Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Archive for November 2012

Totensonntag

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[Das mag ich wirklich. Letzten Totensonntag stand es in Moby-Dick™ und dem freitag!-Logbuch.

Heuer erscheint es überarbeitet zum Gedenktag der Heiligen Katharina von Alexandrien, der Schutzpatronin der Schulen, philosophischen Fakultäten, Näherinnen, Schneiderinnen, Mädchen, Jungfrauen, Nonnen, Heiratswilligen, Ehefrauen, Ritter, Ammen, Philosophen, Theologen, Gelehrten, Lehrer, Studenten, Redner, Advokaten, Bibliothekare, Wagner, Müller, Bäcker, Töpfer, Gerber, Spinner, Tuchhändler, Seiler, Schiffer, Buchdrucker, Sekretäre, Anwälte, Notare, Waffenschmiede, Schuhmacher, Frisöre, Scherenschleifer und aller Berufe, die mit Rädern zu tun haben, Krankenhäuser, Hochschulen und Bibliotheken sowie mehrerer Städte.

Einmal hab ich’s laut gelesen, es funktioniert für einen oder drei Sprecher (Erzähltext und Ich-Figur, Petrus, Jesus); nichts einzuwenden ist gegen einen Mädchensprechchor, der im Hintergrund dezent frohlockt. Alle sollten geläufig Bildungsbairisch können — also ungefähr wie Martina Schwarzmann oder Bruno Jonas. Die Aussage ist ähnlich der von Lessings Ringparabel, bloß existenzieller.

Ich gebe es frei zur Aufführung, bitte mit Quellenangabe. Wer eine Sound-Datei davon zugänglich macht, kriegt ein Buch von mir geschenkt.]

~~~\~~~~~~~/~~~

Der Eingang sieht aus wie die Stufen zur Glyptothek. Nicht das, was man einladend nennt, oder was man normalerweise träumt. Aber einmal muss da jeder durch. Wenn schon nicht einmal im Leben, dann eben jetzt, wo ich gestorben bin. Jedenfalls vermute ich das.

Wie immer in solchen großklassizistischen Einschüchterungsbauten darf ich nicht durch eine Flügelpforte, die sich vor meiner Majestät beiseite schiebt, sondern muss durch den unspektakulären Windfang hinter den Säulen. An einem marmornen Tisch, an dem man in der Glyptothek Eintritt bezahlen würde, sitzt ein Rauschebart in einer Art Bademantel und tippt zehnfingrig in einen Laptop. Kein Apple, stelle ich fachmännisch fest. Links daneben ein Stapel unausgefüllter Formulare, rechts ein Stapel ausgefüllter.

Jan van Eck, Marienaltar, Dresdner Triptychon, rechter Flügel, Hl. Katharina von Alexandrien, um 1437„Grüß Gott.“ Beim Reinkommen grüßt man. Schon rein vorsichtshalber.

„Griaß Eahna. Moment, i mach schnell no die Seele vor Eahna fertig.“

Tipp, tipp, tipp. — Klack!

„So! Grüß Gott!“

„Ich soll hier anscheinend vorsprechen oder so.“

„Jaja, des hat scho sei Richtigkeit. Was führt Sie zu uns, wissens des, könnens des sagn?“ Petrus nimmt ein Blatt vom unausgefüllten Stapel und einen Zimmermannsbleistift.

„Na, weil i gstorbm bin, nehm i an.“

„Jaja, des is die Voraussetzung, dass Sie vorglassen wern. Aber an was Sie gstorben san, könnens des aa sagn?“

„I glaub, i hab einen Kalauer zuviel grissen. Über die Namen von Gottfried Benn und Ben Cartwright.“

„Au weh zwick. Da könnens von Glück sagen, dass Sie bei sowas überhaupt no rauf zu mir kommen. Normalerweis gengen solche Bestände glei nahtlos zum Kollegen owewartse, wenns ma folgen können. Ohne lange Fegefeuerzuteilung.“

„Ich weiß es zu schätzen.“

„Des is scho recht. Des kann bloß daher kommen, dass Sie sowieso dran gwesn wärn — wann Sie no von der Generation übrig san, de wos no den Ben Cartwright kennt.“

„Ja … Was mach ma dann jetza mit mir? Komm i da etz in Himmel nei oder für was hab i mi da die ganzen Jahrzehnte abkaschpert, Herr Petrus?“

„Da schaung ma jetztn, dann sehng mas glei. Aber Petrus. Einfach Petrus. Ohne Herr oder Sir oder Sahib oder -san, wir hams herobm net so mit die Titel und Dienstgrade. Aber Sie san doch aus Europa, wenn ich Ihren Dialekt richtig einordn, nent? Irgendwas Nördlichs bestimmt. Österreich, Irland, Lappland oder was da alles liegt.“

„Deutschland“, sag ich. „München, ursprünglich aber Nürnberg, bloß den Zungenschlag nie losworn.“

„Aaach, gengans ma zuawe. Franken oder Frankreich, Wales oder Wallis, Galizien oder Gallizien, und des dritte vo de zwoa habts scho wieder eigstampft, und des München in der Oberpfalz is nach Dings eingmeindet.“

„Nach Hirschbach. Kenn i scho, da wolltns amal a Brauerei ham. Münchner Bier aus der Oberpfalz, dass i net lach. Für den Baugrund hättns fast no was rauskriegt.“

„Aber Sie! In der Oberpfalz, da hams fei aber oft a richtig grüawigs Bier! Bei Etzelwang in der Näh, da hab i moi …“

„Scho. Aber bei die zweiahalb Hektoliter Ausstoß pro Jahr hält si ja nix. Des grenzt bei dene immer an Schwarzbrennerei als Hobby.“

„Manchmoi bin i direkt froh, dass i nimmer so vui rumkumm. Ma kummt echt nimmer mim Zuaschaun nache bei eich.“

„Wos Galizien sagn. Mei Urgroßvater war glaub i noch aus Czernowitz.“

„Is des net neilich explodiert?“

„Naa, des war Tschernobyl, war des. Czernowitz müsst scho no wo rumsteh.“

„Omeiomei, ein Gfrett, was ihr habts. Na Hauptsach, ihr kennt eich aus.“

„Ach, fei aa net wirklich.“

„Aber Deutschland is gut. De Deitschn kamma fast ganz unbürokratisch von der oana auf die andre Autorität umgwöhnen, des ham mir anno 510, 820 und 1945 zuletzt mit eich probiert. Dankbars Publikum, da in Deutschland.“

„Und 1918?“

Petrus denkt nach. „Naa, des war koa so rechter Autoritätenwechsl. Bloß andere Titel. Umgekehrt wie 1989, verstengens?“

„Glaub scho, so ungefähr.“

„Glaubm is auch gut. München, München, München … Da seids ihr doch gern so katholisch und evangelisch und wie des alles bei euch heißt, gell?“ Petrus rudert mit den Händen nach den Wörtern und amüsiert sich ein Loch in die Toga.

