Was er wünscht, ist Licht, mehr Licht
Update zu Neulich in München
und Es gibt eine Eitelkeit, die nicht schändet:
Goethes 189. Todestag am 22. März 2021.
Stets des Lebens dunkler Seite
Abgewendet wie Apoll;
Daß er Licht um sich verbreite,
War der Ruf, der ihm erscholl.
Und so stand er jung im Streite
Bis in’s Alter würdevoll,
Gegen Drachen-Nachtgeleite,
Das aus allen Ecken schwoll,
Das er bald mit Scherz beiseite
Schob, bald niederschlug mit Groll.
Als er abtrat nun vom Streite,
War das letzte Wort, das quoll
Aus der Brust erhobner Weite:
„Mehr Licht!“ Nun, o Vorhang, roll
Auf, daß er hinüber schreite,
Wo mehr Licht ihm werden soll!Friedrich Rückert: Goethes letztes Wort, 1832.
——— Kai Sina:
Frances E. W. Harper: „Mehr Licht!“
aus: Frankfurter Anthologie, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Januar 2021:
Ob die Forderung nach „Mehr Licht“ tatsächlich Goethes letzte Worte waren, ist philologisch mehr als umstritten – und wohl auch nicht so wichtig. Entscheidender sind die Folgen der vermeintlichen Sterbeworte, und in dieser Hinsicht zählt das Gedicht von Frances Ellen Watkins Harper zu den literarhistorisch aufschlussreichsten Dokumenten: einerseits, weil es das Gedicht einer afroamerikanischen Autorin des neunzehnten Jahrhunderts ist, deren Bezugnahme auf Goethe zunächst alles andere als naheliegend erscheint; und andererseits, weil die deutschsprachige Übertragung von Stephan Hermlin ein frühes Zeugnis der sozialistischen Literaturpolitik in Deutschland ist. […]
Anders als viele seiner Anhänger, die das „Licht“ im Sinne der aufklärerischen Symbolik mit Erkenntnis übersetzten und so noch den Sterbenden zum Wahrheitssucher stilisierten, weist Harper eine derart überspannte Deutung ausdrücklich zurück: Nicht um „größere Geistesgaben“ habe Goethe in seinen letzten Atemzügen gebeten, nicht um „Gedankentiefe“, sondern buchstäblich um „die gütige Sonne“ und „einen Strom aus liebem Erdenlicht“. […]
Szenenwechsel ins Nachkriegsdeutschland, in die sowjetische Besatzungszone. Im neugegründeten Verlag Volk und Welt erscheint 1948 der Band „Auch ich bin Amerika. Dichtungen amerikanischer Neger„. Zusammenstellung und Übertragung der ausschließlich von Afroamerikanern und Afroamerikanerinnen verfassten Gedichte stammen von Stephan Hermlin. Dessen lebenslanges Bestreben, dem deutschen Lesepublikum „eine Tür zu literarischer Weltläufigkeit zu öffnen“ (Heinrich Detering), bestimmt das Anthologieprojekt ebenso wie die politische Indienstnahme der Literatur, hier vor allem in Gestalt der Amerika-Kritik und des Antikapitalismus. Die Sammlung versteht sich als aufklärerischer Gegenimpuls zu „geschickt geschriebenen Schmökern à la ‚Vom Winde verweht‘ und verlogenen Hollywoodprodukten“, in denen die „Neger“, ungeachtet ihrer „denkbar ungünstigen Lage“ in der Gesellschaft, vornehmlich als „folgsam“ und „komisch“ dargestellt würden – so liest man im Vorwort.
In der Anthologie findet sich auch Harpers Gedicht, dessen liedhafter Charakter – erzeugt durch ein alternierendes Versmaß, das Wechselspiel von Reimen und Assonanzen sowie die refrainartige Wiederholung des Ausrufs „Light! more light“ – in der deutschen Übertragung stark zur Geltung kommt. Zugleich mischen sich andere, eher abendländisch geprägte Motive ins lyrische Gesamtbild ein: das „düstre Nebeltal“ der Romantik (im Original: „dimly lighted valley“), der lutherdeutsche „Heiland“ (bei Harper: „Gracious Saviour“). Sicher tragen auch solche Anpassungen dazu bei, dass man den amerikanischen Ursprungstext hinter der deutschsprachigen Nachdichtung eigentlich nicht mehr wahrnimmt.
Aber welche Absicht steht hinter der Entscheidung, Harpers Goethe-Verse überhaupt in die Sammlung mit aufzunehmen? In ihrem Werk hätte es andere Gedichte gegeben, die viel besser mit dem politischen Anliegen der Anthologie vereinbar gewesen wären (das kämpferische „Bury Me in a Free Land“ etwa). Im Vorwort stellt Hermlin fest, es seien zwar „kleinbürgerliche Verse“, die Harper über Goethe geschrieben habe. In ihnen komme aber dennoch „ein großes und ergreifendes Gefühl“ zum Ausdruck. Die am Kommunismus geschulte Bewusstseinsprüfung („kleinbürgerlich“) und das Beharren auf der Würde des Individuums (in seinem „großen und ergreifenden Gefühl“) gehen in der Gedichtauswahl also miteinander einher. Hermlins Entscheidung für Harpers Gedicht zeugt damit gleichermaßen von politischer Anpassung und literarischem Eigensinn.
Stephan Hermlins Auswahl und Übersetzung waren weder die ersten noch einzigen ihrer Art: Populäre deutsche Anthologien des 20. Jahrhunderts kennen unter anderem:
- Amerika singe auch ich. Dichtungen amerikanischer Neger. Zweisprachig. Herausgegeben und übertragen von Hanna Meuter, Paul Therstappen. Wolfgang Jess, Dresden 1932. Mit Kurzbiographien. Reihe: Der neue Neger. Die Stimme des erwachenden Afro-Amerika. Band 1, 1932. 108 Seiten; Neuausgabe ebenda 1959, oder
- Meine dunklen Hände. Moderne Negerlyrik im Original und Nachdichtung. Herausgegeben und übertragen von Eva Hesse und Paridam von dem Knesebeck. Nymphenburger, München 1953. 92 Seiten.
Es folgen Harpers Original und Hermlins gleichermaßen politisch angepasste und literarisch eigensinnige Übersetzung im Direktvergleich. Offenbar könnten wir alle in vermehrtem Ausmaß Licht in egal welchem Sinne vertragen.
——— Frances Ellen Watkins Harper:
Let the Light EnterThe Dying Words of Goethefrom: Poems, 1871, Seite 71 f.:
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(Goethes letzte Worte)Übs. Stephan Hermlin, in: Auch ich bin Amerika. Dichtungen amerikanischer Neger.
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Bilder: Helmut Fricke: Kam durchs Schlafzimmerfenster nicht genug Licht?;
Johann Wolfgang von Goethe starb am 22. März 1832 in seinem Schlafzimmer,
für Hubert Spiegel: Mehr Licht war nicht, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. Dezember 2017.
Der neue Neger, die Stimme des erwachenden Afroamerika: James Brown with Reverend James Cleveland Choir: Let Us Go Back to the Old Landmark/Can You See the Light, aus: The Blues Brothers, 1980:
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