Archive for the ‘Impressionismus’ Category
Fruchtstück 0007: In meinem Leben weiß ich einen Kranken (Drum fass ich diese Menschen nicht)
Update zu Dornenstück 0009: Die Kinder verdarben (Schauderhaft, höchst schauderhaft),
Die leichtfüßige passive Aggression der Revolution
und Psalmen gottverbrämter Bücher:
Lebenshilfe in Schweifreimen, in der die Zigaretten noch duften. Das können nur Österreicher.
——— Anton Wildgans:
Das Lächeln
Eine Frühlingsballade
14. Mai 1907:
Wie doch die Menschen sind: sie sorgen,
Was morgen werden wird und übermorgen –
Und ihre Seelen bleiben blind und arm.
An Gärten wandern sie vorbei, an Gittern,
Die von dem Drängen junger Sträucher zittern,
Und ihre Seelen füllt der ewig gleiche Harm.Daß über Nacht ein Wunder neu geboren,
Daß aus der alten Häuser tiefen Toren
Nun wieder Kinderlaut und Kühle weht –
Und daß sich Wölkchen bilden in den Lüften
Von Zigaretten- und Orangendüften
Oder Parfum, wenn eine schöne Frau vorübergeht –Sie fühlen dieses nicht und nicht das Neigen
Der Abende, wenn sich in langen Reigen
Müd-armes Volk die Straßen heimwärts drängt,
Sie sehen nicht, wie diese bleichen Wangen
Der jungen Mädchen vor dem Frühling bangen,
Der so viel Sehnsucht und Gefahr verhängt …In meinem Leben weiß ich einen Kranken,
Gelähmt an Gliedern, Willen und Gedanken,
Nur seine Seele war dem Wunder heil –
Der konnte lächeln, wenn der erste Schimmer
Der Frühlingssonne in sein traurig Zimmer
Sich leise schob, ein goldner, zarter Keil.Der konnte lächeln über jede Blüte,
Daß dieses Lächelns wundervolle Güte
Dem toten Auge flüchtig Leben gab:
Der konnte weinen über Kinderlieder
Und tiefer atmen, wenn der Duft vom Flieder
Ihn grüßen kam in seiner Kissen Grab.Und dieses Lächeln, diese Tränen waren
So überreich an jenem Wunderbaren,
Des alle darben, die so dumpf-gesund.
Und ich hielt dieses Mannes Hand im Sterben,
Und ward zu seines Lächelns Erben,
Das wie ein Blühen lag um seinen blassen Mund.Drum faß ich diese Menschen nicht, die sorgen,
Was morgen werden wird und übermorgen,
Und ihre Seelen bleiben blind und arm.
An Gärten wandern sie vorbei, an Gittern,
Die von dem Drängen junger Sträucher zittern,
Und ihre Seelen füllt der ewig gleiche Harm.
Bild: Maximilian Florian: Der Gelähmte (Kranker Mann), 1933, Sammlung Belvedere, Wien.
Soundtrack: Ludwig van Beethoven: Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit, in der lydischen Tonart. Molto adagio – neue Kraft fühlend. Andante – Molto adagio – Andante – Molto adagio. Mit innigster Empfindung, aus: Streichquartett Nr. 15 in a-Moll op. 132, 1825:
Bonus Track: Lael Neale: Faster Than the Medicine, aus: Star Eaters Delight, 2023:
Nachtstück 0030: Wenn acht nach sieben kommt
Update zu so net,
Schmerz, Tod und Graus gar spaßig zu erfassen
und Was singelt ihr und klingelt im Sonetto?:
Ein Sonett, das gar kein Sonett ist, noch nicht einmal Lyrik, und eins, das nicht einmal geschrieben wurde. Weil es nicht angeht, aller sieben Jahre einmal Krieg und Frieden zu lesen, aber dann Даниил Хармс, das ist: Daniil Charms nicht zu kennen.
Übrigens lassen sich, was in der Übersetzung nicht zur Geltung kommen kann, auf Russisch Sieben und Acht besonders leicht verwechseln, weil das eine семь und das andere восемь heißt. Und das ist noch gar nichts. #keinrussischlernen
——— Daniil Charms:
Sonett
übs. Ilse Tschörtner, in: Daniil Charms: Zwischenfälle, Verlag Volk und Welt, Berlin 1990:
Mir ist mal etwas ganz Eigenartiges passiert: Ich hatte auf einmal vergessen, was eher kommt – sieben oder acht. Ich ging zu den Nachbarn und fragte, was sie meinten. Aber wie groß war meine Verwunderung, als sich plötzlich herausstellte, dass auch sie die Reihenfolge der Zahlen vergessen hatten.
1,2,3,4,5 und 6 wussten sie noch, aber wie weiter, das hatten sie vergessen.
Wir gingen zusammen zum Kaufhaus „Gastronom“ in der Snamenskaja, Ecke Bassejnaja, und fragten die Kassiererin. Die Kassiererin lächelte traurig, nahm ein kleines Hämmerlein aus dem Mund, zog die Luft durch die Nase ein und sagte: „Meines Erachtens kommt sieben in dem Fall nach acht, wenn acht nach sieben kommt.“
Erfreut bedankten wir uns bei der Kassiererin und liefen hinaus. Doch plötzlich, als wir uns die Auskunft der Kassiererin genauer überlegten, verstummten wir wieder, denn sie kam uns völlig sinnlos vor.
Was tun? Wir gingen in den Sommergarten und fingen an, die Bäume zu zählen. Doch als wir bei sechs angelangt waren, blieben wir stehen und gerieten in Streit. Nach Ansicht der einen folgte sieben, nach Ansicht der anderen acht.
Wir würden noch lange gestritten haben, aber zum Glück fiel ein Kind von der Bank und brach sich beide Kiefer. Das brachte uns von unserem Streit ab.
Da trennten wir uns und gingen nach Hause.
Bilder: Sonett Bleichkomplex und Fleckentferner mit reinem Sauerstoff, ohne Erdölchemie,
via Windelwissen.
Soundtrack: Daniil-Charms-Verfilmung von Отава Ё: Дворник, 2012,
das ist: Straßenkehrer oder Hausmeister, 2012, aus: Что за песни, 2013,
auf das lettische Weihnachtslied Tumša tumša tā eglīte,
im Hof des Anna-Achmatova-Museums, Sankt Petersburg:
Ungeheuerlichste hochdeutsche Fachausdrücke und trübe Weissagungen
Update zu Weihnachten Fibels,
Und wenn’s im Rücken mal weh tut, wird jede Bewegung zur Qual,
3. Katzvent: Die Katze als Subjekt der bildenden Kunst,
3. Stattvent: Sie haben kein Geld nicht besessen
und Hipsteros:
Soll keiner glauben, es wäre leicht gewesen, eine Weihnachtsgeschichte aufzutreiben, in der es um Fußball geht; allenfalls leichter als eine Fußballgeschichte, in der es um Weihnachten geht.
Sosehr Ödön von Horváth eine gesunde Abneigung gegen Sport hegte wie jeder andere vernunftbegabte Mensch auch, hat er nach Zählung der Suhrkamp-Gesamtausgabe neunzehn Sportmärchen geschrieben und unter ihnen die Legende vom Fußballplatz so favorisiert, dass er sie für seinen hartnäckigsten Beitrag zur Schullektüre, Jugend ohne Gott und für seine nachgelassene „höllische Komödie“ Himmelwärts zweit-, ja sogar drittverwendete.
Laut der bis auf weiteres gültigen Einzelbesprechung von Martin Halter: Himmelstor: Horvaths „Legende vom Fußballplatz“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. Januar 2006, ist die Legende
kein Kindertotenlied, sondern die Fieberhalluzination eines Fans, geträumt auf den Federwölkchen unschuldiger Phantasie. Auf der Erde tummeln sich Rumpelfüßler, Fachsimpel und ruppige Aufseher, und Torwarttitanen schwadronieren von Siegen und unverdienten Niederlagen auf Malta. Nur im Himmel gilt, was Pele einst als Erfolgsgeheimnis des Fußballs beschrieb: „Große Kinder spielen, und große Kinder schauen zu.“ Wenn wir Weltmeister werden, ist es ein Wunder. Wenn Borneo II gegen Alaska verliert, ohne daß sich erwachsene Männer in „ungeheuerlichsten hochdeutschen Fachausdrücken“ und „trüben Weissagungen“ spreizen, ist es ein bezauberndes Märchen.
Trotzdem fröhliche Weihnachten.