„Ausgetreten, noch die katholische Grundausbildung“, knurre ich durchs Gebiss.

„Recht hams, guader Moo, recht hams! Ihr Zeigl glaubm könnens auch daheim.“

„Des hätt i jetz als letztes glaubt, dass aus der Kirch austretn bei Ihnen a Bonus sei könnt.“

„Ach, gehns. Was da der Junior vor zweitausend Jahr in eierm Judäa drunt amal gaudihalber für an Fischerverein aufgmacht hat, des spielt heut nimmer so die Rolln.“

„Jesus is gaudihalber am Kreuz gstorbm?“

„Wos glaum denn Sie? Der Moo is a Drittl Dreifaltigkeit, der is allmächtig. Der lebt und der stirbt wann und wiarer mog.“

„Ham Sie wieder recht.“

„Aber warns bei einer parakirchlichen Vereinigung? Sans bittschön gleich ehrlich, Ihre Angaben wern leider nomal prüft. Scientology und Opus Dei waar jetzat schlecht, Freimaurer waar jetzat positiv. Seit a paar hundert Jahr wern die allerdings immer weniger.“

„Freimaurer? Um Gotts willn, i war doch bei keim Geheimbund drin.“

„Die Freimaurer?“ Petrus ist aufrichtig erstaunt. „Wo san de geheim, die Freimaurer? Die missioniern bloß nix, des rechnt bei uns scho was. Da haltens auch an Frieden auf Erdn, da ham mir unsern Wohlgefalln, wenns mei Redeweise gstattn.“

„I kann scho folgn, Petrus.“

„Jaja, i siehgs scho, Sie san a Gstudierter. De Freimaurer, de wolln solche, des is bei dene richtig gwünscht, sogar Eahnerne kuriosn Studienfächer, was Sie gmacht ham. Aber wenns net hinwolln ham … Ihr Entscheidung.“

„Kann ja ich net wissn.“

„Freilich könnens es net wissn, deswegn heißts Glauben. Was hamsn so gessn? Vegan, vegetarisch, zoophag, kannibalisch?“

„Ich bitt Sie, Petrus. Ich war aus Franken.“

„Ja, scho klar. Fragen muss i halt danach. Da warns bestimmt auch alle Tag gscheit unter Drogen?“

„Ach, woher. Ganz selten mal besoffen. Und wenn, dann a Bier, schlimmstenfalls einzwei Flaschn Schnaps.“

„A so? Ja warum denn? Was meinens denn, für was der Chef des ganze Zeigl wachsn lasst? A Bier, scho recht, aber die ganzn andern guadn Sachan? Hams dann wenigstns jeden Tog gscheit was weggvögelt?“

„Bitte??“

Correggio, Heilige Katharina von Alexandrien, 1508-1510„Hatten Sie täglich Geschlechtsverkehr?“

„Eminenz, ich bin verheiratet. War.“

„Å, å, å, å …“ Petrus macht mit seinem Zimmermannsbleistift einen energischen Strich.

„Ihnen is schon klar, guader Moo: Für jeden Tag ohne Vögln muaß i Eahna … na, was sagn ma … samma gnädig … sagn ma: fuchzg Jahr Fegefeuer auffehaun.“

Ich schlucke. „Des wern Sie scho richtig machn.“

„Lebt Ihr Frau noch, so als Witwe, die sich ab jetzat fröhlich an Ihre ehelichn Pflichtn erinnert? Ja? Na, die muss leider dann später des gleiche, logisch …“

Petrus schreibt in meiner Akte herum, sucht im beistehenden Aktenreiter unter meinem Buchstaben eine weitere heraus, notiert vorne drauf herum, schaut wieder hoch zu mir und sagt betrübt:

„Ach, i sags Ihnen: Des is alles so eine sinnlose Verschwendung von Seligkeit.“

„A keuscher Lebenswandel zählt nix?“

Langsam wird Petrus unwillig: „Keuscher Lebmswandl, keuscher Lebmswandl. Herrschaftzeitn, i kanns bald nimmer hörn vo eich christliche Abendländer, mit eicherer Keuschheit und Enthaltsamkeit und Monogamie und gar koa Gamie und Zölibat und Sublimierung und Fuizleis und hunderttausnd wichtigere Sachan ois wiares Vegln! Des seids immer bloß ihr, wo eier Frau im Bett neber eich rumschimmln lassts und glangts net oo. Ja Greizdeife halleluja nomoi nei, die gschlechtliche Fortpflanzung, des wor a Gschenk! Unser gressts! Da hamma lang an die Windbestäubung dro hiigschraubt, bis ma des in der Evolution überhaupts möglich gmacht ham, dass eier Balz des ganze Johr lang durchdauert! Hat des irgend a anders Viech? A Privileg is des! Ja duad denn des Vegln weh oder wos?!“

„Da hab i scho von Möglichkeitn ghört …“

„Jajaja, net in dem Internetzeigl Buidl vo dem Dekadenzschmarrn ooschaun. I red davoo, dass ihr endlich mit eirer Frau veglts. Da hättns Ihrer Frau zoagn kenna, wia gern dasses ham, oder wia deitlich hättnses denn no braucht? A Möglichkeit hättns da ghabt, dass Eahnern Ausdruck findn, Sie Schreibhansl, Sie windiger.“

„‚WEnn ich mit Menschen vnd mit Engel zungen redet / vnd hette der Liebe nicht / So were ich ein donend Ertz oder eine klingende Schelle.‘ A so war des gmeint?“

„Sehngs? Sie wissns doch alles! Und durchschauns sogar. Und nutzns net. Entschuidigns scho, wenn i da so drastisch werd, da könna Sie persönlich wahrscheinlich gar net so viel dafür, aber des is halt so allgemein worn die letztn zwoa-dreihundert Johr.“

„Des tut ma jetz scho leid, Petrus.“ Ich meine es ehrlich.

