Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Archive for Januar 2018

Doktor Faust thu dich bekehren

leave a comment »

Update zu Umfing ihn sein feins Liebchen: Leb wol, du Herzensbübchen! Leb wol! Viel Heil und Sieg!
und Ein holprichtes Lied mit tiefer und rauher Stimme:

Den Faust hat Goethe, so die übergreifende Botschaft des gesamten Weblogs, nicht erfunden — was weder Faust noch Goethe an ihrer jeweiligen Existenz gehindert hat. Wo Goethe überall war, ist lang, breit und tief und im jungen Jahrtausend sogar interaktiv erforscht; wo Faust überall war, muss man bis heute fallweise nachlesen.

Das Flugblatt mit der Ballade über seine versuchte Bekehrung, dann aber doch weiter statthabende Verdammnis stammt aus Köln, und wenn es nicht vom Forscherteam Arnim & Brentano von dort in Des Knaben Wunderhorn eingesammelt worden wäre, wüsste man heute vermutlich gar nichts mehr davon. Das Wissen darüber ist werkimmanent: dass Faust laut dem Gang der Balladenhandlung unter anderem in Ingolstadt geweilt und Theologie studiert hat, und an den meisten seiner Fundstellen: dass über seine Entstehung praktisch nichts bekannt ist.

Der Fauststoff wird seit dem 16. Jahrhundert — seit dem historischen Faust in Vermischung mit Paracelsus — tradiert und variiert, Arnim und Brentano lag laut Heinz Röllekes Kommentar zur großen Wunderhorn-Ausgabe die Ballade

in Form eines metrisch holprigen und mannigfach verderbten Flugblatt-Textes vor, dessen Entstehung nach 1741 anzusetzen ist.

Goethe urteilt natürlich zurückhaltend:

Tiefe und gründliche Motive, könnten vielleicht besser dargestellt seyn.

Die Melodie wurde von W. Wiora: Die Melodien der Faustballade im Jahrbuch für Volksliedforschung 6, 1938 auf Seite 29 bis 31 sowie von Erich Stockmann: „Des Knaben Wunderhorn“ in de Weisen seiner Zeit in den Veröffentlichungen des Instituts ür deutsche Volkskunde 16 an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1958 zur gesanglichen Aufführung tauglich festgelegt.

Bearbeitung des Faust-Stoffs von einem Christlich-Meynenden, 1726, Zentralbibliothek der Deutschen Klassik der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten Weimar

Zum historischen Doktor Faust in Ingolstadt weiß, kurios genug, Abraham a Sancta Clara weiter:

——— Alexander Schöppner:

Sagen vom Benz und vom Doktor Faust zu Ingolstadt

in: Thomas Arnt: Faustsagen:

Benz oder Penz wurde ein Geist genannt, von dem P. Abraham erzählt: „Wann zu Ingolstadt in Bayren, die Studenten aus unartigem Muthwillen einige Ungelegenheit verursachen, und etwan auf der Gassen die Stain also wetzen, daß ihnen das Feuer zum Augen ausgehet, werden sie auf der Universität in die Keichen gesetzt, beklagen sich aber dazumahlen nicht mehrers als wegen eines Nachtgespensts, so sie insgemein den Pentzen nennen, welches gantz ohne Kopf ist, also soll wahrhaftig manches Orth, Statt, Gemain nichts mehrers schrecken, als wann sie ein Obrigkeit ohne Kopf haben.“

Noch ein anderer Geist als dieser hat auch eine Zeit in einem Haus der Harder Straße gewohnt. Das ist kein anderer als der hochberühmte Schwarzkünstler Doktor Faust selber gewesen. Er soll nämlich, wie die Sage meldet, in seinem sechzehnten Jahr zu Ingolstadt Theologie studiert haben.

Tatsächlich kennt man im Ingolstadt des dritten Jahrtausends domini einen Margarethenturm am Unteren Graben, Ecke Harderstraße und Johannesstraße, in dem ein Doctor Jorg Faust bis zu seiner Abschiebung durch den Magistrat am 17. Juni 1528, „daß er seinen Pfennig woanders verzehr“, zwielichtigen Wahrsagereien, Zeichendeutereien und anderem Hexenwerk nachgegangen ist, sowie eine Margarethenstraße, die gar in eine Fauststraße am Südfriedhof entlang mündet.

Bis 1528 sechzehnjährig Theologie studieren, das bringt uns auf ein Geburtsdatum von 1512, wogegen die meisten Quellen „um 1480“ angeben. Im Volksbuch heißt er auch viel entschiedener Johann denn Georg oder davon abgeleitet Jorg, und wie Goethe auf „Heinrich“ kam, kriegen wir später. Wie amtlich verlässlich müssen Augustinerpater und Volksballaden sich eigentlich äußern?

An gleichen Ort stellt Schöppner eine noch archaischer anmutende als die aus Köln überlieferte Wunderhorn-Version vor, auf welche dieselbe Melodie passt. Mir selbst sagt zu — und daher dieser ganze Aufwand — dass der Teufel seine Wette verliert, weil er bildlich gesprochen keine Pferde malen kann. — Die „metrisch holprige und mannigfach verderbte“ Volksballade im Direktvergleich:

Doktor Faust.

Fliegendes Blat aus Cöln.

aus: Des Knaben Wunderhorn, Band 1:

Hört ihr Christen mit Verlangen,
Nun was Neues ohne Graus,
Wie die eitle Welt thut prangen,
Mit Johann dem Doktor Faust
Von Anhalt war er geboren,
Er studirt mit allem Fleiß,
In der Hoffarth auferzogen,
Richtet sich nach aller Weiß.
Vierzig tausend Geister,
Thut er sich citiren,
Mit Gewalt aus der Höllen.
Unter diesen war nicht einer,
Der ihm könnt recht tauglich seyn,
Als der Mephistophiles geschwind,
Wie der Wind,
Gab er seinen Willen drein.
Geld viel tausend muß er schaffen,
Viel Pasteten und Confekt,
Gold und Silber was er wollt,
Und zu Straßburg schoß er dann,
Sehr vortreflich nach der Scheiben,
Daß er haben konnt sein Freud,
Er thät nach dem Teufel schieben,
Daß er vielmal laut aufschreit.
Wann er auf der Post thät reiten,
Hat er Geister recht geschoren,
Hinten, vorn, auf beiden Seiten,
Den Weg zu pflastern auserkohren;
Kegelschieben auf der Donau,
War zu Regensburg sein Freud,
Fische fangen nach Verlangen,
Ware sein Ergötzlichkeit.
Wie er auf den heiligen Karfreitag
Zu Jerusalem kam auf die Straß,
Wo Christus an dem Kreuzesstamm
Hänget ohne Unterlaß,
Dieses zeigt ihm an der Geist,
Daß er wär für uns gestorben,
Und das Heil uns hat erworben,
Und man ihm kein Dank erweißt.
Mephistophles geschwind, wie der Wind,
Mußte gleich so eilend fort,
Und ihm bringen drey Ehle Leinwand,
Von einem gewissen Ort.
Kaum da solches ausgeredt,
Waren sie schon wirklich da,
Welche so eilends brachte
Der geschwinde Mephistophila.
Die große Stadt Portugall,
Gleich soll abgemahlet sein;
Dieses geschahe auch geschwind,
Wie der Wind:
Dann er mahlt überall,
So gleichförmig,
Wie die schönste Stadt Portugall.
„Hör du sollst mir jetzt abmahlen,
Christus an dem heiligen Kreuz,
Was an ihm nur ist zu mahlen,
Darf nicht fehlen, ich sag es frei,
Daß du nicht fehlst an dem Titul,
Und dem heiligen Namen sein.“
Diesen konnt er nicht abmahlen,
Darum bitt er Faustum
Ganz inständig: „Schlag mir ab
Nicht mein Bitt, ich will dir wiederum
Geben dein zuvor gegebene Handschrift.
Dann ist es mir unmöglich,
Daß ich schreib: Herr Jesu Christ.“
Der Teufel fing an zu fragen:
„Herr, was gibst du für einen Lohn?
Häts das lieber bleiben lassen,
Bey Gott findst du kein Pardon.“
Doktor Faust thu dich bekehren,
Weil du Zeit hast noch ein Stund,
Gott will dir ja jetzt mittheilen
Die ewge wahre Huld,
Doktor Faust thu dich bekehren,
Halt du nur ja dieses aus.
„Nach Gott thu ich nichts fragen,
Und nach seinem himmlischen Haus!“
In derselben Viertelstunde
Kam ein Engel von Gott gesandt,
Der thät so fröhlich singen,
Mit einem englischen Lobgesang.
So lang der Engel da gewesen,
Wollt sich bekehren der Doktor Faust.
Er thäte sich alsbald umkehren,
Sehet an den Höllen Grauß;
Der Teufel hatte ihn verblendet,
Mahlt ihm ab ein Venus-Bild,
Die bösen Geister verschwunden,
Und führten ihn mit in die Höll.

Doctor Faust

Volksballade:

Hört ihr Christen mit Verlangen
etwas Neues ohne Graus:
Wie die eitle Welt tut prangen
mit Johann, dem Doctor Faust.

Zu Anhalt war er geboren,
er studiert mit allem Fleiß;
In der Hoffart auferzogen,
richtet sich nach alter Weis.

Vierzigtausend Geister er zitierte
mit Gewalt wohl aus der Höll,
Doch es war nicht einer drunter,
der ihm recht konnt tauglich sein.

Nur Mephisto, dem Geschwinden,
gab er seine Seele drein.
Denn sonst keiner in der Höllen,
welcher diesem gleich konnt sein.

Dafür muß er Geld ihm schaffen,
Gold und Silber, was er nur wollt,
Er hat auch zu allen Sachen
viele Geister hergeholt.

Zu Straßburg schoß er nach der Scheiben,
daß er haben konnt sein Freud;
tät oft nach dem Teufel schießen,
daß er vielmals laut aufschreit.

Kegelschieben auf der Donau
war zu Regensburg sein Freud;
Fisch zu fangen nach Verlangen
war seine Ergetzlichkeit.

Wie er an dem heiligen Karfreitag
nach Jerusalem kam auf die Straß,
allwo Christus am heiligen Kreuzstamm
hinge ohne Unterlaß.

Mephistophelus geschwinde
mußte gleich ganz eilen fort,
und ihm bringen drei Ellen Leinwand
von einem gewissen Ort.

„Satan, du sollst mir jetzt abmalen
Christus an dem heiligen Kreuz,
und dazu die fünf Wunden alle
gib nur Acht, daß dirs nicht leid;

daß du nicht fehlst an dem Titel,
an dem heiligen Namen sein!
Wirst du dieses recht abmalen,
sollst du mir nicht mehr dienstbar sein.“

„Dieses kann ich nicht abmalen,
bitt dich drum, o Doctor Faust!
Ich tat dir schon so großen Gefallen.
fordre nunmehr dies nicht auch.

Denn es ist ja ganz unmöglich,
daß ich schreib Herr Jesu Christ.
Weil ja in der Welt
Nichts heiliger zu finden ist.“

In derselben Viertelstunde
kam ein Engel von Gott gesandt,
der tät ja so fröhlich singen
mit einem englischen Lobgesang.

So lang der Engel dagewesen,
wollt sich bekehren Doctor Faust.
Als er fort, tät er sich abkehren;
sehet an den Höllengraus!

Der Teufel hatte ihn verblendet,
malt ein Venusbild an die Stell:
Die bösen Geister kamen eilends,
führten ihn mit in die Höll.

Quacksalber um 1600, Getty Images, für Hans-Ulrich Stoldt, Der Mogeldoktor, Der Spiegel 29. September 2009

Was an ihm nur ist zu mahlen: Bearbeitung des Faust-Stoffes „von einem Christlich-Meynenden“: Zentralbibliothek der Deutschen Klassik der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten Weimar, 1726;
Quacksalber um 1600: „Faust rühmte sich, die Schwarzen Künste zu beherrschen, aus Handlinien, Wolken, Nebel und Vogelzügen sowie Feuer, Wasser und Rauch weissagen zu können“, Getty Images, für Hans-Ulrich Stoldt: Der Mogeldoktor: „Doktor Faust, das Vorbild berühmter Dramen, Opern und Romane, hat um 1500 gelebt. Aber wer war der legendäre Astrologe und Experimentator wirklich?“, Der Spiegel, 29. September 2009.

Soundtrack: Nils Koppruch: Den Teufel tun, aus: Den Teufel tun, 2007:

Written by Wolf

26. Januar 2018 at 00:01

Kater Murr und der dramatisierte Magnetismus

leave a comment »

Update zu Der vortreffliche Kater Murr (Gekatzbuckel!)
und Was ich gebar in Stunden der Begeisterung:

Glücklicherweise ist die Forschung nicht erst seit 2018 weit genug zu erkennen, dass E.T.A. Hoffmann: Lebens-Ansichten des Katers Murr eins der besten, jedenfalls unverzichtbaren Bücher überhaupt ist, ohne das nicht allein die deutsche, sondern die Weltliteratur ein ganzes Stück ärmer wäre, da können Sie gern die Herrschaften Poe, Dostojewski, Thomas Mann, Christa Wolf, Franz Fühmann und ein ganzes Heer von Illustratoren fragen.