——— Ödön von Horváth:
Legende vom Fußballplatz
Pester Lloyd, 1926:
Es war einmal ein armer kleiner Bub, der war kaum sieben Jahre alt, aber schon loderte in ihm eine Leidenschaft: Er liebte den Fußball über alles.
Bei jedem Wettspiel mußte er dabei gewesen sein: ob Liberia gegen Haidhausen, ob Beludschistan gegen Neukölln – immer lag er hinter einem der Tore im Grase (meistens bereits lange vor Beginn) und verfolgte mit aufgerissenen runden Kinderaugen den mehr oder minder spannenden Kampf. Und wenn ein Spieler grob rempelte, ballten sich seine Händchen erregt zu Fäusten und mit gerunzelter Stirn fixierte er finster den Übeltäter. Doch wenn dann vielleicht gleich darauf des Schicksals Laune (quasi als Racheakt) ein Goal schoß, so tanzte er begeistert und suchte strahlend all den Anderen, die um ihn herum applaudierten, ins Antlitz zu schauen.
Diese Anderen, die neben ihm lagen, waren ja meistens schon um ein oder zwei Jahre älter und andächtig horchte er, wenn sie sich in den ungeheuerlichsten hochdeutschen Fachausdrücken, die sie weiß Gott wo zusammengehört hatten, über die einzelnen Spieler und Clubs ergingen; ergriffen lauschte er trüben Weissagungen, bis ihn wieder ein wunderbar vollendet geköpfter Ball mit sich riß, daß sein Herz noch höher flog wie der Ball.
So saß er oft im nassen Grase. Stundenlang.
Der Novemberwind schmiegte sich an seinen schmalen Rücken, als wollte er sich wärmen und hoch über dem Spielplatz zog die Fieberhexe ihre Raubvogelkreise.
Und als der Schlußpfiff verklungen war, da dämmerte es bereits; der kleine Bub lief noch einmal quer über das Feld und ging dann allein nach Hause. In den leeren Sonntagsstraßen war es ihm einige Male als hörte er Schritte hinter sich: als schliche ihm jemand nach, der spionieren wolle, wo er wohne. Doch er wagte nicht umzuschauen und beneidete den Schutzmann, der solch große Schritte machen konnte. Erst zuhause, vor dem hohen grauen Gebäude, in dem seine Eltern den Gemüseladen hatten, sah er sich endlich um: ob es vielleicht der dicke Karl ist mit dem er die Schulbank teilt und der ihn nie in Ruhe läßt – aber es war nur ein dürres Blatt, das sich mühsam die Straße dahinschleppte und sich einen Winkel suchte zum Sterben.
Und am Abend in seinem Bette fror er trotz tiefroter Backen; und dann hustete er auch und es hob ihn vornüber, als haute ihm der dicke Karl mit der Faust in den Rücken.
Nur wie durch einen Schleier sah er seiner Mutter Antlitz, die am Bettrande saß und ihn besorgt betrachtete; und er hörte auch Schritte im Zimmer, langsame, hin und her: das war Vater.
Der Nordwind hockte im Ofenrohr und zu seinem Gesumm fingen Regenbogen an einen Reigen um ihn zu tanzen. Er schloß die Augen. Da wurde es dunkel. Und still.
Doch nach Mitternacht wich plötzlich der Schlaf und feine Fingerknöchelchen klopften von außen an die Fensterscheibe und er hörte seinen Namen rufen – „Hansl!“ rief eine sanfte Stimme – „Hansl!“ Da erhob sich der kleine Bub aus seinem Bette, trug einen Stuhl vor das Fenster, erkletterte ihn und öffnete –: draußen war tiefe stille Nacht; keine Trambahn läutete mehr und auch die Gaslaterne an der Ecke war schlafen gegangen und – vor einem Fenster im vierten Stock schwebte ein heller Engel; der ähnelte jenem, welcher Großvaters Gebetbuch als Spange umschloß, nur, daß er farbige Flügel hatte: der linke blau und gelb: das waren die Farben des Fußballvereins von Oberhaching; der rechte rosa und grün: das waren die Farben dessen von Unterhaching; seine schmalen Füße staken in purpurnen Fußballschuhen, an silberner Sternenschnur hing um seinen Schwanenhals eine goldene Schiedsrichterpfeife und in den durchsichtigen Händen wiegte sich ein mattweißer Fußball.
„Schau“ – sprach der Engel – „schau!“ und köpfte den Ball kerzengrade in die Höhe; der flog, flog – bis er weit hinter der Milchstraße verschwand.
Dann reichte der Himmlische dem staunenden Hansl die Hand und lächelte: „Komm mit – zum Fußballwettspiel“ Und Hansl ging mit.
Wortlos war er auf das Fensterbrett gestiegen und da er des Engels Hand ergriffen, da war es ihm als hätte es nie einen dicken Karl gegeben. Alles war vergessen, versank unter ihm in ewigen Tiefen – und als die beiden an der Milchstraße vorbeischwebten fragte der kleine Bub: „Ist es noch weit?“ „Nein“, lächelte wieder der Engel, „bald sind wir dort.“
Und weil Engel nie lügen leuchtete bald durch die Finsternis eine weiße rechteckige Fläche, auf die sie zuflogen. Anfangs glaubte Hansl es wäre nur ein Blatt unliniertes Papier, doch kaum, daß er dies gedacht hatte, erfaßte sein Führer auch schon den Rand; nur noch ein Klimmzug – und es war erreicht! Doch wie erstaunte da der kleine Bub!
Aus dem Blatt unliniertem Papier war eine große Wolke geworden, deren Oberfläche ein einziger herrlich angelegter Fußballplatz war; auf buntbewimpelten Tribünen saßen Zuschauer wie sie in solcher Zahl unser Kleiner noch bei keinem Wettspiel erlebt hatte. Und das ganze Publikum erhob sich zum Gruß und aller Augen waren voll Güte auf ihn gerichtet, ja selbst der Aufseher, der ihn doch sonst immer sofort hinter das Tor in das nasse Gras trieb, führte ihn unter fortwährenden Bücklingen auf seinen Platz: Tribüne (!) Erste Reihe (!!) Mitte (!!!)
„Wie still nur all die Leute sind!“ meinte der kleine Bub. „Sehr recht, mein Herr“, lispelte der Aufseher untertänig, „dies sind ja auch all die seligen Fußballwettspielzuschauer.“
Unten am Rasen losten die Parteien nun um die Sonne-im-Rücken-Seite und – „das sind die besten der seligen Fußballspieler“, hörte Hansl seinen Nachbarn sagen; und als er ihn ansah nickte ihm dieser freundlich zu: da erkannte er in ihm jenen guten alten Herrn, der ihm einst (als Borneo gegen Alaska verlor) vor dem dicken Karl verteidigte; noch hielt er den Rohrstock in der Hand mit dem er den Raufbold damals drohte. Wie der dann lief!
Unermeßliche Seligkeit erfüllte des armen kleinen Buben Herz. Das Spiel hatte begonnen um nimmermehr beendet zu werden und die Zweiundzwanzig spielten wie er noch nie spielen sah. Manchmal kam es zwar vor, daß der eine oder andere dem Balle einfach nachflog (es waren ja auch lauter Engel) doch da pfiff der Schiedsrichter (ein Erzengel) sogleich ab: wegen unfairer Kampfesweise.
Das Wetter war herrlich. Etwas Sonne und kein Wind. Ein richtiges Fußballwetter.
Seit dieser Zeit hat niemand mehr den armen kleinen Buben auf einem irdischen Fußballplatze gesehen.
Zugabe nach dem Vorbild der Quelle:
Autobiographische Notiz (auf Bestellung)
1927:
Geboren bin ich am 9. Dezember 1901, und zwar in Fiume an der Adria, nachmittags um dreiviertelfünf (nach einer anderen Überlieferung um halbfünf). Als ich zweiunddreißig Pfund wog, verließ ich Fiume, trieb mich teils in Venedig und teils auf dem Balkan herum und erlebte allerhand, u. a. die Ermordung S.M. des Königs Alexanders von Serbien samt seiner Ehehälfte. Als ich 1,20 Meter hoch wurde, zog ich nach Budapest und lebte dort bis 1,21 Meter. War dortselbst ein eifriger Besucher zahlreicher Kinderspielplätze und fiel durch mein verträumtes und boshaftes Wesen unliebenswert auf. Bei einer ungefähren Höhe von 1,52 erwachte in mir der Eros, aber vorerst ohne mir irgendwelche besonderen Scherereien zu bereiten – (meine Liebe zur Politik war damals bereits ziemlich vorhanden). Mein Interesse für Kunst, insbesondre für die schöne Literatur, regte sich relativ spät (bei einer Höhe von rund 1,70), aber erst ab 1,79 war es ein Drang, zwar kein unwiderstehlicher, jedoch immerhin. Als der Weltkrieg ausbrach, war ich bereits 1,67 und als er dann aufhörte bereits 1,80 (ich schoß im Krieg sehr rasch empor). Mit 1,69 hatte ich mein erstes ausgesprochen sexuelles Erlebnis – und heute, wo ich längst aufgehört habe zu wachsen (1,84), denke ich mit einer sanften Wehmut an jene ahnungsschwangeren Tage zurück. Heut geh ich nurmehr in die Breite – aber hierüber kann ich Ihnen noch nichts mitteilen, denn ich bin mir halt noch zu nah.