„Jaja, glaub i Eahna sogar. Wissns, in a paar Jahr hab ja ich in dem Job da herin mei Zweitausendjährigs, des ham vielleicht Sie mitkriegt, so als Kathol. Da siehg i jedn Dog dausnd da reikomma, wo Sie reikomma san, und moana, sie ham oisamt richtig gmacht. Und wann ma fragt, ja was hams denn so gmacht? I sogs Eahna, was gmacht ham: Nix hams gmacht.“

„Des kenn i aus meim Job aa“, versuche ich zaghaft.

„Ja, genau des sagns alle, wann ma nachfragt. An Job hättns doch ghabt. Oder no besser: a Arbeit. Oder des Beste is immer: an Beruf. Des wann i oiwei scho hör. Berufm dan oiwei no mir.“

„Da müssns etz aa unser Position verstehn, Petrus. Des Vögln kann falsch sei, des Gegenteil kann genauso falsch sei. Des is so mit allem, was ma macht. Machen oder unterlassen, ruckzuck is scho wieder Schuld aufgladn.“

„Ach, des mit der Schuld.“ Petrus winkt ab. „Was glaum Sie, wer mir san? Eahna Kindermadl oder wos, Ihr Religionslehrer vo der Grundschul. Mir san doch auf Eahnerner Seitn. Mir erschaffm Eahna ja net, bloß dass Sie nachat schuldbeladn umanandalaffa, do hättn doch mir sejber koa Freid damit. Bei uns zählt leicht amal der Versuch.“

„Des is ja dann aa erleichternd und alles. Aber unter die eignen Leut und grad bei der Arbat und der eignen Frau, da zähln halt oft die Resultate. I kann ja net hergehn und vögln wolln, wenn die Beziehung net passt. Und die passt erst vom hundertsten Prozent an aufwärts.“

„Und Sie glaum, Eahna Beziehung werd besser, wenns einfach net vegln?“

„Wenns es a so hiistelln…“

„So leicht waars gwesn.“

„Aber wissns scho: Da ghörn fei zwaa dazu.“

„Oha! Gä? Oha! Net no über Eahna Frau herziang, gä? So vui konn i Eahna versprecha: De kimmt uns scho aa net aus, Eahna Frau. De hat iatz aba no a paar Johr, dass ihr evolutionäre Bestimmung eilöst.“

„Soll mi des etz beruhign?“

„Eahna? Sie ham ab sofort andre Sorgn. Was hams gmacht, solangs net grad garbat ham? Gern a Gsetzl glesn, hab i recht?“

„Scho.“

„Als Lieblingsbiacher?“

„Och, des übliche. Moby-Dick, Alice im Wunderland, aber bloß mit die richtign Illus, vom Goethe die Werther-Leidn, en Faust, und dann aa glei en Doktor Faustus vom Mann-Thomas … Vom Waechter des Wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein, des hab i gern meeng.“

„Au wä, genau des moan i. De ganzn Hirntratzer, wo mit Sicherheit nirgends gveglt werd. Oder wos bestraft werd.“

„Was Sie jetz dauernd ham mit dem Vegln.“

„Koa Angst, des hamma hinter uns, is scho abghakt.“

„Musik war noch wichtig.“

„Den Tom Waits, wettn?“

„Ja, den. Fehlt mir leider die Stimm, dass i den selber sing.“

„Na, selber gschriem hams einige Liadl, siehg i grad.“

„Was ma kann.“

„Den Tom Waits, den mog i aa. Hättns Eahna a Beispui an dem gnumma, der machts richtig. Do gfrei i mi scho, wann der zu uns kimmt.“

„Dem hams aa die Stimm mitgebm und des Hirnkastl.“

„Da verrat i Eahna was, weils für Sie scho wurscht is: Sie können heut alles im Lebm erreichen — Sie dürfens bloß net wollen oder gar versuchen.“

„I hab dacht, andersrum? Ma müsst bloß wolln, dann geht alles?“

„Ach — viel so Hollywoodfilme hams gwiss gern angschaut, gell? Sehngs, da dauert a oanziger neinzg Minutn Minimum. In der ganzn Zeit hättns besser feste gveglt. Des hams jetzt.“

Michelangelo Caravggio, Heilige Katharina von Alexandrien, 1595-1596Durch den anliegenden Saal der Glyptothek haben sich hallende Schritte von Badeschlappen genähert. Jetzt steht ein vollbärtiger Hippie in der gleichen Tracht wie Petrus neben dem Marmorschreibtisch.

„Grüß dich, mein Sohn“, sagt er beiläufig zu mir, und dann zu Petrus: „Und, oider Wetterfrosch, wia kummstn heint rum? Kannst mit Mittag machen?“

„I hab no gar net gschaut, was gibtsn heit? Schüttlst du wieder deine fünftausnd Fischsemmln ausn Ärml?“

„Eh klar. Ungesäuert sans am bestn!“ Übermütig lässt der Hippie die Fingerknöchel krachen. Zwei runde, verheilende Wundmale auf den Handrücken.