Daniel Nilsson, Homeless in Rain, 25. Juli 2016Das war nicht gleich bei Ersterscheinen so: Hans von Müller sorgt sich noch 1903 in seinem Kreislerbuch um das „gefährliche, selbstmörderische Spiel mit der Form„, Hartmut Steinicke wiegelt 1992 in seiner großen Murr-Ausgabe schon ab (Seite 923):

Die Angriffspunkte der früheren Kritik wurden in diesen [von Steinicke besprochenen] neuen Deutungen entweder ausgeklammert oder mit der allgemeinen Verwirrung der ästhetischen Begriffe in der Spätzeit der Romantik entschuldigt.

Danke dafür — von Müller für seinen mehr besorgten denn angriffslustigen Tonfall, Steinicke für seine schlichtende Ehrenrettung — ich wäre nämlich gern auf der Seite von Ludwig Börne.

Ludwig Börne teilt sich mit mir den Geburtstag, hat ein beeindruckend durchdachtes Verhältnis zu Goethe, das man ambivalent oder oder objektiv finden mag, hat den heute oft blindlings verehrten Heine jahrelang zur Ordnung gepfiffen, was man ambivalent oder zickig finden mag, gelangt dabei über der einen oder anderen brillanten Formulierung zu ebensolchen Gedankengängen und wird von nur noch wenigen, aber den richtigen Leuten gemocht. Und dann — nach einer Einleitung voll der geballten Verumglimpfung des gesamten Katzentums — das: „Kater Murr und die ihm vorhergegangenen Werke seines Verfassers sind Nachtstücke, nie von sanftem Mondscheine, nur von Irrwischen, fallenden Sternen und Feuersbrünsten beleuchtet.“

Ja, stimmt schon. Das sagt der, als ob es was Schlechtes wäre (in seiner eigenen Zeitschrift Die Wage, 1820). Gut, Börne mag keine Katzenbücher (und offenbar nicht einmal Katzen) mit einem Humor, der heute als gallig durchginge; ein inhaltliches und formales Feuerwerk wie den Murr deswegen als krankhaft und seines Da-Seins unberechtigt hinzustellen finde ich aus dem Wissensschatz des 20. Jahrhunderts heraus, den Börne zwangsläufig nicht erringen konnte, gelinde gesagt bedenklich. Nebenbei bemerkt war Börne, geborener Juda Löb Baruch im Frankfurter Schtetl, bis zu seiner Taufe (am 5. Juni 1818, also 32-jährig) — wenngleich nur sehr gelegentlich praktizierender — Jude, falls das etwas zur Sache aussagt.

Vielleicht passiert das, wenn Journalisten gleichzeitig Literaturkritiker sind. Um Börne mit seiner eigenen Argumentation zu retten: „Ein Streben, das keinen Dank verdient“ — aber eben: „Es muß auch solche Käuze geben.“

——— Ludwig Börne:

Humoralpathologie

in: Die Wage 1820, nach: Sämtliche Schriften, Band 2, Düsseldorf 1964, S. 450 bis 457:

Die Katze gehört zum edlen Geschlechte des Löwen; aber nur der Abschaum königlichen Blutes fließt in ihren Adern. Sie ist ohne Mut, und darum ohne Großmut; ohne Kraft, und darum falsch; ohne Freundlichkeit, und darum schmeichelnd. Der Tag blendet sie, am schärfsten sieht sie im Dunkeln. Sie liebt die Höhen nicht, sie liebt nur das Steigen; sie hat einen Klettersinn und klettert hinauf, um wieder herabzuklettern. Minder widerlich ist selbst ihr tückisches Knurren als ihr zärtliches Miauen. Nicht dem Menschen, der sie wartet, nur dem Hause, worin sie gefüttert worden, bleibt sie treu. Eine entartete Mutter, frißt sie ihre eigenen Jungen. So ist die Katze! So ist auch der Katzenhumor, der in Hoffmanns Kater Murr spinnt. Ich gestehe es offen, daß dieses Werk mir in der innersten Seele zuwider ist, mag man es auch eben so kindisch finden, ein Buch zu hassen, das einem wehe tat, als es kindisch ist, einen Tisch zu schlagen, woran man sich gestoßen. Aber nicht über die genannte Schrift insbesondere, sondern über die darin fortgespielte mißtönende Weise, die auch in allen übrigen Werken des Verfassers uns beleidigend entgegenklingt, über die beständig darüber herziehende, naßkalte, nebelgraue, düstere und anschauernde Witterung will ich einige Worte sagen. Die Überschrift, welche diese Betrachtung führt, ein Wort, dessen Bedeutung die neuere Arzneikunst verwirft, wurde darum gewählt, weil gezeigt werden soll, daß der Humor in den Schriften des Verfassers der Phantasiestücke ein kranker ist. Der gesunde und lebensfrische Humor atmet frei und stöhnt nicht mit enger Brust. Er kennt die Trauer, aber nur über fremde Schmerzen, nicht über eigene. Er berührt die Wunde nicht, die er nicht heilen kann, und reizt sie nie vergebens. Er sieht von der Höhe auf alle Menschen herab, nicht aus Hochmut, sondern um alle seine Kinder mit einem Blicke zu übersehen. Was sich liebt, trennt er, um die Neigung zu verstärken; was sich haßt, vereinigt er, nicht um den Hader, um die Versöhnung herbeizuführen. Er entlarvt den Heuchler und verzeiht die Heuchelei; denn auch die Maske hat ein Menschenantlitz, und in der häßlichen Puppe ist ein schönerer Schmetterling verborgen. Er findet nichts verächtlich als die Verachtung und achtet nichts, weil er nichts verachtet. Nichts ist ihm heilig, weil ihm alles heilig erscheint; die ganze Welt ist ihm ein Gotteshaus, jedes Menschenwort ein Gebet, jede Kinderlust ein Opfer auf dem Altare der Natur. Er zieht den Himmel erdwärts, nicht um ihn zu beschmutzen, sondern um die Erde zu verklären. Er kennt nichts Häßliches, doch verschönt er es, um es gefälliger zu machen. Er liebt das Gute und beklagt die Schlechten; denn das Laster ist ihm auch eine Krankheit und der Tod durch des Henkers Schwert nur eine andere Art zu sterben. Er zürnt mit seinem eignen Zorne, denn nur das Überraschende entrüstet, und nur der Schlafende wird überrascht. Er verspottet seine eigne Empfindung, denn jeder Regung geht Gleichgültigkeit vorher, und jede Vorliebe ist eine Ungerechtigkeit. Er erhebt das Niedrige und erniedrigt das Hohe, nicht aus Trotz, oder um zu demütigen, sondern um beides gleich zu setzen, weil nur Liebe ist, wo Gleichheit. Er tröstet nicht, er unterdrückt das Bedürfnis des Trostes. Stets rettend, lindernd, heilend, verletzt er sich selbst mit scharfem Dolche, um dem Verwundeten mit Lächeln zu zeigen, daß solche Verletzungen nicht tödlich seien. Seine Sorgfalt endet nicht, wenn die Wunde sich geschlossen; Narben sind auch Wunden, die Erinnerung ist auch ein Schmerz; er glättet jene und vernichtet diese. Der Geist der Liebe haucht fort und fort aus ihm, alles befördernd; er treibt das Schiff, wenn es die Gefahren des Meeres, und führt es zurück, wenn es den Hafen sucht – er rechtet nicht mit den Begehrungen der Menschen, denn Suchen beglückt mehr als Finden.

