Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Archive for Dezember 2012

Ein neues Stiefelpaar for what you really are

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——— Jörg Wickram Stattschreyber zu Burckhaim:
Das Rollwagenbüchlin, Widmung, 1555.

Bitt euch hiemit sömlich kleine gaab / dieweil sy mit gûtem hertzen und gemút verert wirt / nit zû verschmahen / und zû einem glücksäligen neüwen Jar empfahen / mich auch noch als vor für euweren gûten freünd und willigen diener erkennen. Wünsch euch hiemit vil glück unnd heil euch und euwer neüwen Eegemahelen / und nach disem zergencklichen leben das ewig himmlisch reich und seligkeit / Amen.

——— The McCalmans: New Year’s Eve Song, from: Honest Poverty, 1993:

1. I have seen you tossing restless
     between midnight and day,
Paying back the debts of many years,
Staring out the window
     till the mist has burned away,
Waiting for the sun to dry your tears.
I’ve seen you young, I’ve seen you old,
I’ve seen you lost and found,
I’ve seen you sit and cry without a sound.

2. I have seen you in the lamplight
     with the hard lines in your face,
And the shadows of your fears upon the wall.
But crying is no weakness
     and to lose is no disgrace,
You see we’re not so different after all.
But can’t you tell, by the ringing bell,
Then old year’s moving on,
I’d like to say one thing before it’s done.

3. May whatever house you live in
     have flowers round the door,
And children in the bed to keep you warm,
May the people there accept you
     for what you really are,
And help you find some shelter in the storm.
And morning rain, to ease the pain,
That comes with being free,
May the new year bring you freedom peacefully.

Joseph Bergler, Zu dem neuen Jahr 1809 via Goethezeitportal

zu de[m] Neuen Jahr 1809: Joseph Bergler: Ich wünsch Euch allen ein frohes Jahr! Und mir, ein solches Stiefel paar. 1809: Joseph Bergler and Graphic Art in Prague 1800–1830, Katalog I. 273, Seite 225, Auftraggeber „F.G.“.

Written by Wolf

31. Dezember 2012 at 00:01

Veröffentlicht in Herrschaft & Revolte, Renaissance

Wölfchen Wulffs Weihnachten

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Münchener Bilderbogen Nro. 697 Weihnachten, Braun & Schneider, München 1878, Detail

——— Detlev von Liliencron:

Wiegenlied

1909:

Und träumt von schönen Sachen und von dem WeihnachtsbaumVor der Türe schläft der Baum,
Durch den Garten zieht ein Traum.
Langsam schwimmt der Mondeskahn,
Und im Schlafe kräht der Hahn.
Schlaf, mein Wölfchen, schlaf.

Schlaf, mein Wulff. In später Stund
Küß ich deinen roten Mund.
Streck dein kleines, dickes Bein,
Steht noch nicht auf Weg und Stein.
Schlaf, mein Wölfchen, schlaf.

Schlaf, mein Wulff. Es kommt die Zeit,
Regen rinnt, es stürmt und schneit.
Lebst in atemloser Hast,
Hättest gerne Schlaf und Rast.
Schlaf, mein Wölfchen, schlaf.

Vor der Türe schläft der Baum,
Durch den Garten zieht ein Traum.
Langsam schwimmt der Mondeskahn,
Und im Schlafe kräht der Hahn.
Schlaf, mein Wölfchen, schlaf.

Tom Waits: Silent Night, from SOS United, 1989;
darin: Correggio: Anbetung der Hirten, 1530 (Detail); Tintoretto, 1545 oder 1578; Gerrit van Honthorst, 1622 oder 1646.

Der Kinderchor bleibt unbekannt-weil-ungenannt, aber das war 1989 eine Stiftung von Tom Waits für die SOS-Kinderdörfer. Auf keiner Original-CD erhältlich.

Bilder: Münchener Bilderbogen Nro. 697: Weihnachten, Braun & Schneider, München 1878, Detail. Rechts unten Monogramm von Andreas Müller: „Stilisierte Mehlkotze (Kreis mit kreuzweise am Rand gesetzten Zapfen), in deren Binnenfläche ein A steht“ (Hans Ries: Illustration und Illustratoren des Kinder- und Jugendbuchs im deutschsprachigen Raum 1871–1914. Osnabrück: H. Th. Wenner 1992, Artikel „Müller, Andreas“, S. 732) – mit Jahreszahl 1878. Links unten: Ed. Schempp sc[ulpsit]. Holzstich, schablonenkoloriert;
„Und träumt von schönen Sachen / Und von dem Weihnachtsbaum.“ Signet: NPG. 3. Adressseite (ungeteilt): Serie 133, No. 3. Nicht gelaufen, via Jutta Assel/Georg Jäger: Fotomontagen auf Postkarten und Weihnachtslieder, Weihnachten 2012
(und eben doch nicht Die besten Weihnachtsgrüsse. Signet: BNK. 34793/4. Gelaufen. Poststempel 1929, via Jutta Assel/Georg Jäger: „Stille Nacht, heilige Nacht!“ und das Weihnachtsfest. Eine Dokumentation zu Weihnachten 2006, 3. Zur Ausgestaltung des Weihnachtsfestes im 19. und frühen 20. Jh.).

Written by Wolf

24. Dezember 2012 at 00:01

Veröffentlicht in Realismus, Vier letzte Dinge: Himmel

Schlachtens

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200 Jahre Grimms Märchen.

Liebe Bettine, dieses Buch kehrt abermals bei Ihnen ein, wie eine ausgeflogene Taube die Heimat wieder sucht und sich da friedlich sonnt. Vor fünf und zwanzig Jahren hat es Ihnen Arnim zuerst, grün eingebunden mit goldenem Schnitt, unter die Weihnachtsgeschenke gelegt.

lille.ja, childlike, 14. Mai 2012Ich weiß nichts mehr über Bettina. Bettina kannte ich einst aus dem Internet, aber es gab sie, und wünschen will ich ihr, dass es sie noch gibt. Bettina und ich hatten jeder für sich angefangen, kurze Geschichten und Gedichte, die wir für Literatur hielten, im Internet abzuladen. Zu unserem Abladeplatz musste man von einer Redaktion vorgelassen werden, und man konnte „Lesenswertpunkte“ von all den anderen Schreibern bekommen, dadurch wirkte unser Forum nicht ganz so schrottig wie allfälliger Speicherplatz, der beliebig gute oder schlechte Buchstabenhaufen zuließ. Das war, bevor jeder einen Weblog hatte, aber schon nachdem man sich mit einer Homepage lächerlich machte.

