Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Archive for Juni 2016

Siehst du

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Update zu Warum wir trotz allem Thomas Mann lieb haben:

Death in Venice, 1971, via Moments of Being

Thomas Mann als Lyriker.

Death in Venice, 1971, via Moments of Being

——— Thomas Mann:

Siehst du, Kind, ich liebe dich

in: Die Gesellschaft, Jahrgang 11, Band 1, Leipzig, Januar 1895;
in Buchform: Thomas Mann: Die Erzählungen, Stockholmer Gesamtausgabe;
wiederabgedruckt in: Gesammelte Werke VIII, 1105;
cit. Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe, Band Fiorenza/Gedichte/Filmentwürfe, 2014:

Siehst du, Kind, ich liebe dich,
Da ist nichts zu machen;
Wollen halt ein Weilchen noch
Beide drüber lachen.

Aber einmal, unverhofft,
Kommen ernste Sachen, —
Siehst du, Kind, ich liebe dich,
Da ist nichts zu machen!

Thomas Mann.

Death in Venice, 1971, via Moments of Being

Bilder: Dirk Bogarde als Gustav von Aschenbach, Björn Andrésen als Tadzio und ein venezianischer Papagallo als venezianischer Papagallo in Luchino Visconti: Tod in Venedig, 1971,
via Moments of Being, 13. September 2015.

Death in Venice, 1971, via Moments of Being

Soundtrack: Gustav Mahler: 5. Symphonie, III. Abteilung: Adagietto, ebenda.

Fachliteratur: Silvae: Fickfackerei, 25. April 2015.

Death in Venice, 1971, via Moments of Being

Bonus Track: The Proclaimers, nicht schwul, sondern Zwillinge: I’m Gonna Be (500 Miles), nicht aus How I Met Your Mother, 2005 ff. und nicht einmal aus Benny & Joon, 1993, sondern: Sunshine on Leith, nicht genuschelt, sondern schottisch, 1988.

Written by Wolf

24. Juni 2016 at 00:01

Veröffentlicht in Ehestand & Buhlschaft, Symbolismus

Ein holprichtes Lied mit tiefer und rauher Stimme

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Update zu O komm ein Engel und rette mich!:

In unserer nicht enden wollenden Reihe „Unterschätzte Klassiker“ folgt der Romantiker Karl Leberecht Immermann. Bekannt durch seine Version von Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken 1838 f., saß er zuvor schon viel länger an Die Epigonen. Familienmemoiren in neun Büchern 1823–1835: 1823 bis zur Erscheinung 1836.

Danse macabre, Skeleton kissingWie oft Immermann seinen Roman in Teilen und zur Gänze umgeschrieben hat, steht am genauesten in der bis heute einzigen zurechnungsfähigen Ausgabe von Peter Hasubek bei Winkler 1981, die mit ihren 823 Seiten (davon Text: 640 Seiten) immer noch keinen historisch-kritischen Anspruch erheben kann.

Mir ist die beim Oxfam rein zufällig für lasche drei Euro zugelaufen; so viel schlägt, mit Verlaub, Amazon allein an Porto automatisch auf jede 1-Cent-Bestellung drauf. Ein echter alter Winkler aus Persia-Bibeldruckpapier, das so erotisch ist, dass sie meinethalben sogar den Witiko draufdrucken könnten (was sie leider seit 1949 auch tun), der Schutzumschlag leicht abgewetzt, für drei Steinchen? Mein Gott, in München ist der Cappuccino teurer, wird viel schneller kalt, und von der Bedienung schwach anreden muss man sich auch noch lassen, also nix wie mit. Wenn man sich dann an einen 200-jährigen obskuren Roman traut, entdeckt man eine ausufernde Schrulle auf dem Niveau der besten Momente bei Ludwig Tieck — und Tieck will bei mir was heißen. Ende des Angeberteils. — Ich verspreche mir noch viel Spaß von der Mignon-Figur „Flämmchen“, die so jemand zwischen der Goethischen Friederike Brion (nicht seiner Mignon, die wäre zu traurig) und Pippi Langstrumpf sein muss, aber wie immer steht das Interessanteste im Anhang.

Der ist ausführlich genug, um das Hin und Her der Versionen im Laufe der dreizehn Entstehungsjahre erahnen zu lassen, und bringt einige Outtakes, die, wie es oft so geht, gerne schon mal besser sind als die Endfassung. Wir kriegen den jetzt noch öfter, daher gibt’s heute nur eine aussortierte Neufassung des Schnitterlieds aus dem Wunderhorn, das in seiner bestechend volksliedhaften Kürze viel besser, abermals mit Verlaub: in die Fresse haut — und weil es von einem sinistren alten Weib gesungen wird. — Ich zitiere es in einem selbst konstruierten, aber sinnvollen Zusammenhang, der sonst nirgends so erscheint.

Short Tailed Snails: Es ist ein Schnitter heißt der Tod, „aufgenommen 2014 in unserem Kurzschwanzschneckenstudio (mit einem original Kurzschwanzschneckenstudioaufnahmegerät selbstverständlich)“.

——— Karl Immermann:

Die Epigonen

Erstes Buch: Klugheit und Irrtum, Neuntes Kapitel, 1836:

„Laß dein angelerntes Geschwätz! Alle diese konfusen Dinge gehören in einen Roman, und nicht in das Leben“, erwiderte Hermann. „Ich werde mich dadurch nicht abhalten lassen, einer Unglücklichen beizustehen. Vermutlich hast du, Betrügerin, die Not der Armen benutzt, ihr den letzten Pfennig abgenommen, und dafür ihr Gehirn mit aberwitzigen Dingen erfüllt.“

„Nur aus der Hand, auf der etwas Blankes liegt, läßt sich wahrsagen“, versetzte die Alte. „Sie hat bezahlen müssen, was Recht ist. Wer gibt Euch die Befugnis, mich auszuschelten?“

In diesem Augenblick trat der Mond hinter eine finstre Wolke, und bei der Dunkelheit, die hierdurch entstand, gewahrte Hermann durch die Bäume den Schimmer eines schwachen Lichts. Der Mondschein hatte vorher das spärliche Leuchten überstrahlt. Er schloß aus diesem Umstande auf die Nähe einer menschlichen Wohnung, und da er seiner Meinung nach von dem Städtchen weit verschlagen sein mußte, die Alte aber fest dabei verblieb, daß sie ihm den Ort, wohin sie Flämmchen geschickt, nicht bezeichnen könne, so entschloß er sich, auf den Schein loszugehn, und den guten Willen der Bewohner um ein Obdach anzusprechen.

Er verließ die Alte ohne Abschied. Diese hob, wir wissen nicht, ob zu ihrer Erbauung, oder zum Zeitvertreibe, ein holprichtes Lied an, und sang mit tiefer und rauher Stimme Strophen durch die Nacht, deren Worte Hermann nicht verstehen konnte.

Der größte Schnitter ist der Tod,
Denn seine Sense gab ihm Gott;
Die Ernte sind wir allesamt,
Was von dem ersten Paare stammt.

Auch junge Reiser schneidet er,
Ist hinter alten Dornen her,
Schwertlilien, Rittersporn er bricht,
Die Kaiserkrone schreckt ihn nicht.

Er hat sich nie zur Rast gesetzt,
Er hat die Sense nie gewetzt,
Die Sense mäht von Dorf zu Stadt,
Sie wird nicht stumpf, er wird nicht matt.

Bruno Héroux, Ein Totentanz. Und wenn der Teufel Hochzeit hält, so lad ich mich zu Gaste, 1939--1943, Stadtgeschichtliches Museum LeipzigDie Vorlage kannte Immermann vermutlich aus Des Knaben Wunderhorn, dem 1. Band schon von 1806. Lieder-Mitsammler Clemens Brentano hatte es schon 1801 im Godwi zitiert, aufgelesen in seinem Lieblingsbuch von Martin von Cochem: Allgemeines Gesang-Buch von 1705, dort Seite 354 bis 356. Die Kommentierte Gesamtausgabe des Wunderhorns, herausgegeben vom verdienstreichen deutschen Ober-Märchenonkel Heinz Rölleke bei Reclam 1987 (immer noch in verschiedenen Aggregatzuständen erhältlich!) führt aus:

Vor der Schlußstrophe sind drei Strophen ausgelassen; im übrigen beschränkt sich die Barbeitung fast ausschließlich auf metrische und sprachliche Verdeutlichungen. Der älteste deutsche Beleg dieses weit verbreiteten und bis heute bekannten Liedes ist ein Fliegendes Blatt aus dem Jahr 1638 mit der handschriftlichen Notiz: „Schnitterlied, gesungen zu Regenspurg da ein hochadelige junge Blumen ohnversehens abgebrochen im Jenner 1637, gedichtet im Jahr 1637“. Ausgangspunkt ist das im Alten Testament (Jer. 9,21) begegnende Bild vom Tod als Schnitter, dem auch die apartesten Blumen […] zum Opfer fallen.

Persönlich wundert mich erstens, dass der Urtext aus Regenburg stammen soll, nachdem mich spätestens der Reim „Liljen“ auf „austilgen“ nach Niederdeutschland verwiesen hätte.

Zweitens wundert mich die offenbar doch recht langlebige Verwendung als Kirchenlied. Es mag an mir liegen, aber eine Kirchengemeinde, die — vor allem zu Traueranlässen — andächtig aus ihrem Gesangbuch strophenweise Blumenarten absingt, ist mir eine skurrile bildliche Vorstellung. Hierzu noch einmal Röllekes Kommentar:

Goethes seltsam umschriebene Hochschätzung ist angesichts seiner sonstigen Ablehnung dieses Liedgenres besonders bemerkenswert: „Katholisches Kirchen-Todeslied. Verdiente protestantisch zu seyn.“

——— N. N.:

Erndtelied.

Katholisches Kirchenlied.

Volkslied, 17. Jahrhundert, Version Clemens Brentano für Des Knaben Wunderhorn, Mohr und Zimmer, Heidelberg 1806:

William Strang, Danse Macabre, ca. 1893, British Museum via Love Like CancerEs ist ein Schnitter, der heißt Tod,
Hat Gewalt vom höchsten Gott,
Heut wezt er das Messer,
Es schneidt schon viel besser,
Bald wird er drein schneiden,
Wir müssens nur leiden.
Hüte dich schöns Blümelein!

Was heut noch grün und frisch da steht,
Wird morgen schon hinweggemäht:
Die edlen Narcissen,
Die Zierden der Wiesen,
Die schön‘ Hiazinten,
Die türkischen Binden.
Hüte dich schöns Blümelein!

Viel hundert tausend ungezählt,
Was nur unter die Sichel fällt,
Ihr Rosen, ihr Liljen,
Euch wird er austilgen,
Auch die Kaiser-Kronen,
Wird er nicht verschonen.
Hüte dich schöns Blümelein!

Das himmelfarbe Ehrenpreiß,
Die Tulipanen gelb und weiß,
Die silbernen Glocken,
Die goldenen Flocken,
Senkt alles zur Erden,
Was wird daraus werden?
Hüte dich schöns Blümelein!

Ihr hübsch Lavendel, Roßmarein,
Ihr vielfärbige Röselein.
Ihr stolze Schwerdliljen,
Ihr krause Basiljen,
Ihr zarte Violen,
Man wird euch bald holen.
Hüte dich schöns Blümelein!

Trotz! Tod, komm her, ich fürcht dich nicht,
Trotz, eil daher in einem Schnitt.
Werd ich nur verletzet,
So werd ich versetzet
In den himmlischen Garten,
Auf den alle wir warten.
Freu‘ dich du schöns Blümelein.

Rudolf Bonvie. Danse macabre, 6. April 2014

Druck-Version: Der Bote: Es ist ein Schnitter, heißt der Tod, 2007:

Hüte dich schöns Blümelein: Emily Hubbard: Crying for the Moon 3. Juni 2013;
Bruno Héroux: Ein Totentanz: „Und wenn der Teufel Hochzeit hält, so lad ich mich zu Gaste …“,
Radierung auf Papier, 1939 bis 1943, 25,5 cm x 19,7 cm, via Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Inventarnummer H 424g;
William Strang: Danse macabre, ca. 1893, Radierung, British Museum, London;
Rudolf Bonvie: Danse macabre, 6. April 2014.

Written by Wolf

17. Juni 2016 at 00:01

Veröffentlicht in Romantik, Vier letzte Dinge: Tod

Alle wurden bei diesem Anblicke still und atmeten tief über dem Wellenrauschen: Regensburg bis Grein

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Update zu Die deutsche Sirene vom Zwirbel im Rhein in die Bronx:

Ich komm ja nicht viel raus. In Regensburg war ich in den letzten Jahrzehnten ein paarmal, weil mir da ein einziger freier Tag und ein Bayern-Ticket für momentan 23, zu zweit 28 Steinchen reichen. Außerdem ist da das Stammhaus vom Bücher Pustet, der seinerzeit die Bücher aus dem Winkler-Verlag hergestellt hat. Heute ist das ein ehrbarer, seiner Geschichte und Heimat bewusster Glückwunschkarten-Outlet mit Bestseller-Ecke wie die Buchhandlungen in allen anderen Innenstädten auch, aber man interessiert sich halt.