Der gute Geist der Liebe, der versöhnt und bindet und die im Prisma des Lebens entzweiten Farben in den Schoß der Muttersonne zurückführt, jener Geist – er kommt nie ungerufen – beseelt die Werke des Verfassers der Phantasiestücke nicht mit dem leisesten Hauche. Das neckende Gespenst des Widerspruchs, das jede Freude verdirbt und jeden Schmerz verhöhnt, steigt dort, von grauser Mitternacht umgeben, aus dem Grabe aller Empfindungen herauf. Er führt uns auf die höchsten Gipfel, um uns tiefer herabzustürzen, und selbst sein Himmel ist ein unterirdischer. Er dringt in die Tiefe aller Dinge, um ihren geheimnisvollen Wechselhaß, nicht um ihre verschwiegene Liebe zu verraten. Kreisler ist der Unglücklichste aller Verdammten. Er ist ein gestürzter Engel. Die Brücke, welche der gute Humor über alle Spalten und Spaltungen des Lebens führt, reißt der entartete nieder; die Harrenden auf beiden Seiten strecken sich sehnsuchtsvoll die Arme entgegen und verzweifeln um so mehr, je näher die Ufer sind. Selbst die Musik, diese Himmelskönigin, die er liebend verehrt, steht in unerreichbarer Ferne von ihm; sie hört seine Gebete nicht, und nie gab es eine mißtönendere Seele als die jenes Kreisler, der rastlos den Wohllaut sucht und niemals findet, weil der Widerklang im eignen Herzen fehlt.

Empfindsamkeit und Spott sind die beiden Pole, jene der anziehende, dieser der abstoßende des Humors. Aber nur in der Mitte ist der Indifferenzpunkt der Liebe. Wo sie versöhnt zusammentreffen, da schmilzt die eine den Frost des anderen, oder der Spott kühlt säuselnd die Sonnenglut der Empfindung ab. Wenn sie aber auseinander stehen, ist die Empfindsamkeit nur eine gefährliche Abneigung, eine launische Wahlverwandtschaft, die uns mit einem Stoffe verbindet und von tausenden trennt, – und der Spott wird zum Hasse. So in seine Bestandteile gespalten, erscheint der Humor in den genannten Werken, und ganz so, wie er dem Meister Abraham tadelnd zugeschrieben wird, nicht „als jene seltene wunderbare Stimmung des Gemüts, die aus der tiefern Anschauung des Lebens in all seinen Bedingnissen, aus dem Kampf der feindlichsten Prinzipe sich erzeugt, sondern nur durch das entschiedene Gefühl des Ungehörigen, gepaart mit dem Talent, es ins Leben zu schaffen, und der Notwendigkeit der eignen bizarren Erscheinung. Dieses war die Grundlage des verhöhnenden Spottes, den Liscov überall ausströmen ließ, der Schadenfreude, mit der er alles als ungehörig erkannte, rastlos verfolgte, bis in die geheimsten Winkel.“ Kreisler hat sich selbst das Urteil gesprochen: nicht anders ist sein eigner Humor. Ein zerrissenes Gemüt, ein alles zerreißender Spott. Seine Gefühle sind nur Verzerrungen, nicht rührender als das Zucken des Froschschenkels an der galvanischen Säule, und der Friede seines Gemüts zeigt nur die Ruhe einer Maske. Was die Natur am innigsten verwebte, zieht er in die Fäden der Kette und des Einschlags auseinander, um hohnlächelnd ihre feindlichen Richtungen zu zeigen. Daher auch seine harten Schmähungen, mit welchen er diejenigen verfolgt, die an musikalischen Spielen ihre Lust finden und welchen die Kraft oder Neigung fehlt, die Kunst als heiligen Ernst zu fassen und auszuüben. Kreisler fordert unduldsam, seine Göttin solle, gleich dem grausamen Gotte der Juden, dem auserwählten kleinen Volke der Künstler ausschließlich zugehören. Noch nie haben Priester den Tempel, den sie bewahren, Gläubigen verschließen wollen! Musik ist Gebet; ob nun das Kind es herstammele, ob der rohe Mensch in roher Sprache es halte, ob der Gebildete in sinnigen geistvollen Worten – der Himmel hört sie mit gleicher Liebe an und gibt jedem den Widerklang seiner Empfindung als Trost zurück. Das Gassenlied, das den rohen Gesellen hinauftreibt, ist so ehrwürdig als die erhabenste Dichtung Mozarts, die ein empfängliches Ohr begeistert. Und welche Musik ist beglückender, die berauschende des wahnsinnigen Kapellmeisters, die als Bacchantin und Furie das Herz durch alle Wonnen, durch alle Qualen peitscht, oder die sanft erwärmende, die still erfreut und täglich und häuslich genossen werden kann? Darf man eine Freude zerstören, weil man sie verwirft und nicht teilen mag? Warum gegen die musikalischen Tändeleien eifern, da durch sie allein die ernste Kunst fortgepflanzt wird, weil jede Größe in Kunst und Wissenschaft nur die zusammengezogene Zahl vorhergehender kleinerer Zahlen ist, und da kein Gut an die Stelle des Genusses käme, wenn nicht seines Wertes unkundige Fuhrleute, sich mit dem Ertrage des Gewichtes begnügend, es weiter brächten?

Kater Murr und die ihm vorhergegangenen Werke seines Verfassers sind Nachtstücke, nie von sanftem Mondscheine, nur von Irrwischen, fallenden Sternen und Feuersbrünsten beleuchtet. Alle seine Menschen stehen auf der faulen wankenden Brücke, die von dem Glauben zum Wissen führt; unter ihnen droht der Abgrund, und die erschrockenen Wanderer wagen weder vorwärts zu schreiten noch zurück und harren unentschlossen, bis die Pfeiler einstürzen. Das ist seine Stärke, seine Wissenschaft und seine Kunst, – die Geisterwelt aufzuschließen, zu verraten das Leben der leblosen Dinge, an den Tag zu bringen die verborgenen Fäden, womit der Mensch, und der glückliche, ahndungslos gegängelt wird; jede Blume als ein lauerndes Gespensterauge, jeden freundlich sich herüberneigenden Zweig als den ausgestreckten Arm einer zerstörenden dunklen Macht erscheinen zu lassen. Es ist der dramatisierte Magnetismus, und wenn das Konversationslexikon von jenem Schriftsteller bemerkt: daß er durch die grellsten Dissonanzen zur harmonischen Auflösung durchdringe, so ist ja eben in dieser Auflösung das Anschauernde, Unheimliche, Verletzende.