Fußballengel:
- Barbara Morse: Just For Kicks, 2021;
- Nekoylia für °•°Bocetos y guías para dibujantes°•°: Poses de pelea;
- Dahy Garay;
- Sarrah Williams, November 2022.
Soundtrack: Die schönste von allen bekannten Tausenden Versionen Stille Nacht ist zweifellos eine englische – Silent Night –, nämlich die von die von Tom Waits. Sie ist nie auf einer Original-CD von ihm erschienen, insofern eine Rarität, nur auf SOS United, 1989 – eine Stiftung von Tom Waits für die SOS-Kinderdörfer. Der teilhabende Kinderchor bleibt unbekannt, weil ungenannt.
Im Video: Correggio: Anbetung der Hirten, 1530 (Detail); Tintoretto, 1545 oder 1578; Gerrit van Honthorst, 1622 oder 1646.
Psalmen gottverbrämter Bücher
Update zu Und wenn es hundert schönere gibt:
Paul Zech lebt fort als Übersetzer von François Villon und Arthur Rimbaud. Darüber hinaus führte er ein Leben, das jeden Biographen überfordern muss, weil er seinen Lebenslauf offenbar als Gegenstand kreativer Gestaltung ansah. Dazwischen produzierte er untr vielem anderen eine Fülle eigener Gedichte, zu denen man gern auch seine Übersetzungen rechnet, weil er sie wohlweislich gleich selbst als Nachdichtungen ausgewiesen hat. Alles andere spräche nicht für den Übersetzer Paul Zech, seine Versionen von Villon und Rimbaud aber sehr für den Dichter: Sie sind überaus cantabile.
Für den öffentlichen Bücherschrank Ihrer Nachbarschaft oder den „Zu verschenken!!!“-Karton, über den Sie morgens beim Nachhausekommen stolpern, werden sie noch zu sehr gehütet, was wiederum für die schmalen Taschenbüchelchen spricht. Antiquarisch bleiben dennoch umstandslos erreichbar:
- Rimbaud. Das gesammelte Werk, Wolkenwanderer-Verlag, Leipzig 1927 und selten geworden, dafür bis heute als Sämtliche Dichtungen des Jean Arthur Rimbaud, 1963 ff. nachverlegt;
- Die Balladen und lasterhaften Lieder des Herrn François Villon in deutscher Nachdichtung von Paul Zech, Erich Lichtenstein Verlag, Weimar 1931 und selten geworden, dafür bis heute als Die lasterhaften Balladen und Lieder des François Villon, 1962 ff. nachverlegt und von mir warm empfohlen
Zu einem seiner im buchstäblichen Sinne ungezählten Gedichte, einem von 1914, gibt es ein unschlagbar passendes Portrait einer Waldhexe von Julie Wolfthorn, entstanden schon 1899, deren Lebenslauf als Jüdin zur unglückseligsten Zeit, „Hosendame“ (cit. Paula Modersohn-Becker) und „Malweib“ immer noch besser erschlossen ist als Paul Zechs selbstgewähltes Versteckspiel, das seine Nachlassverwalter vom Fritz-Hüser-Institut eine „[b]ewegte, nicht lückenlos verifizierbare Biografie, u.a. als Bergarbeiter in Belgien“ nennen: Die Dame verstarb kurz vor ihrem 81. Geburtstag im KZ Theresienstadt; „[b]is auf wenige Bilder in den Depots deutscher Museen galt ihr umfangreiches Werk lange Zeit als verschollen und wurde erst Anfang 2000 wiederentdeckt“, wie wir ihrem Wikipedia-Artikel entnehmen.
In ähnlicher Weise bleiben die eigenen Dichtungen von Zech verschüttet, solange niemand die Schaufel nimmt und den Garten, der vor ihm liegt, nach den Schätzen umgräbt, die er verspricht. Und in ähnlicher Weise wie zu lange verräumte Bilder müssen sie wohl erst restauriert werden; Texte verrotten sehr wohl mit der Zeit.
Manches an den leicht auffindbaren Versionen von Deine Augen sind ein Korngrün weit, die wohl eine von der anderen abgeschrieben sind, vorneweg in der Sammlung Paul Zech bei Λέων Αιλούρος. Πολλά και διαφορά, 14. Dezember 2017, mag ich nicht recht glauben: zum Beispiel dass der zweite Vers als einziger mit Großbuchstaben einsetzt oder dass Psalme der Plural von Psalm sein soll. Aber vorerst hat man keine Wahl.
——— Paul Zech:
Deine Augen sind ein Korngrün weit …
aus: Die eiserne Brücke. Neue Gedichte von Paul Zech, Verlag der Weißen Bücher, Leipzig 1914, Seite 46,
via Jörg Krüger für Deutsche Literatur — German Literature, 16. Mai 2022:
Deine Augen sind ein Korngrün weit,
Zart Gewordnes, das den Mai erfuhr.Jeder Tag weckt eine neue Gnade,
ein Erlösen mehr im Blickgelände
mit dem weißen Lerchenlied der Hände.Deine Augen sind ein Korngrün weit
und ein Lächeln zieht darin die Spur
süßverliebter Pfade.Jede Bitte, die ich heiß in Deine Augen strahle,
schwillt zur Frucht,
zwängt sich reif durch eine schmale
kußbereite Bucht.Deine Augen sind ein Korngrün weit.
Spannt die Nacht darüber sternbestickte Tücher,
wächst verschwistertes Erglühn
aus dem Dom gewordnen Grün
und singt Psalme gottverbrämter Bücher.
Waldgrün: Julie Wolfthorn: Mädchen mit blaugrünen Augen (Waldhexe), 1899,
Öl auf Leinwand, 42 cm auf 33,5 cm, Sammlung Jack Daulton, Los Altos Hills, Kalifornien;
Paul Zech via Gedenkstätte Deutscher Widerstand
und Λέων Αιλούρος. Πολλά και διαφορά, 14. Dezember 2017.
Soundtrack: Kate Wolf: Green Eyes, aus: Give Yourself to Love, 1983:
Dornenstück 0009: Die Kinder verdarben (Schauderhaft, höchst schauderhaft)
Update zu Nachtstück 0003: Polizistenschatten im Laternenschein,
Wenn andere bluten und
Morgenstern über Greifswald (und keiner schaut hin):
Ne prêtez pas vos livres : personne ne les rend jamais. Les seuls livres que j’ai dans ma bibliothèque sont des livres qu’on m’a prêtés.
Anatole France zugeschrieben.
Die Moral ist offenkundig: Du sollst keine Bücher verleihen. Ebenso offenkundig war es bei Hermann Harry Schmitz nicht die Familienbibel, das Buch wurde nur so benutzt. Außerdem konnte es erst durch seine Abwesenheit solches Unheil anrichten. Und wer trug die Schuld: das Buch oder Herr Mehlenzell?
——— Hermann Harry Schmitz:
Das verliehene Buch.
aus: Der Säugling und andere Tragikomödien, Abschnitt Was so in der Familie vor sich geht,
Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig 1911, Seite 80–84:
Es war ein prächtiges Buch mit Goldschnitt und Damasteinband, das in der guten Stube auf dem Tisch lag.
Es war ein sehr langweiliges Buch mit schlechten, sehr schlechten Illustrationen.
Es war der Stolz der ganzen Familie.
Nur der Vater durfte das Buch in die Hand nehmen. An Festtagen setzte sich der Vater sonntagsangezogen in die gute Stube und las der Mutter und den Kindern mit sonorer Stimme und falscher Betonung aus dem feinen Buch vor. Würdevoll und prätentiös wusch er sich vorher die Hände. Häufig unterbrach er das Vorlesen und erklärte die Abbildungen. Die Kinder machten verständige Gesichter und große, kluge Augen; sie kniffen sich heimlich gegenseitig in die Beine. –
Herr Mehlenzell war ein Bekannter des Vaters; er hatte einen Kolonialwarenladen und schrieb an.