Empfohlen wird das Café Prock in der zentral gelegenen Blaue-Lilien-Gasse 3, vor allem der Innenhof, in dem man nicht viel hört außer die Donau plätschern. Die hat nämlich keine 100 Meter Luftlinie entfernt ihren Regensburger Strudel, zu dem wir gleich kommen. Das Café Prock indessen hat Obstkuchen, neben den sie nicht extra hinschreiben müssen, was es mal für Obst war, beispielhaft saftigen Mohnkuchen, einen alle Beschwerden lindernden Eiskaffee, Bayern 3 auf dem Klo, mindestens eine hübsche Bedienung, ein freundliches Interview in deren anheimelndem Oberpfälzer Zungenschlag, wie’s im Dom war, und sympathischerweise keine Website. Jedenfalls war das zuletzt 2014 so.

Weil ich meistens, wenn überhaupt, nur samstags raus kann, muss ich schreibtischreisen, was in Zeiten von Google Earth schon in Ordnung geht, außer es zieht mich nach Nordgrönland. Regensburg ist dagegen digital recht ordentlich erschlossen. Zu unterscheiden gilt es — gerade auch literaturhistorisch mit Hilfe der Bayerischen Staatsbibliothek — den Regensburger Strudel und die Donauwelle.

Beide klingen wie Kuchen aus dem Café Prock, sind aber Bestandteile der ungezähmten Donau. Im literarischen Teil kommt uns die Bayerische Staatsbibliothek, die offenbar den Tourismus unterstützt, mit Eichendorff:

Bernhard M. Baron, Regensburg II. Joseph von Eichendorff, Oberpfälzer Litera-Tour, Literaturportal Bayern

——— Bernhard M. Baron:

Oberpfälzer Litera-Tour. Regensburg II

Bayerische Staatsbibliothek fürs Literaturportal Bayern:

Am 12. Mai 1807 besuchte der oberschlesische Dichter der deutschen Hoch-Romantik, Joseph Freiherr von Eichendorff (1788-1857) – von Passau kommend – die Donaustadt Regensburg auf seiner Reise zur Universität Heidelberg. Eichendorff schreibt in sein Tagebuch : „Es ist herzergreifend, wie diese alte berühmte Stadt jetzt durch die Auflösung des Reichstages öde und leer ist; nur die Kirchen schauen erhaben über die kleinlichen Jahre, einsam aus den alten kräftigen Zeiten der Herrlichkeit herüber.“

Und am 14. Mai 1807 heißt es:

Früh fort. […] Schöne Aussicht auf Regensburg, das in dem fernen Tale mit seinen alten Türmen wie eine ungeheure Ruine daliegt.

Exakt ein Jahr später, am 13. Mai 1808, reist Joseph Freiherr von Eichendorff wieder von Heidelberg zurück ins heimatliche Schloß Lubowitz (Oberschlesien), ab Regensburg aus finanziellen Gründen mit einem Postschiff donauabwärts. Die Beschreibung der Donaufahrt im 1. Kapitel seines Jugendromans Ahnung und Gegenwart (1815 gedruckt) gibt die Stimmung dieser romantisch (idealisierten) Schiffsreise wieder:

Die Sonne war eben prächtig aufgegangen, da fuhr ein Schiff zwischen den grünen Bergen und Wäldern auf der Donau herunter. […] Wer von Regensburg her auf der Donau hinab gefahren ist, der kennt die herrliche Stelle, welche der Wirbel genannt wird. […] Sie fuhren soeben an einer kleinen Stadt vorüber. Hart am Ufer war eine Promenade mit Alleen. Herren und Damen gingen im Sonntagsputze spazieren, führten einander, lachten, grüßten und verbeugten sich…

Der Mensch geht gänzlich im Bildhaften auf, in der wunderbaren Farbenpracht der Natur. Seine Seele ist eins mit der vom göttlichen Geist durchwehten Natur. Für die Quellen Eichendorffs Dichtung werden Naturerlebnis und Geschichtserlebnis ein Leben lang Gültigkeit haben.

Im ungezähmten Donauteil kommt uns Wikipedia mit der Donauwelle:

Dieser ehemals sehr starke Strudel unterhalb von Grein in Oberösterreich auf der Nordseite der Insel Wörth hat seit 1866 durch Sprengungen seine Gefährlichkeit für die Schifffahrt verloren. Flussaufwärts liegt in Regensburg der Regensburger Strudel unterhalb der Steinernen Brücke. Er resultiert aus den engen Brückendurchlässen.

Etwas passt also nicht zusammen. Fragen wir gleich die Staatsbibliothek persönlich, was mehr Erfolg verspricht als persönliche Fragen an WIkipedia. Ich so am 12. März 2016 (hier zweckmäßig korrigiert):

Ist denn am Anfang von „Ahnung und Gegenwart“ tatsächlich von Regensburg die Rede? Ich würde es immer gern glauben, dass der Roman dort spielt, es heißt aber, wie richtig angeführt: „Wer von Regensburg her auf der Donau hinab gefahren ist, der kennt die herrliche Stelle, welche der Wirbel genannt wird.“

Nun kam Eichendorff ja bis Wien, das geht von Regensburg noch weit flussabwärts. Und der Wirbel an der Steinernen Brücke heißt ortsüblich, im Tourismus und der Zeitgeschichte nicht „Wirbel“, sondern „Strudel“. Ein Wirbel, der „Wirbel“ oder geläufiger „Donauwelle“ heißt, kommt erst an der Grenze zwischen Ober- und Niederösterreich bei Neustadtl an der Donau, unweit einer Burg Hausstein, die 1854 gesprengt wurde — die mithin Eichendorff noch gesehen haben kann.

In dieser ober-/niederösterreichischen Variante wäre in „Sie fuhren soeben an einer kleinen Stadt vorüber“ die kleine Stadt wohl Grein, weil man — der Landkarte nach zu schließen, ohne je die Örtlichkeit besucht zu haben — Neustadtl nicht vom Donauufer aus sehen kann.

Die Frage, die Regensburg aus dem litera-touristischen Rennen werfen kann, ist: wo denn in der Regensburger Variante der „seltsam geformt[e] Fels, von dem ein hohes Kreuz trost- und friedenreich in den Sturz und Streit der empörten Wogen hinabschaut“, stehen soll. Das soll doch nicht der Dom sein, für den Eichendorff ehrfürchtigere Worte gefunden hätte.

Es ist ein schöner Gedanke, die Orte der Handlung noch besuchen zu können. Gibt es denn eindeutige Belege für die Möglichkeiten Regensburg oder Grein?

Mir liegt nichts daran, dem Literaturportal Bayern, das sich eigens auf die erste Hand der Bayerischen Staatsbibliothek verlässt, das touristische Geschäft zu verhageln; immerhin will jemand in Regensburg Strudelrundfahrten für 8,90 Euro pro Person verkaufen. Im Gegenteil, ich finde solche Erschließungen und Zusammenarbeiten löblich und fahr gern selber mal überall hin. Da will ich gar kein Spielverderber sein. Bloß ein Besserwisser.

Rettung und Erleuchtung bringt einmal mehr eine der gewissenhaft durchkommentierten Gesamtausgaben der Bibliothek Deutscher Klassiker — im Band Eichendorff: Ahnung und Gegenwart, Sämtliche Erzählungen I. Die Kommentare sind von Wolfgang Frühwald und Brigitte Schillbach und verraten:

Nach [Eichendorffs historisch-kritischer Gesamtausgabe] 3 (1913), S. 452 paßt die Beschreibung „auf den Donauwirbel bei Grein, wie er in einer gleichzeitigen Reisebeschreibung Bertuchs dargestellt wird. (Bemerkungen auf einer Reise von Thüringen nach Wien im Winter 1805 bis 1806. Weimar [im Verlage des Landes-Industrie-Comptoirs] 1808, I 49.) Der Felsen mit dem Kreuz wäre der heute gesprengte Felsen Hausstein.“

Sag ich doch: Es gibt eindeutige Belege für die Möglichkeiten Regensburg oder Grein. Ist das jetzt arg nickelig von mir aufzuwerfen, dass der angeführte Artikel Regensburg II streng gerechnet aus einem Literaturportal Bayern entfernt werden müsste? Fordern mag ich das nicht; ein Literaturportal Niederösterreich, wo er hingehört, wäre ohnehin erst noch zu gründen.

Mist, für Österreich reicht mir das Bayern-Ticket nicht. Dafür haben sie in Grein bestimmt noch besseren Eiskaffee. Krieg ich für meine Entdeckung von jemandem einen Reisegutschein oder so was? Ist bestimmt schön da.

Zur Feier der Schönheit folgt der Eichendorff-Ausschnitt im ununterbrochenen Zusammenhang — aus einer gewissen diebischen Entdeckerfreude heraus extra garniert mit Bildern aus Grein:

——— Joseph von Eichendorff:

Ahnung und Gegenwart

Erstes Kapitel, 1812, gedruckt bei Johann Leonhard Schrag, Nürnberg 1815:

Tourismusamt Grein[…] Wer von Regensburg her auf der Donau hinabgefahren ist, der kennt die herrliche Stelle, welche der Wirbel genannt wird. Hohe Bergschluften umgeben den wunderbaren Ort. In der Mitte des Stromes steht ein seltsam geformter Fels, von dem ein hohes Kreuz trost- und friedenreich in den Sturz und Streit der empörten Wogen hinabschaut. Kein Mensch ist hier zu sehen, kein Vogel singt, nur der Wald von den Bergen und der furchtbare Kreis, der alles Leben in seinen unergründlichen Schlund hinabzieht, rauschen hier seit Jahrhunderten gleichförmig fort. Der Mund des Wirbels öffnet sich von Zeit zu Zeit dunkelblickend, wie das Auge des Todes. Der Mensch fühlt sich auf einmal verlassen in der Gewalt des feindseligen, unbekannten Elements, und das Kreuz auf dem Felsen tritt hier in seiner heiligsten und größten Bedeutung hervor. Alle wurden bei diesem Anblicke still und atmeten tief über dem Wellenrauschen. Hier bog plötzlich ein anderes fremdes Schiff, das sie lange in weiter Entfernung verfolgt hatte, hinter ihnen um die Felsenecke. Eine hohe, junge, weibliche Gestalt stand ganz vorn auf dem Verdecke und sah unverwandt in den Wirbel hinab. Die Studenten waren von der plötzlichen Erscheinung in dieser dunkelgrünen Öde überrascht und brachen einmütig in ein freudiges Hurra aus, daß es weit an den Bergen hinunterschallte. Da sah das Mädchen auf einmal auf, und ihre Augen begegneten Friedrichs Blicken. Er fuhr innerlichst zusammen. Denn es war, als deckten ihre Blicke plötzlich eine neue Welt von blühender Wunderpracht, uralten Erinnerungen und nie gekannten Wünschen in seinem Herzen auf. Er stand lange in ihrem Anblick versunken, und bemerkte kaum, wie indes der Strom nun wieder ruhiger geworden war und zu beiden Seiten schöne Schlösser, Dörfer und Wiesen vorüberflogen, aus denen der Wind das Geläute weidender Herden herüberwehte.

Sie fuhren soeben an einer kleinen Stadt vorüber. Hart am Ufer war eine Promenade mit Alleen. Herren und Damen gingen im Sonntagsputze spazieren, führten einander, lachten, grüßten und verbeugten sich hin und wieder, und eine lustige Musik schallte aus dem bunten, fröhlichen Schwalle. Das Schiff, worauf die schöne Unbekannte stand, folgte unsern Reisenden immerfort in einiger Entfernung nach. Der Strom war hier so breit und spiegelglatt wie ein See. Da ergriff einer von den Studenten seine Gitarre, und sang der Schönen auf dem andern Schiffe drüben lustig zu:

Die Jäger ziehn in‘ grünen Wald
Und Reiter blitzend übers Feld,
Studenten durch die ganze Welt,
So weit der blaue Himmel wallt.

Der Frühling ist der Freudensaal,
Viel tausend Vöglein spielen auf,
Da schallt’s im Wald bergab, bergauf:
Grüß dich, mein Schatz, vieltausendmal!

Tourismusamt GreinSie bemerkten wohl, daß die Schöne allezeit zu ihnen herübersah, und alle Herzen und Augen waren wie frische junge Segel nach ihr gerichtet. Das Schiff näherte sich ihnen hier ganz dicht. Wahrhaftig, ein schönes Mädchen! riefen einige, und der Student sang weiter:

Viel rüst’ge Burschen ritterlich,
Die fahren hier in Stromes Mitt‘,
Wie wilde sie auch stellen sich,
Trau mir, mein Kind, und fürcht dich nit!

