Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Archive for Juni 2018

Drum dein Stimmlein lass erschallen

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Update zu Trost der Welt, du stille Nacht,
Umfing ihn sein feins Liebchen: Leb wol, du Herzensbübchen! Leb wol! Viel Heil und Sieg!
und Doktor Faust thu dich bekehren:

Wird, gesungen, herzerfreulich seyn.

Goethe, 21. Januar 1806.

Da sieht man, woher die Herren von Arnim und Brentano ihre Volkslied-Raritäten für Des Knaben Wunderhorn aufgesammelt haben: Ab und zu wurde da wirklich ein Schatz in Form eines vorbarocken Flugblatts gehoben — und dann bedienen sie sich wieder aus dem alles andere als verschollenen Abentheuerlichen Simplicissimus von Grimmelshausen — immerhin barock, von 1669.

Giuseppe Calì, Woman in the Moon, 1912Das war ein Lieblingsbuch der beiden Sammler, vor allem Brentanos, weshalb wohl er es ins Wunderhorn hineingetragen und wortgetreu dafür bearbeitet haben wird. Wenn schon nicht redaktionell, versteht man ihn immerhin menschlich: Was Barocklyrik angeht, ist das ein unverwüstlich schönes, auf natürliche Weise inniges Juwel.

Eichendorff verwendete die Wunderhorn-Fassung, welcher Bestseller ihm bis dahin bekannt sein konnte und sogar 1810 von Brentano selbst überreicht wurde, für sein Gedicht Der Einsiedler — nach allen Fundstellen „um 1837“ entstanden, aber schon „um 1836“ in Eine Meerfahrt eingebaut. Wieder unter Brentanos Händen entstand 1846 doch noch die Rarität im Märchen von dem Schulmeister Klopfstock und seinen fünf Söhnen — das von Brentano vermutlich nicht ausdrücklich als verstecktes Nebenwerk beabsichtigt war, wo aber der Klausner eine Version in wesentlich nachbarockem Deutsch und vor allem in einem erfreulich grotesken Kontext singt.

In den folgenden Versionen erhellt, dass bei Grimmelshausen noch die Überschrift fehlt. Von Brentano wurde sie wohl nach einem Vers aus einem der Lieder nach Ossian aus der Volksliedsammlung von Herder 1779 gestaltet: „Der weckt den Schall der Nacht“, dort Buch 2, Nr. 15 — übrigens in der Reihe die Version, die als schroffer, schwer verständlicher Fremdkörper heraussticht.

Im gesamten Material liegt genügend Schönheit, um es versammelt sehen zu wollen. — Chronologisch:

L. Friday Comerre, 2017

——— Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen:

Das siebente Kapitel.

Simplex wird in einer Herberg tractiret /
ob gleich wird sehr grosser Mangel gespühret.

aus: Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch, I. Buch, 7. Capitul, 1669, ungekürzt:

WAs gestalten mir wieder zu mir selbst geholffen worden / weiß ich nicht / aber dieses wol / daß der Alte meinen Kopff in seinem Schos / und vornen meine Juppen geöffnet gehabt / als ich mich wieder erholete / da ich den Einsidler so nahe bey mir sahe / fieng ich ein solch grausam Geschrey an/ als ob er mir im selben Augenblick das Hertz auß dem Leib hätte reissen wollen: Er aber sagte / mein Sohn / schweig / ich thue dir nichts / sey zu frieden / etc. je mehr er mich aber tröstete / und mir liebkoste: Je mehr ich schrye / O du frisst mich! O du frisst mich! du bist der Wolf / und wilst mich fressen: Ey ja wol nein / mein Sohn / sagte er / sey zu frieden / ich friß dich nicht. Diß Gefecht währete lang / biß ich mich endlich so weit liesse weisen / mit ihm in seine Hütten zu gehen / darin war die Armut selbst Hofmeisterin / der Hunger Koch / und der Mangel Küchenmeister / da wurde mein Magen mit einem Gemüß und Trunck Wassers gelabt / und mein Gemüt / so gantz verwirret war / durch deß Alten tröstliche Freundligkeit wieder auffgericht und zu recht> gebracht: Derowegen ließ ich mich durch die Anreitzung deß süssen Schlaffes leicht bethören / der Natur solche Schuldigkeit abzulegen. Der Einsidel merckte meine Notdurfft / darumb liesse er mir den Platz allein in seiner Hütten / weil nur einer darin ligen konte; ohngefähr umb Mitternacht erwachte ich wieder / und hörete ihn folgendes Lied singen / welches ich hernach auch gelernet:

Carl Schweninger, Der Morgenstern und der MondKOmm Trost der Nacht / O Nachtigal /
Laß deine Stimm mit Freudenschall /
Auffs lieblichste erklingen :/:
Komm / komm / und lob den Schöpffer dein /
Weil andre Vöglein schlaffen seyn /
Und nicht mehr mögen singen:
     Laß dein / Stimmlein /
          Laut erschallen / dann vor allen
               Kanstu loben
Gott im Himmel hoch dort oben.

Ob schon ist hin der Sonnenschein /
Und wir im Finstern müssen seyn /
So können wir doch singen :/:
Von Gottes Güt und seiner Macht /
Weil uns kan hindern keine Nacht /
Sein Lob zu vollenbringen.
     Drumb dein / Stimmlein /
          Laß erschallen / dann vor allen
               Kanstu loben /
Gott im Himmel hoch dort oben.

Echo, der wilde Widerhall /
Will seyn bey diesem Freudenschall /
Und lässet sich auch hören :/:
Verweist uns alle Müdigkeit /
Der wir ergeben allezeit /
Lehrt uns den Schlaff bethören.
     Drumb dein / Stimmlein /
          Laß erschallen / dann vor allen
               Kanstu loben /
Gott im Himmel hoch dort oben.

Die Sterne / so am Himmel stehn /
Lassen sich zum Lob Gottes sehn /
Und thun ihm Ehr beweisen :/:
Auch die Eul die nicht singen kan /
Zeigt doch mit ihrem heulen an /
Daß sie Gott auch thu preisen.
     Drumb dein / Stimmlein /
          Laß erschallen / dann vor allen
               Kanstu loben /
Gott im Himmel hoch dort oben.