Bettina kommentierte meine Geschichten und Gedichte wohlwollend und geizte nicht mit ihren Lesenswertpunkten, da wollte ich umgekehrt auch nicht so sein und wurde ihr Leser. Einmal schrieb sie mir in einer privaten Botschaft etwas über die Schule. „Wie alt bist du eigentlich?“ fragte ich in einer plötzlichen Ahnung, „siebzehn oder was?“ Bettina schrieb zurücK: „Dreizehn.“

Lesenswertpunkte sind eine körperlose Währung, die für nichts gut ist, die man sich mühsam verdienen muss, für die man nichts bekommt, und die einen deshalb ständig unbefriedigt lässt. Anders gesagt: Lesenswertpunkte machen süchtig. In dieser Zeit kam ich jeden Tag nur schwer vom Internet los und spät ins Bett. Immerhin war meine Frau da noch bereit, mich mit ihren Mitteln ins Bett zu locken. Unsere besten Unterhaltungen führten wir, während wir uns liebten. Auf ihr liegend machte ich mir einen Sport daraus, ihr einen unserer süßen Beschleuniger ins Ohr zu flüstern, damit ihre Stimme, noch während sie Antwort hab, vor Lust brach.

Ich fing an, solcherlei Intimitäten ins Internet zu schreiben, das hagelte Lesenswertpunkte. Bettina fand es lustig und fragte mich in privaten Botschaften nach den Details, die ich öffentlich aus dramaturgischen Erwägungen verschwieg. Bettina war der Teil meines Publikums, der sich zeigte. Meine Geschichten mussten für Minderjährige geeignet bleiben, ich schrieb sie für Bettina zurecht. Meine Frau, deren Stimme mehrmals in der Woche vor Lust brach, wusste davon nichts.

Wir wünschten uns eine Tochter, deshalb vereinbarten wir still, uns möglichst jeden Tag zu lieben. Unser Hunger aufeinander wuchs damals noch jeden Tag frisch nach, es war nur eine leicht zu beantwortende Frage der Organisation, gleichzeitig ins Bett zu kommen und übereinander herzufallen. Meiner Frau überließ ich, mich vom Computer wegzulotsen. Indessen wurde Bettina für mich zu der Tochter, die wir nicht hatten.

Bettina schrieb ihrerseits düstere Geschichten vom Tod — nicht die übliche Pubertätsdüsternis, die sich als Gedicht ausgibt, gerne mit „Gedanken“, „Nacht“, „November“ oder „Novembernachtgedanken“ überschrieben und offenbar mit jeder nachwachsenden Generation neu erfunden wird. An Bettinas Geschichten war etwas anders, sie war richtig gut: Sie jammerte nicht pubertär über ihren Schmerz, sie schrieb über Menschen, die sich weh taten, da kannte sich jemand damit aus. Eine ihrer Figuren lehnte es ab, Kleider mit kurzen Ärmeln zu tragen, um ihre Unterarme zu verbergen. Wer Augen hatte zu sehen, erkannte: Bettina ritzte.

Sie stritt es nicht ab, wich nur direkten Nachfragen aus. Vielmehr handelte ihre folgende Geschichte von einem sechsjährigen Mädchen, das vergnügt und nackt in ihrem Garten herumhüpfte, wonach sie von einem der Familie nahestehenden ältlichen Onkel im Schritt begrapscht wurde. In ihrer übernächsten Geschichte wurde das vermutlich selbe Mädchen hinter dem Geräteschuppen bei grellem Sonnenschein vom selben Onkel aufgefordert, sich nackt auszuziehen, auf einen verrotteten Leiterwagen gesetzt und zwischen kitzelnden Grashalmen und schillernden, auf ihrem Körper herumsurrenden Fleischfliegen entjungfert.

Die Geschichte war gut: gnadenlos knappe, karge Sätze ohne Adjektive, kommentarlose Dialogfetzen, kein Wort zuviel. „Vor sieben Jahren, als du sechs warst“, schrieb ich an Bettina, „da bist du sexuell missbraucht worden, hab ich recht?“ Bettina schrieb zurück: „Glaub mir, ich hab mich mit Pädophilen beschäftigt. Wie sie so drauf sind, wie sie reden, was sie tun, wenn sie nicht gerade ficken. Und ich kann dir sicher sagen: Du bist keiner.“

Das Beruhigende war: Bettina mochte mich. Dennoch schlug mir das Gewissen, mit einer sexuell erfahrenen Dreizehnjährigen so regelmäßig umzugehen wie mit meiner Frau. Ich hatte angefangen, an Bettina zu denken, während wir lustvoll an unserer Tochter arbeiteten. Eines Abends lagen wir gleichzeitig im Bett und fielen nicht übereinander her.

„Was ist?“ fragte meine Frau. Ihr Körper war nackt und einladend. Mein Körper war nackt und verletzlich.

„Ich hab ein Mädchen kennen gelernt. Im Internet.“

Meine Frau nickte ernst und zog sich die Bettdecke über den Schoß.

„Nicht was du denkst.“

„Was denke ich denn?“

„Da ist nichts zwischen uns.“

„Du unterhältst dich fast jeden Abend mit ihr, ja? Bevor du mit mir schläfst.“

„Ja“, sagte ich, um nicht auch noch offen zu lügen.

„Name? Wie alt?“

„Bettina. Dreizehn.“

Sie zuckte unmerklich und schwieg.

„Da ist nichts zwischen uns.“

„Hast du schon gesagt.“

„Mit sechs Jahren sexuell missbraucht worden.“

„Ach? Und du bist ihr Retter oder das Jugendamt?“

„Weder noch.“

„Richtig, du bist weder noch. Wie geht das jetzt weiter?“

Ich schwieg.

„Du bist dran. Sprich zu mir.“

Am nächsten Abend traf ich Bettina online. Ich schrieb ihr sofort: „Das wird mir zu heiß. Ich darf nicht mehr mit dir reden. Das geht nicht.“ Bettina schrieb zurück: „Mache ich dich heiß?“ Ich schrieb: „Lass das bitte.“

Ihre Kinder sind groß geworden und bedürfen der Märchen nicht mehr: Sie selbst haben schwerlich Veranlassung sie wieder zu lesen, aber die unversiegbare Jugend Ihres Herzens nimmt doch das Geschenk treuer Freundschaft und Liebe gerne von uns an.

Ich hörte auf, Geschichten und Gedichte in Foren mit pubertierenden Mädchen zu veröffentlichen, und bekam von niemandem mehr Lesenswertpunkte. So bekam ich Zeit und den Kopf frei für meine Frau. Als ich mit ihr schlief, stieß ich ihr bis auf den Grund. Sie kniff die Augen zusammen, riss den Mund auf, kippte den Kopf nach hinten und entließ einen langgezogenen Schrei nach dem anderen. Ich verströmte mich. Sie pumpte mit dem ganzen Becken den letzten Tropfen aus mir.