Querüber übers Wasser glatt
Laß werben deine Äugelein,
Und der dir wohlgefallen hat,
Der soll dein lieber Buhle sein.

Hier näherten sich wieder die Schiffe einander. Die Schöne saß vorn, wagte es aber in dieser Nähe nicht, aufzublicken. Sie hatte das Gesicht auf die andere Seite gewendet, und zeichnete mit ihrem Finger auf dem Boden. Der Wind wehte die Töne zu ihr herüber, und sie verstand wohl alles, als der Student wieder weiter sang:

Durch Nacht und Nebel schleich ich sacht,
Kein Lichtlein brennt, kalt weht der Wind,
Riegl‘ auf, riegl‘ auf bei stiller Nacht,
Weil wir so jung beisammen sind!

Ade nun, Kind, und nicht geweint!
Schon gehen Stimmen da und dort,
Hoch überm Wald Aurora scheint,
Und die Studenten reisen fort.

Tourismusamt GreinSo war es endlich Abend geworden, und die Schiffer lenkten ans Ufer. Alles stieg aus, und begab sich in ein Wirtshaus, das auf einer Anhöhe an der Donau stand. Diesen Ort hatten die Studenten zum Ziele ihrer Begleitung bestimmt. Hier wollten sie morgen früh den Grafen verlassen und wieder zurückreisen. Sie nahmen sogleich Beschlag von einem geräumigen Zimmer, dessen Fenster auf die Donau hinausgingen. Friedrich folgte ihnen erst etwas später von den Schiffen nach. Als er die Stiege hinauf ging, öffnete sich seitwärts eine Türe und die unbekannte Schöne, die auch hier eingekehrt war, trat eben aus dem erleuchteten Zimmer. Beide schienen übereinander erschrocken. Friedrich grüßte sie, sie schlug die Augen nieder und kehrte schnell wieder in das Zimmer zurück.

Unterdes hatten sich die lustigen Gesellen in ihrer Stube schon ausgebreitet. Da lagen Jacken, Hüte, Federbüsche, Tabakspfeifen und blanke Schwerter in der buntesten Verwirrung umher, und die Aufwärterin trat mit heimlicher Furcht unter die wilden Gäste, die halbentkleidet auf Betten, Tischen und Stühlen, wie Soldaten nach einer blutigen Schlacht, gelagert waren. So wurde bald Wein angeschafft, man setzte sich in die Runde, sang und trank des Grafen Gesundheit. Friedrich war heute dabei sonderbar zumute. Er war seit mehreren Jahren diese Lebensweise gewohnt, und das Herz war ihm jedesmal aufgegangen, wie diese freie Jugend ihm so keck und mutig ins Gesicht sah. Nun, da er von dem allem auf immer Abschied nehmen sollte, war ihm wie einem, der von einem lustigen Maskenballe auf die Gasse hinaustritt, wo sich alles nüchtern fortbewegt wie vorher. Er schlich sich unbemerkt aus dem Zimmer und trat hinaus auf den Balkon, der von dem Mittelgange des Hauses über die Donau hinausging. Der Gesang der Studenten, zuweilen aus dem Geklirre der Hieber unterbrochen, schallte aus den Fenstern, die einen langen Schein in das Tal hinaus warfen. Die Nacht war sehr finster. Als er sich über das Geländer hinauslehnte, glaubte er neben sich atmen zu hören. Er langte nach der Seite hin und ergriff eine kleine zarte Hand. Er zog den weichen Arm näher an sich, da funkelten ihn zwei Augen durch die Nacht an. Er erkannte an der hohen Gestalt sogleich das schöne Mädchen von dem andern Schiff. Er stand so dicht vor ihr, daß ihn ihr Atem berührte. Sie litt es gern, daß er sie noch näher an sich zog, und ihre Lippen kamen zusammen. Wie heißen Sie? fragte Friedrich endlich. Rosa, sagte sie leise und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. In diesem Augenblicke ging die Stubentür auf, ein verworrener Schwall von Licht, Tabaksdampf und verschiedenen tosenden Stimmen quoll heraus, und das Mädchen war verschwunden, ohne daß Friedrich sie halten konnte.

Tourismusamt Grein

Bilder: Library of Congress, Prints and Photographs Division: Steinerne Brücke Regensburg um 1900 mit Regensburger Strudel flussab der Brückenpfeiler, Photochrom-Print zwischen 1890 und 1905;
Tourismusamt Grein; ebenso der Soundtrack: Austria24TV One Run — Greinstadtgeflüster, der in One-Shot-Technik — eine hohe Schule — ungefähr den Blick eines Greiners zurück auf Eichendorff 2012 nachstellen müsste:

Bonus Track: Zur Versöhnung mit dem Literaturportal Bayern die Regensburger Domspatzen: Als wir jüngst in Regensburg waren, sind wir über den Strudel gefahren, aus: Rex Gildo & Gäste: Gestatten Sie, Herbst 1981:

Written by Wolf

10. Juni 2016 at 00:01

Veröffentlicht in Land & See, Romantik

Widewidewitt und drei macht neune

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Drei Maß Bier sind sechs
widewidewitt, und drei macht neune.
Vier, fünf Runden Schnaps,
widewidewitt, führen zum Kollaps.

Refrain: Hey, Fräulein Wirtshaus
mit schwarzen Straps und Wonderbra,
hey Fräulein Wirtshaus,
ich glaub, ich hab kein Geld.

Bridge: Ich hab kein Haus,
ein Affen und kein Bock
und spei vom dritten Stock
die ganze Nacht zum Fenster raus,
ich hab ’ne Maus
im Lederminirock,
die Wodka recht gern mag,
die schaut als wie ein Nilpferd aus. Rep. ad lib.

Text: Volksgut, nachgewiesen in Süddeutschland und Wien, spätes 20. Jahrhundert; Musik:

Pippi Langstrumpf, 1968, Musik: Konrad Elfers & Jan Johansson nach einem schwedischen Fischertanz aus dem 12. Jahrhundert, Text (Här kommer Pippi Långstrump): Astrid Lindgren, deutsche Übersetzung Wolfgang Franke & Helmut Harun, im schwedischen Original gesungen von Inger Nilsson, deutsch gesungen von Rosy Teen mit Orchester Erich Frantzen.

Die Hexe mit großer Emphase fängt an aus dem Buche zu declamiren.
Du mußt verstehn!
Aus Eins mach‘ Zehn,
Und Zwey laß gehn,
Und Drey mach‘ gleich,
So bist du reich.
Verlier‘ die Vier!
Aus Fünf und Sechs,
So sagt die Hex‘,
Mach‘ Sieben und Acht,
So ist’s vollbracht:
Und Neun ist Eins,
Und Zehn ist keins.
Das ist das Hexen-Einmal-Eins!

Faust I, Hexenküche, Vers 2539 ff.

Wemmer mol ned weiderwass,
nimmt mer en Pythagoras.

Volksgut aus Franken, spätes 20. Jahrhundert, Mathe, 9. Klasse.

Die autobiografischen Tatsachen sind: 1.) Pippi Langstrumpf war meine erste Liebe. Entweder als Ursache oder Auswirkung davon waren es eine nicht enden wollende Jugend lang unfehlbar immer rothaarige Mädchen, die sich in einem geradezu spirituellen Sinne gerne zu mir gesetzt haben. Geheiratet hab ich viel später eine Brünette mit Rotstich, weil es einander bei diesem schicksalsschweren Schritt noch in mehrerlei Hinsicht zu ergänzen galt als mit Sommersprossen und Springerstiefeln. Zum Beispiel kann sie rechnen und ich nicht.

2.) Die Zeit hab ich lange gelesen. Nachhaltig beeindruckt hat mich 1992 die Serie von Thomas „Zweistein“ von Randow Zweisteins neue Zahlenrevue über die Zahlen von 1 bis ungefähr 14. Das kannte ich nicht, weil ich früher eher Sendung mit der Maus als Sesamstraße war. So paranoid bin ich aber dann doch, um hinter dem Pippi Langstrumpf-Lied, dem mächtigsten, gemeinsten und ansteckendsten aller Ohrwürmer (probieren Sie’s ruhig jederzeit bei jedem aus!), der sehr wahrscheinlich nach Wohlklang und Rhythmus getextet wurde, eine Zahlenmystik zu vermuten, die möglicherweise selbst den Verfassern geheim geblieben ist.

Als Füllmaterial brauchte ich geschlagene 13 Videos von Variationen über Pippi Langstrumpf-Musik. Das ist ein Haufen Holz und annähernd die ganze Coverage über die alte Fernsehserie, jedenfalls deren musikalische Teile — und bedeutet, dass im Laufe der Zeit einige davon gelöscht, auf „Privat“ gestellt werden oder sonstwie verrotten können. Wenn Ihnen in dieser Hinsicht etwas auffällt, lassen Sie es mich wissen, dann muss ich die Videos mit Bildern austauschen. Hoffentlich bab ich bis dahin schon 13 Aktstudien von meiner Frau eingescannt (Bleistift, schwarze Tinte und Rötel), und hoffentlich sind Sie bis dahin schon volljährig.

——— Thomas von Randow:

Zweisteins neue Zahlenrevue

in: Die Zeit 31 bis 44, 1992.

Eins, zwei, viele

in: Die Zeit 31/92, 24. Juli 1992:

Berühmte Leute sollten sich zweimal überlegen, was sie öffentlich kundzutun gedenken. Hätte sich Aristoteles daran gehalten, wäre der Menschheit manche Fehlinformation erspart geblieben, zum Beispiel die Sache mit den Fliegen: Gut siebzig Generationen haben ihr ganzes Leben in dem Irrtum verbracht, die gemeine Stubenfliege habe vier Beine. Dies hatte der antike Universalgelehrte behauptet – und noch Mitte des vorigen Jahrhunderts stand es so in den Schulbüchern. Heute hat sich der blinde Glaube an Autoritäten gelegt – wir zählen nach.

Als ich meiner fünfjährigen Enkelin erzählte, ein großer Philosoph mit Namen Platon habe befunden, daß die Eins keine Zahl sei, fiel ihr Kommentar reichlich kurz aus: „Behämmert.“ Dabei hatte der griechische Denker seine These solide untermauert: „Wie das Jetzt in der Zeit und der Punkt im Raum, so läßt sich auch die Eins unter den Zahlen nicht weiter zerlegen. Also faßt sie auch keine Vielheit in sich zusammen, worin jedoch das Wesen der Zahl besteht. Ergo ist die Eins keine Zahl.“

Mathematiker, diese gnadenlosen Skeptiker, hatten Platons Verdikt von jeher nicht ernst genommen; doch geisterte es bis in die Neuzeit durch viele gelehrte Köpfe. Die Eins lasse sich nicht wie die anderen Zahlen „hälften“, meinte um 1530 der deutsche Rechenmeister Jakob Köbel und folgerte: „Darauss verstehstu das eins kein zal ist, sonder es ist ein gebererin (Gebärerin), anfang vnd fundament aller zalen.“

Kinder im Vorschulalter lieben das Zählen. Daß ein Bub „Tiefgarage“ oder „Kinderspielplatz“ auszusprechen vermag, hält er nicht für erwähnenswert; aber daß er bis dreißig zählen kann, darauf ist er mächtig stolz.

Dazu hat er freilich allen Grund. Denn unsere Altvordern konnten nicht einmal bis drei zählen. Dies belegen erdrückende Indizien. Beispiel: Das französische très bedeutet „sehr“, daneben aber auch „viel“, „übermäßig“ oder „sehr viel“. Seinen Ursprung hat es im lateinischen tres = „drei“. Die Gallier, denen die römische Besatzung das Wort mitbrachte, kannten aber nur eins, zwei und viel; entsprechend übernahmen sie die fremde Vokabel.

Ob Hottentotten im südlichen Afrika oder Aborigines in Australien – wo Missionare, Touristen, Bücher und Radio ihre Sprachen noch nicht überfremdet haben, kennen Naturvölker nur eins, zwei und viel. Gleichwohl mangelt es ihnen nicht am Zahlensinn. Darüber staunten die europäischen Siedler, als sie in Amerika mit Indianern in Kontakt kamen. Auch deren Wortschatz enthielt nur die beiden ersten Zahlwörter, dennoch fiel es einem Häuptling sofort auf, wenn ihm aus seiner riesigen Meute umherspringender Hunde ein einziger fehlte. Das Abzählen ohne Zahlen scheint übrigens unsere Zivilisation nicht völlig verschüttet zu haben: Mancher Lehrer „spürt“ es deutlich, wenn, etwa beim Sammeln am Ende eines Schulausflugs, seine Klasse nicht vollzählig angetreten ist.