„Ja, is recht. I verraam no gschwind die Seele do.“

„Der da?“ Der Hippie mustert mich milde. „Au weh zwick. Wara bei die Freimaurer?“

„A woher. Nixn.“

„Aber dem Gsicht und dem Aufzug nach oversexed and underfucked, stimmts?“

„Jaja, aus Frankn.“

„Wohnhaft in München“, blöke ich dazwischen.

„München, München, München … Des da in der Oberpfalz, wos die Brauerei ham wolltn? Da hättns für den Baugrund …“

„Naa, des andere.“

„Dann is des doch des mit der Asamkirch neber dem kloana Buachladn mit die lauter freindlichn hübschn Buachhändlerinnen, oder? Des hams schee eigricht, meine Sterblichn, des mog i eigntlich. Naja, da samma gnädig, dass ma fertig wern.“

„Is Nammittog no was Wichtigs?“

„Ach ja, wost sagst: Der Senior moant, wir braucha langsam des Meeting fürs Weihnachtswetter. Da stehst du obligatorisch drin.“

„Hab i ma fast scho denkt. November is halt immer schwierig, und dann jedsmal glei des Weihnachtn hintnach.“

„Selig sind die Schifahrer, woaßt eh.“

„Was mach ma jetz mit dem?“

„Ach mei … Fegefeuer bis zum nächstn Zeitalter halt, wos moanst?“

„Ja, hab i aa denkt, um den Dreh. Oder lass man glei bis zum übernächstn?“

Der Hippie überlegt. „Zu wem kaam er denn? Satan oder Luzifer?“

Petrus checkt in seinem Laptop: „Der Mephisto hätt grod wos frei, weil heit der Sokrates aufsteigt. Dem sein Plootz kannt er übernehma. Dass er net koit werd, haha.“

„Ui jegerl — der Mephisto, der macht doch den fertig, scho alloa rhetorisch. Der Bua war verheirat, oder?“

„Grad deswegn hab ich ja gmoant: zum übernächstn. Mit seiner ehelichn Pflicht schauts nämli recht mau aus.“

„A geh weider, da is er gstraft gnua. Des hat der aa net aus Bosheit gmacht. Und vielleicht hat er Germanistik studiert, vielleicht hat er nia koa Auto net besessn, vielleicht hat er an greislichn Orsch, vielleicht wor er a Blogger und a Brillnträger is er aa — do veglt si freilich nix. Des muaß ma ois sehng.“

Petrus seufzt. „Oiso recht. Aber i nehm eahm net, wann er in dreihunderttausnd Johr scho wieder dosteht und frohlocken wui. Dann nimmstn nämlich du.“

„Des passt scho. De wo beim Mephisto warn, des wern hinterdrei der angenehmste Umgang.“ Und zu mir: „Wärst du damit einverstanden, mein Sohn?“

„Kann i was ändern?“

„Wahrlich, wahrlich. Na, mit der Einstellung wundert mi nix. Mir sprecha uns dann am Jüngstn Tog. Gehe hin in Frieden.“

Er segnet mich, es scheppert, und dann nehmen mich zwei krokodilsköpfige Legionäre mit rotglühenden Hellebarden in ihre Mitte.

Und Sie, wenn Sie jetzt glauben, es wäre ein Happy End, wenn ich jetzt aufwachte und es war alles nur ein Traum, dann haben Sie weder eine Ahnung vom Aufwachen noch vom Träumen.

Buidln: Jan van Eyck: Marienaltar, Dresdner Triptychon, rechter Flügel:
Hl. Katharina von Alexandrien, um 1437 (Rückseite: Jungfrau der Verkündigung);
Correggio: Hl. Katharina von Alexandrien, 1508–1510, Hudson River School;
Michelangelo Caravaggio: Hl. Katharina von Alexandrien, 1595–1596, Thyssen-Bornemisza Museum Madrid.

Written by Wolf

25. November 2012 at 00:01

Nachtstück 0001

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Die Ausrede, dass doch Wochenende ist, zieht nicht als Weigerungsgrund. Dass doch Wochenende ist, zieht als Grund. Du hast kein Wochenende, um arbeiten zu können, du arbeitest, um irgendwann Wochenende zu haben.

Die Arbeitswoche war lang genug: Die Serapionsbrüder wolltest du zuerst mit 12 am Stück lesen; wie lange das her ist, kann um diese Uhrzeit kein Mensch im Kopf. Reicht das als Arbeitswoche?

Licht an, noch so eine Arbeitswoche hältst du nicht durch. Noch so eine, dann bist du Mitte siebzig, da kannst du dir eine eigene Krankenschwester zum Vorlesen einstellen. Wenn du kannst. Hörbücher sind nämlich gern gekürzt. Oder schlimmer: Hörspiele.

Nachtstück: E.T.A. Hoffmann: Harfenquintett für Harfe, 2 Violinen, Viola und Violoncello c-Moll, AV 24, ca. 1807.

Written by Wolf

24. November 2012 at 05:43

Dreidreiviertel Arbeitstage oder Die CDs wechseln muss man schon

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Hörbuch Christoph Martin Wieland, Aristipp und einige seiner Zeitgenossen, Vollständige Lesung von Herausgeber Jan Philipp Reemtsma auf 24 CDs mit Begleitbuch, Hoffmann und Campe 2007, Exemplar der Stadtbibliothek München

Normalerweise ist es ein Graus, wenn angesichts neuer Klassikerausgaben, am schlimmsten im Vorfeld und Gefolge von Gedenktagen, betont wird, wie hochaktuell ein Klassiker doch noch sei und was er uns Heutigen noch zu sagen habe: Anpreisungen und Komplimente, in denen „noch“ vorkommt, sind Warnungen und Herabsetzungen.

Als Insel-Taschenbuch führt der Aristipp eher ein Backlist-Dasein um der Vollständigkeit willen, bei der Bibliothek Deutscher Klassiker können ihn sich sowieso nur gutsituierte Universitätsbibliotheken leisten, also niemand. Wurde das schon mal in Leder verkauft?