Nur her mein liebstes Vögelein /
Wir wollen nicht die fäulste seyn /
Und schlaffend ligen bleiben :/:
Sondern biß daß die Morgenröt /
Erfreuet diese Wälder öd /
Im Lob Gottes vertreiben.
     Laß dein / Stimmlein /
          Laut erschallen / dann vor allen
               Kanstu loben /
GOtt im Himmel hoch dort oben.

Unter währendem diesem Gesang bedunckte mich warhafftig / als wann die Nachtigal so wol / als die Eul und Echo, mit eingestimmt hätten / und wann ich den Morgenstern jemals gehört / oder dessen Melodey auff meiner Sackpfeiffen aufzumachen vermöcht / so wäre ich auß der Hütten gewischt / meine Karten mit einzuwerffen / weil mich diese Harmonia so lieblich zu seyn bedunckte / aber ich entschlieff / und erwachte nicht wieder / biß wol in den Tag hinein / da der Einsidel vor mir stunde / und sagte: Uff Kleiner / ich will dir Essen geben / und alsdann den Weg durch den Wald weisen / damit du wieder zu den Leuten / und noch vor Nacht in das nächste Dorff kommest; Jch fragte ihn / was sind das für Dinger / Leuten und Dorff? Er sagte / bist du dann niemalen in keinem Dorff gewest / und weist auch nicht / was Leut oder Menschen seynd? Nein / sagte ich / nirgends als hier bin ich gewest / aber sag mir doch / was seynd Leut / Menschen und Dorff? Behüt GOtt / antwortet der Einsidel / bist du närrisch oder gescheid? Nein / sagte ich / meiner Meüder und meines Knans Bub bin ich / und nicht der närrisch oder der gescheid: Der Einsidel verwundert sich mit Seufftzen und Becreutzigung / und sagte: Wol liebes Kind / ich bin gehalten / dich umb GOttes willen besser zu unterrichten: Darauff fielen unsere Reden und Gegen-Reden / wie folgend Capitel außweiset.

~~~\~~~~~~~/~~~

Jules Joseph Lefebvre, Le rêve

——— Johann Gottfried Herder:

15. Fillans Erscheinung und Fingals Schildklang

Aus Ossian

aus: „Stimmen der Völker in Liedern“. Volkslieder, Zweiter Theil, Zweites Buch, Nummer 15, 1778:

Luis Ricardo Falero: Moon Nymph, detail, 1883Kein Schlaf in deinem Dunkel ist auf dir,
Blauaugigte Tochter Konmors, des Hügels.
Es hört Sulmalla den Schlag,
Auf stand sie in Mitte der Nacht,
Ihr Schritt zum Könige Atha’s des Schwerts,
„Kann ihm erschrecken die starke Seele?“
Sie stand in Zweifel, das Auge gebeugt.
Der Himmel im Brande der Sterne. – –

Sie hört den tönenden Schild,
Sie geht, sie steht, sie stutzet, ein Lamm,
Erhebt die Stimme; die sinkt hinunter – –
Sie sah ihn im glänzenden Stahl,
Der schimmert zum Brande der Sterne – –
Sie sah ihn in dunkler Locke,
Die stieg im Hauche des Himmels – –
Sie wandte den Schritt in Furcht:
„Erwachte der König Erins der Wellen!
Du bist ihm nicht im Traume des Schlafs,
Du Mädchen Inisvina des Schwerts.“

Noch härter tönte der Schall;
Sie starrt; ihr sinket der Helm.
Es schallet der Felsen des Stroms,
Nachhallets im Traume der Nacht;
Kathmor hörets unter dem Baum,
Er sieht das Mädchen der Liebe,
Auf Lubhars Felsen des Bergs,
Rothes Sternlicht schimmert hindurch
Dazwischen der Schreitenden fliegendem Haar.

Wer kommt zu Kathmor durch die Nacht?
In dunkler Zeit der Träume zu ihm?
Ein Bote vom Krieg im schimmernden Stal?
Wer bist du, Sohn der Nacht?
Stehst da vor mir, ein erscheinender König? –
Ruffen der Todten, der Helden der Vorzeit? –
Stimme der Wolke des Schauers? –
Die warnend tönt vor Erins Fall.

„Kein Mann, kein Wandrer der Nachtzeit bin ich,
Nicht Stimme von Wolken der Tiefe,
Aber Warnung bin ich vor Erins Fall.
Hörst du das Schallen des Schildes?
Kein Todter ists, o König von Atha der Wellen,
Der weckt den Schall der Nacht!“

„Mag wecken der Krieger den Schall!
Harfengetön ist Kathmor die Stimme!
Mein Leben ists, o Sohn des dunkeln Himmels,
Ist Brand auf meine Seele, nicht Trauer mir.
Musik den Männern im Stale des Schimmers
Zu Nachts auf Hügeln fern.
Sie brennen an denn ihre Seelen des Strals,
Das Geschlecht der Härte des Willens.
Die Feigen wohnen in Furcht,
Im Thal des Lüftchens der Lust,
Wo Nebelsäume des Berges sich heben
Vom blauhinrollenden Strom u.f.“

~~~\~~~~~~~/~~~

Wytch Photos, Spirit of the New Moon, 9. September 2016

——— Clemens Brentano & Achim von Arnim:

Schall der Nacht.

Simplicissimi Lebenswandel. Nürnberg 1713. I. B. S. 28.

aus: Des Knaben Wunderhorn, Band 1, 1806:

William-Adolphe Bouguereau, L'Étoile Perdue, 1884Komm Trost der Nacht, o Nachtigall!
Laß deine Stimm mit Freuden-Schall
Aufs lieblichste erklingen,
Komm, komm, und lob den Schöpfer dein,
Weil andre Vögel schlafen seyn,
Und nicht mehr mögen singen;
Laß dein Stimmlein
Laut erschallen, denn vor allen
Kannst du loben
Gott im Himmel, hoch dort oben.