Sprachen entwickeln sich am Bedarf. So wie wir keine Verwendung für die zwanzig Wörter haben, mit denen der Eskimo die verschiedenen Sorten Schnee benennt, gab es für den Angehörigen eines in Abgeschiedenheit lebenden Volkes keine Notwendigkeit, zu artikulieren, wie viele Bäume seine Hütte umgaben oder wieviel Kinder er sein eigen zählte. Das sichere Gefühl für die Größe einer Menge von Dingen genügte ihm vollauf. Wir aber, die wir Handel treiben und ohne Statistik die Welt nicht mehr verstehen, können auf die Zahlen nicht verzichten. Nachdem unsere Ahnen gelernt hatten, sie zu benennen, enthüllten die Nummern allerlei Merkwürdigkeiten, nicht nur mathematische. Zahlen haben zu mystischen Spekulationen Anlaß gegeben, zu Rätseln, Betrug und Gottesbeweisen. Grund genug, sich – an dieser Stelle – für eine Weile mit Zahlen zu beschäftigen.

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Die preußische Zwei

in: Die Zeit 32/92, 31. Juli 1992:

Die Zwei ist Zweifel, Zwist, ist Zwietracht, Zwiespalt, Zwitter / Die Zwei ist Zwillingsfrucht am Zweige, süß und bitter“, reimte Friedrich Rückert; er hätte noch ein Dutzend weiterer Zweiwörter finden können. Denn keine andere der „natürlichen“ Zahlen 1, 2, 3, 4, 5… ist dem Menschen so vertraut wie die Zwei. Sie begegnet ihm in der Paarigkeit des Körpers – zwei Augen, Ohren, Gliedmaßen, Nieren, Nasenlöcher … – und in den Dualitäten: Mann und Frau, Tag und Nacht, Gut und Böse, Leben und Tod.

„Eure Rede sei: Ja, ja, nein, nein. Was darüber ist, das ist von Übel“, heißt es in der Bergpredigt, aber die Welt ist zu kompliziert, als daß wir uns daran halten könnten. Gleichwohl wären wir außerstande, folgerichtig zu denken, befolgten wir nicht die strengen Regeln der Logik; die aber ist zweiwertig, denn sie postuliert: Eine Aussage ist entweder wahr oder falsch – ein Drittes gibt es nicht. Welch ein Paradoxon: Ohne diese unvernünftige Vereinfachung der Realität gäbe es keine Vernunft – und schon gar keine Wissenschaft.

Die Wissenschaft hat die Zwei zur fundamentalen Lebenszahl erhoben, seit sie uns lehrt, daß das Element allen Lebens (von Mensch und Salat gleichermaßen), die Doppelhelix des Erbmoleküls, zwiefach verdröselt ist.

Gottfried Wilhelm Leibniz bemerkte vor 300 Jahren, daß wir mit nur zwei Ziffern auskommen, um jede Zahl eindeutig zu benennen. Gewußt haben es schon die Eingeborenen der australischen Halbinsel Kap York; sie begnügten sich mit zwei Zahlwörtern, urapun für eins und okosà für zwei. Drei nannten sie okosàurapun, vier okosà-okosà, fünf okosà-okosàurapun und so fort.

Im Gegensatz zu den Uraustraliern kannte das „binäre“ System des großen Philosophen die Null. Sie macht es möglich, außer den Zahlzeichen selbst auch noch deren Position zu berücksichtigen wie bei unserer Zehnerschreibweise (weshalb wir zum Beispiel zwischen 16 und 106 unterscheiden können). Leibnizens Zählweise 0, 1, 10, 11, 100, 101 110 … ist inzwischen höchst aktuell; denn nur damit kann der Computer rechnen. Leibniz hatte zwar selbst eine Rechenmaschine erfunden, aber dafür brauchte er seine binären Zahlen nicht. Ihm dienten sie als Beweis für die Einzigkeit Gottes: Weil sich jede Zahl mit Null und Eins schreiben lasse, sei völlig klar, daß „der Eine aus dem Nichts alles erschafft“. Diese Erkenntnis fand der deutsche Gelehrte so umwerfend, daß er sie dem Kaiser von China mitteilte, in der Hoffnung, daß es den Herrscher und seine Untertanen zum Christentum bekehre.

In der Mathematik nimmt die Zwei eine Sonderstellung ein, weil sie die einzige gerade Primzahl ist. Prim heißt eine natürliche Zahl, wenn sie sich ohne Rest nur durch eins und durch sich selbst teilen läßt. Davon gibt es, wie Euklid vor mehr als zweitausend Jahren bewiesen hat, unendlich viele. Bei großen Zahlen freilich ist langwierig zu ermitteln, ob sie prim ist oder nicht. Eine Ausnahme bilden Zahlen, die im binären System nur mit Einsen geschrieben werden; Beispiel 127 = (binär) 1111111. Für diesen Typ gibt es ein Verfahren, das die Entscheidung, prim oder nicht prim, erheblich abkürzt. Darum sind die Primzahlgiganten, die von Zeit zu Zeit als mathematische Sensation in der Zeitung stehen, allesamt solche „Mersennezahlen“ (Fachjargon). Den Weltrekord hält gegenwärtig eine vom Supercomputer im englischen Harwell errechnete Zahl, die binär mit mehr als einer Dreiviertelmillion Einsen geschrieben wird. In unserer gewohnten Schreibweise hat diese Primzahl 227 832 Stellen. Erstaunlich: Trotz ihrer großen Bedeutung für das Leben spielt die Zwei in der Zahlenmystik kaum eine Rolle, es sei denn, man rechnete Kaiser Wilhelms Spruch dazu: „Die Zwei ist preußisch, denn sie macht alles gerade.“

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Dreifaltig

in: Die Zeit 33/92, 7. August 1992:

Leib-Seele-Geist, Geburt-Dasein-Tod, Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft, drei Grazien, dreigesichtige Selene, dreimal schwarzer Kater. In allen Kulturen, in Religionen, Märchen und Legenden spielt die Drei eine bedeutungsschwangere Rolle, zumeist eine positive. Denn „aller guten Dinge sind drei“.

Bemerkenswert ist das schon. Unsere Vertrautheit mit der Zwei empfinden wir – wahrlich hautnah – als Paarigkeit unserer Körperteile. Die Drei hingegen begegnet uns allenfalls im eher abstrakten Sinne, in der Dreifaltigkeit, in Verstand, Gemüt und Wille und dem aufgeklärten Menschen im dreidimensionalen Raum.

Pythagoras von Samos (um 560-480), der alte Numerologe, hatte die natürlichen Zahlen in männliche, nämlich die ungeraden, und weibliche, die geraden, eingeteilt. Chauvinistisch, wie nun einmal die Griechen waren, erklärte er die ungeraden Zahlen für gut und die geraden für schlecht. Da war selbstverständlich die Drei das Gute par excellence; denn sie war, da Eins nicht als Zahl galt, die erste ungerade – Urmutter aller Güte.

Wir sollten gnädig über die Spinnereien des antiken Nummernfreaks hinwegsehen. Sie brachten ihn immerhin auf den Gedanken, die Zahlenverhältnisse zu untersuchen, die musikalische Tonfolgen und Klänge kennzeichnen. Pythagoras ersann eine Theorie, die noch in der modernen Physik der Akustik gilt, und erkannte im Dreiklang das Fundament der Harmonie. Im Zweiertakt kommt, nichts Gutes verheißend, die Marschkolonne des Militärs daher. Froh gestimmt hingegen tanzt das Landvolk zum Hum-ta-ta der Dorfkapelle, dreitaktig auch setzen beim Menuett am Fürstenhof die feinen Damen ihre zierlichen Füße.

Mathematisch betrachtet ist die Drei eine Primzahl mit der Eigenschaft, daß sich eine natürliche Zahl dann und nur dann durch sie teilen läßt, wenn dies auch auf ihre Quersumme zutrifft. Darum sehen wir schon auf den ersten Blick: 453 201 ist durch 3 teilbar (4+5+3+2+1=15=3×5).

Pythagoras war zudem von der Drei angetan, weil er, wie alle gelehrten Griechen seiner Zeit, Dreiecke liebte, insbesondere die rechtwinkligen. Wer kennt nicht seinen Lehrsatz mit der Figur, die, hätte sie Beine, eine Bauersfrau mit Kiepe darstellte: „Die Summe der beiden Kathetenquadrate ist gleich dem Hypotenusenquadrat“. Zur Erinnerung: Katheten sind die beiden Dreieckseiten, die den rechten Winkel einschließen, die Hypotenuse ist die dritte. Hat eine Kathete die Länge a, die andere die Länge b, und bezeichnet c die Länge der Hypotenuse, so ist axa+bxb=cxc, anders ausgedrückt: a hoch 2+b hoch 2=c hoch 2. Pythagoras hatte seinen Spaß daran, natürliche Zahlen zu finden, die der Gleichung a hoch 2+b hoch 2=c hoch 2 genügen. 3, 4 und 5 tun dies, weil 3 hoch 2+4hoch 2=9+16=25 ist; auch 5, 12, 13 und 7, 24, 25 sind „pythagoreische Zahlentripel“. Erst zwei Jahrhunderte später fand Diophantos von Alexandria ein Rezept für die Herstellung solcher Tripel: Man nehme eine Zahl m, dazu eine kleinere n und rechne m hoch 2-n hoch 2 aus; das ist (etwa in Zentimetern) die Länge der einen Kathete. Die andere mache 2×n×m lang. Dann ist – Simsalabim! – die Hypotenuse m hoch 2+n hoch 2 Maßeinheiten lang.

Tripel aus natürlichen Zahlen, die sich als Seitenlängen zu rechtwinkligen Dreiecken zusammenfügen, sahen die Pythagoreer als glückverheißend an. Das hat sich offenbar lange erhalten, was der Rätselvers „Pythagoräische Ehe“ in dem Feldpost-Büchlein „Zum Kopfzerbrechen“ (Preis: 30 Pfennig) aus dem Kriegsjahr 1915 belegt:

„Sechsunddreißig Jahre alt / Bin ich, und recht Wohlgestalt. / Ich mal ich und du mal du, / Treu vereint als Mann und Frau / Bringen, das weiß ich genau / Fünfundvierzig Jahre zu. / Sage mir, wie alt bist du?“

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Vierfältig

in: Die Zeit 34/92, 14. August 1992:

Pythagoras pries sie: „Erzeugerin der Erzeugerin des Alls“, die Vier, und ließ damit eine verblüffend modern anmutende Auffassung erkennen. Denn für ihn war eine Zahl N gleichbedeutend mit der Menge aller Zahlen 1, 2, 3, …, N. Ergo „enthielt“ die Vier die Zahlen 1, 2, 3 und 4. Deren Summe ist 1+2+3+4=10, und deshalb „erzeugte“ die Vier die Zehn. In dieser wiederum sah Pythagoras die „Erzeugerin des Alls“, weil Zehn aus pythagoreischer Sicht die Zahlen 1 bis 10 enthält, die „Bausteine aller Zahlen“.

Unsereiner hat ein eher gemütliches Verhältnis zur Vier. Wir ziehen uns in unsere vier Wände zurück, trinken ein Viertele und strecken alle viere von uns. Glück hat, wer ein vierblättriges Kleeblatt findet. Vier sind der Jahreszeiten, der Mondphasen und der Evangelisten. Weil früher die Städte in vier Bezirke eingeteilt waren, den vier Himmelsrichtungen entsprechend, wohnen wir noch heute in „Stadtvierteln“. Ungemütlich allerdings wirkt auf uns die Quarte, das Intervall, mit dem uns das Martinshorn der Polizei aufschreckt.

Für Mathematiker ist die Vier in den letzten Jahrzehnten immens wichtig geworden. Mit vier Farben kommt jemand aus, der eine beliebige Landkarte malen möchte, auf der Länder, die eine gemeinsame Grenzlinie haben, verschiedenfarbig sein sollen. Geographen wußten das aus Erfahrung, doch ob dies mathematisch beweisbar wäre, fragte erst um 1850 der englische Mathe-Student Francis Guthrie und stellte damit seine Zunft vor ein quälendes Problem. 1965 endlich, 115 Jahre später, entdeckte Heinrich Heesch aus Hannover einen Weg, der zum Beweis führen mußte. Begehen konnte ihn freilich niemand, weil dazu eine übermenschliche Rechenarbeit zu leisten gewesen wäre. So verstrichen noch elf weitere Jahre, bis Kenneth Appel und Wolfgang Haken an der Universität von Illinois ihren Computer programmierten, damit er den steinigen Pfad bis ans Ende ging – und den Beweis erbrachte: Vier Farben nur braucht ein Kartograph.

Zu wahrhaft universeller Bedeutung verhalf der Vier vor zehn Jahren Simon Donaldson, ein 24jähriger Student in Oxford, mit einem unglaublichen Forschungsergebnis.