Danach packte sie mich an beiden Ohren und küsste mich tief in den Schlund. Danach strahlte sie mich mit glühenden Wangen an: „Heute hat’s funktioniert! Ich wette meine wundgerittene Gebärmutter!“

„Bloß nicht“, sagte ich, „die brauchen wir jetzt erst recht.“ Damit rutschte ich tiefer an ihr.

Wie damals, dachte ich, wie vor Bettina.

„Wie war das?“

Meine Frau packte mich erneut an den Ohren, diesmal um sie zwischen ihren Schenkeln zu entfernen.

„Ich hab nix gesagt“, sagte ich und spuckte ein gekräuseltes Haar aus.

„Nein — weil du den Mund voll hattest.“

Ich tat, was ich mir zurechtgelegt hatte, wenn ich Berge vor mir herzuwälzen hatte, und streunte durch Antiquariate. Diesmal trieb ich ein Exemplar des Rollwagenbüchleins auf.

Kann ich eine bessere Zeit wünschen um mit diesen Märchen mich wieder zu beschäftigen?

——— Georg Wickram: Das Rollwagenbüchlein. Ein neüws / vor vnerhörts Büchlein / dariñ vil guter schwenck vnd Historien begriffen werde / so man in schiffen vnd auff den wegen / deßgleichen in scherheuseren vnnd badstuben / zu langweiligen zeiten erzellen mag / die schweren Melancolischen gemüter damit zu ermünderen / vor aller menigklich Jungen vnd Alten sunder allen anstoß zu lesen vnd zu hören / Allen Kauffleüten so die Messen hin vnd wider brauchen / zu einer kurtzweil an tag bracht vnd zusamen gelesen durch
Jörg Wickrammen / Stattschreiber zu Burckhaim / Anno 1555.:
Wie Kinder Schlachtens mit einander gespielt haben, 1555:

I.

lille.ja, childlike, 14. Mai 2012In einer Stadt Franecker genannt, gelegen in Westfriesland, da ist es geschehen, daß junge Kinder, fünf- und sechsjährige, Mägdelein und Knaben mit einander spielten. Und sie ordneten ein Büblein an, das solle der Metzger seyn, ein anderes Büblein, das solle Koch seyn, und ein drittes Büblein, das solle eine Sau seyn. Ein Mägdlein, ordneten sie, solle Köchin seyn, wieder ein anderes, das solle Unterköchin seyn; und die Unterköchin solle in einem Geschirrlein das Blut von der Sau empfahen, daß man Würste könne machen. Der Metzger gerieth nun verabredetermaßen an das Büblein, das die Sau sollte seyn, riß es nieder und schnitt ihm mit einem Messerlein die Gurgel auf, und die Unterköchin empfing das Blut in ihrem Geschirrlein. Ein Rathsherr, der von ungefähr vorübergeht, sieht dies Elend: er nimmt von Stund an den Metzger mit sich und führt ihn in des Obersten Haus, welcher sogleich den ganzen Rath versammeln ließ. Sie saßen all’ über diesen Handel und wußten nicht, wie sie ihm thun sollten, denn sie sahen wohl, daß es kindlicher Weise geschehen war. Einer unter ihnen, ein alter weißer Mann, gab den Rath, der oberste Richter solle einen schönen rothen Apfel in eine Hand nehmen, in die andere einen rheinischen Gulden, solle das Kind zu sich rufen und beide Hände gleich gegen dasselbe ausstrecken: nehme es den Apfel, so soll es ledig erkannt werden, nehme es aber den Gulden, so solle man es tödten. Dem wird gefolgt, das Kind aber ergreift den Apfel lachend, wird also aller Strafe ledig erkannt.

Es war ein Auswahlband aus der Insel-Bücherei, sichtlich uralt, aber zum Frakturdruck passend — und zerfleddert, was mir gerade recht kam. Insel-Bücherei, das war für mich seit einem Artikel in der Titanic vor allem der Erscheinungsort, wo nicht die Erscheinungsform der Briefe an einen jungen Dichter von Rilke. Ansonsten war mir die Reihe immer zu schmal für ihren Preis. Das erinnerte mich an Bettina.

Ich loggte mich ein und schrieb ihr: „Kennst du die?“

„Kenn ich“, schrieb Bettina zurück, „kommen in Sister Act vor. Aber ich mag die Bücherreihe nicht. Zu dünn, zu teuer.“

Manchmal war sie mir unheimlich. „Was liest du denn grade?“

„Grimms Märchen. Ich bin die Gänsemagd, aber sowas von.“

„Die mit dem abgehauenen, an die Wand genagelten Pferdekopf, der sprechen kann?“

„Ja. Der immer das gleiche sagt.“

„Sieht dir ähnlich.“

„Der Pferdekopf?“

„Dass du dir das morbideste ausgesucht hast.“

„Ha, von wegen. Kennst du das mit dem Wacholderbaum?“

„Siehst du, das mein ich.“

„Ich hab gefickt“, schrieb sie unvermittelt.

„War das meine Frage?“

„Nein, das war meine Antwort. Oft. Ich hab jetzt einen Fickfreund. Wir machen es oft.“

Ich notierte mir geistig: Rhetorisch mehr von jungen Mädchen lernen.

„Und jetzt?“ fiel mir nur ein.

„Und jetzt? Bin ich keine Jungfrau mehr.“

„Warst du eigentlich noch nie.“

„Ich bin ein Kind, das weißt du doch.“

„O ja. Alle mir bekannten Kinder halten sich Fickfreunde.“

„Das hat nichts damit zu tun. Wo ich das erste Mal gefickt wurde, da war ich ganz bestimmt noch Kind.“

„Ich wünsch dir Glück mit deinem Freund.“

„Ich hab keinen Freund. Ich hab nur eine Fickbeziehung.“

„Respekt.“

„Sag nicht, was du nicht meinst. Das ist nichts zum Respekthaben. Dafür kommt man in die Hölle.“

„Quatsch Hölle. Wenn’s einvernehmlich ist, ist das höchstens illegal, aber nagel mich da jetzt juristisch nicht fest.“

„Willst du mich auch ficken?“

„Lass das bitte“, schrieb ich.

„Was ist dein Lieblingsmärchen?“ fragte sie dann.

Das kalte Herz.“

„Das ist kein Märchen. Das ist Wilhelm Hauff. Sag eins von den Grimms.“

„Soll ich jetzt Rotkäppchen sagen? Weil ich der Wolf bin und du ein pubertierendes Mädchen?“

„Nur wenn du’s so meinst. Rotkäppchen fänd ich aber billig.“

Allerleirauh, wo der König seine Tochter heiratet. Das Mädchen ohne Hände, das von ihrem Vater verschenkt und wehrlos gemacht wird.“

„Du sollst mich nicht verarschen. In echt jetzt.“

„Okay, Schneewittchen vielleicht. Aber dann wegen dem Zeichentrickfilm. Der erste abendfüllende von Disney, 1937.“

„Auch nicht viel toller als Rotkäppchen. Aber deine Begründung ist cool, wenigstens nicht: wo sie zu siebt über das Mädchen herfallen. Das glaub ich dir eher.“

„Es freut mich, dir zu genügen.“

„Was ist jetzt mit Ficken?“

Ich loggte mich aus.