Obschon ist hin der Sonnenschein,
Und wir im Finstern müssen seyn,
So können wir doch singen
Von Gottes Güt und seiner Macht,
Weil uns kann hindern keine Nacht,
Sein Loben zu vollbringen.
Drum dein Stimmlein
Laß erschallen, denn vor allen
Kannst du loben
Gott im Himmel, hoch dort oben.

Echo, der wilde Wiederhall,
Will seyn bei diesem Freudenschall,
Und läßet sich auch hören;
Verweist uns alle Müdigkeit,
Der wir ergeben allezeit,
Lehrt uns den Schlaf bethören.
Drum dein Stimmlein
Laß erschallen, denn vor allen
Kannst du loben
Gott im Himmel, hoch dort oben.

Die Sterne, so am Himmel stehn,
Sich lassen Gott zum Lobe sehn,
Und Ehre ihm beweisen;
Die Eul‘ auch, die nicht singen kann,
Zeigt doch mit ihrem Heulen an,
Daß sie auch Gott thu preisen.
Drum dein Stimmlein
Laß erschallen, denn vor allen
Kannst du loben
Gott im Himmel, hoch dort oben.

Nur her, mein liebstes Vögelein!
Wir wollen nicht die faulsten seyn,
Und schlafen liegen bleiben,
Vielmehr bis daß die Morgenröth
Erfreuet diese Wälder-Oed,
In Gottes Lob vertreiben;
Laß dein Stimmlein
Laut erschallen, denn vor allen
Kannst du loben
Gott im Himmel, hoch dort oben.

~~~\~~~~~~~/~~~

Jan Saudek

——— Joseph von Eichendorff:

Der Einsiedler

aus: Deutscher Musenalmanach, 1837; gesammelt in: Gedichte 1831–1836, 6. Geistliche Gedichte:

Albert Aublet, Sélène, 1880Komm, Trost der Welt, du stille Nacht!
Wie steigst du von den Bergen sacht,
Die Lüfte alle schlafen,
Ein Schiffer nur noch, wandermüd‘,
Singt übers Meer sein Abendlied
Zu Gottes Lob im Hafen.

Die Jahre wie die Wolken gehn
Und lassen mich hier einsam stehn,
Die Welt hat mich vergessen,
Da tratst du wunderbar zu mir,
Wenn ich beim Waldesrauschen hier
Gedankenvoll gesessen.

O Trost der Welt, du stille Nacht!
Der Tag hat mich so müd gemacht,
Das weite Meer schon dunkelt,
Laß ausruhn mich von Lust und Not,
Bis daß das ew’ge Morgenrot
Den stillen Wald durchfunkelt.

~~~\~~~~~~~/~~~

Pompeo Batoni: Truth and Mercy, ca. 1745

——— Clemens Brentano:

Komm, Trost der Nacht

aus: Das Märchen von dem Schulmeister Klopfstock und seinen fünf Söhnen, 1846:

„[…] Ich rührte mich nicht und hörte nach einer Weile ein ganz entsetzliches Schnarchen, als wenn man Holz säge. Ach, dachte ich, was muß das Tier für ein abscheulich großes Maul haben, das so gewaltig schnarchen kann! Nun ging der Mond über dem Walde auf und goß seinen wunderbaren Glanz durch die Bäume; da blickte ich mit Angst in das Gelaube des Baumes hinein, von dem ich gefallen war, um etwas zu erkennen, wie das Tier aussähe, weil ich in meinem Leben nichts von einem Tiere gehört hatte, das einem Wildschweine eine Ohrfeige gäbe und dann wie ein Hund bellend in den Bäumen herumlaufe. Bald sah ich seinen schwarzen Schatten in einem Astwinkel liegen, wo es schnarchte; aber es wehten so lange Haare herum, daß ich es nicht erkennen konnte. Indem ich so hinaufsah, hatte ich einen neuen Schrecken: das Tier streckte sich und gähnte ganz entsetzlich uah, uah, und nieste so heftig, daß die Eicheln wie ein Hagelwetter mir auf die Nase rasselten. Aber ich wagte nicht, mich zu rühren, und wie groß war mein Erstaunen, als ich das Tier auf einmal mit lauter heller Stimme folgendes schöne Lied singen hörte:

Artemisia Gentileschi: Allegoria dell'inclinazioneKomm, Trost der Nacht, o Nachtigall!
Laß deine Stimm mit Freudenschall
Aufs lieblichste erklingen;
Komm, komm und lob den Schöpfer dein,
Weil andre Vöglein schlafen sein
Und nicht mehr mögen singen:
Laß dein Stimmlein laut erschallen,
Denn vor allen
Kannst du loben
Gott im Himmel hoch dort oben.

Obschon ist hin der Sonnenschein
Und wir im Finstern müssen sein,
So können wir doch singen
Von Gottes Güt und seiner Macht,
Weil uns kann hindern keine Nacht,
Sein Lobe zu vollbringen:
Drum dein Stimmlein laß erschallen,
Denn vor allen
Kannst du loben
Gott im Himmel hoch dort oben.

Echo, der wilde Wiederhall,
Will sein bei diesem Freudenschall
Und lässet sich auch hören;
Verweist uns alle Müdigkeit,
Der wir ergeben alle Zeit,
Lehrt uns den Schlaf betören;
Drum dein Stimmlein laß erschallen,
Denn vor allen
Kannst du loben
Gott im Himmel hoch dort oben.

Die Sterne, die am Himmel stehn,
Sich lassen zum Lobe Gottes sehn
Und Ehre ihm beweisen;
Die Eul auch, die nicht singen kann,
Zeigt doch mit ihrem Heulen an,
Daß sie Gott auch tu preisen;
Drum dein Stimmlein laß erschallen,
Denn vor allen
Kannst du loben
Gott im Himmel hoch dort oben.