Seit eineinhalb Jahrhunderten tummeln sich Mathematiker in Räumen, die nicht nur drei, sondern beliebig viele Dimensionen haben. Albert Einstein zum Beispiel gab dem Universum eine vierte Dimension, die Zeit, und betrieb damit seine Relativitätstheorie. Seither rechnen Physiker bevorzugt mit vier Dimensionen.

Physiker deuten die Welt hauptsächlich als mathematische Gleichungen, die mit der – manchem wohl noch erinnerlichen – Differentialrechnung gelöst werden. Darum verlegen die Gelehrten ihre Probleme in Räume, in denen sich Funktionen differenzieren lassen, und eben dies funktioniert in solchen, wo geometrische Verhältnisse herrschen, die schon Euklid um 300 v. Chr. studiert hat. Zum Glück, so glaubten die Forscher, sind diese „euklidischen Räume“ so gestaltet, daß darin nur eine einzige Art von Differentialrechnung möglich ist.

Simon Donaldson aber fand im Jahr 1982 heraus, daß dies zwar für euklidische Räume mit zwei, drei, sowie mit fünf und mehr Dimensionen zutrifft, nicht aber für den vierdimensionalen Raum. In ihm wies er eine Struktur nach, die einer völlig anderen Differentialrechnung bedarf.

„Warum allein im vierdimensionalen Raum“, fragen sich die Mathematiker. „Ausgerechnet im vierdimensionalen“, maulen die Physiker, die nun unsicher sind, ob ihre Formeln überhaupt noch stimmen.

Inzwischen hat sich ergeben, daß der vierdimensionale euklidische Raum sogar unendlich viele, grundverschiedene Differentialrechnungen zuläßt.

Was für eine tolle Zahl, diese Vier!

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Hurra, ein Zwillingspaar

in: Die Zeit 35/92, 21. August 1992:

Der Krähe ist die Fünf zu hoch. Das belegte der Zahlenhistoriker Tobias Dantzig mit der Erfahrung eines britischen Edelmanns. Auf dessen Grundstück stand ein Turm, in dem sich eine Krähe eingenistet hatte. Dies gefiel dem Gentleman nicht, weshalb er das Tier fangen wollte. Doch jedesmal, wenn er unten seinen Turm betrat, flog der Vogel oben heraus, setzte sich auf einen Baum und kam erst zurück, nachdem der Brite das Gemäuer wieder verlassen hatte. Also beschloß er, die Krähe zu überlisten. Deshalb begab er sich zusammen mit einem Freund in den Turm. Das Tier flog auf seinen Baum. Nach einer Weile verließ allein der Freund den Turm. Doch die Krähe ließ sich nicht beirren; sie blieb geduldig sitzen, bis auch der Besitzer heraustrat. Mit drei und vier Personen war der Vogel ebenfalls nicht zu täuschen. Die Krähe wartete stets, bis alle wieder draußen waren. Erst als fünf Männer den Turm besuchten, aber nur vier wieder erschienen, verzählte sich das Tier und flog heim – das war sein Pech.

Beim Menschen ruft die Fünf eher positive Empfindungen hervor. Als heilige Zahl wurde sie in so verschiedenen Regionen wie China, Indien und Griechenland verehrt. Die Bibel ist voller Fünfen: Da geht’s um fünf Ochsen, Widder und Lämmer, um fünf Silberlinge, Könige und goldene Mäuse, um fünf törichte und fünf kluge Jungfrauen…

Für die Pythagoreer war Fünf die Zahl der Ehe. Denn 5 = 2 + 3 ist die erste Summe aus einer weiblichen – geraden – und einer männlichen – ungeraden – Zahl (Eins zählte nicht als Zahl). Sinnbild der Fünf war das Pentagramm, der fünfzackige Stern, der sich in einem Zug zeichnen läßt. Seine fünf Strecken schneiden einander so, daß die dabei entstehenden Teilstrecken ein „stetiges“ Längenverhältnis zueinander haben: Der größere Abschnitt verhält sich zur ganzen Strecke, wie der kleinere zum größeren Abschnitt. Das ist der „Goldene Schnitt“, der Pythagoras in Verzückung versetzte.

Als Drudenfuß diente das Pentagramm im Mittelalter der Abwehr von Hexen (Druden). Mephisto mußte der Ratte befehlen, eine Spitze dieses Sterns abzunagen, damit er die Bewegungsfreiheit des Teufels nicht weiter einengte.

Wir Heutigen genießen den Fünfuhrtee, bewundern bei den mit fünf Ringen symbolisierten Olympischen Spielen den Fünfkampf, sind ungern das fünfte Rad am Wagen, fürchten die Fünfte Kolonne und lassen, obwohl wir alle fünf Sinne beisammen haben, manchmal fünf gerade sein.

Piaton entdeckte, daß es nur fünf Körper geben kann, die von regelmäßigen, gleich großen Vielecken begrenzt sind und an deren Ecken dieselbe Anzahl von Kanten zusammenstößt, wie zum Beispiel beim Würfel oder bei der Dreieckspyramide. Kosmisch nannte er sie – wir haben sie ihm zu Ehren „platonische Körper“ getauft.

Fünf ist Primzahl, und da zwischen ihr und der nächst niedrigen Primzahl, der Drei, nur eine (selbstverständlich gerade) Zahl liegt, bilden 3 und 5 ein Primzahlzwillingspaar. Andere sind 5 und 7, 11 und 13, 17 und 19; der Rekord liegt zur Zeit bei 224 376 047 und 224 376 049. Seit über zweitausend Jahren wissen wir, daß es unendlich viele Primzahlen gibt; ob aber auch die Anzahl der Primzahlzwillinge unendlich ist, weiß bis heute niemand. Trotzdem ist es möglich, eine präzise Aussage über alle Primzahlzwillinge zu machen. (Zur Erklärung: Kehrwert einer Zahl p ist der Bruch 1/p.) Der Mathematiker Viggo Brun bewies nun vor 72 Jahren: Würde jemand die Kehrwerte sämtlicher Primzahlzwillinge zusammenzählen – das begänne mit 1/3 + 1/5 + 1/7 + 1/11 und hörte vielleicht nie auf – so ergäbe sich die Summe 1,90216054 … Das kommt selbst Mathematikern ziemlich komisch vor, weshalb der völlig korrekte Beweis auch als „Brunscher Witz“ in die mathematische Literatur eingegangen ist.

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Sechsisch

in: Die Zeit 36/92, 28. August 1992:

Nichts in dieser Welt ist vollkommen – heißt es. In Wahrheit aber gibt es Vollkommenes, zum Beispiel die Sechs. Sie nämlich ist eine vollkommene Zahl. Denn ihre echten Teiler sind 1, 2 und 3, und deren Summe, 1 + 2 + 3 = 6, ist wiederum die Zahl selbst. Sechs ist die erste dieser besonderen Zahlen; die nächste ist 28 – notabene: die Mondumlaufszeit in Tagen – weil 1 + 2 + 4 + 7 + 14 = 28 ist. Unterhalb von 10 000 gibt es noch zwei weitere: 496 und 8128.

Euklid hat im Buch IX seines grandiosen Werkes „Die Elemente“ bewiesen: Ist q eine Primzahl und ist auch 2q – 1 prim, dann ergibt n = 2q – 1 x (2q – 1) eine vollkommene Zahl. Bei der Sechs ist q die Primzahl 2 und 2 2 – 1 = 4 – 1 = 3 ist ebenfalls Primzahl, ergo muß n = 2 2-1×3 = 2 x 3 = 6 vollkommen sein. Der Schweizer Mathematiker Leonhard Euler hat vor gut 200 Jahren folgende Umkehrung des Euklidischen Satzes gefunden: Jede gerade vollkommene Zahl ist von der oben beschriebenen Art, 2q-1 x (2q – 1).

Wie aber steht es um ungerade vollkommene Zahlen? Trotz jahrhundertelangen, eifrigen Bemühens ist bislang nicht eine einzige gefunden worden. Vielleicht gibt es gar keine, was uns nach pythagoreischem Zahlenmythos lehren würde, daß Vollkommenheit ein ausschließlich weibliches Privileg ist. Machos, die dies mit einem Gegenbeispiel entkräften wollen, seien gewarnt: Sollte es eine ungerade vollkommene Zahl geben, dann hätte sie mindestens 150 Stellen.

Vollkommenheit ist rar in dieser Welt. Bis heute sind erst 32 vollkommene Zahlen bekannt. Den Rekord hält ein 455 663stelliges Monstrum: 2756838 x (275639-1); ausgeschrieben würde es dreizehn Seiten der ZEIT füllen.

Die Sechs galt im Altertum als die herrlichste aller vollkommenen Zahlen, weil ihre Teiler 1, 2, 3 zugleich den Beginn der Zahlenreihe bilden. Augustinus meinte, deshalb hätte der liebe Gott für seine Welterschaffung sechs Arbeitstage eingeplant, was dann allerlei „Sechsisches“ zur Folge hatte: Moses riet, den Acker sechs Jahre zu bestellen und ihn dann ein Jahr brach liegen zu lassen, der fromme Jude ißt sechs Tage lang ungesäuertes Brot, Goliath war sechs Ellen hoch, und Jesus wurde am sechsten Tag der Woche in der sechsten Stunde ans Kreuz geschlagen.

Richtig unheimlich wird’s, wo die Sechs gleich dreifach auftritt, in 666, der Zahl des Tieres aus der Apokalypse des Johannes. In unendlichen Debatten stritten sich Theologen darüber, was es mit dieser Tripelsechs auf sich hat, bis schließlich die katholische Kirche beschied, 666 sei die Zahl des Antichristen. Peter Bungus, ein Priester mit numerologischen Ambitionen, tüftelte so lange an dem Namen seines Zeitgenossen Martin Luther herum, bis er ihn mit 666 gleichsetzen und somit den Reformator als Antichristen identifizieren konnte. Doch Luther, der gelegentlich auch dem Zahlenhobby frönte, replizierte mit der „Entdeckung“, Johannes habe mit der apokalyptischen Zahl eine Prophezeiung über die Dauer des Papsttums geliefert, und daraus gehe dessen unmittelbar bevorstehendes Ende deutlich hervor.

Prominent ist die Sechs in der Natur, in Schnee- und Bergkristallen, Pflanzenzellen, Bienenwaben, Lilienkelchen und Fliegenbeinen. Sechs Seiten hat die beim Entwurf und Bau unserer Behausungen favorisierte Form, der Quader. Als Spielwürfel ist seine begehrteste Seite die mit der Augenzahl sechs.

Um einen Zylinder lassen sich sechs weitere, der gleichen Größe, bündig herumstellen. Sind die Zylinder hohl und aus biegsamem Material gefertigt, so entsteht, wenn dieses Bündel rundum zusammengequetscht wird, ein Sechskant. Dessen Profil, das regelmäßige Sechseck, regte Pythagoras zu Meditationen an. Schließlich deutete er die Figur – Grüne, aufgepaßt! – als Symbol der Natürlichkeit.

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Sieben Sachen

in: Die Zeit 37/92, 4. September 1992:

Sonne, Mond und die fünf mühelos sichtbaren Wandelsterne tanzen beim streng geordneten Lauf der Gestirne aus der Reihe, strolchen umher, was die Griechen veranlaßte, sie Herumtreiber (planetes) zu nennen, wiewohl sie ihnen göttliche Macht zubilligten. Alle Völker der Antike betrachteten diese sieben Himmelskörper voller Ehrfurcht und hielten ihre Konstellationen für schicksalsbestimmend. Darum wohl gilt die Sieben in den Kulturen der Erde bis heute als außergewöhnliche Zahl. Leicht hätte sich der klassische Katalog der Weltwunder erweitern, leichter noch das Todsündenregister verlängern lassen, doch als sie sieben beisammenhatten, gaben sich unsere Altvordern vorerst einmal zufrieden. Die Listen der Weisen, die in gehobenen hellenistischen Kreisen kursierten, stimmten – wer hätte bei Intellektuellen etwas anderes erwartet? – keineswegs überein, doch jede verzeichnete selbstverständlich sieben Namen.

Noah wurde sieben Tage vor der Flutkatastrophe gewarnt und aufgefordert, sieben Paare jeder Tierart in die Arche aufzunehmen. Alle sieben Tage ließ er eine Taube zu Erkundungsflügen aufsteigen, und im siebten Monat dieser Artenschutzaktion landete das Schiff auf dem Berg Ararat. Jakob diente Laban sieben Jahre, um dessen Tochter Lea zu bekommen und noch einmal sieben Jahre für ihre Schwester Rahel. War das der Grund dafür, daß Handwerker früher sieben Lehrjahre zu absolvieren hatten?