Man brauchte viel im Haushalt, und das Gehalt des Vaters war klein.
Herr Mehlenzell bat eines Tages den Vater, er möchte ihm das prächtige Buch leihen. Der Vater erbleichte; er konnte nicht gut „nein“ sagen.
„Auf ein paar Tage. – Bestimmt, selbstverständlich haben Sie es nächsten Sonntag zurück,“ hatte Herr Mehlenzell gesagt.
Man sprach in der Familie nur über das Buch. Die Mutter meinte, man hätte es ihm nicht geben sollen. Der Vater war sehr ernst. „Bestimmt haben Sie es Sonntag zurück, hat Herr Mehlenzell gesagt,“ verteidigte sich der Vater. „Wir wollen sehen,“ brummte die Mutter.
Wo das Buch in der guten Stube gelegen hatte, war ein viereckiger Fleck auf der Tischdecke; der Plüsch war da nicht so verschossen.
Der Sonntag kam. Man war schon sehr früh aufgestanden. Es wurde Mittag; Herr Mehlenzell hatte das Buch nicht gebracht. Der Vater saß mit der Mutter in der guten Stube und war sehr ernst. Keinem hatte das Essen so recht geschmeckt. Um die Kinder kümmerte sich niemand. Man ließ sie im Garten über die Bleiche tollen und ungestört die unreifen Stachelbeeren essen. – Der Vater trank eine halbe Flasche Rum. Die Mutter hatte verweinte Augen. Die gute Stube wurde abgeschlossen.
Der Vater mußte Montag und Dienstag im Bett liegen. Die Mutter vernachlässigte den Haushalt. Die Kinder verwilderten.
Hundertundvierzig Mark bekam Herr Mehlenzell noch. Man durfte nicht wagen, ihn an das Buch zu erinnern.
Es war unheimlich im Hause, wie wenn jemand gestorben wäre. Den Vater sah man viel mit der Rumflasche hantieren. Die Familie ging zurück. –
Der dritte Sonntag kam und das Buch war noch immer nicht da.
Es konnte so nicht mehr weiter gehen.
Nach dem Mittagessen schrie der Vater nach seinem schwarzen Rock und den Manschetten, rasierte sich und ging zu Mehlenzells.
Frau Mehlenzell öffnete selbst.
Er fragte nach Herrn Mehlenzell.
Frau Mehlenzell war mürrisch und fragte, was es sei. Ihr Mann wolle nach dem Essen nicht gestört sein; was es sei.
Es sei sehr dringend, er müsse mit Herrn Mehlenzell sprechen, beharrte der Vater.
Frau Mehlenzell ging brummend in ein Zimmer und ließ den Vater auf dem Korridor stehen.
Frau Mehlenzell hatte die Tür nicht fest hinter sich zugemacht. Herr Mehlenzell schimpfte, man solle ihn ungeschoren lassen. Was denn der Hungerleider wolle? Dann wurde von innen wütend die Tür zugeschlagen.
Nach einer Weile kam Frau Mehlenzell zurück; ihr Mann hätte nicht viel Zeit, er möge sich kurz fassen. –
Herr Mehlenzell lag auf dem Sofa und rauchte eine Zigarre. Er stöhnte den Vater an und blieb ruhig liegen.
Er wolle ihm auf die Rechnung etwas abbezahlen, fing der Vater schüchtern an.
Herr Mehlenzell richtete sich auf und bat den Vater, doch Platz zu nehmen; er schob ihm auch das Zigarrenetui hin.
„Über wieviel darf ich quittieren, bitte?“
„Über zwanzig Mark.“
Herr Mehlenzell nahm das Zigarrenetui wieder an sich.
Im Nebenzimmer übte jemand sehr auf dem Klavier.
„… und dann, was ich sagen wollte,“ quetschte der Vater hervor, „ich möchte mal nach dem Buch fragen, ob es Ihnen gefallen hat und ob Sie es vielleicht aushaben?“
„Welches Buch?“
„Sie wissen doch – das Buch von mir, das schöne Buch, was ich Ihnen vor drei Wochen geliehen habe.“
„Ach so, ja. Jetzt fällt es mir ein. – Ja, wo habe ich das?“
Dem Vater standen dicke Angstperlen auf der Stirn.
„Warten Sie einmal, da muß ich meine Frau fragen. Haben Sie denn das Buch so nötig?“
Herr Mehlenzell verließ murmelnd das Zimmer.
Im Nebenzimmer spielte man zum siebenten Male „Mädchen, warum weinest Du„.
Der Vater ging an die halb geöffnete Tür und schaute hinein. Lenchen Mehlenzell saß am Klavier.
Man hatte auf einen Stuhl Bücher gelegt, damit Lenchen hoch genug saß.
Der Vater war einer Ohnmacht nahe; Lenchen saß auf dem prächtigen Buch!
Der Vater war sonst nicht roh. Er stürzte aus dem Hinterhalt auf das nichtsahnende Kind und warf es von seinem Sitz, ergriff das Buch und floh.
Zu Hause. – Das Buch wurde geprüft, es hatte gelitten. Man hatte auf dem Deckel etwas geschnitten, etwas Fettiges, scheinbar Wurst. Es mußte häufig gefallen sein, die Ecken waren verbogen und die Seiten saßen teilweise lose im Rücken.
Mit zitternder Hand blätterte der Vater in dem Buch.
Seite 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 40 – der Vater wurde stutzig … 41, 42, 43, 44, 13, 14, 15, 58, 59, 60, 61, 16 – der Vater wurde grün im Gesicht … 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 105, 106, 107, 108 – dem Vater fiel sein Glasauge aus dem Kopf … 109, 110 – jetzt wurden die Seiten kleiner, sehr seltsam … 111, 112. Seite 110 schloß „Wanderburschen, wandert zu in die weite Welt hinaus“, und es ging weiter aus Seite 111 „mit der weißen, aristokratischen Hand durch das gewellte Haar und ging erregt auf Leonie zu.“ In Vaters Buch kam keine Leonie vor. Der Vater bekam einen eiförmigen Kopf.
Der Vater erschlug die Mutter.
Aus dem Buch fiel eine Ansichtskarte an Frau Mehlenzell aus Saarbrücken und ein Zettel mit den denkwürdigen Worten: „2 Paar Socken, 3 Kragen, 1 Taschentuch, 1 Vorhemdchen, 1 Paar Manschetten.“
Der Vater sprang am Fenster hinaus und brach das Genick.
Die Kinder verdarben. –
Bilder: Svato Zapletal: Hermann Harry Schmitz: Das verliehene Buch • Die vorzügliche Kaffeemaschine,
Svato Verlag, Hamburg 2008;
Cover Hermann Harry Schmitz: Buch der Katastrophen, Diogenes 1978.
Soundtrack: Mädchen, warum weinest Du?, belegt ab 1843;
Einspielung von Dagmar Manzel, aus: MENSCHENsKIND, 2014:
Bonus Track: Bell Book & Candle: Rescue Me, aus: Read My Sign, 1997 f.:
Wie Champagnerschaum das wilde Gelächter (deine Erdbeer- und Himbeerdüfte)
Update zu Und wenn es hundert schönere gibt,
O süßes Lied und
La feuille s’émeut comme l’aile dans les noirs taillis frémissants:
Die Leute wollen neben der Politik und dem Aktuellen etwas haben, was sie ihrer Freundin schenken können. Sie glauben gar nicht, wie das fehlt.
(Riesenschnörkel) Ernst Rowohlt, in: Kurt Tucholsky: Schloss Gripsholm, 1931.
Sehr richtig, Herr Verleger: Die Leute sollten sich gegenseitig viel mehr Gedichte schenken. Daher kommt heute der literaturwissenschaftliche Teil erst hinterher.