Als Hörbuch, das Hoffmann und Campe als Audiobook ausgeweist, ist es der Idealfall von einem Hörbuch (außer, dass es als „Audiobook“ ausgewiesen wird): Der Herausgeber hat es auch gleich eingesprochen, obwohl er kein ausgebildeter Sprecher ist — sondern Jan Philipp Reemtsma, der aus Hamburg kommt, wo die Leute von Geburt an so reden, wie man es sich für Hörbücher wünscht. Falls daran Zweifel aufkommen, hat er in dem ungewöhnlich informativen, kenntnisreichen und schmuck aufgemachten Beibuch seitenlang erklärt, warum manche Wörter so und nicht anders, als er es tut, ausgesprochen werden müssen; denn für Schreibweise und Betonung altgriechischer Transkriptionen sind zwischen anno 1800 bis 2007 kaum Selbstverständlichkeiten übrig geblieben.

Zusätzlich ist der Herausgeber auch der Kommentator: Der Artikel über den Aristipp, den Reemtsma 1996 für Interpretationen. Romane des 17. und 18. Jahrhunderts bei Reclam geschrieben hat, ist für dasselbe Beibuch überarbeitet und wiederveröffentlicht. Und sehr hilfreich.

Endlich bekommt man einfach mal das, was draufsteht: ein Buch vollständig vorgelesen und erklärt — und eben keine Hörspielbearbeitung, die nie den Ruch einer Pumuckl-Episode verlieren wird, und keine gekürzte, bestenfalls sogar autorisierte Lesung; autorisiert von wem auch? Von Wieland vielleicht? Entweder ist dieses Hörbuch ein Monument seines Mediums oder eine unerschöpfliche Einschlafhilfe.

Natürlich ist sowas vergriffen. Anfang November hab ich in Amazon.de nachgeschaut, da kostete die Box, die es 2007 im Buchhandel original für 99,95 Euro gab, gebraucht 538 — in Worten: fünfhundertachtunddreißig — Euro und ein paar zerquetschte Cents. Genau 1 Exemplar, das eine Woche später verschwunden war. Das wird also von geschäftsfähigen Menschen für ein halbes Monatsgehalt gekauft.

Bei mir ist zur Zeit das Exemplar der Münchner Stadtbibliothek für ein paar Wochen eingezogen. Muss man Medien der Stadtbibliothek eigentlich um jeden Preis ersetzen, wenn sie, mal ganz hypothetisch dahingedacht, mirum in modum verloren gehen? Die Wölfin meint ungestützt: Wär ja noch schöner.

Wieland ist mit seinem Aristipp nicht mehr fertig geworden, da fehlt das fünfte Buch. Das kommt, weil er nach eigenem Bekunden fünfzig Jahre gebraucht hatte, um ihn überhaupt anzufangen. Bei so einer Verzögerung kann einer schon mal über den ersten vier Büchern sterben. In denen geht es darum, dass Philosophie eine eigentlich wertlose Disziplin ist, die von allen anderen Disziplinen mühelos ersetzt wird.

Das wiederum kommt daher, dass Wieland weder der schwärmerischen Romantik angehört, die gleich Novalis Zahlen und Figuren verunglimpft, noch im eigentlichen Sinne der Klassik. Sondern der Aufklärung — als Philosophie noch kein eingeführtes Studienfach war. Philosophie war ab der griechischen Antike eine Denkweise innerhalb der Naturwissenschaften und ab dem Mittelalter ein Weg zum Beweis der Existenz Gottes. Ab den weltzugewandten Ansichten des Idealismus war sie unnötig.

Die Wölfin meint: „Ist doch gut? Wie topaktuell geht’s denn noch?“

Ich meine: „Richtig. Genau das hab ich gemeint.“

„Und auf welcher von den 24 CDs kommt das jetzt genau vor?“

„Und das … meine ich auch.“

„Hey, wir reden hier von geschlagenen dreißig Stunden Wortschwall, ohne Musik, ohne Bilder und ohne Pinkelpause.“

„Naja, die CDs wechseln muss man schon …“

„Dreißig Stunden, mein Bester! Das sind dreidreiviertel Arbeitstage! Weißt du, was man in dieser Zeit alles erledigen kann?“

„Und das hat Wieland gemeint.“

Bild: Hörbuch Christoph Martin Wieland: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. Vollständige Lesung von Herausgeber Jan Philipp Reemtsma auf 24 CDs mit Begleitbuch, Hoffmann und Campe 2007, Exemplar der Stadtbibliothek München, Zustand November 2012.

Written by Wolf

19. November 2012 at 06:54

Veröffentlicht in Aufklärung, Weisheit & Sophisterei

Noch können sie tanzen

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Unsere engagierte Leserin und liebe Nachbarin Christina Katharina Barbara Bockmühl war von Anfang vom hiesigen Beitrag Wenn Schnee bedeckt mein Haar einmal so angetan, dass sie ihn spontan in ihrem Kommentar weitergedichtet hat.

Ebenso spontan hat sie ihrem Sequel-Gedicht auf einen geradezu apokryphen Comic von 1982 sogar noch die nötigen Bilder gebastelt, um dem Medium Comic näher zu kommen. — Ist es nicht prächtig? Ist es nicht wunderwunderschön?

Herrschaften — auch schon wieder 1982? Wer damals Schnee auf seinen Häupten befürchtete, hat heute welchen. Jedenfalls wollen wir ihm das wünschen.

Und ist es doch ein Glück für zwei, die zusammen werden alt.

Das Foto aus vergangener Zeit trägt Risse und Kratzer, manchmal war es ganz schön kalt.

Doch – man kennt sich, sieht sich, liebt sich. Vergessene Krauselhaare oder nicht ausgefallene an sich.

Sie sind schön, sind sie auch alt, noch können sie tanzen, wie das Laub im Wald.

Und ist es doch ein Glück für zwei
die zusammen werden alt.
Das Foto aus vergangener Zeit
trägt Risse und Kratzer,
manchmal war es ganz schön kalt.
Doch – man kennt sich, sieht sich, liebt sich
Vergessene Krauselhaare (oder nicht ausgefallene) an sich.
Sie sind schön, sind sie auch alt
noch können sie tanzen,
wie das Laub im Wald.