Siebenarmig ist die Menora, der Leuchter im jüdischen Tempel. Rom wurde auf sieben Hügeln erbaut, und in den sieben freien Künsten – Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik – hatte sich zu üben, wer im Mittelalter als kultivierter Mensch geachtet werden wollte. Isaac Newton fand heraus: Sieben reine Farben – Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Indigo und Violett – vermischen sich im Sonnenspektrum zum weißen Licht. Sieben ist Glückszahl: Das segenbringende Hufeisen hat sieben Nagellöcher. Das siebte Kind einer Familie ist mit Begabungen reich gesegnet, schon gar, wenn auch ein Elternteil siebtes Kind war – sagt man. Wer im Glück schwelgt, fühlt sich im siebten Himmel, und wer auf Reisen geht, packt seine sieben Sachen.

Die böse Sieben, ja, die gibt es auch, aber sie verblaßt neben all dem Guten, das diese Zahl verheißt. Auch in der Volksheilkunde. Weil wir sieben Organe haben – Herz, Lunge, Milz, Leber, Magen und zwei Nieren – sowie sieben Körperteile – Kopf, Brust, Leib und vier Glieder –, soll eine Arznei aus sieben Kräutern bestehen. Siebenmal mit dem Trauring der Mutter über das Augenlid des Kindes gestrichen, bringt das Gerstenkorn zum Verschwinden. Sieben Köpfe fetter Fledermäuse mußte Edward III. von England schlucken, um seine Bresthaftigkeit zu lindern. Murrend befolgte der aussätzige Syrer Naeman die Therapie, die ihm der Prophet Elias verordnet hatte: „Wasche dich im Jordan siebenmal, dann wirst du rein.“ Sie half.

Sieben Zwerge und sieben Schwaben begegnen uns im Märchen. Sieben Sterne malen den großen und den kleinen Bären an den Himmel, siebentönig ist die westliche Musik.

Mathematisch ist die Sieben eher unauffällig. Sie ist ein Primzahlzwilling, also eine Primzahl, die sich von einer anderen – in diesem Fall von fünf – um zwei unterscheidet. Dies gibt mir Gelegenheit, eine ärgerliche Zahlenverwechslung in der vorletzten Ausgabe zu korrigieren: Das größte, bisher bekanntgewordene Primzahlzwillingspaar ist 256 200 945×2 hoch 3426 ± 1.

Der Kehrwert von Sieben, 1/7, ist ein endloser Dezimalbruch, 0,142857142857142857 … mit der Periode 142 857. Wird diese Zahl mit 3 malgenommen, springt die 1 an ihr Ende: 3×142 857=428 571; bei 5×142 857=714 285 hupft die 7 an den Anfang. Mit 2, 4 und 6 multipliziert, bleiben die Ziffern erhalten, aber 7×142 857 = 999 999.

Kurios ist sie schon, die verflixte Sieben.

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Achtheiten

in: Die Zeit 38/92, 11. September 1992:

Wie viele Finger hat der Mensch? Linguistisch betrachtet nur acht, weil der Daumen nicht Finger heißt. So haben es unsere Urahnen gesehen. Indiz: In den indogermanischen Sprachen war das Wort für „neun“ auffallend eng mit dem für „neu“ verwandt: Neun und neu lauten in Latein novem und novus, im Gotischen nium und niujis, auf indisch nava und navas und in Tocharisch, das vor 2000 Jahren in Teilen Ost-Turkestans gesprochen wurde, nu und nu. Dies weist darauf hin, daß die Acht als eine Grenze empfunden wurde, hinter der man neu beginnt, mit dem Zählen nämlich, so wie im dekadischen System nach jedem Zehner. Schon in vorchristlichen Zeiten aber muß den Menschen klargeworden sein, daß es bequemer ist, den Daumen zum Finger und damit die Zehn zur Zählbasis zu machen.

Wiedererweckt wurde das Achtersystem zu Anfang unseres High-Tech-Zeitalters. Denn „Oktalzahlen“ – wir lesen sie : 0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 10, 11, … 17, 20, … – eigneten sich vorzüglich für den Informationsaustausch zwischen Menschen und den noch recht unbeholfenen Computerkolossen der fünfziger Jahre. Inzwischen kapiert so ein Rechner auch unsere Dezimalzahlen.

Acht ist eine Kubikzahl, 8 = 2 x 2 x 2 = 2 hoch3; für die alten Mystiker war sie die erste (eins war für sie keine Zahl). Ergo ernannten sie die Acht zur Zahl des Raumes. Ihn gliederte, Jahrhunderte später, René Descartes mit dem von ihm erfundenen Koordinatensystem in acht Teilräume, die „Oktanten“.

Zahl der Rettung ist die Acht in der jüdischchristlichen Überlieferung. Nur acht Menschen – aus Noahs engstem Familienkreis – überlebten die Sintflut; am achten Lebenstag sollte ein jüdischer Knabe beschnitten werden, weshalb die meisten alten Taufbecken achteckig sind; acht Tage alt muß das Lamm sein, ehe es geopfert wird, schreibt Moses und fährt fort: „so ist’s angenehm“ – wohl nicht fürs Lamm; acht Seligpreisungen spricht Christus.

Mit der Oktave, dem achten Ton, verdoppelt sich die Frequenz des Grundtons. Mühelos erkennen und produzieren Menschen aller Musikkulturen dieses Intervall.

Gelehrte streiten sich darüber, warum wir acht Tage sagen, wenn wir sieben meinen; wer am Montag verspricht, in acht Tagen wiederzukommen, will nicht erst am nächsten Dienstag erscheinen. Vielleicht versteckt das Unterbewußtsein in diesem sprachlichen Lapsus den Wunsch nach einer Zugabe; Franzosen gewähren sie mit quinze jours für vierzehn Tage.

Lange haben die Gewerkschaften für den Achtstundentag gekämpft. Warum gerade acht Stunden, warum nicht sieben oder neun? Ordnung muß sein: Acht Stunden teilen den Tag in drei exakt gleiche Teile, einen zum Vergnügen, einen zum Schlafen, einen zum Arbeiten. Darum.

Im chinesischen Buch der Weisheit, I Ging, sind alle denkbaren Schicksalsverläufe in einer Chiffre aus achtmal acht Zeichen codiert. Im Buddhismus beschreiben acht Verhaltensvorschriften den „Achtfachen Weg“; wer ihn beschreitet, braucht nicht mehr wiedergeboren zu werden; er darf für immer ins Nirwana eintreten. Achtblättrig ist die Lotosblume, das Sinnbild des Nirwana. Sie wird auch in der indischen Kosmogonie und in der ägyptischen Mythologie als Attribut von Gottheiten verehrt.

Archimedes, ein Freund gigantischer Zahlen, gab der Acht eine Bedeutung beim Festsetzen großer Zählschwellen, die etwa unseren Millionen oder Milliarden entsprechen. Der Grieche schlug „Achtheiten“ vor. Sie waren ziemlich groß: Die erste Achtheit, arithmôn, erstreckte sich von 1 bis 10 hoch 8 (100 Millionen), die zweite bis 10 16 ‚ und weiter so bis zur 10 hoch 8 ten Achtheit, der „ersten Periode“ – eine 1 mit 800 Millionen Nullen –, dann weiter zur 10 hoch 8 ten Periode…

Daher mag das merkwürdige griechische Sprichwort stammen: „Alle Dinge sind acht.“

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Alle neune

in: Die Zeit 39/92, 18. September 1992:

Wie beschaulich könnte es auf der Buchmesse zugehen, würden alle Autoren die Neunerregel beherzigen, die der Dichter und Kritiker Quintus Horatius Flaccus vor gut 2000 Jahren für jedes literarische Werk aufgestellt hat: nonumque prematur in annum, „und bis ins neunte Jahr werde es zurückgehalten“, womit Horaz – so kürzeln wir den Namen des gelehrten Poeten gerne – seinen Dichterkollegen empfahl, alles Geschriebene neun Jahre lang zu redigieren und zu prüfen, ob es überhaupt zur Veröffentlichung tauge. Befolgten unsere Schriftsteller diesen weisen Rat – wir müßten uns nächsten Monat in Frankfurt nicht durch 300 000 Titel wühlen.

Das allein schon würde die Neun zu einer überaus sympathischen Zahl machen. Beliebt ist sie von jeher bei Leuten, die ihren Mitmenschen mit verblüffenden Rechenleistungen imponieren möchten. Viele dieser Kunststücke basieren auf der „Neunerprobe“, einem nützlichen Testverfahren, dessen sich Kontoristen und Kaufleute vor der Erfindung des Taschenrechners bedienten, um die Ergebnisse ihrer langen Rechnungen nachzuprüfen.

Hier, aus einer alten englischen Jugendzeitschrift, die Anleitung zu einem dieser unzähligen Rechenkunststücke: „Fordere beim nächsten Klassenfest ein Kind auf, zwei beliebig lange Zahlen auf die Wandtafel zu schreiben. Danach läßt Du Dir die Augen verbinden und bittest das Kind, beide Zahlen malzunehmen. Sodann soll es aus dem Ergebnis irgendeine Ziffer, die aber nicht die Null sein darf, herausstreichen und dir die verbliebenen Ziffern in beliebiger Reihenfolge vorlesen. Zum Erstaunen Deines Publikums wirst du nun die herausgestrichene Ziffer nennen.“

Der Trick: Während das Kind seine erste Zahl an die Tafel schreibt (zum Beispiel 43071), zählt der Zauberkünstler die Ziffern zusammen (4 + 3 + 0 + 7 + 1 = 15), teilt diese Quersumme durch 9 (15 : 9 = 1, Rest 6) und merkt sich den Rest (6), zünftig „Neunerrest“ genannt. Ebenso verfährt er mit der zweiten Zahl (Beispiel: 8617). Deren Neunerrest (4) multipliziert er dann mit dem ersten (4 x 6 = 24) und ermittelt den Neunerrest dieses Produktes (24 : 9 = 2, Rest 6).

Nur auf diese Zahl (6) kommt es an. Wenn nun das Kind eine Ziffer aus dem Ergebnis (etwa 4) gestrichen hat und die verbliebenen (3, 7, 1, 1, 2, 8, 0, 7) in beliebiger Reihenfolge nennt, zählt sie der Künstler zusammen (29) und zieht den Neunerrest dieser Summe (2) von dem zuvor errechneten Rest (6) ab. Diese Differenz (4) ist die gestrichene Ziffer – es sei denn, beim Abziehen käme eine negative Zahl heraus; in diesem Fall müßte ihr eine 9 zugezählt werden, damit sich die gesuchte Ziffer ergibt.

Die Neun stürzte Zahlenmystiker des klassischen Altertums in ein Dilemma. Einerseits galt sie, weil ungerade, als männliche Zahl; andererseits aber war sie nicht Primzahl wie ihre männlichen Vorgänger 3, 5, und 7. Das ließ Pythagoras an der Manneskraft der Neun zweifeln (obwohl sie doch dreimal drei, mithin eine Potenz ist). Schließlich einigten sich die pythagoreischen Chauvis darauf, die Neun als „weibisch“ zu diffamieren.

Weiblichkeit assoziierten auch die Römer mit der Neun, lateinisch nona; das aber lag an den Gesetzen ihres Reiches. Die nämlich erlaubten den nonariae erst von der neunten Stunde an (15 Uhr nach unserer Stundenzählung), auf den Straßen Roms ihre Liebesdienste feilzubieten; daher ihr Name.

Neun Musen, die Göttinnen der Künste, gebar Mnemosyne dem Zeus. Neun Stunden währt die Novene, das Bittgebet der Mönche.

Wir haben zur Neun ein eher profanes Verhältnis. Wer neunmalklug genannt wird, hat wenig Anlaß, darauf stolz zu sein. Doch der Kegelbruder, der mit einer Kugel alle neune schafft, ist der Größte.

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Zehn Finger

in: Die Zeit 40/92, 25. September 1992:

Der Mensch ist das Maß aller Dinge“, befand der griechische Philosoph Protagoras, was ihm keineswegs nur Zustimmung einbrachte. Plato kritisierte seinen prominenten Kollegen: Wenn schon ein Maß, dann käme dafür nur eine Gottheit in Betracht. Bei den Zahlen aber trifft der umstrittene Spruch ins Schwarze. Denn daß die Zehn in nahezu allen Sprachen der Erde zur Zählschwelle gekürt wurde, von der aus sich die Zahlwörter wiederholen, hat nur einen Grund: Der Mensch hat zehn Finger, und mit den Fingern fängt das Zählen an. Unsere Wörter „elf“ und „zwölf“ sprechen übrigens nicht gegen diese These. Sie sind die lautverschobenen, gotischen Wendungen ain-lif und zwa-lif, was „eins über“ und „zwei über“ (der Zehn) bedeutete.

Weil wir aber noch Füße mit zehn Zehen haben, waren einige Völker, die Mayas zum Beispiel und die Ureinwohner Mexikos, auf die Idee gekommen, die Schwelle auf zwanzig heraufzusetzen. In Europa haben die Kelten, Dänen und Gallier zwar wie wir zehnschwellig gezählt, doch sprachlich ihre Zahlen noch einmal zu je zwanzig gebündelt. Das französische quatrevingt, „vier Zwanziger“, für achtzig erinnert daran.

