Archive for the ‘~~~Blumen-, Frucht-, Dornen-, Filet- und Nachtstücke~~~’ Category
Blumenstück 010: Der Pirat und die tosende See
Update zu Vielleicht bis zum Meer,
Zu schweigen beginnen,
Du warst den Meeren mitternachts entstiegen,
Seemannsgarn & Wahrheit
und Herzschlag:
——— Friedrich Dürrenmatt:
Meere
aus: Daniel Keel, Anna von Planta, Hrsgg.:
Das Mögliche ist ungeheuer. Ausgewählte Gedichte, Diogenes, Zürich 1993,
cit. nach: Tintenfaß. Das Magazin für den überforderten Intellektuellen, Nummer 21, Diogenes, Zürich 1997:
Ich liebe das Haus zu verlassen
In einen Tag zu gehen, der sich
gegen Abend neigtDurch Meere roten Laubs zu waten
Und die See halt so: Tos.
Pirat: Johanna (* 1990, mit 16), 2006;
die tosende See: * Isar (Würm-Kaltzeit, mit ca. 10.000 bis 115.000), 2006.
Soundtrack: Rummelsnuff: Trägt die Woge dein Boot, aus: Himmelfahrt, 2012:
Fruchtstück 0006: Ja wer wird denn gleich verzweifeln
Update zum 200. Eintrag,
Ein Mann zwischen den Altern
und Du hast genug geflennt:
Robert Gernhardt muss nicht eigens, daher wird Marion Vina empfohlen.
„Ist das ein Zeugma?“ fragt die Wölfin.
„Nein“, sag ich, „das ist eine Grafikdesignerin und Illustratorin.“
„Wolfwolfwolf.“
——— Robert Gernhardt:
Trost und Rat
aus: Wörtersee, 1981:
Ja wer wird denn gleich verzweifeln,
weil er klein und laut und dumm ist?
Jedes Leben endet. Leb so,
daß du, wenn dein Leben um istvon dir sagen kannst: Na wenn schon!
Ist mein Leben jetzt auch um,
habe ich doch was geleistet:
ich war klein und laut und dumm.
Bild: Marion Vina: Trost und Rat, 4. Januar 2023.
Kleinlaut und klug: Sia: Big Girls Cry, 2014:
Nachtstück 0030: Wenn acht nach sieben kommt
Update zu so net,
Schmerz, Tod und Graus gar spaßig zu erfassen
und Was singelt ihr und klingelt im Sonetto?:
Ein Sonett, das gar kein Sonett ist, noch nicht einmal Lyrik, und eins, das nicht einmal geschrieben wurde. Weil es nicht angeht, aller sieben Jahre einmal Krieg und Frieden zu lesen, aber dann Даниил Хармс, das ist: Daniil Charms nicht zu kennen.
Übrigens lassen sich, was in der Übersetzung nicht zur Geltung kommen kann, auf Russisch Sieben und Acht besonders leicht verwechseln, weil das eine семь und das andere восемь heißt. Und das ist noch gar nichts. #keinrussischlernen
——— Daniil Charms:
Sonett
übs. Ilse Tschörtner, in: Daniil Charms: Zwischenfälle, Verlag Volk und Welt, Berlin 1990:
Mir ist mal etwas ganz Eigenartiges passiert: Ich hatte auf einmal vergessen, was eher kommt – sieben oder acht. Ich ging zu den Nachbarn und fragte, was sie meinten. Aber wie groß war meine Verwunderung, als sich plötzlich herausstellte, dass auch sie die Reihenfolge der Zahlen vergessen hatten.
1,2,3,4,5 und 6 wussten sie noch, aber wie weiter, das hatten sie vergessen.
Wir gingen zusammen zum Kaufhaus „Gastronom“ in der Snamenskaja, Ecke Bassejnaja, und fragten die Kassiererin. Die Kassiererin lächelte traurig, nahm ein kleines Hämmerlein aus dem Mund, zog die Luft durch die Nase ein und sagte: „Meines Erachtens kommt sieben in dem Fall nach acht, wenn acht nach sieben kommt.“
Erfreut bedankten wir uns bei der Kassiererin und liefen hinaus. Doch plötzlich, als wir uns die Auskunft der Kassiererin genauer überlegten, verstummten wir wieder, denn sie kam uns völlig sinnlos vor.
Was tun? Wir gingen in den Sommergarten und fingen an, die Bäume zu zählen. Doch als wir bei sechs angelangt waren, blieben wir stehen und gerieten in Streit. Nach Ansicht der einen folgte sieben, nach Ansicht der anderen acht.
Wir würden noch lange gestritten haben, aber zum Glück fiel ein Kind von der Bank und brach sich beide Kiefer. Das brachte uns von unserem Streit ab.
Da trennten wir uns und gingen nach Hause.
Bilder: Sonett Bleichkomplex und Fleckentferner mit reinem Sauerstoff, ohne Erdölchemie,
via Windelwissen.