Nur her, mein liebstes Vögelein!
Wir wollen nicht die Faulsten sein
Und schlafend liegen bleiben;
Vielmehr, bis daß die Morgenröt
Erfreuet diese Wälder öd,
In Gottes Lob vertreiben;
Laß dein Stimmlein laut erschallen,
Denn vor allen
Kannst du loben
Gott im Himmel hoch dort oben.“

„Ei, das war sein Lebtag kein wildes Tier, welches dieses Lied sang!“ rief da der Schulmeister Klopfstock aus, und Trilltrall sagte: „Ihr habt gut reden, lieber Vater! Ihr habt es nicht gesehen auf allen Vieren ans Wasser kriechen, dem Wildschwein die Ohrfeige geben und dann auf dem Baum herumbellen; freilich, als es das schöne fromme Lied so recht aus Herzensgrund durch den Baum sang, in welchen der Mond hineinschien wie in eine schöne Kirche, und als Echo, der wilde Wiederhall, und die liebe Frau Nachtigall auch sangen zu diesem Freudenschall, und der Quell lieblicher rauschte und der Wald andächtiger lauschte, da zogen die Wölkchen am Himmel nicht mehr so schnell, und der Mond ward noch einmal so hell, und alle meine Angst besänftigte sich; meine Seele, welche gewesen war wie ein Meer, in welches ein großer Felsen hineinstürzte, verwirrt und trüb voll niederschlagender Wellen, wurde nach dem ersten Verse schon wie ein See, in den ein Fisch, den ein Geier herausgeraubt, frisch und gesund wieder hineinfällt; und nach dem zweiten Vers wie ein See, auf welchen ein singender Schwan niederfliegt und schimmernde Gleise zieht; und nach dem dritten Vers wie ein See, in welchen eine vorüberreisende Taube ein Zweiglein von dem friedlichen Ölbaum fallen läßt; und nach dem vierten Vers wie ein See, in den ein vorüberziehendes Lüftlein ein Rosenblatt weht; und nach dem fünften Vers war es mir, als sei ich wie ein müdes Bienlein, das über den See fliegen wollte und gar nicht weiter konnte und in großer Angst war, da es zum Wasser herabfiel, auf dieses Rosenblatt gefallen, und als schiffe ich sicher und ruhig auf dem Rosenblättlein hinüber und lande jenseits in einem blumenvollen Garten, aus dem mir die Nachtigallen entgegenschmetterten; mein Herz war so ruhig wie ein Spiegel, in dem sich der Mond anschaut und vor dem der Friede sang:

Ach, hört das süße Lallen
Der kleinen Nachtigallen!“

Auguste Raynaud: La nuit, 1887

Bilder:

  1. Gustave Moreau, Nyx, Göttin der Nacht, 1880Giuseppe Calì: Woman in the Moon, 1912, via Silence for My Soul;
  2. L. Friday Comerre, 2017, via Eudaimonia;
  3. Carl Schweninger (1854-1903): Der Morgenstern und der Mond, via Silence for My Soul;
  4. Jules Joseph Lefebvre: Le rêve;
  5. Luis Ricardo Falero: Moon Nymph (detail), 1883, via Mademoiselle la Piquante;
  6. Wytch Photos: Spirit of the New Moon, 9. September 2016;
  7. William-Adolphe Bouguereau: L’Étoile Perdue, 1884, via Wikiquote;
  8. Jan Saudek, via Jan Saudek Moodboard;
  9. Albert Aublet: Sélène, 1880, via Paintings Daily, 23. Mai 2017;
  10. Pompeo Batoni: Truth and Mercy, ca. 1745, via Centuries Past;
  11. Artemisia Gentileschi: Allegoria dell’inclinazione, via Art;
  12. Auguste Raynaud: La nuit, 1887, via Notes From A Superfluous Man, 11. Februar 2017;
  13. Gustave Moreau: Nyx, Göttin der Nacht, 1880, via Wikimedia Commons.

Vertonungen: Robert Schumann: Der Einsiedler, opus 83 Nr. 3;
Max Reger: Der Einsiedler, opus 144a, 1915:


Soundtrack: Freakwater: Lullaby, aus: Feels Like the Third Time, 1994:

Written by Wolf

29. Juni 2018 at 00:01

Scheißen Sie also nach Belieben

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Update zu Spitz wie Wetzlarer Karotte,
Schmerz, Tod und Graus gar spaßig zu erfassen,
Impotence proved I’m superman
und Lessing Luther Lemnius:

Dieser Brief musste früher oder später kommen. Umso verwunderlicher, dass davon keine zuverlässige oder auch nur vollständige Vorlage aufzutreiben war. Realistisch erreichbar ist die Auswahl Briefe der Liselotte von der Pfalz. Herausgegeben und eingeleitet von Helmuth Kiesel. Mit zeitgenössischen Porträts, Insel Verlag 1981; die verbindlichen Ausgaben sind diejenigen, nach denen sich Kiesel nach eigenen Angaben richtet: Briefe der Herzogin Elisabth Charlotte von Orléans (…). Herausgegeben von Dr. Wilhelm Ludwig Holland. 6 Bände. Stuttgart 1867–81 und Aus den Briefen der Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans an die Kurfürstin Sophie von Hannover. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. Herausgegeben von Eduard Bodemann. 2 Bände. Hannover 1891.

Von 1881 und 1891 — wobei die letztere sich schon in der Themenstellung ihrerseits als Auswahl ankündigt, und als modernste Ausgabe erwähnt Kiesels Literaturverzeichnis noch Briefe der Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans, gen. Liselotte. Herausgegeben von Hermann Bräuning-Oktavio — Leipzig 1913. Die ach so sprachlich erfrischend und unverblümt sich äußernde Liselotte soll gegen 60000 briefe geschrieben haben, von denen 5000 erhalten sind, und wird offenbar immer nur als Zitat eines Zitats eines Zitats weitergereicht, der berüchtigte Brief mit seiner Ballung an Kraftausdrücken — genauer: eines einzigen Kraftausdrucks — fehlt in der 1981er Auswahl des Insel-Verlags ganz. Und ab hier will man schon gar nicht mehr so genau wissen, in welchen wissenschaftlich verwendbaren Ausgaben er „entschärft“ erscheint oder ganz unterschlagen wird.