Text & Bilder: Christina Katharina Barbara Bockmühl, Oktober 2012. Dankeschön!

Written by Wolf

11. November 2012 at 00:01

Veröffentlicht in Ehestand & Buhlschaft, Postironismus

Und Heinrich Frank hat dichtgemacht

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10. November 1759: Schiller wird in Marbach am Neckar geboren. 10. November 1867: Faust I und Faust II von Goethe erscheinen in Leipzig als erste zwei Bände der Reclams Universal-Bibliothek.

Schöner 108. Geburtstag. Was hatte Reclam gegen Schiller? Schönen 145. bzw. 253. an beide!

Reclams Universal-Bibliothek, Schaukasten Buchhandlung Heinrich Frank München, Schellingstraße 3

Bild: Schaukasten der Buchhandlung Heinrich Frank, Schellingstraße 3 in München, gleich wo’s von der Ludwig ins Univiertel geht. Heinrich Frank ist pleite, das Fenster müsste dieser Tage abgebaut werden.

Written by Wolf

10. November 2012 at 14:56

Veröffentlicht in Handel & Wandel, Sturm & Drang

Zwischennetzsurferey

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Die Welt geht unter, seit sie entstanden ist, und Medienkritik ist älter als Medien. Ganz sicher aber als die neuen Medien. Vor allem die Kritilk an der Romanleserey ab dem 18. Jahrhundert greift eigentlich erst ab etwa 1997, als „jeder“ ins Internet drängte.

Darauf komme ich anhand Felix Müllers Artikel in der Welt vom 2. November 2012: Als die Lesesucht die Menschen krank machte, der leider seine Quellen allzu lieblos und vor allem bei weitem zu großzügig behandelt. Das Richtige hat wie immer schon vor mindestens drei Jahren die große Kathrin Passig gesagt:

——— Kathrin Passig: Standardsituationen der Technologiekritik, Merkur 1. Dezember 2009:

  1. Wozu zum Kuckuck sollte das denn gut sein? Bisher ging es doch auch so.
  2. Wer will denn sowas?
  3. Die Einzigen, die das wollen, sind zweifelhafte oder privilegierte Minderheiten.
  4. Das geht wieder vorbei.
  5. Die Erfindung wird keine Auswirkungen haben.
  6. Ok es ist sinnvoll, aber nicht gut genug!
  7. Schwächere als ich (die Jungen) können damit nicht umgehen!
  8. Die gute Etikette wird verletzt!
  9. Unsere Denk-, Schreib- und Lesetechniken verschlechtern sich!

Pierre-Antoine Baudoin, La Lecture. c. 1760. Gouache on paper. Musée des Arts décoratifs, ParisVor solchen Ansichten waren die Besten nicht gefeit: Der übermäßige Konsum von Ritterromanen ist das Setting für die Mutter des modernen — jawohl: — Romans, den Don Quixote. Ludwig Tieck berichtet 1792, also 19-jährig, seinem Herzensbruder Wilhelm Heinrich Wackenroder von einer nächtlichen zehnstündigen Leseorgie unter Missbrauch des Romans Der Genius von Carl Grosse, worauf der ihn zur Ordnung ruft:

Gütiger Himmel! auf welchem entsetzlichen Rande hast Du gestanden! […] Ein Buch, was alle Fantasie aufs äusserste umherjagt, über die Gränzen der Besinnung herumjagt!

Es ist dann noch alles gut geworden: Ludwig Tiecks nachmalige Übersetzung des Don Quixote gilt bis auf weiteres.

——— Karl G. Bauer: Über die Mittel dem Geschlechtstrieb eine unschädliche Richtung zu geben, 1787:

Die erzwungene Lage und der Mangel aller körperlichen Bewegung beym Lesen, in Verbindung mit der so gewaltsamen Abwechslung von Vorstellungen und Empfindungen Schlaffheit, Verschleimung, Blähungen und Verstopfung in den Eingeweiden, mit einem Wort Hypochondrie, die bekanntermaassen bey beydem, namentlich bey dem weiblichen Geschlecht, recht eigentlich auf die Geschlechtstheile wirkt, Stockungen und Verderbniss im Bluthe, reitzende Schärfen und Abspannung im Nervensysteme, Siechheit und Weichlichkeit im ganzen Körper.

Und Kindles stehen jetzt dem sinnlichen und bildungsfördernden Genuss des Bücherlesens im Wege, jawoll. Meine größere Befürchtung ist, dass Welt-Autor Felix Müller den besser recherchierten und kenntnisreichen Artikel von Peter Schneider Von der Lese- zur Internetsucht aus dem Schweizer Tagesanzeiger, 30. Oktober 2010 sehr wohl kannte.

Immerhin sind mit dem Gebrauch des Internets die von Karl G. Bauer befürchteten Auswirkungen unschädlich: iPads kann man zur Not mit aufs Klo nehmen, und die vergrößernde, befeuchtende und belebende Wirkung allfälliger Internetseiten auf die Geschlechtsteile wird nicht einmal von ihren schärfsten Kritikern geleugnet — von denen am wenigsten. Die Tieck-Übersetzung des Don Quixote steht heute online, wobei man nicht einmal auf die Illustrationen von Gustave Doré verzichten muss.

Bild: Pierre-Antoine Baudoin: La Lecture, um 1760. Gouache auf Papier. Musée des Arts décoratifs, Paris.

Written by Wolf

8. November 2012 at 00:01

Veröffentlicht in Aufklärung, Herrschaft & Revolte

Und dem Schlaf entjauchzt uns der Matrose

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Nahtloses Update unserer halbjährlich fortgesetzten Chronik des Verfalls in Moby-Dick™:

——— Mephistopheles, Erster Theil:

Das ist noch lange nicht vorüber,
Ich kenn‘ es wohl, so klingt das ganze Buch;
Ich habe manche Zeit damit verloren,
Denn ein vollkommner Widerspruch
Bleibt gleich geheimnißvoll für Kluge wie für Thoren.