Soundtrack: Daniil-Charms-Verfilmung von Отава Ё: Дворник, 2012,
das ist: Straßenkehrer oder Hausmeister, 2012, aus: Что за песни, 2013,
auf das lettische Weihnachtslied Tumša tumša tā eglīte,
im Hof des Anna-Achmatova-Museums, Sankt Petersburg:
Dornenstück 0012: So mag der Schreckenstraum sich dann entfalten (Wehe dem Menschenerzeugten!)
Update zu Was ist das? Ich glaub, es hackt! Das ist doch kein Teufelspakt!
Bitchy Lessing und
Das Ungeheuerste, das Entsetzlichste, das Schaudervollste:
Das neue Jahr nimmt Fahrt auf: Eine höhere Instanz, an die wir noch nicht zu glauben verlernt haben, steh uns bei. Die Hoffnung zappelt ja immer bis zuletzt.
Menschen, denen ausreichend Erdenzeit vergönnt war, sich an einer Zivilisation zu beteiligen, ist es gelungen, fünf Beleidigungen in einem einzigen Fragesatz unterzubringen: Beim Anblick meines Bücherregals ist ihnen spontan nichts anderes eingefallen als:
„Habt ihr die ganzen alten Schwarten von euren Eltern geerbt?“
Das wären eine Beleidigung pro Satzteil und eine zusätzliche für den überspannenden Bogen, der sich tiefer und schmerzhafter als die Summe seiner Teile wölbt – also effizienter als die vierfache Herabsetzung für Bier: „Ich krieg ein kleines alkoholfreies Radler.“
Was auf nur dreifache Weise in diese Reihung gehört: Adelbert von Chamisso hat eins seiner ersten poetischen Werke, seinen Faust, 1803 als Versuch aufgefasst – und damit, was in den Besprechungen von Chamissos Frühwerk gerne zu kurz kommt: immerhin fünf Jahre vor der Veröffentlichung von Goethes Tragödie erstem Theil, und konnte sich daher allenfalls, so er das wollte, auf dessen Fragment, in Druck seit 1790, beziehen. In seiner selbst geordneten Sammlung letzter Hand hat Chamisso den Faust–Versuch mit dem späteren Der Tod Napoleons, 1828 als Gedicht in dramatischer Form eingestuft.
Ungekürzt:
——— Adelbert von Chamisso:
Faust.
Ein Versuch.
1803.
1803:
Doch wozu ist des Weisen Thorheit nütz?
Schlegels Shakespeare
(„Was ihr wollt.“ III. 1)Faust. Sein Guter und sein Böser Geist, zwei Stimmen
Faustens Studierzimmer, von einer einzigen Lampe erleuchtet.
Faust.
Der Jugend kurze Jahre sind dahin,
Dahin die Jahre kräft’ger Mannheit, Faust!
Es neigt sich schon die Sonne deines Lebens –
Hast du gelebt? hier, fremd in dieser Welt,
Verträumtest du die karggezählten Stunden,
Nach Wahrheit ringend, die Pygmäenkräfte
Anstrengend in dem Riesenkampf – o Tor!
Du, der in wildem Jungendfeuer schwelgend,
Uneingedenk der Zukunft, deiner selbst,
Des großen Weltalls, das um dich sich kreist,
Genuß nur kennst, Genuß nur kennen willst;
Beglückter Liebling du der Gegenwart,
Dich muß ich weis, so wie du glücklich bist,
Auch preisen. – Weis! – und Tor? – Sinnleere Namen!
Nur Kranke gibt’s, ich kenne keine Toren.
Ein Funke glomm im Busen mir, (ihn legte
Die fremde Hand,) er mußte hoch entlodern,
Und ewig ungelöschten Durst mir flammen; –
Vom Allerschaffer fordr ich alle Schuld,
Wir müssen wollen, ja wir müssen! – müssen?
Nicht frei denn? – also, wollend, nur ein Stein,
Der in die Tiefe fällt, und fühlt – er wolle.Was bist du Mensch denn? gier’ger Allumfasser
Des Universums kühner Freier du,
Der blind, in Nacht, in zwiefach ew’gem Dunkel
Gebannt zu irren, nichts erkennen kannst,
Ein ewig ungelöstes Rätsel dir;
Erschaffer deiner Welt nach ewigen
Gesetzen, selbst von ihr erschaffen,
Was bist du mächt’ger, nicht’ger Erdenwurm?
Ein Gott in Banden, oder nur ein Staub?
Was ist des Denkens, was der Sinnen Welt?
Die Zeit, der Raum, die Allumfassenden,
Und ihre Schöpfungen, durch die sie werden?
Was außer ihnen, das Unendliche?
Was ist die Gottheit, jeder großen Kette
Ein erstes ewig unbegriffnes Glied,
Das, nicht getragen, alle Glieder trägt? –
Erscheinung nur und Wahn ist alles mir.
Es wirft das Licht, das innre, dort hinaus
Auf ausgespannte Nacht die Bilder hin,
Ein leerer Widerschein des eignen Ichs,
Und so entsteht die Welt, die ich erkenne.
So hat – vielleicht der Zufall es geordnet,
Der große Bildner, den sie Gottheit nennen.
Und wenn, nicht bloß gedacht, dort Geist und Körper
Und Gottheit sind, – wie faß ich sie? – umsonst!
