal auf die Illustrationen von Gustave Doré verzichten muss.

Bild: Pierre-Antoine Baudoin: La Lecture, um 1760. Gouache auf Papier. Musée des Arts décoratifs, Paris.

Written by Wolf

8. November 2012 at 00:01

Veröffentlicht in Aufklärung, Herrschaft & Revolte