II.

Kate Esmé, Breaking Childhood, 25. Januar 2011Einstmals hat ein Hausvater ein Schwein geschlachtet, das haben seine Kinder gesehen; als sie nun Nachmittag mit einander spielen wollen, hat das eine Kind zum andern gesagt: „du sollst das Schweinchen und ich der Metzger seyn;“ hat darauf ein bloß Messer genommen, und es seinem Brüderchen in den Hals gestoßen. Die Mutter, welche oben in der Stube saß und ihr jüngstes Kindlein in einem Zuber badete, hörte das Schreien ihres anderen Kindes, lief alsbald hinunter, und als sie sah, was vorgegangen, zog sie das Messer dem Kind aus dem Hals und stieß es im Zorn, dem andern Kind, welches der Metzger gewesen, ins Herz. Darauf lief sie alsbald nach der Stube und wollte sehen, was ihr Kind in dem Badezuber mache, aber es war unterdessen in dem Bad ertrunken; deßwegen dann die Frau so voller Angst ward, daß sie in Verzweifelung gerieth, sich von ihrem Gesinde nicht wollte trösten lassen, sondern sich selbst erhängte. Der Mann kam vom Felde und als er dies alles gesehen, hat er sich so betrübt, daß er kurz darauf gestorben ist.

Meine Frau und ich übten seit langem nicht mehr, eine Tochter zu bekommen. Wir lagen nebeneinander im Bett und lasen.

„Sag mal“, sagte sie.

„O je“, sagte ich.

„Hast du noch was mit deiner missbrauchten Minderjährigen?“

Ich schnaufte tief ein. „Also erstens …“

„Du weißt schon, wen ich meine.“

„Kurze Antwort: Nein.“

„Gut.“

Wir lasen weiter.

——— Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen, nur in der Erstauflage 1812, KHM 22a,
Anmerkungen im Anhang Band 1:

Zum Kinderschlachtspiel. No. 22.

Die erste Recension ist aus einem alten Buche in den Berliner Abendblättern von Kleist (1810. No. 39.) abgedruckt worden. Die zweite befindet sich in Martin Zeilers Miscell. Nürnberg 1661. S. 388. der sie aus J. Wolf lectiones memorabiles. Laving. 1600. fol. genommen. Es wird hinzugesetzt, der Papst, der zur Zeit dieser Geschichte gelebt und ein fertiger Poet gewesen, habe versucht sie in ein Distichon zu bringen, es aber nicht vermocht. Da habe er einen stattlichen Preis darauf gesetzt, den ein armer Student verdienen wollen, dieser habe sich auch lange umsonst gequält, bis er endlich unmuthig die Feder weggeworfen und ausgerufen: „kann ichs nicht, so mags der Teufel machen!“ Dieser sey alsbald erschienen, habe gesagt er wolle es zu Stand bringen, die Feder aufgenommen und geschrieben:

sus, pueri bini, puer unus, nupta, maritus
cultell‘, lympha, fune, dolore cadunt.

Neuerdings hat Werner in seinem Trauerspiel der 24ste Februar die alte Fabel benutzt und damit die Macht menschlicher Poesie gegen den Teufel bewährt.

Wir lagen nebeneinander im Bett und lasen. Meine Frau las unaufmerksam, ihr Blick flackerte zwischen ihrer Buchseite und mir hin und her.

„Na?“ sagte ich.

„Das mit dir und der Minderjährigen wird aufhören. Du bist nicht das Jugendamt.“

„Und nicht ihr Retter.“

„Eben.“

Am nächsten Tag schrieb ich die Geschichte dialogisch zusammen, veröffentlichte sie und erntete am übernächsten Tag die Lesenswertpunkteration des Jahres. Mein Plan ging auf: Bettina schrieb mir.

——— Ebenda, Anmerkungen im Anhang Band 2:

Num. 22. (Kinderschlachtspiel.) Kinder lockt die Rundheit und lachende Röthe der Aepfel vor allen Dingen. Man vgl. das schott. Lied von der Judentochter; auch Fürterer im Lanzilet Nr. 49. „als kinden tut gezemen, den man peut ein Apfel rot, lassen das gold in aus den henden nemen.“ Und im Schwank vom Häselin 54. 55. „ein kint den Apfel minnet und neme ein ei für des riches lant.“ Also versucht der Apfel im Paradis die ersten Menschenkinder. – Den latein. Vers geben die nugae venales p. 97. so:

hircus cum pueris, puer unus, sponsa, maritus, etc.

„Hi“, schrieb Bettina.

„Hi“, schrieb ich, „geht’s dir gut?“

„Ich hab jetzt einen Freund. Einen richtigen.“

„Das freut mich zu hören.“

„Ja. Das freut dich. Ich glaub dir.“

„Warum liegt dir daran so viel? Ist doch alles virtuell hier. Ich kann dich anlügen, dass sich dein Bildschirm wellt, und wer sagt mir eigentlich, dass es dich überhaupt gibt? Märchen magst du sowieso.“

„Weil Märchen wahr sind. Vor allem die auf den Bäumen gewachsenen von den Grimms.“

„Wie schön du das wieder gesagt hast. Ich hab übrigens ein neues Lieblingsmärchen. Aus dem Rollwagenbüchlein, später bei den Grimms.“

„Du meinst das von den Kindern, die Schlachten spielen.“

„Schlachtens.“

„Ja, das. Nach der ersten Auflage rausgeflogen.“

„Ach du. Manchmal schaffst du mich.“

Darum geht innerlich durch diese Dichtungen jene Reinheit, um derentwillen uns Kinder so wunderbar und selig erscheinen: sie haben gleichsam dieselben blaulichweißen makellosen glänzenden Augen, die nicht mehr wachsen können, während die andern Glieder noch zart, schwach und zum Dienste der Erde ungeschickt sind. Das ist der Grund, warum wir durch unsere Sammlung nicht bloß der Geschichte der Poesie und Mythologie einen Dienst erweisen wollten, sondern es zugleich Absicht war, daß die Poesie selbst, die darin lebendig ist, wirke und erfreue, wen sie erfreuen kann, also auch, daß es als ein Erziehungsbuch diene. Wir suchen für ein solches nicht jene Reinheit, die durch ein ängstliches Ausscheiden dessen, was Bezug auf gewisse Zustände und Verhältnisse hat, wie sie täglich vorkommen und auf keine Weise verloren bleiben können, erlangt wird, und wobei man zugleich in der Täuschung ist, daß was in einem gedruckten Buche ausführbar, es auch im wirklichen Leben sei. Wir suchen die Reinheit in der Wahrheit einer geraden nichts Unrechtes im Rückhalt bergenden Erzählung. Dabei haben wir jeden für das Kinderalter nicht passenden Ausdruck in dieser neuen Auflage sorgfältig gelöscht.