Mit der genialen Erfindung der Null – sie wird babylonischen Gelehrten zugeschrieben – erhielt die Zählschwelle Zehn eine mathematische Bedeutung. Erst jetzt, im zweiten Jahrhundert, konnte eine Zahl eindeutig durch die Position ihrer Ziffern bestimmt werden. Wie hätte man ohne Null zwischen 32 und 3020 unterscheiden sollen? Jetzt aber war klar: 32 ist 3xl0 hoch 1 + 2 x l0 hoch 0 und 3020 ist 3 x 10 hoch 3 + 0 ×10 hoch 2 +2 x 10 hoch 1 +0 x 10 hoch 0. Statt der Zehner hätten es auch Potenzen einer anderen Zahl getan, aber unsere Vorfahren hatten sich nun einmal an die Zählschwelle Zehn gewöhnt, also blieb es dabei.

Heute vor eine solche Wahl gestellt, würden wir mit der Suche nach der günstigsten Zahlenbasis eine Expertenkommission beauftragen. Sie hätte es schwer. Denn die Praktiker unter ihren Mitgliedern würden sich, wie schon vor 220 Jahren der große Naturforscher Graf Buffon, für die Zwölf stark machen, einmal, weil sie vier Teiler hat (zehn hat nur zwei), zum anderen, weil sie das Rechnen mit Tageszeiten, Monaten, Winkeln, Längen- und Breitengraden erleichtert. Mathematiker hingegen sähen lieber eine Primzahl als Fundament. Das brächte arithmetische Vereinfachungen, zum Beispiel beim Bruchrechnen. Für die Zehn jedenfalls hätte sich niemand entschieden; sie ist weder Fisch noch Fleisch. Wir aber müssen mit ihr leben.

Den Pythagoreern war offenbar die physiologische Erklärung für die Bedeutung der Zehn zu profan. Sie suchten nach Höherem und fanden es in ihrer Mystik: Zehn ist 1+2+3+4, das hieß für sie: Eins, der Ursprung aller Zahlen, plus Zwei, das Symbol der Lebenszeugung, plus Drei, die Glückszahl, plus Vier, die Zahl der Erde; Grund genug, der Zehn einen Heiligenschein zu verpassen. Aristoteles teilte die Wirklichkeit in zehn Kategorien ein, Augustinus sah in der Zehn die Fülle der Weisheit.

Zehn Gebote mußten es unbedingt in der Bibel sein, weshalb Moses, dem wohl nur neun eingefallen waren, das Verbot der Begehrlichkeit in zwei Gebote aufteilte, um auf zehn zu kommen. Abraham zahlte dem König Melchisedek von Salem zehn Prozent seiner Habe. Daher der alte jüdische Brauch, den „Zehnten“ abzugeben, den die christlichen Kirchen und weltliche Potentaten allzugern übernahmen.

„Besser ein Augenzeuge als zehn Ohrenzeugen“, empfiehlt der Volksmund, und die Erfahrung lehrt uns: „Freunde in der Not gehen zehn auf ein Lot.“ Der Vater schimpft: „Ich habe es dir schon zehnmal erklärt“, und wer wo nicht sein möchte, behauptet störrisch: „Da bringen mich keine zehn Pferde hin.“ Warum ausgerechnet zehn?

„Ein Narr kann mehr Fragen stellen, als zehn Weise beantworten können.“

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Sündige Elf

in: Die Zeit 41/92, 2. Oktober 1992:

So zwischen der Zahl der Vollendung, der Zehn, und der Götterzahl Zwölf eingezwängt, ist die Elf gesichtslos geblieben. Selbst Pythagoras und seinen Jüngern, die alle Vorläufer der Elf zu bedeutungsschwangeren Symbolen erhoben hatten, fiel zur Elf nichts ein. Sie ist halt zehn plus eins, mehr nicht.

Für die Palästinenser jedoch ist die Elf eine Unglückszahl, die schlimmste überhaupt. Warum? Genau weiß es wohl niemand. Möglicherweise hängt dies mit der in südlichen Ländern gefürchteten Malaria zusammen, die häufig am elften Tag zum Tod führt. Alexander der Große starb 32jährig am elften Tag nach Ausbruch der Krankheit, ebenso Lord Byron.

Nichts Gutes verband auch der Astrologe Seni mit der Elf, jedenfalls bei Schiller, der ihn in „Die Piccolomini“ sagen läßt: „Elf ist die Sünde, Elfe überschreitet die Zehn Gebote“.

Elf ist ein modernes Wort; noch zu Goethes Zeiten nannten sie die meisten Leute „Eilf“, so selbst der Meister, der in seinen ungedruckten Epigrammen frivol anmerkte: „Unklug schob er den kleinsten der zehn Finger ins Ringchen, nur der größte gehört würdig, der eilfte, hinein.“ Jeder wußte, was gemeint war. Jeder wußte auch Goethes Vers zu deuten:,,… als im schmucken Hain und Haus festlich Eilfer überfloß“. Denn was wir in unserer Lust am Übertreiben als „Jahrhundertwein“ bejubelt hätten, wurde zu jener Zeit schlicht „Elfer“ getauft, ein im Jahr 1811 reichlich gekelterter, vorzüglicher Rebensaft aus Rheinhessen.

Heute assoziieren wir mit der Elf eine Fußballmannschaft, und jedes Kind kennt den Elfmeter schon, ehe es bis elf zählen kann. Ungeduldig warten die Narren auf den Elften Elften, an dem der Elferrat um elf Uhr elf den Beginn des Karnevals verkündet.

Elf ist Primzahl und als kleiner Bruder der Dreizehn ein Primzahlzwilling. Ob eine natürliche Zahl ohne Rest durch elf teilbar ist, läßt sich mit Hilfe der „Querdifferenz“ mühelos ermitteln. Wie so oft läßt sie sich leichter am Beispiel als mit ihrer umständlichen Definition erklären. Hier ein Exempel: Ist 73 529 681 durch 11 teilbar? Zähle die Ziffern an den ungeraden Stellen der Zahl – also an der ersten, dritten, fünften … Stelle – zusammen: 7 + 5 + 9 + 8 = 29; verfahre ebenso mit den Ziffern an den geraden Stellen, 3 + 2 + 6 + 1 = 12, und berechne den Unterschied zwischen diesen beiden Summen, 29 – 12 = 17. Das ist die Querdifferenz der Zahl. Sie müßte durch 11 teilbar sein; denn dann und nur dann träfe dies auch für 73 529 681 zu – was offensichtlich nicht der Fall ist. Wie aber steht’s mit 73 529 676? Ihre Querdifferenz ist 28 – 17 = 11 – alles klar.

Die Querdifferenz spielt die tragende Rolle bei der Elferprobe, einem hilfreichen Instrument, dessen sich Kopfrechner bedienen, um zu ermitteln, ob das Ergebnis ihrer Rechnung stimmt.

Zahlen, die wie die Elf nur Einsen als Ziffern haben – von manchen Autoren „Repunits“ (repeated units) genannt –, erfreuen sich bei Nummernfreaks großer Beliebtheit. Ehe ihnen der Computer den Spaß verdarb, galt es in ihrer Zunft als große Errungenschaft, unter diesen Exemplaren Primzahlen zu entdecken. Zu suchen braucht man allerdings nur unter denen, deren Stellenzahl prim ist, wie bei der Elf. Die nächste ist 1 111 111 111 111 111 111, ihr folgt ein 23stelliges Monstrum und ihm – Computerfreunde aufgepaßt! – vielleicht das 47stellige.

Glaube niemand, all dies habe keine praktische Bedeutung. Jedenfalls denkt anders darüber ein Steuerprüfer, der soeben erfahren hat, daß der Computerladen, dessen Bücher er prüft, im vorigen Monat Rechner des gleichen Typs für insgesamt 1 Million 111 tausend 111 Mark verkauft hat. Der Beamte möchte aber wissen, wie viele Geräte zu welchem – einheitlichen – Stückpreis abgesetzt wurden. Just das kann ihm der Händler nicht sagen. Wer kann’s?

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Zahl der Zeit

in: Die Zeit 42/92, 9. Oktober 1992:

Zwölf ist die Zahl der Wiederkehr, und regelmäßige Wiederkehr bildet sich in unserer Vorstellung als Zyklus ab, als ein Kreis. Darum nannten Mystiker des Altertums die Zwölf auch „Zahl der Geschlossenheit“ und „runde“ Zahl. All dies rührt daher, daß der Mond die Erde zwölfmal umrundet, bis sich der Kreis der Jahreszeiten vollendet, was die Chinesen schon vor Jahrtausenden veranlaßte, sich einen Kalender mit zwölf Monaten auszudenken.

Fast alle Völker der Erde haben dies früher oder später getan. So wurde die Zwölf zur „Zahl der Zeit“ und damit auch der Tageszyklus zwölfgeteilt, aber nur seine helle Hälfte; die Nacht verschlief man ja. Als sich der Mensch vom Rhythmus der Natur emanzipierte und die Nacht gelegentlich zum Tage machte, mußte er die Einteilung verdoppeln. Auf die naheliegende Idee, deshalb 24 Stunden einzurichten, kam er freilich erst spät. Amerikaner haben damit noch heute erhebliche Schwierigkeiten und behelfen sich deshalb mit a.m. und p.m.

Für die Zeitmessung kam uns die Geometrie zur Hilfe, die erlaubt, einen Kreis ohne großen mathematischen Aufwand in Vielfache von sechs Segmenten einzuteilen, in zwölf Stunden ebenso wie in sechzig Minuten und Sekunden.

Die daraus entstandene Uhr war anfangs nur der Sternenhimmel, an dem die Sonne als Kalender agierte. Was lag da näher, als die Ekliptik, den Jahreszyklus der Sonne, in zwölf Bezirke zu gliedern? Sterne waren gleichbedeutend mit Zeit, und Zeit ist Schicksal, dies veranlaßt seither manch einen zu dem simplen Schluß: Also bestimmen die Sterne unser Schicksal. Selbst den Globus haben wir zwölfgeteilt, was auch im Kleinen etliche Zwölfermaße mit sich brachte, Fuß, Zoll, Meile… und bis heute viel Verwirrung stiftet.

Zwölfjährig wird zumeist das Mädchen – biologisch – zur Frau und deshalb in manchen Nationen am zwölften Geburtstag heiratsfähig. Wohl wegen der Gleichberechtigung hatten die Juden auch zwölfjährige Knaben zu Erwachsenen gekürt. Darum durfte Jesus als Zwölfjähriger den Tempel besuchen, wo er die Priester in Verlegenheit brachte.

Den Lenden der zwölf Söhne Jakobs entsprangen die zwölf Stämme Israels; Josua ließ zwölf Steine mitten im Jordan aufrichten zum Gedenken daran, daß sein Volk den Fluß heil überquert hatte. Zwölf bronzene Ochsen trugen das Taufbecken des Salomo, zwölf Jünger erwählte Christus. Allerlei Seltsames geschieht in den Zwölf Nächten, der Zeit zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag.

Die Väter unserer Jurisprudenz, die Römer, kodifizierten ihr Recht auf zwölf bronzenen Tafeln. Daher die zwölf Geschworenen und die Zwölfergremien für öffentliche Angelegenheiten. Im alten Preußen unterrichteten „Zwölfender“ an den Schulen. Das waren keine Hirsche, sondern Männer, die zwölf Jahre lang in der Armee gedient hatten – der Alte Fritz hielt das für eine ausreichende Qualifikation.

Unsere Sprache hat zwölf zum Dutzend gebündelt und uns gestattet, das Wort im ungefähren Sinne zu verwenden; ein Dutzend Leute müssen nicht exakt zwölf Personen sein, und manchmal meint es nur „viel“, wie bei der billigen Dutzendware.

Graf Buffon hatte sich sein Leben lang für die Zwölf als Basis unseres Zahlensystems stark gemacht, weil 12 vergleichsweise viele Teiler hat, 1, 2, 3, 4 und 6. Ihre Summe ist größer als die Zwölf selbst, was für keine kleinere Zahl zutrifft. Der platonische Körper mit den meisten Flächen ist das Pentagondodekaeder, dessen Oberfläche sich aus zwölf regelmäßigen Fünfecken zusammensetzt. Ansonsten ist die Zwölf mathematisch unauffällig. Aber „zwischen zwölf und Mittag kann noch viel geschehen“.