Eine unerklärliche schreckliche Erscheinung wird dem Erzähler nicht geglaubt und mag als Werk der Einbildungskraft erheitern; aber sobald er sie natürlich erklärt und so den Glauben erzwingt, weckt er den Menschen aus seiner fröhlichen Sorglosigkeit, zieht ihn von den freundlich lichten Höhen in den dunklen Abgrund hinab, wo die zerstörende Natur unter Scherben und Leichen sitzt. Ein Streben, das keinen Dank verdient:

Es freue sich,
Wer da atmet im rosigen Licht;
Da unten aber ist’s fürchterlich!
Und der Mensch versuche die Götter nicht,
Und begehre nimmer und nimmer zu schauen,
Was sie gnädig bedecken mit Nacht und Grauen.

Nur allein die Liebe, die ihm mangelt, kann dem Verfasser des Kater Murr Verzeihung gewähren selbst für diesen Mangel, und wir endigen besänftigt und besänftigend mit den Worten, die Faust seiner den Unhold ahnenden Margaretha sagt:

Es muß auch solche Käuze geben.

Daniel Nilsson, Homeless in Rain, 25. Juli 2016

BIlder: Daniel Nilsson: Kitten Discover Water from Sky und Homeless in Rain, 25. Juli 2016:

We met a new friend in the rain in a jungle village at the Azores. We found this little fellow with a plate with white bread and no mum in sight! Probably she needs a proper home. Sadly we could not help this little one. :(

Es war gar nicht so einfach, Bilder von kranken Katzen mit einem gewissen ästhetischen Anspruch aufzutreiben, die weder einem medizinischen Zweck noch einem niederen Voyeurismus folgen. Die obigen finde ich immer noch grenzwertig genug. Nennen wir sie dokumentarisch.

Katzenjammer: My Dear, aus: Rockland, 2015:

When my white face withers
When my skin turns gray
When the drama’s over
Then will you still stay?

Written by Wolf

19. Januar 2018 at 00:01

Veröffentlicht in Das Tier & wir, Junges Deutschland

Die Lust des Mittelstands

leave a comment »

Update zu Siehst du,
Frames in Zitaten (in Frames) und
Die Brahmsianer können ja derweil aufs Klo:

Da ist uns der Alfred Kerr letzten ersten Weihnachtsfeiertag 150 geworden und keiner hat’s gemerkt. Jedenfalls nicht viele, die wenigstens theoretisch noch Freude an seiner Brillanz haben könnten.

dpa, picture alliance, Der Theaterkritiker Alfred Kerr in einer undatierten Karikatur, Deutschlandfunk Kultur, 29. Dezember 2017

Der 17 Jahre jüngere Thomas Mann hatte nicht immer seine Freude an Alfred Kerr, das alte Lied zwischen Literaten und Literaturkritikern — und zwischen Thomas Mann und ihm übergeordneten Vaterfiguren. Beiderlei Verhältnisse wird man zweifellos in der monumentalen Thomas-Mann-Biographie von Peter de Mendelssohn aufgedröselt finden, über die man Wunderdinge hört.

Lovis Corinth, Alfred Kerr, 1907Leider konnte ich das selbst noch nicht näher nachlesen. Wir reden über drei keineswegs schmächtige Bände, die dabei immer noch Fragment geblieben sind: Bis zu de Mendelssohns Tod 1982 sind nur zwei Bände erschienen. Sein Vorteil war, Thomas Mann persönlich zu kennen — so intim wie kaum sonst jemand, weil er für den S. Fischer Verlag seine Tagebücher herausgab. Mit Thomas Mann gut auskommen und ihn zu größeren Projekten überreden, das war nicht jedem vergönnt. Da muss man nur seine Kinder fragen, deren er sechse hatte, von denen im Laufe der Schicksale mindestens drei an den Selbstmord und „ungeklärte Umstände“ verloren gingen. Rein quantitativ ein tragisch bewegtes Familienleben für eine ungeouteten Schwulen. Natürlich muss das nichts heißen.

Hellhörig wird man über den auffindbaren Auszügen aus obgenannter Biographie angesichts der Beschreibung eines Gedichts von Alfred Kerr. Sie besteht aus einem denkbar kurzen Absatz, in dem alles steht, was man über ein Gedicht wissen will. Jedenfalls hat das Nachgoogeln auch nicht mehr ergeben als dieses Nebenthema aus einer Biographie von 1975. Wenn sie überall so dicht gewoben ist: Respekt, da hätte Thomas Mann vielleicht doch noch an seinem eigenen Spottgedicht ein bisschen Freude haben können.

——— Peter de Mendelssohn:

Der Zauberer — Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann

Erster Teil: 1875 bis 1918, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1975:

Es gibt ein Spottgedicht von Alfred Kerr auf Thomas Mann, betitelt Thomas Bodenbruch. Es hat sich nicht ermitteln lassen, wann es entstand und wo Kerr es erstmals veröffentlichte; wir kennen es nur aus dem Gedichtband Caprichos, den er 1926 herausgab. Es ist jedoch mit seiner Anspielung auf Buddenbrooks [erschienen 1901] zweifellos viel früheren Datums und stammt möglicherweise aus dieser Zeit, in der Kerrs Animosität gegen Thomas Mann, anläßlich der Berliner Fiorenza-Aufführung [Erstdruck 1906, Uraufführung 1907], ihren Höhepunkt erreichte. Thomas Mann hat, soweit ersichtlich, dieses Spottgedicht nirgends erwähnt, aber er hat es gewiß gekannt; es ist ihm spätestens bei der Veröffentlichung in Kerrs Gedichtband zur Kenntnis gelangt.

Besser hätte ich’s nicht sagen können. Im Gegenteil. — Die zuverlässigste Version des Gedichts:

——— Alfred Kerr:

Thomas Bodenbruch

aus: Caprichos. Strophen des Nebenstroms,
I. M. Spaeth Verlag, Berlin 1926, Seite 168 bis 170:

I.

Als Knabe war ich schon verknöchert;
Ob knapper Gaben knurr-ergrimmt.
Hab dann die Littratur gelöchert
Mit Bürger- und Patrizierzimt.
Sprach immer stolz mit Breite
Von meiner Väter Pleite.

II.

Ich dichte nicht — ich drockse.
Ich träume nicht — ich ochse.
Ich lasse Worte kriechen,
Die nach der Lampe riechen,
Ich ledernes Kommis’chen.

Ich kenne keine Blitze,
Kein Feuer, das erhitzt.
Ich schreibe mit dem Sitze,
Auf dem man sitzt.