Rimbaud schrieb Les réparties de Nina im Alter von 15 Jahren als 9. Gedicht in seinem 1. Cahier de Douai, die erste Veröffentlichung war in Le Reliquaire 1891. Zitiert wird nach: Arthur Rimbaud: Sämtliche Werke. Französisch und deutsch, übertragen von Sigmar Löffler und Dieter Tauchmann. Mit Erläuterungen zum Werk und einer Chronologie zum Leben Arthur Rimbauds, neu durchgesehen von Thomas Keck, Insel-Verlag Anton Kippenberg, Leipzig 1976, Seite 52 bis 61:
——— Arthur Rimbaud:
Ninas Antwort15. August 1870:
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——— Arthur Rimbaud:
Les réparties de Nina15 août 1870:
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Die gedachte Landschaft in Rimbauds, des Ardennensohns, Gedicht dürfen wir uns um Chuffilly-Roche (Stand 2018: 73 Seelen) bei Charleville-Mézières vorstellen: um das Nachfolgeanwesen von Rimbauds Mutter herum — das übrigens 2017 von Patti Smith erworben wurde: als waldiges Mittelgebirge ohne Extreme, aber mit viel Idylle:
Auf Rimbauds Manuskript hieß das Gedicht noch Ce qui retient Nina, das ist: Was Nina zurückhält. Die Insel-Ausgabe von Sigmar Löffler und Dieter Tauchmann 1976 lehrt dazu, Seite 416 f.:
Aufschlußreich ist das Gedicht in vielerlei Hinsicht: Obwohl das Thema, die Einladung eines Mädchens zum Spaziergang, in der zeitgenössischen Dichtung oft strapaziert war, ist doch die realistische Beschreibung, besonders des Bauernhauses in den Ardennen, poetisch außerordentlich gelungen. Am bedeutsamsten jedoch sind die hier gebrauchten Effekte, das Bemühen nämlich, neue kühne Wortschöpfungen zu finden, wenn z. B. das Gras unter dem Schatten der Bäume blau erscheint. Damit leitet sich eine Entwicklung ein, die im ‚Bateau ivre‚ und in der poetischen Prosa der ‚Illuminations‚ gipfelt.
Und noch etwas ist in diesem Stück bedeutsam! Die am Schluß frappierende Antwort des Mädchens: ‚Et mon bureau?‘ Die herbe Desillusionierung eines schwärmerischen poetischen Aufschwungs des lyrischen Ich durch das profane Nützlichkeitsdenken eines weiblichen Gegenübers erinnert an ähnliche Effekte in Texten Baudelaires (z. B. ‚La Soupe et les nuages‘ aus den ‚Petits Poèmes en Prose‚). In Rimbauds poetischer Terminologie ist ‚Bureau‘ ein symbolkräftiger Schlüsselbegriff für geistige Stupidität. In ‚À la musique‘ charakterisiert er die Bourgeois als ‚gros bureaux bouffis‘, in ‚Les Assis‘ spricht er von ‚fiers bureaux‘.
Images: Rimbaud expliqué, 5. Juni 2021;
Rimbaud suites, 13. Oktober 2018.
Bande sonore: Adaption musicale par Richard Ankri, 2019:
Bonus Track: das vollständige Lied von oben:
Patti Smith: Dancing Barefoot, aus: Wave, 1979:
Morgenstern über Greifswald (und keiner schaut hin)
Update zu O selige Epoche,
Flintenwerfen und
Der deutsche Sonderweg zur Hochkomik 1–10:
Es hätte ein so schönes Leben sein können: Da wird einer pünktlich erst nach dem einen Krieg geboren und stirbt pünktlich vor dem anderen — da kämpft er den größten Teil seiner Erdenzeit gegen eine lebenseinschränkende bis -bedrohliche Tuberkulose; da schafft er in seiner schönsten Phase mit seinen besten Kumpanen den zeitlosen Klassiker der Galgenlieder — und muss sich in der Folge lebelang ärgern, auf seine Studentenscherze reduziert zu werden. Irgendwas ist immer.
Leicht gemacht hat er sich’s, was vor diesem Hintergrund niemanden wundern muss, mit seinem „bürgerlichen Drama“ Ecce Civis. Verständlich, aber schade, dass dieses kurze, aber im Live-Betrieb beliebig zu erweiternde Stück so obskur ist und offenbar erst entschieden posthum um 1976 uraufgeführt wurde: Gerade Stellen wie „Das gesamte Tischgerät entwickelt eine lustige Musik“ (erster Akt), „Unter mannigfachen mehr oder minder hörbaren und wichtigen Gesprächen der zu den verschiedenen Requisiten gehörigen Personen vergeht die vorgeschriebene Zeit, bis der Vorhang wiederum fallen kann“ (zweiter Akt) und „Dazwischen spielt sich eine Art von Szene ab“ (dritter Akt) bieten den Darstellenden unschlagbare Möglichkeiten zum Herumbrillieren. Von der Maskenbildnerei ganz zu schweigen.
——— Lyrikzeitung:
Literarisches Greifswald (1)
in: Lyrikzeitung & Poetry News, 15. November 2015:
Wanderer, kommst du nach Spa-, nach Greifswald.
Greifswald liegt am Rand, aber es hat doch dies und das, sogar Literarisches. Vielleicht mache ich eine Folge. Ich beginne mit Christian Morgenstern. Mir sind keine Aufenthalte M.s in Greifswald bekannt. Geboren in München, gestorben in Meran, verbrachte das halbe Leben in Sanatorien, etwa in Birkenwerder. Wenn er an die See fuhr, so war es Helgoland, Sylt oder Föhr, oder gleich Norwegen.
Trotzdem steht sein Name an einer Hauswand in Greifswald:
„In diesem Hause fand die
Erstaufführung von
Chr. Morgensterns Ecce Civis
unter der Leitung I.Sulks statt.“Die Tafel wurde wahrscheinlich in den siebziger Jahren angebracht. Tatsächlich hing sie nicht an diesem Haus, das ein Neubau aus den End-80ern oder Früh-90ern ist. An dieser Stelle standen 2 Häuser, in einem ein Milchladen und im andern ein Zeitschriftenladen. Sie fielen der Tabula-Rasa-Abrißsanierung in den letzten DDR-Jahren zum Opfer. Die Tafel war dann längere Zeit verschwunden, erst vor Monaten fiel sie mir wieder auf. Sie hing damals nicht in der Kapaunenstraße, sondern vorn in der Langen Straße, die damals „Straße der Freundschaft“ hieß, vom Volksmund auf F-Straße verkürzt. Auch will mir die Erinnerung einreden, daß früher das Datum der Uraufführung auf der Tafel stand, irgendein Jahr in den 70ern, vielleicht 1976? Aber ich habe keine Fotos, einziges Indiz der gute Erhaltungszustand der also wohl neuen Tafel.
In einer DDR-Zeitschrift, „Das Magazin„, stand damals ein Artikel über die Tafel. Ich weiß nur noch, der Verfasser hielt das für einen Scherz, einen Ulk, er meinte, I. Sulk müsse „Is Ulk“ gelesen werden. Aber das stimmt nicht, der Herr Sulk war ein dort lebender Greifswalder.
Demnach hatte der Autor nicht recherchiert, sondern nur auf der Durchreise das Schild fotografiert und den Rest zusammenspekuliert. Es gibt gute Gründe, einen Ulk zu vermuten. Ein Blick auf das Personenverzeichnis des Kurzdramas zeigt das:
Ein hübsches Junggesellenzimmer mag auch der Ort der Erstaufführung gewesen sein. Aber wieso Ulk? Ich sehe es vor mir. Erste Zigarre: läßt Ringel zur Decke steigen. Mehrere Teller: klappern. Gabeln: klirren. Eine Zigarette: fängt an zu brennen. Der erste Akt endet so: „DAS GESAMTE TISCHGERÄT entwickelt eine lustige Musik, durch welche hindurch man hie und da einige Namen von Speisen und Personen sowie allerlei auf diesen und jenen Lebensausschnitt bezügliches vernimmt. Nach einer Weile fällt der Vorhang.“ Lange vor der bruitistischen Musik der Futuristen und dem bruitistischen Krippenspiel des Hugo Ball hat Christian Morgenstern die Chose erfunden. Und erstaufgeführt wurde es in Greifswald, Straße der Freundschaft.