Bettina schrieb zurück: „Ich hätt das Geld genommen.“

Daniella Alvarez, The Lost Girl, 29. April 2012

Teddybilder: Julie de Waroquier: Reality Won’t Let Me Dream, 13. August 2010;
Lille Ja: Childlike, 14. Mai 2012;
Kate Esmé: Breaking Childhood, 25. Januar 2011,
Daniella Alvarez: The Lost Girl, 29. April 2012.

Kleingedrucktes aus der Vorrede zum 1. Band der 7. Auflage 1857, Seite 5 ff.

Soundtrack: Tom Waits: I Don’t Wanna Grow Up, aus: Bone Machine, Island Records 1992.

Written by Wolf

20. Dezember 2012 at 00:01

Jug

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——— E.T.A. Hoffmann: Das Gelübde, das siebte von acht Nachtstücken, 1817, stark gekürzt:

In vollem Juchzen und Blasen jug der Postillion durch die Gassen zum Tore hinaus. […] Hermenegilda fing an auf eigne Weise zu kränkeln, sie klagte oft über eine seltsame Empfindung, die sie eben nicht Krankheit nennen könne, die aber ihr ganzes Wesen auf seltame Art durchbebe. Um diese Zeit kam Fürst Z. mit seiner Gemahlin. […] — „Wein! — Wein!“ schrie er, stürzte einige Gläser hinunter, warf sich dann erkräftigt aufs Pferd und jug davon.

——— Hartmut Steinecke/Gerhard Allroggen (Hg.): Nachtstücke,
Deutscher Klassiker Verlag Frankfurt am Main 1985:

Entstehung

Plakat Dominik Graf, Das Gelübde, 2008Über die Entstehung dieser Erzählung liegen keine Zeugnisse vor; es läßt sich also nur sagen, daß sie zwischen Ende 1816 und Sommer 1817 geschrieben wurde.

Nach Hitzigs Hoffmann-Biographie hat der Dichter die Anregung zu Das Gelübde durch einen Bericht seiner Frau Michalina über eine ähnliche Geschichte aus ihrer Vaterstadt Posen erhalten. Das Motiv läßt sich jedoch auch in der Literatur der Zeit öfter nachweisen; am bekanntesten ist Kleists Erzählung Die Marquise von O…

Wirkung

Die überlieferten Rezeptionszeugnisse zeigen nur ein geringes Echo der Erzählung. Für Schwenck ist sie „unter allen magnetischen Geschichten die widerlichste und abstoßendste“ (S. 113). Auch sonst findet sich kaum einmal ein positives Wort über diese Erzählung, die oft als eine schlechte Weiterführung des Kleistschen Motivs gilt. Die Geringschätzung setzt sich auch in der wissenschaftlichen Literatur fort, bis heute fand Das Gelübde kaum Beachtung in der Hoffmann-Forschung.

Struktur und Bedeutung

Die Erzählung gleicht im Bau vielen anderen Hoffmanns: Ein geheimnisvolles Geschehen wird im ersten Teil geschildert (eine unbekannte Frau trägt unter merkwürdigen Umständen ein Kind aus) und im zweiten Teil, der die Vorgeschichte aufdeckt, erklärt. […]

Die Fürstin, die als einzige Person der Umwelt Hermenegildas Zustand zu verstehen versucht, weiß, daß Xaver „wie der hämischte Geist der Hölle, den höchsten Moment ihres Lebens mit dem ungeheuersten Frevel vergiftete“ […]; als ein Engel ist der Heldin nicht Xaver, sondern Stanislaus erschienen und Xaver nur insofern, als er Stanislaus‘ Rolle übernommen hatte. So erklärt sich die Möglichkeit einer Verständigung und Versöhnung bei Kleist, ihre Unmöglichkeit bei Hoffmann.

Plakat: Verfilmung von Dominik Graf 2008 via Das Gelübde auf DVD günstig kaufen.

Written by Wolf

16. Dezember 2012 at 00:01

So herzerwärmend dreist

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Heinrich Heine, 13. Dezember 1797–17. Februar 1856: 215. Geburtstag.

„Ach du je“, meint die Wölfin, „und du musst es feiern, stimmt’s?“

„Was ein Mann tun muss“, sage ich entschlossen, „wenn es sonst niemand tut.“

Marc Charles Gabriel Gleyre, Der kranke Heinrich Heine, Bleistiftzeichnung 1851„Dann ist es ja gut, dass Heine dich hat.“

„Der Buchhandel tut’s jedenfalls nicht. Gernhardt hat’s getan, aber der ist inzwischen selber tot.“

„Gernhardt?“ überlegt die Wölfin, „den kenn ich. Auch eher aus der Zauselzunft, aber der hat doch immer gelebt?“

„Bis 2006. So schnell kann’s gehen.“

„Und der hat Heine gefeiert?“

„Sogar anhand eines Gedichts, das du auch kennst, Zur Teleologie.“

„Stimmt, hast du mir mal vorgelesen, weiß ich noch.“

„Seit wann erinnerst du dich an solche Zauselitäten?“

„War so schön süffig. Und ist ja dann noch ein recht schöner Abend geworden.“ Die Wölfin stemmt sich auf die Zehen, um mir einen Kuss auf den Mund heraufzureichen.

„Siehste. Gernhardt mag ihn auch.“

Hat ihn gemocht …“

„… und baut die Teleologie dermaßen um, dass man sogar noch was Neues lernt.“

„Sogar du?“

„Aber hallo. Mir war zet Be gar nicht klar, dass die Teleologie zur Matratzengruft zählt.“

„Mir schon, nachdem du’s vorgelesen hast …“

„So war das nicht gemeint.“

„Jetzt bin ich neugierig.“

——— Robert Gernhardt: XII. Er liest den späten Heine
in: Klappaltar, I. Linker Flügel: Lied der Bücher oder Juni mit Heine, 1998:

Robert Gernhardt, Klappaltar. Aufsteller Antikbuch24Augen hat uns zwei gegeben
Gott der Herr, daß wir erleben,
Wie das jahrelange Sterben
Heines Witz nicht konnt‘ verderben.
Augen gab uns Gott ein Paar,
Zu erkennen rein und klar:
Dieses Menschen Todesröcheln
Überstrahlte noch sein Lächeln.
Gott gab uns die Augen beide,
Daß wir schauen und begaffen,
Wie er jemanden erschaffen
Zu des Menschen Großhirnweide.
Jemand sonder Licht und Luft,
Der in der Matratzengruft
Lahm und leidend niederschrieb,
Was ihm noch zu sagen blieb.
Klagen, sicher, Flüche, freilich,
So verständlich wie verzeihlich,
Doch zugleich auch wunderbare,
Völlig losgelöste Sachen,
Teils zum Schaudern, meist zum Lachen,
Leichte Früchte schwerster Jahre:

„Gott gab uns nur einen Mund,
Weil zwei Mäuler ungesund“,
Schieb der Kranke unerschrocken
Und rät munter nachtarocken:
„Mit dem einen Maule schon
Schwätzt zuviel der Erdensohn.
Wenn er doppelmäulig wär,
Fräß und lög er auch noch mehr.
Har er jetzt das Maul voll Brei,
Muß er schweigen unterdessen,
Hätt er aber Mäuler zwei,
Löge er sogar beim Fressen.“

So was auf des Todes Schwelle
Hinzuschreiben auf die Schnelle
Ist so herzerwärmend dreist,
Weil es zweierlei beweist.
Erstens: Vor der letzten Nacht
Hat sich’s noch nicht ausgelacht.
Zweitens: Wahrer Dichtermund
Tut noch sterbend Wahrheit kund.
Heine bleibt dabei unfaßbar:
Spielt den Wachtmeister, den Kasper,
Spielt die Grete, spielt den Drachen,
Spielt den Starken, spielt den Schwachen,
Spielt den Herrgott, spielt den Teufel,
Macht in Glauben, macht in Zweifel,
Spielt und macht: So, wie er lebte,
Jauchzte, liebte, haßte, bebte,
Lachend litt und schreibend fühlte,
Also starb er. Nie erkühlte
Trotz der jahrelangen Leiden
Heines Doppelliebe. Beiden
Hielt er unbedingt die Treue
Ohne Zweifel, ohne Reue:
Den Geschwistern Witz und Wahrheit
Alias Helligkeit und Klarheit.
Heines Witz erhellt noch heute.
Heines Wahrheit klärt noch. Leute!
Diesen Mann zu ehren heißt,
Daß man eignen Witz beweist.

Gott gab uns zwar nur ein Hirn,
Doch dies Hirn beschützt die Stirn.
Ergo mangeln den Geschöpfen
Keine Bretter vor den Köpfen,
Und vor solchem Bretterwesen
Schützt verschärftes Heine-Lesen.
Jede Seite macht vom Brett
Einen Millimeter wett,
So daß auf dem Sterbebette
Der den vollen Durchblick hätte,
Der beizeit so klug gewesen,
Beispielsweise dies zu lesen:

„Was dem Menschen dient zum Seichen,
Damit schafft er seinesgleichen.
Auf demselben Dudelsack
Spielt dasselbe Lumpenpack.
Feine Pfote, derbe Patsche,
Fiddelt auf derselben Bratsche,
Durch dieselben Dämpfe, Räder
Springt und singt und gähnt ein jeder,
Und derselbe Omnibus
Fährt uns nach dem Tartarus.“

„Auf dem Sterbebett endlich den vollen Durchblick haben. Sehr erstrebenswert. Ist das so ein Männerding oder ein Symptom?“ fragt die Wölfin.

„Jeder wie er kann.“

„Lang soll er leben, der Heine“, sagt die Wölfin.

„Wollt ich auch sagen.“

Marguerite Gisele, Sleepy, 22. November 2012

Bilder: Marc Charles Gabriel Gleyre: Der kranke Heinrich Heine, Bleistiftzeichnung 1851,
erloschenes Angebot via Antikbuch24.

Matratzengruft: Marguerite Gisele: Rosarot, 22 November 2012.

Written by Wolf

13. Dezember 2012 at 00:01

Es lebet keiner mehr als ich und du

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Der Liederquell, CoverZum Reiselied, dem bestimmt lustigsten (ihr lieben Brüder!) aller Volkslieder, die jungen, beeinflussbaren Zöglingen als Schulstoff zuzumuten sind, hab ich noch herausgefunden:

1.: Es wird tatsächlich in modernen Haushalten den kleinen, wie nix beeinflussbaren leiblichen Töchtern zur guten Nacht vorgesungen — freiwillig, weil es Spaß macht, nicht etwa aus lauter pädagogischem Sendungsbewusstsein. Weiter so, Hannah!

2.: Der Liederquell ist schon seit 2007 das Liederbuch der Wahl, wenn einer wissen will, was er da schon ein Leben lang vor sich hinträllert. Unter den Volksliedersammlungen ungefähr das, was ein ehrbarer VW-Bus unter den Automobilen ist: Man vermisst fast gar nicht die üblichen Illustrationen von Tomi Ungerer, dafür bekommt man für den halben Preis statt 204 über 750 Lieder — mit einfachen Noten, Gitarrengriffen und professoral kompetenten Erklärungen. Gehört in jeden gebildeten Haushalt.

Das wollte ich zuerst verschenken, aber die zu Beglückenden werden ein weihnachtliches Einsehen haben, dass ich der gebildetere Haushalt bin. Hoffe ich jedenfalls.

——— Theo Mang/Sunhilt Mang (Hgg.): Der Liederquell, 2007, Seite 610 f.:

Der Liederquell, RückenUnter dem Titel Handwerksburschen-Erfahrung steht dieses Lied 1894 im Deutschen Liederhort von Erk-Böhme. 1855 steht es schon in der Liedersammlung von Oskar Schade Volkslieder aus Thüringen, sowie im 2. Teil der Fränkische Volkslieder mit ihren Singweisen des Freiherrn Wilhelm von Ditfurth, Leipzig. Textdichter und Komponist sind unbekannt. Erk/Böhme geben als Herkunftsort das brandenburgische Wilsnack an (1844). Unter dem Titel Der patriotische Handwerksbursch wird auch (Barmen 1844) von Erk/Böhme eine melodisch und rhythmisch verwandte Melodie mit ähnlichen zwei Anfangsstrophen überliefert. Doch dieses Lied zeigt dann die Hinwendung zur politischen Situation in der Napoleonischen Zeit vor 1813. Bei Röhrich/Brednich findet sich eine neuere Textversion, die auch die südlichen Städte Mannheim und Freiburg berücksichtigt und in der das „Glas Champagner Wein“ mit „ein gut Glas Bier“ ausgetauscht wird. Dieses Liedgenre wurde von der Jugend und den Liedermachern der 60-er und 70-er Jahre des 20. Jahrhunderts besonders geliebt, verarbeitet und in den Medien wieder populär gemacht, z.B. durch die Gruppe Liederjan, 1978. [Anm. d. Hg.: Liederjan rocken allerdings schon vortrefflich. Noch schmissiger bringen es Slime.]