Im Grund bin ich nicht bös —
Nur skrophulös.

III.

Voll hemmender Bedenklichkeit
Und zaudernder Entfaltung,
Staffier‘ ich meine Kränklichkeit
Als „Haltung“.

IV.

Meist hock‘ ich, ein gereiztes Lamm.
Musiklos, aber arbeitsam.

Mein Zustand zeugt geheime Tücke
(Man ist nicht eben ein Genie) —
Romane werden …. Schlüsselstücke:
„Das geht auf Den!“, „Das geht auf Die!“
Ich male zur Genüge
(Ach, mühsam, teigig, tonig)
Die körperlichsten Züge —
Mich selbst verschon‘ ich …

V.

Und bin doch ein ganz armer Hase,
Im Busenwinkel bang und trist:
Mich giftet meine Kolbennase,
Die mißgeschaffen ist.
Der Schlüssel, der die Schlüsselwerke
In ihrem letzten Grund erschließt,
Ist meine eigne Rüsselstärke,
Die mich verdrießt.

Bald meint‘ ich unsren Arzt „damit“,
Igittigitt!
Bald war es meine Tante,
Nöch, von der Wasserkante.

Ich habe manchmal still geplärrt
Und starrte stier auf meinen Stecher —

Dann mal‘ ich andre dick verzerrt:
So Holitscher als schiechen Schächer
(Zahnstockiges Jammerbild) — —
Und wüte, wenn ein heitrer Rächer
Mit gleichen Mitteln es vergilt …
(Wie scheußlich, wenn mein dünnes Gift
Mich selber trifft!)

VI.

Ein Trost: ich schlage den Rekord
Im Gründlichen, Langstieligen,
Ich bleibe nach wie vor ein Hort
Gebildeter Familien.
Sie äußern keinen Widerspruch
Und schätzen Thomas Bodenbruch.
Ich bin doch voll und ganz
Die Lust des Mittelstands.

Judith Kerr, Ein Foto von Alfred Kerr hängt 1961 im Münchner Theatermuseum, Der Tagesspiegel, 7. Mai 2014

Bilder: dpa/picture alliance: Der Theaterkritiker Alfred Kerr (1867–1946) in einer undatierten Karikatur,
via Christian Blees: Die zwei Gesichter des Alfred Kerr: „Ich sage, was zu sagen ist“,
Deutschlandfunk Kultur, Zeitfragen, 29. Dezember 2017;
Lovis Corinth: Alfred Kerr, 1907,
via Jeremy Adler: The culture pope, The Times Literary Supplemet, 26. Juli 2017;
Judith Kerr/dpa via Peter von Becker: Sein erster Weltkrieg:
Ein Foto von Alfred Kerr hängt 1961 im Münchner Theatermuseum, Der Tagesspiegel, 7. Mai 2014.

Soundtrack: Mischa „Arno Billing“ Spoliansky (Musik)/Kurt Schwabach (Text),
Orchester Marek Weber: Das lila Lied, 1921:

Was will man nur?
Ist das Kultur,
dass jeder Mensch verpönt ist,
der klug und gut,
jedoch mit Blut
von eigner Art durchströmt ist,
dass grade die
Kategorie
vor dem Gesetz verbannt ist,
die im Gefühl
bei Lust und Spiel
und in der Art verwandt ist?

Written by Wolf

12. Januar 2018 at 00:01

Veröffentlicht in Novecento, Weisheit & Sophisterei

Ich sing euch von dem Mörder, der sich selbst hat entleibt

leave a comment »

Update zu Wenn man etwas Bildung hat (Die Moritat vom jungen Friedrich Kolbe):

Eine entsetzliche Mordgeschichte von dem jungen Werther, wie sich derselbe den 21. December durch einen Pistolenschuß eigenmächtig ums Leben gebracht. Allen jungen Leuten zur Warnung in ein Lied gebracht, auch den Alten fast nutzlich zu lesen. Im Thon Hört zu ihr lieben Christen etc. 1776.Anno 1774 und danach setzte die Parodienbildung um Goethes Über-Best- und Longseller Die Leiden des jungen Werthers — erst ab der überarbeiteten Fassung 1787 ohne Genitiv-s — praktisch sofot ein und riss bis heute noch nicht wieder ab. Johann Heinrich Gottfried von Bretschneider wird heute als Bibliothekar und Kunstsammler aus dem Thüringischen geführt, von seinem Regiment allerdings schon als bücheraffiner Offizier, zur Zeit seines hauptsächlichen Wirkens im Range eines Gubernialrats, und etwas inoffizieller als Satiriker. Das heißt unter vielem anderen, er neigte zum Verfertigen von Bänkelsang.

Mit seiner Wertheriade von 1775 kommt Bretschneider in der wichtigen Anthologie von Bänkelliedern Musenklänge aus Deutschlands Leierkasten, Verlag von Hernhard Schlicke, Leipzig 1867, an breitenwirksamer Stelle vor — geadelt durch einen ganzen Satz Illsutrationen von Ludwig Richter.

Erstveröffentlichung war schon 1776 als Einzelheft, was bedeutet: mit Aussicht auf größere Verbreitung, allerdings anonym und ohne Angabe des Verlagsorts. Dafür lässt sie prominentere Veröffentlichung in den Musenklängen die Strophe mit „Er sah, beklebt mit Rotze“ weg. Die Melodie ist ein seinerzeit bekanntes Kirchenlied und kann den einfachen Noten im .pdf der Urfassung entnommen werden, der vollständige Text — hier mit Richters Illustrationen — lautet:

——— Heinrich Gottfried von Bretschneider:

Eine entsetzliche Mordgeschichte
von dem jungen Werther,

wie sich derselbe den 21. December durch einen Pistolenschuß eigenmächtig ums Leben gebracht.
Allen jungen Leuten zur Warnung in ein Lied gebracht,
auch den Alten fast nutzlich zu lesen

Im Thon: Hört zu ihr lieben Christen etc.

1776:

Ludwig Richter, 1848, Heinrich Bretschneider, Werther, 1775Hört zu, ihr Junggesellen
Und ihr Jungfräulein zart,
Damit ihr nicht zur Höllen
Aus lauter Liebe fahrt.

Die Liebe, traute Kinder!
Bringt hier auf dieser Welt
Den Heil’gen wie den Sünder
Um Leben, Gut und Geld.

Ich sing‘ euch von dem Mörder,
Der sich selbst hat entleibt,
Er hieß: der junge Werther,
Wie Doctor Göthe schreibt.

So witzig, so verständig,
So zärtlich als wie er,
Im Lieben so beständig
War noch kein Sekretair.

Ein Pfeil vom Liebesgotte
Fuhr ihm durch’s Herz geschwind.
Ein Mädchen, sie hieß Lotte,
War eines Amtmanns Kind.