Coturnix, Erbauliche Enzy-Clo-Pädie, Meyster Verlag 1979Was ist eigentlich das Beschämende? Dass der Mensch (in Klammern: ich) so gern in hohen Gegenständen nach dem Niederen wühlt, bis er feststellen muss, dass das Niedere aus dem Hohen gerade dann herausgehalten wird, wenn es kulturhistorisch interessant wird — oder dass ich das ausführlichste Zitat — immer noch nicht den vollständigen Brief — in einem populären Brevier von 1979 finden musste?

Erbauliche Enzy-Clo-Pädie. Kulturgeschichte eines verschwiegenen Örtchens, herausgegeben von einem gewissen „Coturnix“ (wissenschaftlicher Name der Wachtel) im Meyster Verlag, der schon nicht mehr dingfest zu machen ist, habe ich mir 1979 oder kurz danach in der Buchabteilung vom Nürnberger Karstadt spendieren lassen — von meiner Frau Mutter, die dabei pflichtschuldig die Augen verdrehte, aber froh war, dass es mit 5,80 D-Mark abging statt mit den 14,80 für einen Karl May der Bamberger Reihe. Da war ich elf und musste mit irgendetwas auf dem Schulhof angeben können; das Bändchen (128 Seiten — es liegt mir noch vor) richtete sich wohl an Erwachsene bei gutbürgerlicher Freizeitgestaltung, die sich ansonsten auch gezielt „Herrenwitze“ merken, um sie ungefragt mit zuverlässigem Lacherfolg zu erzählen, und gern in hohen Gegenständen nach dem Niederen wühlen.

Den Liselotte-Brief habe ich seit 1979 öfter zitiert gesehen, genauer als bei „Coturnix“ werden wir ihn lange nicht vorfinden — mindestens bis 2022, wenn Liselotte 370. Geburtstag und 300. Todestag auf einmal feiern kann, worüber auch aus feministischer Sicht einiges zu holen sein dürfte — aber nicht so lange, wie eine seriöse, dabei lesbare Kulturgeschichte der Toilettenhygiene noch ausstehen wird.

Die Rechtschreibung ist alles andere als Liselottes originale, die in Kiesels Auswahl immer noch „behutsam modernisiert“, aber in ihrem übermütigen, sinnstiftenden Geiste belassen wäre.

——— Elisabeth Charlotte „Liselotte“ von der Pfalz:

Fontainebleau, den 9. Oktober 1694

Fontainebleau, den 9. Oktober 1694, an ihre Tante Sophie von der Pfalz:

Sie sind in der glücklichen Lage, scheißen gehen zu können, wann Sie wollen, scheißen Sie also nach Belieben. Wir hier sind nicht in derselben Lage, hier bin ich verpflichtet, meinen Kackhaufen bis zum Abend aufzuheben; es gibt nämlich keinen Leibstuhl in den Häusern an der Waldseite. Ich habe das Pech, eines davon zu bewohnen und darum den Kummer, hinausgehen zu müssen, wenn ich scheißen will, das ärgert mich, weil ich bequem scheißen möchte, und ich scheiße nicht bequem, wenn sich mein Arsch nicht hinsetzen kann. Dazu wäre noch zu bemerken, daß uns jeder beim Scheißen sieht: Da laufen Männer, Frauen, Mädchen und Jungen vorbei, Pfarrer und Schweizergarden können einander zusehen; nun, kein Vergnügen ohne Mühe und wenn man überhaupt nicht scheißen müßte, dann fühlte ich mich in Fontainebleau wie der Fisch im Wasser.

Es ist äußerst betrüblich, daß meine Freuden von Scheißhaufen behindert werden; ich wünschte, daß der, der das Scheißen erfunden hat, er und seine ganze Sippschaft, nur durch eine Tracht Prügel scheißen könnte! Wie war das am Dienstag? Man müßte leben können, ohne zu scheißen. Setzen Sie sich zu Tisch mit der besten Gesellschaft der Welt, wenn Sie scheißen müssen, müssen Sie scheißen gehen oder verrecken. Ach, die verdammte Scheißerei! Ich weiß nichts Ekeligeres als das Scheißen. Sie sehen eine hübsche Person, niedlich, reinlich, Sie rufen aus: ach wie reizend wäre das, wenn sie nicht schisse! Den Lastenträgern, Gardesoldaten, Sänfteträgern, dem Volk dieses Kalibers billige ich es zu. Aber: die Kaiser scheißen, die Kaiserinnen scheißen, die Könige scheißen, die Königinnen scheißen, der Papst scheißt, die Kardinäle scheißen, die Fürsten scheißen und die Erzbischöfe und Bischöfe scheißen, die Pfarrer und die Vicare scheißen. Geben Sie zu, die Welt ist von von ekelhaften Leuten! Denn schließlich scheißt man in der Luft, man scheißt auf die Erde, man scheißt ins Meer, das Weltall ist angefüllt mit Scheißern und die Straßen von Fontainebleau mit Scheiße, vor allem mit Schweizerscheiße und die pflanzen Haufen — ebenso große wie Sie, Madame. Wenn Sie glauben, einen hübschen kleinen Mund zu küssen, mit ganz weißen Zähnen — Sie küssen eine Scheißemühle: alle Köstlichkeiten, die Biscuits, die Pasteten, Torten, Füllungen, Schinken, Rebhühner und Fasanen usw. Das Ganze existiert nur um daraus gemahlene Scheiße zu machen …

Heidelinde Weis als Liselotte von der Pfalz, 1966

BIlder: Coturnix (Hrsg.): Erbauliche Enzy-Clo-Pädie. Kulturgeschichte eines verschwiegenen Örtchens,
Meyster Verlag 1979;
Heidelinde Weis in: Liselotte von der Pfalz, 1966 (vermutlich von Regisseur Hoffmann mit Absicht ausnahmsweise nicht mit Liselotte Pulver besetzt), via TV Movie, ca. 2013. Der Film war wie alle von Kurt Hoffmann übrigens nicht vollends … nun ja: scheiße:

Written by Wolf

22. Juni 2018 at 00:01

Wunderblatt 11: Die blühenden Narkosen

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Update zu Angebinde
und Mit Blumen, mit verdorrten:

Ich mag ja immer Pflanzen, die irgendwas können.