Mein Freund, die Kunst ist alt und neu.
Es war die Art zu allen Zeiten,
Durch Drey und Eins, und Eins und Drey
Irrtum statt Wahrheit zu verbreiten.
So schwätzt und lehrt man ungestört;
Wer will sich mit den Narrn befassen?
Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört,
Es müsse sich dabey doch auch was denken lassen.

Self mit Rabenfeder, 3. November 2012

——— Goethe: Seefahrt, frühe Fassung G. den 11ten Sept. 1776:

Tag lang Nacht lang stand mein Schiff befrachtet,
Günstger Winde harrend saß mit treuen Freunden
Mir Geduld und guten Mut erzechend
Ich im Hafen.

Und sie wurden mit dir ungeduldig
Gerne gönnen wir die schnellste Reise
Gern die hohe Fahrt dir. Güterfülle
Wartet drüben in den Welten deiner
Wird rückkehrendem in unsern Armen
Lieb und Preis dir.

Und am frühen Morgen wards Getümmel
Und dem Schlaf entjauchzt uns der Matrose
Alles wimmelt alles lebet webet
Mit dem ersten Segenshauch zu schiffen.

Und die Segel blühen in dem Hauche
Und die Sonne lockt mit Feuerliebe
Ziehn die Segel, ziehn die hohen Wolken
Jauchzen an dem Ufer alle Freunde
Hoffnungslieder nach im Freudetaumel
Reisefreuden wähnend wie des Einschiffmorgens
Wie der ersten hohen Sternennächte.

Aber Gottgesandte Wechselwinde treiben
Seitwärts ihn der vorgesteckten Fahrt ab
Und er scheint sich ihnen hinzugeben
Strebet leise sie zu überlisten,
Treu dem Zweck auch auf dem schiefen Wege.

Aber aus der dumpfen grauen Ferne
Kündet leise wandelnd sich der Sturm an
Drückt die Vögel nieder auf’s Gewässer
Drückt der Menschen schwellend Herze nieder.
Und er kommt. – Vor seinem starren Wüten
Streckt der Schiffer weis die Segel nieder,
Mit dem angsterfüllten Balle spielen
Wind und Wellen.

Und an jenem Ufer drüben stehen
Freund und lieben beben, auf dem Festen:
Ach warum ist er nicht hiergeblieben
Ach der Sturm! Verschlagen weg vom Glücke
Soll der Gute so zu Grunde gehen?
Ach er sollte! Ach er könnte! Götter!

Doch er stehet männlich an dem Steuer
Mit dem Schiffe spielen Wind und Wellen
Wind und Wellen nicht mit seinem Herzen.
Herrschend blickt er auf die grimme Tiefe,
Und vertrauet scheiternd oder landend
Seinen Göttern.

Interpretationen: in der Hamburger Ausgabe von Erich Trunz;
Studienarbeit von Claudia Roeder 2004;
in der Frankfurter Ausgabe: Karl Eibl: Gedichte Band 1.

Bild: Rabenfeder, 3. November 2012.

Written by Wolf

6. November 2012 at 00:01

Veröffentlicht in Land & See, Sturm & Drang

Halloween Lectures zu bibliothekarischen Aspekten der Kulturwissenschaft des Morbiden

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Man muss das nicht bemerken, aber wenn einer mit Halloween sonst nix verbinden mag, kann er eventhalber immer noch zu Eric W. Steinhauer, Dezernent an der Universitätsbibliothek Hagen in die Vorlesungen zu bibliothekarischen Aspekten der Kulturwissenschaft des Morbiden. Davon macht der Mann genau eine pro Jahr, immer um Allerheiligen, und nennt sie deshalb Halloween Lectures.

Die Folge für 2012 heißt Der Tod liest mit. Seuchengeschichtliche Aspekte im Buch- und Bibliothekswesen, Am Dienstag, 6. November ab 18 Uhr im Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Mit einem nicht einzudämmenden Ansturm wird demnach wohl nicht gerechnet, Sie können beruhigt hin.

Als Buch gibt es seit kurzem im Hagener Eisenhutverlag die letztjährige Theorie und Praxis der Bibliotheksmumie. Überlegungen zur Eschatologie der Bibliothek. Darin werden Bücher mit menschlichen Mumien verglichen, vor allem mit der Einrichtung der Biblioitheksmumie. Laut dem Interview Friedhof der Datenträger hat der Mann etliche überraschend stichhaltige Argumente:

In Bibliotheken und auf Friedhöfen verwesen Sachen — worauf man noch ungestützt kommen kann. Steinhauer fährt fort — hier eigenmächtig gekürzt aus Urs Willmann in der Zeit:

Tobias Wimbauer, Eric Steinhauer, Halloween und die Kulturgeschichte des Morbiden, 24. Oktober 2012Die Arbeitsgänge in der Pathologie erscheinen mir sehr bibliothekarisch. Proben kommen an, erhalten Barcodes, werden aufbereitet, klassifiziert. Das machen wir genauso. Und wenn Sie frühe Bilder von Sektionen anschauen, sehen Sie die Leiche und daneben ein aufgeschlagenes Buch. In beidem wird gelesen. [Friedhöfe und Bibliotheken] sind Orte der Erinnerung. Und beide sind wahre Speicher. Aber wo sich erinnert wird, wird auch viel vergessen. Es vergammelt, wenn Sie so wollen. Uns Bibliothekaren ist daher die Metapher von der Bibliothek als Friedhof durchaus geläufig.

Bibliotheken und Museen haben einen gemeinsamen Vorläufer in der frühneuzeitlichen Wunderkammer. Man sammelte dort Bücher, Naturalien und andere kuriose Dinge. Einige Mumien sind in den Bibliotheken verblieben. Und ich stellte fest, dass dies kein Zufall war. Vielmehr ist eine gemeinsame ideelle Dynamik am Werk. Es geht darum, Sterblichkeit zu überwinden, sich der Endlichkeit durch Aufbewahrung entgegenzustellen.