Die stand als Vice-Mutter
Geschwistern treulich vor,
Die schmierte Brod mit Butter
Dem Fritz und Theodor,

Ludwig Richter, 1848, Heinrich Bretschneider, Werther, 1775Dem Liesgen und dem Kätgen —
So traf sie Werther an
Und liebte gleich das Mädchen
Als wär’s ihm angethan.

Wie in der Kinder Mitte
Sie da mit munterm Scherz
Die Butterahmen schnitte —
Da raubt‘ sie ihm das Herz.

Er sah, beklebt mit Rotze
Ein feines Brüderlein
Und küßt‘ dem Rotz zum Trotze
An ihm, die Schwester sein.

Fuhr aus, mit ihr zu tanzen
Wohl eine ganze Nacht,
Schnitt Menuets der Franzen
Und walzte, daß es kracht‘.

Sein Freund kam angestochen
Blies ihm ins Ohr hinein:
Das Mädchen ist versprochen
Und wird den Albert freyn.

Da wollt‘ er fast vergehen,
Spart‘ weder Wunsch noch Fluch,
Wie alles schön zu sehen
In Doctor Göthes Buch.

Kühn ging er, zu verspotten
Geschick und seinen Herrn,
Fast täglich nun zu Lotten,
Und Lotte sah ihn gern.

Ludwig Richter, 1848, Heinrich Bretschneider, Werther, 1775Er bracht den lieben Kindern
Lebkuchen, Marcipan,
Doch alles konnt’s nicht hindern,
Der Albert wurd ihr Mann.

Des Werthers Angstgewinsel
Ob diesem schlimmen Streich
Mahlt Doctor Göthes Pinsel
Und keiner thut’s ihm gleich.

Doch wollt er noch nicht wanken
Und stets bei Lotten seyn,
Dem Albert macht’s Gedanken,
Ihm träumte von Geweyhn.

Herr Albert schaute bitter
Auf die Frau Albertin —
Da bat sie ihren Ritter:
„Schlag mich dir aus dem Sinn.

Geh fort, zieh in die Fremde,
Es giebt der Mädchen mehr –“
Er schwur beim letzten Hemde,
Daß sie die einz’ge wär.

Als Albert einst verreiste
Sprach Lotte: „bleib von mir!“
Doch Werther flog ganz dreiste
In Alberts Haus zu ihr.

Ludwig Richter, 1848, Heinrich Bretschneider, Werther, 1775Da schickte sie nach Frauen
Und leider keine kam, —
Nun hört mit Furcht und Grauen,
Welch Ende alles nahm.

Der Werther las der Lotte
Aus einem Buche lang,
Was einst ein alter Schotte
Vor tausend Jahren sang.

Es war gar herzbeweglich,
Er fiel auf seine Knie
Und Lottens Auge kläglich
Belohnt ihm seine Müh.

Sie strich mit ihrer Nase
Vorbey an Werthers Mund,
Sprang auf als wie ein Hase
Und heulte wie ein Hund.

Lief in die nahe Kammer,
Verriegelte die Thür
Und rief mit großem Jammer:
„Ach, Werther, geh von mir!“

Ludwig Richter, 1848, Heinrich Bretschneider, Werther, 1775Der Arme mußte weichen,
Alberten, dem’s verdroß,
Konnt’s Lotte nicht verschweigen,
Da war der Teufel los!

Kein Werther konnt‘ sie schützen,
Der suchte Trost und Muth
Auf hoher Felsen Spitzen
Und kam um seinen Hut.

Zuletzt ließ er Pistolen
Im Fall es nöthig wär
Vom Schwager Albert holen,
Und Lotte gab sie her.

Weil’s Albert so wollt‘ haben,
Nahm sie sie von der Wand
Und gab sie selbst dem Knaben
Mit Zittern in die Hand.

Nun konnt er sich mit Ehre
Nicht aus dem Handel ziehn,
Ach Lotte! die Gewehre
Warum gabst du sie hin ?

Ludwig Richter, 1848, Heinrich Bretschneider, Werther, 1775Alberten recht zum Possen
Und Lotten zum Verdruß,
Fand man ihn früh erschossen,
Im Haupte stack der Schuß.

Es lag, und das war’s beste,
Auf seinem Tisch ein Buch,
Gelb war des Todten Weste
Und blau sein Rock, von Tuch.

Als man ihn hingetragen
Zur Ruh‘ bis jenen Tag,
Begleit’n ihn kein Kragen
Und auch kein Ueberschlag.

Man grub ihn nicht in Tempel,
Man brennte ihm kein Licht,
Mensch, nimm dir ein Exempel
An dieser Mordgeschicht!

Bänkelsänger, nach einer Radierung von J. W. Meil, 1765

Bilder: Ludwig Richter, 1848, nach Fritz Breucker: Ludwig Richter und Goethe, G. Teubner, Leipzig 1926,
via Goethezeitportal, Mai 2015.

Soundtrack: The Dead South: In Hell I’ll Be In Good Company, aus: Good Company, 2014:

Dead Love couldn’t go no further
Proud of and disgusted by her
Push shove, a little bruised and battered
Oh Lord I ain’t coming home with you.

Written by Wolf

6. Januar 2018 at 00:48

Wir rechnen jahr auff jahre / in dessen wirdt die bahre vns für die thüre bracht

leave a comment »

Update zu Zwischenmaschine:

Ich war im Stillen herzlich erfreut gestern Abend mit Ihnen das Jahr und da wir einmal Neunundneunziger sind auch das Jahrhundert zu schließen. Lassen Sie den Anfang wie das Ende sein und das künftige wie das vergangene.

Goethe an Schiller, Weimar am 1. Januar 1800.

Zweifarbig lackiertDamit das Jahr anfängt, wie es aufgehört hat, musste man sich sich auf die alte Tugend der Wollust besinnen, die Wölfin hat sich die Zehennägel gleich zweifarbig lackiert und wurde während einiger freundlicher Begegnungen zu Bette unversehens dermaßen laut, dass unser einst liebgewordener Spanner uns am Erdgeschoßfenster wiederenteckt hat, und Sie hätten mir jetzt fast geglaubt:

Das süsse jubiliren /
Das hohe triumphiren
Wirdt oft in hohn vnd schmach verkehrt.

Siehe unten: Wir unterscheiden nach Prediger Salomos tautologischem Spruch vanitas vanitatum et omnia vanitas (Kohelet 1,2) Andreas Gryphius‘ Sonett Es ist alles eitel, 1637 in Alexandrinern, von dessen späterer Ode Vanitas! Vanitatum Vanitas!, 1643 in dreihebigen Jamben — also in einer Art aufgeteilten und aufgelockerten Alexandrinern mit vierhebiger Variation in den letzten Strophenversen, die gleich wesentlich mehr Rock’n’Roll ins Metrum tragen. Goethe bezieht sich in seinem Gedicht Ich hab mein Sach auf Nichts gestellt 1806 qua Überschrift und Metrum eindeutig auf Gryphius‘ Ode, parodiert aber inhaltlich Adam Reusner: Ich hab mein Sach Gott heimgestellt, 1533 in der Melodie von Johann Leon, 1589.