Soweit die Informationen — oder vielmehr der Mangel daran — über Morgensterns Spuren in Greifswald. Ausführlicher wird seine literarische Nachwirkung vom vermutlich selben, nur diesmal namentlich ausgewiesenen Autor Dr. phil. Michael Gratz unter Morgenstern in der DDR — der an dieser Stelle warm zur Kenntnisnahme über persönlich nähergebrachte deutsch-deutsche Literaturgeschichte und Grenzverkehr empfohlen sei! — fürs L&Poe Journal 1 (2021), die Ausgabe zu Morgensterns 150. Geburtstag am 6. Mai beschrieben. Ein prominenter Greifswalder Bürger namens I. Sulk, dessen Name möglicherweise nur „Ulk is“, kann auch dort nicht nachgewiesen werden. An unserer Stelle erscheint so oder so der Volltext des Dramas sinnvoller:
——— Christian Morgenstern:
ECCE CIVIS
Ein bürgerliches Drama
um 1898, in: Klaus Schuhmann: Christian Morgenstern. Ausgewählte Werke,
Insel, Leipzig 1975, Seite 455–457,
cit. nach L&Poe Journal 1 (2021), 15. Februar 2021:
HANDELNDE
Eine Kiste Zigarren
Eine Schachtel Zigaretten
Ein mit zwei Kuverts gedeckter Esstisch
Eine grosse gedeckte Gesellschaftstafel
Ein Tablett mit Kaffeegeschirr
Ein Tablett mit Wein
Ein Tablett mit BierParfümflaschen, Tüten mit Konfekt, Löffel, Messer, Gabeln, Kohlenschaufeln, Schmapsservice, große und kleine Brotkörbe, Ausguß, Wasserhähne, Putzlappen, Korkzieher, Zuckerdose usw. usw. nach Bedarf und Belieben.
Dazugehörige Personen.Erster Akt
Ein hübsches Junggesellenzimmer.
Erste Zigarre läßt Ringel zur Decke steigen. Der dazugehörige Herr sagt etwa: Wo nur die Fanny heut so lang bleibt! Läßt sich vom Zimmer zu schaffen machen.
Mehrere Teller klappern.
Gabln klirren.
Eine Tüte mit Datteln
wird irgendwo versteckt.
Eine Flasche Sekt knallt. Der dazugehörige Diener sagt etwa: Bleibt heut das Fräulein aber lang!
Nach einer Weile klopft es, und die Erwartete kommt.
Eine Zigarette fängt an zu brennen. Der dazugehörige weibliche Mund sagt etwa: Du hast wohl heut etwas warten müssen, Fredi.
Die Zigarre: Du machst dir eben nichts aus mir.
Die Zigarette: Ach geh, was du dir auch immer einbildst; Komm, eß mer. Man setzt sich zu Tisch.
Das gesamte Tischgerät entwickelt eine lustige Musik, durch welche hindurch man hie und da einige Namen von Speisen und Personen sowie allerlei auf diesen und jenen Lebensausschnitt Bezügliches vernimmt. Nach einer Weile fällt der Vorhang.
Zweiter Akt
Ein Salon.
Eine Menge Zigarren und Zigaretten mit dazugehörigen Personen beiderlei Geschlechts kommt aus dem im Hintergrund durch eine breite Flügeltür sichtbaren Speisesaal, nicht jedoch ohne des öftern dahin zurückzukehren, ein Glas Wein, ein Stück Torte zu sich zu nehmen, einen Toast auszubringen oder dergleichen.
Erste Zigarre: Das mit der Huber soll also wirklich wahr Sein?
Zweite Zigarre: Meine Frau hat die zwei mit eignen Augen –
Eine Zigarette: Mit eignen Augen!
Ein Stück Torte: Um Gottes willen, seid still! Dort kommt er!
Mehrere Zigarren und Zigarette: Pst! pst! pst!
Dritte Zigarre in Begleitung des Herrn Alfred Müller tritt auf: Guten Abend, meine Damen und Herren!
Sämtliche Zigarren und Zigaretten: Guten Abend, Herr Müller.
Zweite Zigarre und dritte Zigarette zugleich: Bitte, meine Herrschaften, der Kaffee!
Ein Tablett mit Kaffeetassen beherrscht auf längere Zeit die Situation.
Unter mannigfachen mehr oder minder hörbaren und wichtigen Gesprächen der zu den verschiedenen Requisiten gehörigen Personen vergeht die vorgeschriebene Zeit, bis der Vorhang wiederum fallen kann.
Dritter Akt
Ärmliche Giebelstube.
Eine Zigarette sitzt mit dem dazugehörigen Fräulein Fanny vor einem Tisch.
Löffel, Messer, Gabeln lassen sich von ihr putzen und führen eine Weile das Wort.
Eine Zigarre in Begleitung des Herrn Alfred Müller tritt auf: Grüß dich Gott, Fanny!
Die Zigarette: Jessas, Fredi, wo kommst denn du jetzt her?
Die Zigarre: Es mußte sein. Aber erst schaff mir was zu trinken, ich bin wie ausgedorrt.
Die Zigarette: Ich hab bloß Bier da.
Die Zigarre: Schadt nichts. Gib nur her! Fanny – zwischen uns muß Es aus sein. Schenkt Bier ein.
Die Zigarette zitternd: Ich hab mir’s ja gedacht.
Die Zigarre paFFend: Also machen wir’s kurz.
Die Zigarette liegt mit dem Kopf auf dem Tisch.
Das Bierglas trommelt.
Die Löffel, Messer und Gabeln machen einen nervösen Lärm. Dazwischen spielt sich eine Art von Szene ab, an deren Schluß das Ende des Stückes steht.
Die Zigarre mit Zubehör verschwindet von der Bühne.
Die Zigarette erlischt.
Der Vorhang fällt.
Ende.
Bilder: Lyrikzeitung: Literarisches Greifswald (1), 15. November 2015;
Michael Gratz: Morgenstern in der DDR, in: L&Poe Journal 1 (2021), 15. Februar 2021 .
Soundtrack bruitistischer Musik: Luigi Russolo: Serenata per intonarumori e strumenti, 1924:
Bonus Track: The Art of Noise featuring Duane Eddy: Peter Gunn, aus: In Visible Silence, 1986:
Адвент 2: Auf den Flügeln der Lieder
Update zu Noch immer (ja, noch immer):
Die Ukraine, die Kornflasche Europas: Es sind immer die Nachbarinnen und Kolleginnen von dorther, die einen beeindrucken mit allem, was sie sind und tun, ohne es je darauf anzulegen. Kaum volljährig, sind das alles gestandene, beneidenswert lebenstüchtige Russenweiber mit zwei Muttersprachen — und bis man sich umschaut, haben sie alle noch einen echten Magister, die einschüchterndsten unter ihnen einen Dipl.-Kffr. von einer der etwa hundert Kiewer Unis, und in Charkiv stehen schon die nächsten hundert; sie sprechen und schreiben nicht unter drei „Fremd“-Sprachen fließend, die andern, darunter mindestens eine asiatische, zählen sie schon gar nicht mehr, haben Dostojewski, Voltaire, Tschechow und Balzac vollständig gelesen, Tolstoi, Charms, Kusmin, Remisow, Rousseau, Schiller, Heine und Dickens gleich zweimal und ihren Landsmann Gogol immer wieder, können mit einem Taschenmesser den Boiler reparieren, mit einer Büroklammer Feuer machen, ihre Mitmenschen aus dem Kopf mit dem Sparkassenkuli gedankenschnell so skizzieren, dass man sie erkennt, und die Gesamtwerke von Beethoven, Rimski-Korsakow und Skrjabin auswendig auf dem Klavier, sind in ihrer grenzenlosen Model-Schönheit schon mal „ein paar Schauen gelaufen“, kommen in einem Porno und zwei Arthouse-Preziosen vor (bei Weißrussinnen ist es umgekehrt) und schreiben zwischen dem Fitmachen für die Disco und der anstehenden Frühschicht ein paar Gedichte und ein nephrologisches Exzerpt für ihre nächste Veröffentlichung. Angesichts der Lebensauffassung einer Ukrainierin merkt man immer erst, was man die ganze Zeit in seinem eigenen bisschen Existenzversuch verpasst, und dass es doch auch so geht. Wenn man sie fragt, was sie dazu treibt, in einem deutschen Mittelzentrum die Betten für zickige Touristen zu beziehen und fünfsprachig das Klo zu schrubben, zucken sie die Schultern und antworten: „Muss leben.“ Plausibel anzunehmen ist, dass in Donezk einfach immer noch ein paar Panzer zuviel auf der Straße herumkurven. In der Ukraine wohnen über 42 Millionen Leute, also vermutlich um die 21 Millionen Frauen, unter denen es durchaus dumme, hässliche, moralisch fragwürdige geben wird, nur die trifft man die nie. Schon klasse, aber nach keiner Seite fair.
Vor dieser Erfahrung muss es ehrgeizig erscheinen, einer Ukrainerin imponieren zu wollen; wer aber auf Russisch bis fünf zählen kann, eine Mundharmonika einstecken hat, deren Tonart er benennen und charakterisieren kann, und ihnen zur Frühschicht keine unbearbeiteten Hotelreservierungen liegen lässt, sollte aber schon den richtigen Weg eingeschlagen haben. Bescheiden sind sie also auch noch. Einfach widerlich. Und im Film reden sie immer bloß von Transsylvanien.