Mumien sind Kulturgut, für sie gelten besondere Vorschriften [abweichend von der Bestattungspflicht]. Aber natürlich gibt es immer Debatten darüber, ob man Leichen oder Leichenteile zeigen darf. Speziell in Bibliotheken sind Einbände aus Menschenhaut kuriose Phänomene. Mit dem Nationalsozialismus hat das nichts zu tun, die Sachen sind älter. Bei diesen Objekten bilden Tod und Buch eine merkwürdige Symbiose: Leichenmaterial hilft, Gedanken aufzubewahren. Bibliophile nennen so etwas einen sprechenden Einband. Man kennt das von Kinderbüchern: Ein Teddybärbuch ist in ein Teddybärfell eingebunden. Genauso schützt manchen alten Anatomieatlas eine Menschenhaut. Genauso, wie wir bei Leichen sagen, da seien Persönlichkeitsrückstände drin, verbleibt im Buch ein Stück der Persönlichkeit des Autors. Wir sprechen ja auch von geistigem Eigentum des Autors. So kommen wir vom skurrilen Gedanken zur kulturwissenschaftlichen Perspektive: Wie gehe ich mit Verstorbenen um, wie mit Büchern?

Es gibt die Ansicht: Verbrennt man Bücher, verbrennt man bald auch Menschen. Der Gedanke ist nicht aus der Luft gegriffen. Man kennt Praktiken von Bücherbestattung. Im Judentum werden zerschlissene Thorarollen nicht weggeschmissen – sondern beigesetzt. Das Buch wird wie eine Person behandelt, ehrfürchtig. Es ist mehr als beschriebenes Papier. Daher auch die Betroffenheit, wenn eine Bibliothek brennt oder wenn Bücher weggeworfen werden. Wir Bibliothekare müssen ja unseren Bestand pflegen, ältere Exemplare und Doppelstücke aussortieren. Manche liegen 20 Jahre im Regal, staubbedeckt, keiner nutzt sie. Aber wenn wir sie in den Container werfen und die Öffentlichkeit kriegt es mit, herrscht Empörung: Das macht man doch nicht mit Büchern!

Als die Herzogin Anna Amalia Bibliothek brannte, waren Entsetzen und Trauer riesig. Als ob Menschen gestorben wären. Genauso beim Archiveinsturz in Köln. Obwohl die meisten, die geschockt waren, die Einrichtung und die Bestände nie genutzt hatten und sie auch nie benutzen würden.

In unserer Rechtsordnung findet man übrigens erstaunliche Parallelen zwischen Leiche und Buch. Es ist gesetzlich, dass wir Tote würdevoll bestatten und sie eine Zeit lang das Recht haben zu ruhen. Vielerorts ist die Totenruhezeit auf dem Friedhof nach 30 Jahren vorbei. Eine ähnliche Komponente haben wir im Urheberrecht: Es endet 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Als Rechtssubjekt bin ich also am längsten präsent in den Schriften. Insofern kann man sagen: Die Bibliothek ist der nachhaltigste Friedhof.

Wir schätzen das Individuum und legen auch bei Autoren, die 300 Jahre lang tot sind, großen Wert darauf, einen originalen Text in den Händen zu halten. Genauso bei den Mumien. Wir streben danach, das Individuum zu rekonstruieren. Schauen Sie sich den Ötzi an. Mit Röntgenstrahlen und Computertomografie holen wir so viel aus der Mumie heraus wie aus einem Datenträger. Dadurch lebt ein Individuum wieder auf. Wir schreiben Ötzis Krankheitsgeschichte, imaginieren seine Biografie. Reliquienverehrung funktioniert genauso. Das Recht ordnet zwar solchen Überresten längst keine Person mehr zu, aber kulturell bleibt diese darin lebendig.

Wie Petrarca würde ich vom dreifachen Tod sprechen. Zuerst stirbt man, später verliert man das Grab, und schließlich sind die Schriften weg. Was wir an kulturellem Gedächtnis betreiben, in Bibliotheken und Archiven, dient dazu, diesen dritten Tod aufzuhalten. Es ist faszinierend, Medienumbrüche in diesem Licht zu sehen. Vor dem Buchdruck existierten nur Handschriften – ein Unikat konnte schnell verloren gehen. Plötzlich aber gab es das Buch in Vielzahl. Man meinte, eine Art Ewigkeit geschaffen zu haben. Doch diese Freude wich bald einem Pessimismus: So viele Bücher! Man betrachtete die Bibliothek als Labyrinth, in dem man Dinge kaum findet.

Wollten Sie vor 30 Jahren einen Druck aus dem 17. Jahrhundert konsultieren, mussten sie zu ihm hinreisen und anfragen, ob sie ihn mit Baumwollhandschuhen anfassen dürfen.Heute laden Sie sich den Scan auf ihr iPad und lesen ihn im Park. Das Leben ist zurückgekehrt in das Werk.

Die ägyptische Mumie zieht dem frostigen Ambiente das trockene Buchklima vor. Meistens findet man bei ihr ein Totenbuch. Und viele Mumien sind in beschriftete Binden eingewickelt oder tragen Masken aus altem beschriebenem Papyrus – ein erstklassiges Bestattungsmaterial, das in dieser Form recycelt wurde. Sie sehen: Das ist eine ganz andere Qualität von Mumie. Als Text in Bibliotheken verfügbar zu bleiben, finde ich dagegen eine schöne Vorstellung. Ein Leser nimmt die Gedanken in seinen Kopf und haucht ihnen wieder Leben ein.

Die auf 7 Bände angelegte Kulturgeschichte des Morbiden von Eric W. Steinhauer in Halloween Lectures: Zwei Bände im Eisenhutverlag schon erschienen, der dritte vorbestellbar:

Peruanische Mumien sind in der Lissabonner Museumsbibliothek ausgestellt.

Bilder: Tobias Wimbauer: Eric Steinhauer, Halloween und die Kulturgeschichte des Morbiden,
Eisenhutverlag 24. Oktober 2012;
Sylvain Sonnet für Corbis: Peruanische Mumien sind in der Lissabonner Museumsbibliothek ausgestellt.

Written by Wolf

2. November 2012 at 00:01