Adi Dekel Photography featuring Alexandra, 7. April 2016

——— Georg Rodolf Weckherlin:

Gartenbulschaft oder krantlieb

(25. September 1584 bis 23. Februar 1653):

Ich war in einem schönen garten,
da der Braunellen ich must warten;
alsbald sie kam und sah mich an,
empfanden wir das herzgespan.
„Ach, was empfind ich in dem herzen!“
sprach sie; ich antwort: „laß uns scherzen!
je läng’r je lieber bist du mir,
ja tag und nacht lieb bin ich dir.
laß uns mit maß und ohn maß lieben,
laß uns das nabelkraut verschieben,
das so süß, under deinen schurz.“
„Ja, knabenkraut und ständelwurz„,
sprach sie, „mir allzeit wol zuschlagen:
Liebstöckel mögen wir auch wagen,
dieweil sie gut für die, die bleich,
so steck es tief in das glidweich.
glidkraut mein glid mit lust durchdringet,
wan es kein mutterkraut mir bringet.
auch lieb und süß ist die manstreu,
mit zapfenkraut die freud wird neu,
Dan seine tugend stets passieret.
so bald es kützelnd tief berühret
die zarte nackend huren haut,
so wird es gleichsam seifenkraut.“
„Es ist gnug, laß nun ab zu scherzen,
bis wir einander wider herzen,
vergißmein nicht und bleib doch weis
mein augentrost, mein ehrenpreis.“

——— Ferdinand Hardekopf:

Angebinde

(15. Dezember 1876 bis 26. März 1954):

Ich stell sie dir hin, die blassen Herbstzeitlosen,
Den letzten Schierlingszweig trag ich herbei
Und will, Canaille, wieder mit dir kosen,
Wie im Zigeunerkraut am dritten Mai.

Den Taumel-Lolch, dies nette Giftgetreide,
Den zarten Schwindelhafer rupf ich aus
Und winde dir, infame Augenweide,
Aus Hundstod und aus Wolfsmilch einen Strauß.

Im Fingerhut das reichliche Volumen
Digitalin (mein Herz, du kennst es schon),
Das pflück ich dir und Belladonna-Blumen
Und Bittersüß und dunkelroten Mohn.

Kennst du des Bilsenkrautes böse Gnaden?
Der Beeren Scharlachglanz am Seidelbast?
Und die Betäubung, dreimal fluchbeladen,
Die stachlig die Stramin-Frucht in sich faßt?

So nimm sie hin, die blühenden Narkosen,
Aus Nacht und Haß ein Duft-Arrangement,
Und stell es zwischen deine Puderdosen
Und die Parfumflacons von Houbigant.

Gescheitert bin ich daran, eine „Stramin-Frucht“ oder auch nur eine Pflanze ähnlichen Namens nachzuweisen. Dafür ist es schon der halbe Spaß, zu wissen, dass die pro Gedicht je einmal vorkommende Herbstzeitlose bei Weckherlin „nackend hure“ heißt und im übrigen Volksglauben noch ganz andere Sachen.

Die Wölfin meint: „Ich vermisse Mädesüß und Phallus impudicus.“

„Ich auch“, sag ich, „ich auch.“

Adi Dekel Photography featuring Samantha Evans, 4. April 2015

Bilder:

  1. Adi Dekel Photography featuring Alexandra, 7. April 2016:

    Now I travel alone, I live in woods, alone I have no fear anymore. There’s light at the end, always…

  2. Adi Dekel Photography featuring Samantha Evans, 4. April 2015:

    Her hair reminded me of Ariel from the little mermaid, so I went with it just a bit.“

  3. Ella Ruth Photography: The Botanist, 19. Juni 2016

    A favourite from the day beautiful Anna and I filled the downstairs of my house with plants. I had so much fun creating this set!

Ella Ruth Photography, The Botanist, 19. Juni 2016

Soundtrack: Tom Waits: Little Drop of Poison, aus: Orphans, 2006,
Bilder aus Jean-Luc Godard: Vivre sa vie, 1962:

Written by Wolf

15. Juni 2018 at 00:01

Bokeh

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Update zu O süßes Lied:

Ein weibliches Personenmotiv,
das horizontal durch den Mittelgrund schreitet,
vom Ausschnittrand links, winkelschief,
dass sich von selbst die Blende weitet,

stürzt in derselben Hundertfünfundzwanzigstel,
da es Motiv ist, ein Landschaftsbild
in ein Portrait um, solang sich schnell
das Querformat mit seinem Schatten füllt.

Davon kippt die Belichtung der Häuserzeile,
verschwimmen Statisten im Straßencafé,
dann stellt sich der Fokus auf Vordergrund ein,

und der Laternenmast setzt noch eine steile
Linie, das Model vollführt einen Dreh
und hört außerhalb seiner selbst auf, zu sein.

„Als ob es tausend Stäbe gäbe“, meint die Wölfin, „ist da wieder mit jemandem der innere Rilke durchgegangen?“

Rwarrrrr!“, sag ich.

Bild: Purple Grape Zeus;
Soundtrack: Ideal: Berlin, aus: Ideal, 1980:

Written by Wolf

8. Juni 2018 at 00:01

Veröffentlicht in Land & See, ~ Weheklag ~

Flucht aus der gebornen Ruine

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Update zu Über den Kirchplatz mit Lancelot: Die namenlosen Religionen zu Coburg
und Wunder im Gehirn. Vier Bier und ein Buch de cerevisiis:

Frank Piontek, Literaturportal Bayern

Verschollene Bücher gibt’s fast so viele wie Bücher, die überhaupt nicht geschrieben wurden. Dergleichen zu rekonstruieren, bleibt naturgemäß meistens Spekulation. Wie ich das überblicke, sammeln Englischsprachige viel fleißiger ihre Bücher, die es gar nicht gibt; jedenfalls ist die Wikipedia-Liste mit Lost works ein Vielfaches länger als die mit verschollenen Büchern. Im Idealfall läuft es wie bei Isle of the Cross von Herman Melville, das lange vor 2007 schon einmal von von dem engagierten Laien Stephen Scott Norsworthy in seinen Melvilliana als Umarbeitung zu Norfolk Isle and the Chola Widow, der Sketch Eighth aus The Encantadas verortet wurde: A Note on „Isle of the Cross“. Am 28. April 2018 bleibt Allison McNearney mit Bezug auf die Melville-Biographie von Hershel Parker, immerhin schon von 2012, in ihrer Verwunderung stecken, aber das immerhin dem breiten interessierten Publikum des Daily Beast gegenüber: Whatever Happened to the Book Herman Melville Wrote After ‚Moby-Dick‘? Von der Library of the Dreaming aus den Sandman-Comics — „a collection of every book that has ever been imagined–even if that book was never published or even written“, der mein Alter Ego Lucien vorsteht — fangen wir vorsichtshalber an dieser Stelle nicht an, sonst sind wir bis auf weiteres beschäftigt.