T und M: Anfang 19. Jahrhundert
L: Erk/Böhme N 1610, Ditfurth II 233, Gottschalk I 65, Röhrich 259

Von Mang verwendete Literatur: Erk, Ludwig und Böhme, Franz Magnus: Deutscher Liederhort. Leipzig 3 Bände 1893/1894 (Reprint (1988);
Ditfurth, Franz-Wilhelm Freiherr von: Fränkische Volkslieder mit ihren zweistimmigen Weisen, wie sie vom Volke gesungen werden. 2 Bde. Leipzig 1855 (Reprint 1966);
Gottschalk, Lutz und Sell, Stefan: Schulliederbuch. Frankfurt 2002;
Röhrich, Lutz und Brednich, Rolf Wilhelm: Deutsche Volkslieder. 2 Bände Düsseldorf 1965/67 [Band 1; Band 2];
[Oskar Schade: Volkslieder aus Thüringen in und um Weimar gesammelt, in: Weimarisches Jahrbuch für deutsche Sprache, Litteratur und Kunst 3, 1855, Seite 241–328, DVA: Z 920].

Der Hauptartikel wurde durch Mangs Absatz erweitert.

Bethany LeAnne, Not All Who Wander Are Lost, 16. Oktober 2012

Bilder: Dörfler Verlag Eggolsheim-Bammersdorf, 2007;
Bethany LeAnne Osborne: Not All Who Wander Are Lost, 16. Oktober 2012.

Written by Wolf

10. Dezember 2012 at 00:01

Veröffentlicht in Handel & Wandel, Romantik

Weihnachtsgewinnspiel: Faust 13

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——— Des Knaben Wunderhorn: Weihnachtlied.
Hg. Achim von Arnim und Clemens Brentano, Band 3, 1808:

O du mein Mopper, wo willt du hinaus,
Ich kann dir nicht erzählen
Meine güldene Klaus:
Laß klinken, laß klanken,
Laß all herunter schwanken;
Ich weiß nicht, soll ich hüten
Ochs oder Schaf,
Oder soll ich essen
Einen Käs und ein Brod.

Bei Ochsen und bei Schafen
Kann man nicht schlafen,
Da thut es sich eröffnen
Das himmlische Thor,
Da kugeln die Engel
Ganz haufenweis hervor.

Wer mir ein faustisches Gedicht oder ein faustisches Bild in den Kommentar schreibt oder verlinkt — natürlich selbst gemacht —, kriegt Des Knaben Wunderhorn von mir.

Es gibt die tolle Artemis-Winkler-Ausgabe aus Dünndruckpapier von 1957, einwandfrei erhalten und sieht schön antiquarisch aus. Ex libris mit Tinte: Axel Rühle — vielleicht hat es mal dem Menschen gehört, der 2010 ohne Netz überleben wollte und es sogar ein halbes Jahr lang geschafft hat.

Bettie Page als SataninDas Winkler-Wunderhorn ist ein richtig schönes Stück, von dem ich leider nur eins habe. Faustisch ist ein Beitrag, wenn Doctor Faust, wie wir ihn kennen und so mittellieb haben, darin vorkommt, oder wenn er dessen Geist atmet — zwei Seelen, ach, in jemandes zu Benennenden Brust, der, die oder das Unbehauste, man kennt das ja.

Bitte bis 19. Dezember 2012, dann kommt das Wunderhorn noch rechtzeitig zum Heiligabend mit der Post. Die eingehenden Beiträge werden ihrerseits einen der ersten Weblog-Einträge 2013 bilden.

Viel Spaß beim Dichten und Denken; das geht übrigens einwandfrei während des Plätzchenbackens.

Bilder: Carter Brown: Angel!, 1962. Cover art by Robert McGinnis via Vintage Illu, 26. Januar 2010;
Satan 57. Devilish Entertainment for Men. Fiction, Photography, Articles, Ribaldry — How to Throw a Wild Party, April-Heft featuring Bettie Page via Retro-Space, 16. September 2012.

Written by Wolf

4. Dezember 2012 at 17:29

Veröffentlicht in Klassik, ~ Weheklag ~

Ein paar Stunden später stößt die Katze schreckliche Schreie aus.

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Was ich von Hélène Grimaud halten soll, muss ich noch ein paar ihrer CDs und YouTube-Mitschnitte lang überlegen.

Robert Schultze, Mat Hennek, Hélène GrimaudWirklich lieb haben muss man ihre ansteckende Emotion, mit der sie pianiert und als öffentliche Person auftritt — da finden sich schnell weit weniger einnehmende Künstlerpersonen. Und überhaupt, wenn einer schon nix von klassischer Musik weiß noch wissen will, sieht sie immer noch dermaßen verdammt gut aus, dass hier und jetzt der aufstehen soll, der ihr nicht wenigstens versuchsweise zuhören möchte: Solche Hände hatte der Schöpfer vor Augen, als er die Prototypen für Frauenhände schnitzen wollte — und hey: Musikerin! Dazu noch so eine esoterische Mondin und praktizierende Wolfsfrau: Wird bestimmt von Anfang bis Ende höllisch laut im Bett, natürlich mit einem Steinway-Flügel im Schlafzimmer und bei offenem Fenster. — Schon jemand aufgestanden? Niemand? Sag ich doch. Französin.

Auf der anderen Seite leuchten mir ihre CD-Zusammenstellungen nicht recht ein: Warum ausgerechnet diese paar Nummern von Bach, dazu noch nur manche gedoppelt in Bearbeitungen von Busoni — weil gerade die Notenbücher rumlagen? Warum ausgerechnet diese Auswahl von Mozart — weil sie so populär oder weil sie so selten gespielt ist? Und ist dieser Arvo Pärt, den sie mir fortgesetzt andienen will, ihr Lehrer, ihr Schüler oder ihr Schwager? Möglicherweise haben sie und ihr Label Gründe, aber wo darf ich die erfahren?

Auf Amazon.de gehen die Besprechungen ihrer CDs in eine dankenswerte Tiefe, und zwar die mit einem wie die mit fünf Sternchen. Da passt den einen nicht, dass sie zum hunderteinundelfzigsten Mal Rachmaninow einklimpert, den anderen, dass man ihre fremdartige Setlist ja gar nicht kennt. Ja, was wollen wir Meckerfritzen denn eigentlich? Schon klar, dass beides wert sein kann, es zu spielen und anzuhören — man mag sich nur etwas allein gelassen fühlen, bevor man der Dame Geld und Lebenszeit zu widmen gedenkt.