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Jetzt schlägt’s dreizehn

in: Die Zeit 43/92, 16. Oktober 1992:

Er wurde 1813 geboren und starb am 13. Februar im 13. Jahr der Reichseinheit. Einschließlich seiner Jugendwerke schrieb er 13 Tondichtungen. Sein Name hat 13 Buchstaben, und 13 ist 1+8+1+3, die Quersumme seines Geburtsjahres. Das Schlüsselerlebnis seines Lebens fand am 13. Oktober statt, als er eine Vorstellung von Webers Freischütz besuchte. Am 13. April 1844 hatte er eines seiner bedeutendsten Werke vollendet. Doch als die Oper am 13. März 1861 in Paris gespielt wurde, fiel sie mit großem Spektakel durch. Erst am 13. Mai 1895 wagte die Pariser Oper wieder eine, diesmal begeistert aufgenommene, Inszenierung. Die bayerische Kultstätte für seine Werke wurde am 13. August eröffnet; zum letztenmal betrat sie der Meister an einem 13. September. Seine Verbannung währte 13 Jahre. Wer war’s?

Für Wagnerianer mag die Dreizehn eine Gralszahl sein – gewöhnliche Sterbliche fürchten, daß sie Unglück bringt. Deshalb graust es den Leuten vor dem Dreizehnten eines Monats, insbesondere, wenn er auf den an sich schon unheilschwangeren Freitag fällt. Der nächste Freitag, der Dreizehnte steht vor der Tür, und das ausgerechnet im November, dem trüben Unfallmonat. Da wird so mancher keinen Fuß vor die Tür setzen mögen, und das keineswegs nur hierzulande. Weltweit wird die Dreizehn gemieden, wo immer dies möglich ist. Warum?

Warum darf im Hotel das Zimmer mit der Nummer 13 allenfalls Besenkammer sein und haben große Hotelpaläste keine dreizehnte Etage? Warum fehlt im Flugzeug die dreizehnte Sitzreihe? An einem Freitag, den Dreizehnten läuft kein Schiff aus dem Hafen – woher stammt der Aberglaube? Niemand scheint die Antwort zu kennen.

Eine Vermutung: Die Dämonie der Dreizehn hängt mit dem Letzten Abendmahl zusammen. Zu dreizehn saßen sie bei Tisch, anschließend wurde Jesus Christus verraten. Andere meinen, das Stigma der Dreizehn sei weitaus älteren Ursprungs. Immerhin hatte sie als Zahl der Unterwelt schon bei den Babyloniern einen schlechten Ruf. Das Alte Testament erwähnt die Dreizehn auffallend selten, hingegen gibt ihr der Talmud eine durchaus positive Bedeutung; er weissagt, das Land Israel werde dereinst dreizehngeteilt, und der dreizehnte Teil solle dem Messias gehören. Der „Thirteener“, eine alte irische Silbermünze, war dreizehn Pence wert; so viel bekam der Henker für seine Arbeit.

Einige Gelehrte erklären sich die Furcht vor der bösen Zahl damit, daß nach der sympathischen Zwölf mit ihren vielen Teilern die unbequeme, teilerlose Primzahl Dreizehn das Rechnen erschwert; just dies hätte jedoch für die Nachfolgerin der teilerfreundlichen Sechs ebenso gelten müssen, aber Sieben ist Glückszahl.

Daß dreizehn ein „Bäckerdutzend“ ausmachen, hat mit dem Fluch der Zahl wahrscheinlich nichts zu tun. Der Begriff entstand in London, wo einst harte Strafen demjenigen drohten, der einen untergewichtigen Laib Brot verkaufte. Da dies versehentlich vorkommen konnte, gaben die Bäcker jedem Kunden, der ein Dutzend Brote kaufte, vorsichtshalber ein dreizehntes zu.

Die Dreizehn machte die Königstochter Dornröschen zur Langschläferin. An der Feier ihrer Geburt sollten die Weisen Frauen teilnehmen. Ihrer waren dreizehn, aber es gab nur ein Dutzend goldener Teller im Schloß. Also lud der König nur zwölf der Damen ein. Das nahm die dreizehnte übel und verfluchte das schöne Kind. Die Folgen sind bekannt.

Zum Schluß eine gute Nachricht: Gottlob muß sich niemand vor der Dreizehn fürchten; denn sie ist gleich der guten Zwölf. Beweis:

3+4=7

und

12×3+12×4-13×7=12×3+12×4-13×7

sind unbestreitbar richtige Gleichungen. Also muß auch deren Summe,

12×3+12×4-13×7+3+4=12×3+12×4-13×7+7 stimmen; sie ist

13×3+13×4-13×7=12×3+12×4-12×7, das heißt, 13×(3+4-7)=12×(3+4-7). Folglich ist 13=12. Quod erat demonstrandum – oder?

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Zahlen ohne Ende

in: Die Zeit 44/92, 23. Oktober 1992:</p

Die Zahl ist das Wesen aller Dinge“, lehrte der in den vergangenen 13 Wochen hier so häufig zitierte, zahlenkundige Pythagoras von Samos. Sogar auf die Frage, was Freundschaft sei, hatte er eine numerologische Antwort parat: „Ein Freund ist dein anderes Ich, so wie es sich mit 220 und 284 verhält.“

Das Geheimnis dieses Zahlenpaars: Die Summe aller „echten“ Teiler der einen Zahl – dazu gehört 1, nicht aber die Zahl selbst – gleicht der jeweils anderen. 220 hat die Teilersumme 1+2+4+5+10+11+20+22+44+55+110 = 284; und für 284 ist sie 1+2+4+71+142 = 220. Über 1800 Jahre lang war nur dieses eine „befreundete“ Paar bekannt. Erst 1636 gelang es dem (Amateur-) Mathematiker Pierre de Fermat, ein zweites zu entdecken: 17 296 und 18 416. Bis heute haben Mathematiker etwa 1200 solcher Zahlenfreundschaften ermittelt, darunter die der Giganten 111 448 537 712 und 118 853 793 424.

Zahlen sind im Altertum gerne mit der Schrift verquickt und zu geheimnisvollen Deutungen kombiniert worden. Das ergab sich geradezu zwangsläufig, weil in vielen frühen Kulturen Buchstaben als Zahlensymbole benutzt wurden – Griechen verwendeten zum Beispiel Alpha für 1, Beta für 2, Gamma für 3… Zur hohen Kunst entwickelte sich die Gematria, eine Verstümmelung des griechischen geometria (Zahlenkunde), die im ersten Jahrhundert von Juden, Griechen und Christen ernsthaft betrieben wurde. Bei dieser Kunst ging es darum, die Zahlenwerte von Wörtern zu finden und am Resultat magische Eigenschaften abzulesen. Im Griechischen entsprach zum Beispiel „Amen“ der Zahl 1+40+8+50=99. Deshalb steht in griechischen Bibeltexten für Amen häufig das Kürzel 99. Gleichermaßen rechnete sich das Wort „Abraxas“ – es bezeichnet ein Amulett mit einer eingravierten mythischen Figur – zu der Zahl 365; so viele Tage hat das Jahr. Wörter, denen dieselbe Zahl zugeordnet wurde, galten als gleichwertig; in unserer Sprache wäre demnach „klug“ = 11+12+21+7=51 ebenso viel wert wie „dumm“ = 4+21+13+13=51.

Nachdenkliche Leute haben von jeher über Zahlen sinniert. Wilhelm Busch, gewiß weder Mystiker noch Mathematiker, befand: „Zahlen sind Naturkräfte, belauscht in ihren Gewohnheiten.“

So ähnlich mag Leonardo da Pisa empfunden haben, der sich Fibonacci nannte und mit seinem 1202 erschienenen Rechenbuch „Liber Abaci“ die arabischen Zahlen in Europa eingeführt hat. In diesem Werk legt er dar, wie er bei Betrachtungen der Vermehrung von Kaninchen auf diese bemerkenswerte Zahlenfolge gestoßen ist: 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89, 144 … Ihre Eigenschaft: Von den ersten beiden Zahlen abgesehen, ist jede folgende die Summe der beiden vorhergehenden, 2=1+1, 3=1+2, 5=2+3, 8=5+3 … Bemerkenswert ist sie bis heute geblieben, weil Fibonaccis Zahlen allenthalben in der Natur anzutreffen sind, auffallend häufig zum Beispiel bei der Anzahl der Blütenblätter vieler Blumen. Vor allem in der Phyllotaxie, der Anordnung von Blättern an einem Zweig, spielen die Zahlen aus der Fibonaccifolge eine tragende Rolle: Blätter sprießen spiralförmig aus dem Zweig. Wer sie zählt, muß deshalb den Zweig ein paarmal umrunden. Die Anzahl dieser Umrundungen geteilt durch die der Blätter ergibt das phyllotaxische Maß, einen Bruch, dessen Zähler und Nenner bei fast allen Pflanzen Fibonaccizahlen sind; mehr noch: Stets sind es solche, die in der Fibonaccifolge durch genau eine Zahl voneinander getrennt sind. Die Phyllotaxie des Birnbaums ist 3/8 – zwischen 3 und 8 liegt 5; bei der Weide kommt 543 heraus – zwischen 5 und 13 liegt 8. Phyllotaxien von 13/34, 21/55 und noch höheren Werten werden an kurzstämmigen Pflanzen gemessen.

Viel mehr noch wäre über die Zahlen des Leonardo da Pisa zu berichten; sie mischen sich in viele Gebiete ein, in die Geometrie, die Physik und sogar in die Kunst, etwa bei der Berechnung des Goldenen Schnitts.

Die Zahlentheorie, jahrtausendelang als L’art pour l’art betrieben, hat in unserer computervernetzten Welt unverhofft aktuelle Bedeutung erlangt, weil sich einige ihrer Ergebnisse in der Kryptologie anwenden lassen, der Kunst, Daten so zu verschlüsseln, daß sie nicht von Unbefugten mißbraucht werden können. Im nüchternen Computerzeitalter aber genießt selbst die Zahlenmystik viel Zuspruch. Als die ersten Heimcomputer auf den Markt kamen, erhielt der Käufer als Bonus ein Programm, das ihm nach Eingabe seines Geburtsdatums den individuellen „Biorhythmus“ berechnete. Viele richten seither ihre Terminplanungen nach diesem Kalender der günstigen und ungünstigen Tage ein; wenige jedoch kennen dessen wunderliche Herkunft.

Die Grundidee kam Wilhelm Fliess, einem Berliner Arzt, der glaubte, alle Krankheiten eines Patienten an dessen Nase diagnostizieren und heilen zu können. Sigmund Freud war davon tief beeindruckt; tiefer noch von der Theorie des Doktor Fliess, nach der alles Wesentliche im Leben eines Menschen oder eines Volkes an einer Zahl erkennbar sei, die sich mit der simplen Formel 23x+28y berechnen läßt. Für x und y brauchten nur passende positive oder negative ganze Zahlen eingesetzt zu werden.

Beispiele: Das Jahr hat 365 Tage, weil 365= 23×11+28×4 ist; 13 ist Unglückszahl, denn 13 ist 23×3+28x(-2); die Französische Revolution begann im Jahr 23×23+28×45=1789; Fliess starb 1928=23×12+28×59 im Alter von 23xl4+28x(-9)=70 Jahren; im Kern der menschlichen Zelle befinden sich 46= 23×2+28×0 Chromosomen; die Zahl des Tieres aus der Bibel ist 23×18+28×9=666.

Tatsächlich ist jedes schicksalhafte oder sonstwie wichtige Datum mit der Fliess-Formel darstellbar. Das allerdings überrascht nicht; denn für jede beliebige Zahl z lassen sich passende Werte x und y finden, die der Gleichung z=23x+28y genügen. Fliess, dem diese Möglichkeit nicht in den Sinn gekommen war, bastelte aus seinen Lieblingszahlen 23 und 28 für jeden, der es wissen wollte, einen individuellen Kalender, dem die Tage zu entnehmen waren, an denen er besonders erfolgreich sein würde. Das Verfahren war einfach: Vom Geburtsdatum des Benutzers ausgehend, trug Fliess auf einer Zeitskala Perioden von 23 und 28 Tagen ein. Später fügten seine Adepten noch eine 33tägige „Periode der Intelligenz“ hinzu. Damit war der „Biorhythmus“ von heute komplett.

„Zahlen sind ein Quell der Wahrheit“, hat der amerikanische Mathematiker Norbert Wiener gesagt, „mehr aber noch haben sie den Menschen verführt, teils in die Irre, teils in Gefilde erhabener Schönheit.“

Inger Nilsson, Astrid Lindgren, 1969, ARD-Morgenmagazin

Bild: ARD-Mittagsmagazin: Dinge, die Sie über Pippi noch nicht wussten:

Eigentlich gibt es Pippi Langstrumpf schon seit 1941. Damals erfand Astrid Lindgren Geschichten für ihre Tochter, die mit einer Lungenentzündung das Bett hüten musste. Veröffentlicht wurde das Buch aber erst 1945. (Hier im Bild mit Pippi-Schauspielerin Inger Nilsson 1969)

Written by Wolf

3. Juni 2016 at 00:01