Frank Piontek, Literaturportal BayernDas Bewusstsein für verschollene Werke der Deutschsprachigen, die offenbar nicht vermissen, was sie sowieso nicht haben, beschränkt sich meist auf die gleich zwei Brände der Bibliothek von Alexandria, von denen keiner stattgefunden hat, und das halbherzige Bedauern darüber, dass hin und wieder ein umnachteter Schreiberling — wahrscheinlich aus Gründen — seine Tagebücher verbrennt; nur dass Adolf Hitler von seinem Plan zu einer Oper „Dietrich von Bern“ Wagnerianischen Stils, die wohl nicht flächendeckend herbeigeseht wird und in den unteren Schichten von Luciens Beständen im Dreaming schlummern müsste, dann doch noch abgerückt ist, mag rein vom Hitlerschen Zeitbudget her ein Unglück für die ganze Welt bedeuten.

Umso erfreulicher ist es, von einem still vor sich hin glimmenden Gelehrtenstreit darüber zu hören, dass die zwei ersten Bücher von Jean Paul — Die unsichtbare Loge bei Karl Matzdorff, Berlin 1793 und Hesperus oder 54 Hundposttage, wieder bei Karl Matzdorff, Berlin 1795, erweitert 1798, 3. Auflage 1819 — möglicherweise ein und dasselbe Buch sind.

Nun ist Jean Paul die unsichtbare Loge, ein ursprünglich dreibändig geplantes, heute etwa 500-seitiges Fragment, für das er noch bis zur letzten Auflage zu eigenen Lebzeiten 1825 den dritten Band als Abschluss ankündigte, nicht unversehens aus der Schreibtischplatte gewachsen; die notdürftig angeklebte Dreingabe des Schulmeisterlein Wutz zählt nicht. Vielmehr war der seinerzeit Dreißgjährige mit zwei Satirensammlungen Auswahl aus des Teufels Papieren von 1789 und Grönländische Prozesse von 1793 f. schon ein veröffentlichter Autor (und mit der Briefromanschnulze Abelard und Heloise von 1781 ein unveröffentlichter). Die Zählung der unsichtbaren Loge als Erstling hat sich spätestens seit 1959 verfestigt, will sagen: seit der nächst der historisch-kritischen ab 1927 größten und besten realistisch erreichbaren Gesamtausgabe von Norbert Miller und Walter Höllerer bei Hanser, weil die alles vor der unsichtbaren Loge zwar chronologisch, aber erst in einer zweiten Abteilung „Jugendwerke“ ab dem 7. Band bringt. Man kann das als willkürlich bemängeln oder gleich mir im Gebrauch der Zusammenstellungen recht handlich finden.

Gleich mit derselben Hanser-Ausgabe hat Walter Höllerer in seinem Nachwort zu Band 1, der die unsichtbare Loge und den Hesperus versammelt, den Gelehrtenstreit angezettelt. Zitiert wird Norbert Miller (Hrsg.): Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung. Mumien. in: Jean Paul: Sämtliche Werke. Abteilung I. Erster Band, Seite 7–469. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt. Lizenzausgabe 2000, Copyright Carl Hanser München Wien 1960, 5., korrigierte Auflage 1989, 1359 Seiten, mit einem Nachwort von Walter Höllerer (Seite 1313–1338), darin der Anfang Abschnitt II, Seite 1319:

Frank Piontek, Literaturportal Bayern

Den Roman ‚Die unsichtbare Loge‘ bezeichnet Jean Paul 1825 in seiner „Entschuldigung bei den Lesern der sämtlichen Werke in Beziehung auf die unsichtbare Loge“ als eine „geborne Ruine“. In seiner Vorrede zur zweiten Auflage, 1821, versprach Jean Paul noch eine Beendigung des Fragments: Der Titel „soll etwas aussprechen, was sich auf eine verborgene Gesellschaft bezieht, die aber freilich so lange im Verborgenen bleibt, bis ich den dritten oder Schlußband an den Tag oder in die Welt bringe“. — Aus dieser versprochenen Fortsetzung wird nichts, und das das ist verständlich. Jean Paul brach seinen ersten Roman ab, um ihn, mit ähnlichem Vorwurf, aber mit neuen Aufbauplänen, mit schärferen Umrissen für die höfische Welt und die revolutionären Tendenzen und mit verbesserten stilistischen Mitteln noch einmal zu schreiben: in der Gestalt des ‚Hesperus‘! Ob er sich selber über diesen in der Literaturgeschichte einmaligen Vorgang ganz klar war, bleibt dahingestellt. Jedenfalls bewegten ihn Überlegungen in ähnlicher Richtung, als er in einem Begleitbrief zur ersten Niederschrift der ‚Unsichtbaren Loge‘ an Otto schreibt: „Übrigens ist dieses Pak ein corpus vile, an dem ich das Romanenmachen lernte; ich habe jetzt etwas besseres im Kopfe!“

Das geschieht merklich so beiläufig, dass es ein Versehen sein kann, zumal Höllerer mit Absicht wohl nicht ausgerechnet in einer abschließend gemeinten Gesamtausgabe einen Gelehrtenstreit aufgebracht hätte. Die gar nicht genug zu lobende Jean-Paul-Biographie von Günter de Bruyn Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter ist zuerst 1975 erschienen — zu Halle an der Saale, also DDR-Ware. Zumindest in der Überarbeitung für Fischer ab 1991 stützt sich de Bruyn außer auf die historisch-kritische auch auf die Hanser-Ausgabe, kennt also sehr wahrscheinlich Höllerers Nachwort. Falls nicht, kommt er jedenfalls auf die gleiche Idee, um sie höchst einfühlsam auszubreiten — nachstehend zitiert mit dem Eingriff noch einmal abgesetzter Primärzitate:

Frank Piontek, Literaturportal Bayern

——— Günter de Bruyn:

17. Revolution und Schlafmütze

aus: Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter. Eine Biographie,
Mitteldeutscher Verlag, Halle an der Saale, 1975,
Fischer Taschenbuch Verlag, 1991, 7. Auflage Dezember 2011, Seite 117 bis 119:

Auch das Fragmentarische des Romans scheint programmatisch. Sechs Romane wird er in seinem Leben schreiben, drei davon werden unvollendet bleiben. Als vom ersten, kurz vor Jean Pauls Tod, eine zweite Auflage gemacht wird, entschuldigt er sich beim Leser für diese „geborene Ruine“ mit Argumenten, die nur jemandem einfallen können, der ganz auf Realismus und Gegenwart eingeschworen ist und dem die Fabeln seiner Romane wenig bedeuten:

Wenn man nun fragt, warum ein Werk nicht vollendet worden, so ist es noch gut, wenn man nun nicht fragt, warum es angefangen. Welches Leben in der Welt sehen wir denn nicht unterbrochen? Und wenn wir uns beklagen, daß ein unvollendet gebliebener Roman uns gar nicht berichtet, was aus Kunzens zweiter Liebschaft und Elsens Verzweiflung darüber geworden, und wie sich Hans aus den Klauen des Landrichters und Faust aus den Klauen des Mephistopheles gerettet hat — so tröste man sich damit, daß der Mensch rundherum in seiner Gegenwart nichts sieht als Knoten, — und erst hinter seinem Grabe liegen die Auflösungen; — und die Weltgeschichte ist ihm ein unvollendeter Roman.

Nun sind bekanntlich Literatutheorien von Literaten meist nichts als Versuche, das, was man kann, als das auszugeben, was man will, und insofern vom Biographen zwar ernst, aber nicht als Wahrheit zu nehmen, was für die „Unsichtbare Loge“ bedeutet: Sie bleibt nicht unvollendet, weil Leben und Weltgeschichte es bleiben, sondern weil der Autor aus seinem ersten Roman in den zweiten, ähnlichen, flieht. Vielleicht kann er die Unzahl der Fäden, an die er die Lebensgeschichte seines Helden knüpfte, selbst nicht mehr entwirren, vielleicht erkennt er, daß die geplante Weiterführung seine Kräfte übersteigt. Gustav, der Hauptheld, sitzt im Gefängnis; er ist der Mitgliedschaft in der geheimnisvollen Loge angeklagt, von der der Leser nicht viel weiß. Durch die Welt, die Jean Paul kennt (die des kleinformatigen Fürstentums) und ein wenig darüber hinaus (die des Hofes), hat er den Leser geführt; die Erlebnisse, die er hatte (Freundschaft, die mit Tod endet, Liebe, Eifersucht, Unterdrückung, Unrecht, Naturschwärmerei), hat er ihn nacherleben lassen — jetzt merkt der Autor, wie er es besser machen kann. Statt eines schlechten Schlusses gibt er keinen, aber er gibt nicht auf: Er beginnt von vorn, versucht es noch einmal.

Im Februar 1792 schickt er, aus Schwarzenbach, dem Freund Christian Otto in Hof das Manuskript:

Endlich ist nach einem Jahr die konvulsivische Geburtszeit meines Romans vorbei … Wie ein Vieh hab ich dies Woche geschrieben — der Appetit ist längst fort, — je näher man dem Ende kömmt, desto krampfhafter schreibt man.

Kein Wort darüber, daß das Ende keins ist, daß Gustav ewig im Gefängnis schmachten muß. Statt dessen, im gleichen Brief, die Bemerkung, daß er an diesem Buch

das Romanmachen lernte: ich habe jetzt etwas bessers im Kopfe.

Den „Hesperus“ nämlich, der einen Schluß haben wird, wenn auch einen wie in Hast hingeschriebenen.

Aber da hat er schon zum drittenmal ausgeholt, noch weiter, noch größer und großartiger, zum „Titan„, und diesmal gelingt es.

Das Beste an diesem Erkenntnisgewinn ist die beruhigende Einsicht, dass man sich fortan nicht weiter zu genieren braucht, wenn man sich im Gang der Handlung der unsichtbaren Loge verheddert, um erst ganze Stunden lang immer wieder nur den einen Absatz zu lesen, ohne ein Wort zu verstehen, und dann gedemütigt das Buch „zu den anderen“ zu legen: Wenn selbst der eine, der es geschrieben hat, noch nach mehreren hundert Seiten entsetzt vor all der Wirrsal flieht, kann das keine Schande sein.

Frank Piontek, Literaturportal Bayern

Bilder: Stechbahn und Zimmerstraße in Berlin via Frank Piontek: Letzter Anhang. Schluss des Schlusses: Matzdorff oder Der Verleger, Literaturportal Bayern, 22. Dezember 2004;
Buch & Bier via derselbe: Heimstätten. Joditziana IV, Literaturportal Bayern, 26. Juni 2013.

Frank Piontek, Literaturportal Bayern

Soundtrack sei am Ende einer nicht mehr als zweigliedrigen Assoziationskette das Video, das zweimal gedreht werden musste: einmal 1998 von Anton Corbijn, einmal 1999 von James & Alex — das eine Mal nichtssagender als das andere, aber das Lied selbst muss ein Engel versprüht haben; deshalb hier mit dem dritten und inoffiziellen, aber einzigen Video, das etwas taugt: einer Fan-Arbeit, 2009 von Harriet Bennett im Stil von Watership Down:
Mercury Rev: Goddess on a Hiway aus: Deserter’s Songs, 1998:

Written by Wolf

1. Juni 2018 at 00:01

Veröffentlicht in Klassik, Weisheit & Sophisterei