Canailleblog, le blog des Lesloups, Hélène Grimaud avec un de ses loupsBei Hille Perl, Professorin auf der Viola da gamba, ist das sonderbarerweise anders: Deren Auswahlen könnten abseitiger und wundersamer nicht sein, und doch spricht jede CD, jedes Tourprogramm sofort für sich aus, dass man das sofort anzuhören, sich anzueignen und fortan im Herzen zu tragen hat. Vielleicht wirkt Frau Grimaud einfach nicht gelehrt genug dazu, dass man ihr sofort alle Kompetenz der Musikwelt zuschriebe („Hör das mal an, ich weiß schon, warum ich dir das vorspiele“), und nicht feenhaft genug, dass man ihr unbesehen in die Hände fiele („Hör das mal an, es ist gut für dich“).

Das kann sogar ein Vorteil sein: Eine frühe Einspielung von ihr, die Kreisleriana von Robert Schumann (1989, da war sie 20), nehme ich ihr ohne weiteres ab, was erstens stark mit E.T.A. Hoffmann zu tun hat und zweitens genau das bekiffte Zeug ist, das eine hochgebildete Halbelbin wie la Grimaud spielen sollte. Immerhin verfällt sie weder in Anne-Sophie Mutter noch in Björk. Ist doch gut.

Nachdem Sie mir jetzt ein paar Takte lang verweisen dürfen, mit welchen Mitteln und welchem Recht ich mir das bilde, was ich als Meinung missbrauche, darf wieder ich darüber weitermeckern, mit welchem Recht egal wer mit 34 Jahren seine Autobiographie fertig haben sollte. Wahrscheinlich ist es das Engagement für Musik, die nicht gleich jedem Björk-Fan (bestimmt gibt es welche) einleuchten muss, und das Engagement zur gleichen Zeit und mit gleicher Energie für Wölfe. So handelt ihre Autiobio ganz selbstverständlich an herausragenden Stellen auch von der Klasse der spirituell begabten Wirbeltiere:

——— Hélène Grimaud: Wolfssonate, i.e. Variations sauvages, Editions Robert Laffont, Paris 2003,
übs. Michael von Killisch-Horn, Blanvalet, München 2005, Kapitel 2, Seite 58 ff.
(die Zeichensetzung aus dem kostenpflichtigen P-Book wurde belassen):

Man interessiert sich mehr und mehr für die übersinnlichen Fähigkeiten, über die manche Menschen verfügen. Dieser sechste Sinn, diese Intuition, die es manchen erlauben, die Zukunft vorherzusagen, die Gedanken anderer zu erraten und die geheimen Verbindungen zwischen Leben und Tod zu erkennen. Liegt das daran, dass ihr Charakter duch nichts verdorben worden ist? Viele Tiere haben die gleichen Fähigkeiten bewiesen. Und die Geschichte ist voll von solchen Fällen.

Cover Hélène Grimaud, Variations sauvages, 2003So hatte Ludwig XI. den Esel Brunot seinem Herrn abgekauft, der das Wetter vorhersagen konnte.

Die Goldfische des japanischen Kaisers machten ihn 1923 durch ihr aufgescheuchtes Verhalten, das so weit ging, dass sie sich aus ihrem Glas stürzten, auf ein drohendes Erdbeben aufmerksam.

Sämtliche Hunde von Hiroshima heulten schaurig ein paar Stunden, bevor die Bombenflugzeuge die Stadt erreichten.

In Freiburg begann am 27. November 1944 eine Ente, die die Wärter wegen der Eigenartigkeit ihres warnenden Verhaltens überwachten, wütend zu schnattern und versuchte mit allen Mitteln auszubrechen. Alarmiert, begann ein großer Teil der Bevölkerung zusammen mit ihr in aller Eile die Stadt zu verlassen. Dreißig Minuten nach ihrem Aufbruch vernichtete ein Bombenhagel um die dreitausend Bewohner und die Altstadt.

In Spanien weigert sich ein Pferd trotz der Peitschenhiebe des Kutschers, in einen Bergtunnel hineinzugehen. Die Autofahrer hinter dem Gespann hupen wütend. Vergeblich. Obwohl einige Fahrer ihre Autos verlassen haben, um das störrische Tier mit Hü-Rufen an den Straßenrand zu ziehen, rührt sich das Pferd nicht von der Stelle. Und zu Recht: Ein paar Augenblicke später stürzt der Tunnel ein.

Sechs Monate vor dem Umzug der Pariser Markthallen aus dem Zentrum der Hauptstadt machen sich zwei Millionen Ratten, auf unerklärliche Weise informiert, auf den Weg nach Rungis, dem neuen Standort des Bauchs von Paris.

Wochenlang verlässt die Katze von Winston Churchill nicht das Bett, in dem ihr kranker Herr auf die Besserung wartet, die die Ärzte ihm vorhergesagt haben. Die Genesung soll unmittelbar bevorstehen. Ein paar Stunden später stößt die Katze schreckliche Schreie aus, springt mit einem Satz vom Bett und flieht aus dem Zimmer. Am folgenden Tag stirbt Churchill.

Verärgert über das ständige Winseln seines Pudels Baron, schenkt Victor Hugo ihn seinem Freund, dem Marquis de Faletans, der als Diplomat nach Moskau geht. Dieser adoptiert den Hund und schreibt dem Dichter regelmäßig, wie es ihm geht. Bis zu dem Tag, an dem Baron verschwindet. Trotz der Suchanzeigen und der ausgesetzten Belohnung wird er nicht wiedergefunden. Ein paar Monate später kratzt Baron abgemagert und mit blutigen Pfoten an der Tür von Victor Hugos Wohnsitz. Er hatte viertausend Kilometer zurückgelegt, um sein Herrchen wiederzufinden …

Und was soll man von Mohilov sagen, dem Hund des Herzogs von Enghien, den man mit Gewalt von seinem Herrchen wegziehen muss, der zu den Gräbern von Vincennes gebracht wird, um dort hingerichtet zu werden. Sobald er wieder freigelassen wird, rennt der Hund wie verrückt los, findet ganz allein den Weg zum Friedhof und legt sich winselnd auf das Grab seines Herrn. Vermutlich wäre er dort gestorben, wenn der Herzog nicht testamentarisch bestimmt hätte, dass aufs Beste für seinen treuen, seinen treuesten Begleiter gesorgt werden soll …

Bilder: Robert Schultze/Mat Hennek: IMG Artists;
Canailleblog, le blog des Lesloups: Hélène Grimaud avec un de ses loups;
Variations sauvages: Librairie dialogues.
Dokumentation: nicht die vollen 95, aber die freigegebenen Minuten:
Classical TV: Hélène Grimaud: Living With Wolves, 2002.

Bonus Track: Beethoven: die vorletzte Klaviersonate 31 As-Dur, op. 110
im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie, 2001:

Written by Wolf

1. Dezember 2012 at 00:01

Veröffentlicht in Das Tier & wir, Romantik