Hilfreich scheint mir, das eine oder andere Gedicht von Lesja Ukrajinka zu kennen, in einer Sprache, die man gar nicht kann; die scheint eins von diesen Wunderwesen. Offenbar wird Frau Kossatsch — die korrekte Anrede für sie war: Laryssa Petriwna — bis heute geschätzt und verstanden, jedenfalls umfasst ihr ukrainischer Wiki-Artikel Леся Українка den Gegenwert einer Rowohlt-Monographie.
Ihr unverhohlen national gestimmtes Pseudonym verwendete die Petriwna ab ihrer ersten Veröffentlichung im Alter von 13 Jahren. Ihr Gedicht Contra Spem Spero (etwa: Gegen alle Hoffnung hoffe ich) von 1890 — da war sie 19 — ist innerhalb ihres Gesamtwerks aus folkloristischer, traditioneller Lyrik, später impressionistischer Naturlyrik bis hin zu historischer Dichtung ein Fremdkörper: viel zu subjektiv. Die Ukraine respektiert Taras Schewtschenko und Iwan Franko als Nationaldichter, aufrichtig gerührt sind sie bei der Ukrajinka.
Das war ein Tipp, Jungs. Eure Fachliteratur ist vorerst: Леся Українка. Енциклопедія життя і творчості (Lesja Ukrajinka. Enzyklopädie des Lebens und der Kreativität). Contra spem spero! wurde leider nie für die Öffentlichkeit deutsch übersetzt, also übt vorsichtshalber ein bissel Mundharmonika. Viel Glück.
——— Леся Українка:
Contra spem spero!
2. Mai 1890, in: На крилах пісень (Auf den Flügeln der Lieder), Lemberg 1893:
Гетьте, думи, ви, хмари осінні!
То ж тепера весна золота!
Чи то так у жалю, в голосінні
Проминуть молодії літа?
Ні, я хочу крізь сльози сміятись,
Серед лиха співати пісні,
Без надії таки сподіватись,
Жити хочу! Геть думи сумні!Я на вбогім сумнім перелозі
Буду сіять барвисті квітки,
Буду сіять квітки на морозі,
Буду лить на них сльози гіркі.І від сліз тих гарячих розтане
Та кора льодовая, міцна,
Може, квіти зійдуть – і настане
Ще й для мене весела весна.Я на гору круту крем’яную
Буду камінь важкий підіймать
І, несучи вагу ту страшную,
Буду пісню веселу співать.В довгу, темную нічку невидну
Не стулю ні на хвильку очей,
Все шукатиму зірку провідну,
Ясну владарку темних ночей.Так! я буду крізь сльози сміятись,
Серед лиха співати пісні,
Без надії таки сподіватись,
Буду жити! Геть думи сумні!
Bilder: Cover На крилах пісень (Auf den Flügeln der Lieder), Lemberg 1893;
S. Caraff-Corbu: Contra spem spero!, Farblinolschnitt, 1962.
Soundtrack: Леся Українка: Вечірня година (Abendstunde), ca. 1889, aus: На крилах пісень, 1893,
aufgeführt vom wolhynischen, daher momentan ukrainischen Дитячий ансамбль Дударик, 2015:
Your open hand but shows our loss
Update zu Zwetschgenzeit (Du bist gemeint):
Unterschied zwischen einem Terroristen und einem Controller? — Der Terrorist hat Sympathisanten.
Ein zeitloses Thema. — Die Dublin City Gallery The Hugh Lane zum Beispiel, 1908 eine der weltweit ersten öffentlichen Galerien für moderne Kunst, scheint allen verfügbaren Bildern nach ein kleines, auf einnehmende Weise familiär geführtes Haus, das seinen bemessenen Raum sorgfältig nutzen muss. Mit dem Geld ist es so eine Sache:
Der Eintritt in die Galerie und die Ausstellungen ist kostenlos, es werden jedoch Spenden von mindestens 2 Euro erbeten.
Das schreiben sie 2017 auf ihrem digitalen Auftritt. Dieses Hin oder Her ist mindestens seit 1912 unklar.
——— William Butler Yeats: To a Wealthy Man who promised a second Subscription to the Dublin Municipal Gallery if it were proved the People wanted Pictures.December 1912 as The Gift in: The Irish Times, January 11th, 1913,
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——— William Butler Yeats: An einen wohlhabenden Mann, der Dublins Städtischer Galerie eine zweite Spende versprach, sofern bewiesen würde, daß die Leute Bilder wolltendeutsch von Norbert Hummelt in: William Butler Yeats: Die Gedichte, Luchterhand Literaturverlag, München 2005: Verantwortungen, Seite 121 f.:
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Leider nicht nachweisen (und deshalb nicht verlinken) konnte ich eine bestimmte „grammar school of courtesies“ in Urbino, die um 1500 von Guidobaldo da Montefeltro gegründet sein sollte. Gefunden habe ich im Kommentar zu Yeats‘ Early Essays allgemeiner:
Duke Frederigo [sic] da Montefeltro (1422–82) ruled the Renaissance city-state of Urbino from 1444 onward. A famous patron of the arts, he turned Urbino into a leading center of art and humanism and accumulated a famous library. He was succeeded by his physically feebler son Guidobaldo (1472–1508), who continued his patronage and was praised by Castiglione in The Book of the Courtier [1528]. Yeats invoked Guidobaldo in „To a Wealthy Man“ (P, 106–7).
Der deutsche Übersetzer Norbert Hummelt scheint A. Norman Jeffares: A Commentary on the Collected Poems of W. B. Yeats von 1968 benutzt zu haben, um auf seine zwangsläufig ebenfalls allgemein gehaltene Lösung „die hohe Schule des Benimms“ zu verfallen:
That grammar school : he [i. e. Guidobaldo da Montefeltro] was highly praised in The Courtier. Talents, learning, grave deportment and fluency of speech were required of his courtiers, and the culture and refined manners of his court were renowned. Yeats sees it as a place where youth ‚for certain brief years imposed upon drowsy learning the discipline of its joy‘ (A 545).
Das letztere Yeats-Zitat könnte noch in ein Kapitel für sich ausufern; erstaunt war ich vor allem über den laxen Gebrauch des Oxford-Kommas in einem literaturwissenschaftlichen Standardwerk 1968. Aber wer erfragt schon meine Schäfermeinung.
Bilder:
- Rwxrwxrwx: Hugh Lane Gallery, Parnell Square, Dublin, 8. Juni 2015;
- Hugh Lane Gallery: Francis Bacon’s studio in Dublin City Gallery, The Hugh Lane: „A national treasure and an excellent example of public sector collaboration with an artist’s estate“, via Michael Parsons: Life’s Work: Adelle Hughes, head of the art department, Whyte’s, Dublin, The Irish Times, 20. August 2016;
- Dublin City Gallery, The Hugh Lane: Self Portrait by Frank O’Meara with Lucia Fabbro and Jessica O’Donnell, 19. Dezember 2016, in: Conservation of Self Portrait by Frank O’Meara. As part of our theme ‚Artist as Witness: Migrations‘ for 2017.
Soundtracks: Toby Darling: To A Wealthy Man, Februar 2017, in YouTube mit Gitarrengriffen;
Flogging Molly: Selfish Man, aus: Alive Behind the Green Door, 1997,
als Ando Reann, aka Dreanna: Life and Times of Scrooge McDuck Tribute, 2008
mit Dagobert-Duck-Material von Don Rosa:
Nachtstück 0003: Polizistenschatten im Laternenschein
Update zu Dann, Engel, blas Posaune und Nachtstück 0002:
Mein Vater war Eisenbahner. Für junge Menschen hat ein Vater bei der Bahn den Vorteil, dass er viel in Deutschland herumkommt, je nachdem, wohin er seine acht Zeilen Freifahrschein ausfüllt; innerhalb Europas geht’s auch, aber die sind nicht so spontan, weil sie beantragt werden müssen. Mein Vater und ich haben im Laufe meiner frühen Jahre mehr als einmal an einem Samstagnachmittag beschlossen, ein Frühstück aus grünem Aal nach Nürnberg zu holen, schrieben „Ottensoos–Hamburg/Altona“ in die nächste Zeile, sprangen in den Hamburger Nachtzug, kamen zu nachtschlafender Zeit zum Fischmarkt zurecht, kauften einige Tüten voll Aale, so frisch, dass sie noch gelebt hatten, während wir die Bahnhofslichter von Hildesheim bewunderten, frühstückten in den Markthallen gegenüber Blohm & Voss Labskaus und Pils, um im Zug besser zu schlafen, vergaßen auch nicht das landwirtschaftliche Kleinvieh nebenan zu besuchen, um doch wieder kein exotisches Huhn zu kaufen, schrieben in die nächste Zeile „Hamburg/Altona–Osterhofen“, damit wir nächstes Mal ins Gebirge konnten, stiegen in Altona ein, um am Hauptbahnhof schon unseren Platz zu haben, stanken das Abteil mit Fisch voll, versorgten die Nachbarn mit Aal, weil das Zeug schnell weg muss, und rechtfertigten uns mit Zeitgründen, warum wir „auf“ Sankt Pauli nicht im Puff gewesen waren. Dann war früher Sonntagnachmittag. Das nur nebenbei.