Theoretisch passen auf den Text die Melodien von Innsbruck, ich muss dich lassen und Der Mond ist aufgegangen. — Theoretisch, hab ich gesagt.

Gesegnetes 2018.

Titti Garelli, Vanitas

——— Andreas Gryphius:

Vanitas! Vanitatum Vanitas!

Ode, 1643:

Die Herrlikeit der Erden
Mus rauch undt aschen werden /
Kein fels / kein ärtz kan stehn.
Dis was vns kan ergetzen /
Was wir für ewig schätzen /
Wirdt als ein leichter traum vergehn.

Was sindt doch alle sachen /
Die vns ein hertze machen /
Als schlechte nichtikeit?
Waß ist der Menschen leben /
Der immer vmb mus schweben /
Als eine phantasie der zeit.

Der ruhm nach dem wir trachten /
Den wir vnsterblich achten /
Ist nur ein falscher wahn.
So baldt der geist gewichen:
Vnd dieser mundt erblichen:
Fragt keiner / was man hier gethan.

Es hilfft kein weises wissen /
Wir werden hingerissen /
Ohn einen vnterscheidt /
Was nützt der schlösser menge /
Dem hie die Welt zu enge /
Dem wird ein enges grab zu weitt.

Dis alles wirdt zerrinnen /
Was müh‘ vnd fleis gewinnen
Vndt sawrer schweis erwirbt:
Was Menschen hier besitzen /
Kan für den todt nicht nützen /
Dis alles stirbt vns / wen man stirbt.

Was sindt die kurtzen frewden /
Die stets / ach! leidt / vnd leiden /
Vnd hertzens angst beschwert.
Das süsse jubiliren /
Das hohe triumphiren
Wirdt oft in hohn vnd schmach verkehrt.

Du must vom ehre throne
Weill keine macht noch krone
Kan vnvergänglich sein.
Es mag vom Todten reyen /
Kein Scepter dich befreyen.
Kein purpur / gold / noch edler stein.

Wie eine Rose blühet /
Wen man die Sonne sihet /
Begrüssen diese Welt:
Die ehr der tag sich neiget /
Ehr sich der abendt zeiget /
Verwelckt / vnd vnversehns abfält.

So wachsen wir auff erden
Vnd dencken gros zu werden /
Vnd schmertz / vnd sorgenfrey.
Doch ehr wir zugenommen /
Vnd recht zur blütte kommen /
Bricht vns des todes sturm entzwey.

Wir rechnen jahr auff jahre /
In dessen wirdt die bahre
Vns für die thüre bracht:
Drauff müssen wir von hinnen /
Vnd ehr wir vns besinnen
Der erden sagen gutte nacht.

Weil uns die lust ergetzet:
Vnd stärcke freye schätzet;
Vnd jugendt sicher macht /
Hatt vns der todt gefangen /
Vnd jugendt / stärck vnd prangen /
Vndt standt / vndt kunst / vndt gunst verlacht!

Wie viel sindt schon vergangen /
Wie viell lieb-reicher wangen /
Sindt diesen tag erblast?
Die lange räitung machten /
Vnd nicht einmahl bedachten /
Das ihn ihr recht so kurtz verfast.

Wach‘ auff mein Hertz vndt dencke;
Das dieser zeitt geschencke /
Sey kaum ein augenblick /
Was du zu vor genossen /
Ist als ein strom verschossen
Der keinmahl wider fält zu rück.

Verlache welt vnd ehre.
Furcht / hoffen / gunst vndt lehre /
Vndt fleuch den Herren an /v
Der immer könig bleibet:
Den keine zeitt vertreibet:
Der einig ewig machen kan.

Woll dem der auff ihn trawett!
Er hat recht fest gebawett/
Vndt ob er hier gleich fält:
Wirdt er doch dort bestehen
Vndt nimmermehr vergehen
Weil ihn die stärcke selbst erhält.

Burgfräulein von Strechau, 17. Jahrhundert

Bilder: Titti Garelli: Vanitas, Acryl auf Holz, verkauft;
N. N.: Burgfräulein von Strechau, Ölgemälde, 17. Jahrhundert,
Kunsthistorisches Museum Benediktinerstift Admont.
Sie soll rotblond gewesen sein.

Die Wölfin so: „Deine Creative-Writing-Kundschaft glaubt hoffentlich nicht alles, was geschrieben steht?“ Ich so: „Meine umfassend gebildete Zielgruppe glaubt Bilder.“ Die Wölfin so: „Um Gottes willen, dass du einen Sprung hast. Nimm das sofort raus, du Familiensparhengst.“ Ich so: „Jahahaha.“

Soundtrack: Element of Crime: Der weiße Hai, aus: Immer da wo du bist bin ich nie, 2009:

Written by Wolf

2. Januar 2018 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Vier letzte Dinge: Tod

Gute Vorsätze 1650–2018

leave a comment »

Update zu Cit. Schmidt, A., Faust IV, 1960
und Historische Post vom Verleger:

——— Friedrich von Logau:

Das neue Jahr.

1650, aus: Salomons von Golaw deutscher Sinn-Getichte andres Tausend.
Desz andren Tausend andres Hundert:

Son verschwommenen Lyriker-Typ, Will lieber nicht kritisiert werden, dafür aber Radioaufträge. Großmeister Schmidt, in Bargfeld residierend, ca. 1972Abermals ein neues Jahr! immer noch die alte Noth! —
O das Alte kümmt von uns, und das Neue kümmt von Gott.
Gottes Güt ist immer neu; immer alt ist unsre Schuld;
Neue Reu verleih‘ uns Herr und beweis‘ uns alte Huld!

——— Arno Schmidt:

Aus dem Leben eines Fauns

1953, Bargfelder Studienausgabe Band 1, Seite 335:

Müssen gute Vorsätze gehalten werden, oder ist es ausreichend, daß man sie faßt ? !

~~~\~~~~~~~/~~~

Bild: So’n verschwommenen Lyriker-Typ: Will lieber nicht kritisiert werden, dafür aber Radioaufträge: Großmeister Schmidt, in Bargfeld residierend, ca. 1972,
via Tilman Spreckelsen: Der erste Leser. Martin Walser und Arno Schmidt,
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. März 2017.

Alte Schuld und neue Reu: Anti Cornettos: Korsakov Syndrom, aus: Dohuggandedeoiweidohuggan, 2014:

Written by Wolf

1. Januar 2018 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Nahrung & Völlerei