Einmal kamen wir erst nach der Sportschau auf die Idee, Aal einzukaufen, was zu knapp für Hamburg war, trugen „Ottensoos–Köln Hbf“ ein und besichtigten am Abend die soeben entstandenen Hochwasserschäden entlang des gastronomisch orientierten Rheinufers. In der Altstadt, wo wir uns nicht auskannten, sah es aus wie in der von Nürnberg, nur mit mehr Sandsäcken vor Kellerfenstern, die Türen waren schon wieder benutzbar. Wir benutzten die von einer nicht zu großen Kneipe namens Papa Joe’s. Em Streckstrump, weil wir Wirtshäuser mieden, die ihre Preise nicht draußen anschreiben.
Innen lernten wir, dass der Kölner an sich nichts von fremden Menschen weiß, sondern unterschiedslos mit ihnen zu reden anfängt, weil man mit Leuten eben redet, und weil das natürliches menschliches Verhalten ist, vor allem in Kneipen. Und dass sie hier allgemein ihren Ehrgeiz darein setzen, „ein Mensch zu bleiben“, und nicht ohne ein gemütliches bis nachsichtiges Wohlwollen betonen, dass jemand „auch nur ein Mensch“ sei. Und dass der Kerl, der sich mit einem runden Gestell voller zahnputzglasgroßer Biere über dem Kopf durch das Kneipengetümmel schlängelt, Köbes heißt. Und dass man Dixieland in Köln außerhalb von Sonntagsfrühschoppen spielt, aber vielleicht war die Kapelle auch nur ein paar Stunden zu früh da.
Während mein Vater von Einheimischen dazu verdonnert wurde, seinen Samstgagabend mit Erzählungen von vergangenen und bevorstehenden Bahnreisen zu verbringen und dazu, an 0,5 Liter große Gläser gewöhnt, dem Köbes einen Zahnputzbecher Kölsch nach dem anderen abkaufte, war für mich das Faszinierendste die Tapete des Lokals: Sie bestand von unten bis unter die hohe Decke aus alten Zeitungsseiten, weil sie so in Rheinufernähe zuverlässig jährlich erneuert werden musste. Undenkbar für bodenständige Menschen aus Binnenfranken, einen Wohnsitz noch zu halten, nachdem er das zweite und dritte Mal überschwemmt worden war, aber et kütt wie et kütt, woll?
Unser zuständiger Köbes mochte mich offenbar, denn er stellte mir jedes Mal, wenn eine neue Runde fällig war, diskret auch so ein Kölsch ab und kassierte es vom Rundenspender mit. Das funktionierte, weil alle Beteiligten damit glücklich waren.
Meinem Vater sagte wenig zu, dass sie im ganzen Rheinland Rosinen in den Sauerbraten schütteten, aber in dem Gedrängel an den Stehtischen hätten wir sowieso nichts „Richtiges“ — ein Ausdruck „unserer“ daheimgebliebenen Mutter — essen können. Auf das Anraten mehrerer Einheimischer, der Halve Hahn sei hier sehr ordentlich, bestellten wir zwei davon. Wir verzehrten sie, während wir einigen Schnurrbartträgern dabei zuschauten, wie sie sich beim Versuch, das Wort „Käsweggla“, was Käsebrötchen oder Halver Hahn bedeutet, korrekt auszusprechen, fast das Gesicht brachen.
Die Kapelle schickte fast so regelmäßig wie den Köbes ein Instrument, das gerade nichts zu tun hatte, mit einem Filzhut durch die Menge und rief eine Kollekte für hochwassergeschädigte Musiker aus. Dann spielte sie eine besonders anrührende, stillvergnügte Version von When You’re Smiling, und ich fand im Gewirr der meterhohen, meterbreiten Zeitungsseiten ein Gedicht. Es stand in einer Ecke, die zu den folkloristisch unverzichtbaren Hochwassern offenbar lange trocken blieb, denn das Blatt sah schwer vergilbt und im Design nach Goldenen Zwanzigern aus, als Herrschaften wie Tünnes und Schäl leibhaftig umherliefen, mit Jugenstilschriftarten und im- oder expressionistischen — das kann ich bis heute nicht unterscheiden — Ornamenten, etwa wie die frühe Reklame für Roth-Händle. Ein gutes Eck, um im Gewimmel ungestört zu verweilen, ein nur halb ergaunertes Kölsch zu verkasematuckeln, wie der Kölner sagt, Dixieland zu hören und ein schlagend kurzes, herrlich sinnloses Gedicht an der Wand auswendig zu lernen.
Nachtstück
Klingt wie Hellebarde
Auf dem Pflasterstein.
Polizistenschatten
im Laternenschein.Bruder Kain noch immer
Flieht vor dem Gericht.
In das Dunkel bergen
Diebe ihr Gesicht.
Mein Vater konnte das bundesdeutsche Kursbuch, Gesamtausgabe, praktisch auswendig, auch in hohen Promillebereichen, so einer war das nämlich, ein Bahnerer mit Leib und Seele. Daher ist es nur mit Vorsatz zu erklären, dass wir den letzten Zug Köln–Nürnberg verpassten und bis zum ersten ausharren mussten.
Hoch über dem Bahnhof thronte der Dom leider zugesperrt, die Domplatte war trotzdem beeindruckend weitläufig und belebt. In einer so weltoffenen Stadt schien es uns dennoch statthaft, gegen die Wand des Kölner Doms zu pinkeln; mein Vater war evangelisch. „Et hätt noch immer jot jejange“, hatte er sich gemerkt.
Die majestätischen Fluten des Rheins begannen schon in einer Morgendämmerung zu glitzern, es wurde also Zeit, mein neu gelerntes Gedicht aufzusagen. Es dauerte einschließlich der Denkpausen angesichts der ungefrühstückten Stunde so lange, wie man pinkeln muss.
„Du lernst ein Zeug“, sagte mein Vater und schüttelte ab.
Bild: Papa Joe, Köln.
Was übrig blieb von grünem leben
——— Stefan George:
Nach der Lese
aus: Das Jahr der Seele.
Im Verlage der Blätter für die Kunst, Berlin 1897:
Komm in den totgesagten park und schau:
Der schimmer ferner lächelnder gestade
Der reinen wolken unverhofftes blau
Erhellt die weiher und die bunten pfade
Dort nimm das tiefe gelb das weiche grau
Von birken und von buchs · der wind ist lau
Die späten rosen welkten noch nicht ganz
Erlese küsse sie und flicht den kranz
Vergiss auch diese letzen astern nicht
Den purpur um die ranken wilder reben
Und auch was übrig blieb von grünem leben
Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.
Ihr rufe junger jahre die befahlen
Nach IHR zu suchen unter diesen zweigen
Ich muss vor euch die stirn verneinend neigen
Denn meine liebe schläft im land der strahlen
Die Bilder sind die drei Eingänge an der Friedrichstraße zum Leopoldpark (2,8 Hektar).
Wer kennt sich aus bei uns zu Haus?
Wer ist das? — : Weiblich, aus München; hat jeder schon mal gesehen, aber vergessen, wo; sieht eigentlich ganz gut aus; ist trotzdem nicht Zehra Spindler?
Der Beweis: Zehra Spindler wurde gar nicht von Ludwig Schwanthaler gestaltet. Also. Sonst steht aber nur der Firmenname der Erzgießerei drauf, wenn wir mal unterstellen, dass die Dame nicht Ferdinand Mosler heißt.
Sonstige Vorschläge?
Buidln: selbergemacht, 5. Juni 2013.