Es treten ewig zwischen sie und mich
Der Sinne Lügen, der Vernunft Gesetze.Ihr ew’ge Rätsel, schrecklich grimm’ge Nattern,
Die stets ihr euch erzeugt und euch verzehrt,
Und mir das Herz verzehrt im grausen Spiele
Der stets verschlungnen und erzeugten Kreise;
Ich kann euch nicht verscheuchen, nicht erdrücken,
Ihr stürmet rastlos mir die bange Seele;
Weh dem, den ihr zum ernsten Kampfe reizet!
Es furchet tief des Denkers Stirne sich,
Und Zweifel ist der schwererrungne Preis.Nein! länger soll der Schlangenbiß des Zweifels
Nicht langsam mir am kranken Herzen nagen,
Nicht giftig reizen mehr der Wunden Schmerzen.
Ich will gesunden in der Wahrheit Scheine,
Erschwingen kühn das sternenferne Ziel,
Das eitel strebend nimmer ich erklommen.Er sucht eine magische Rolle hervor, entfaltet sie auf seinem Tische und spricht,
indem er die Hand auf die Zauberschrift legt.Sind’s keine Träume, die du hingezeichnet,
So folg ich, Seher, deiner Riesenspur,
Ich schreite deine Bahn und zage nicht.
Wenn horchend deinem mächt’gen Rufe, Geister,
Dir dienend, ihres Reiches Nacht entstiegen;
Wird mir die Geisterwelt sich auch eröffnen.
Belehrung zollen mir die finstern Mächte.Die Geisterbeschwörung
Die ihr, gehüllt in furchtbar dunklen Schleier,
Die Seele mir umwallt, gehorchet, Geister,
Dem ernsten, festen Willen, der euch ruft.Böser Geist Eine Stimme zur Linken.
Dem ernsten, festen Willen wird gehorchet.
Du Sohn des Staubes, ihm entschwungen kühn
Und ähnlich uns, sprich dein Begehren aus.Guter Geist Eine Stimme zur Rechten.
Faust! Faust!
Faust.
Auch du! Dir hab ich nicht gerufen, fleuch!
Abschütteln will ich deiner Knechtschaft Joch,
Entfleuch! Nicht du, Unmächtiger, vermagst
Den heißen Durst des Lechzenden zu stillen,
Die sturmgeschlagnen Wellen zu besprechen.
Du lähmst den Flug mir, hebe dich von dannen!
Ich will ihn männlich fliegen und nicht zagen.
Ich wende mich von dir, ich folge dem;
Belehrung fordr ich, Wahrheit und Erkenntnis.Böser Geist.
Nicht menschlich sprichst du Worte hohen Sinnes.
Hast du mit Mannes Ernst mich hergebannt.
So schwöre mir den Preis zu – deine Seele;
Und öffnen will ich dir der Wahrheit Schätze,
Und was der Mensch vermag, sollst du erkennen.Guter Geist.
Faust, Faust!
Den seligen Menschen
Gewährte der Vater,
Von allen den Früchten
Des Gartens zu kosten;
Den seligen Menschen
Verwehrte der Vater
Die einzige Frucht.Und listig schmeichelnd hob die Schlange sich:
Ihr würdet Göttern gleich, wenn ihr die Frucht,
Die herrliche, zu kosten euch erkühntet,
Die euch der Vater streng verwehrt zu brechen,
Nicht Vater er, der neidische Tyrann!Faust, Faust!
Dem kindlichen Menschen,
Die Freuden des Lebens,
Sie knospen ihm alle.
Er weilet, wo duftend
Die Rosen ihm blühen,
Die Früchte ihm winken.
Geflügelten Schrittes
Leicht hin über Dornen
Zu schweben, zu eilen,
Gesellt‘ ihm der Vater
Die holden Gefährten,
Den Glauben, die Hoffnung,
Treu ihm in wechselndem Glück.Faust, Faust!
Es gab zu ahnden das Unendliche
Der Vater dir den Geist,
Gab, liebend anzubeten, dir das Herz:
Und, rechtend mit dem Vater, wagest du,
Vom Strahle seiner Liebe mild beschienen,
Zu fordern jene Frucht, des Todes Frucht.
Verschmäh, verschmäh des Lebens Glück und Kronen,
Und ringe nach der Gottheit fernem Ziele;
Des Rächers Rache trifft den schuld’gen Scheitel!Faust.
Erschuf zu ausgesuchten Qualen mich
Ein Gott des Hasses, den der Schmerz erfreut?Guter Geist.
Das Glück umblühte deines Lebens Pfade.
Faust.
Es ist Erkennen mir das einz’ge Glück.
Guter Geist.
Die Hoffnung blüht dem Dulder, lern entbehren.
Faust.
Sie welkte in der schwer erkrankten Brust.
Guter Geist.
Der Tugend Kranz umgrüne deine Locken.
Faust.
Auch diesen Kranz entriß der Zweifel mir.
Guter Geist.
Du willst, du willst, und deine Freuden welken.
Faust.
So wähl ich denn, nicht frei, das eigne Weh.
Guter Geist.
Faust! handle glaubend, wie du frei dich fühlest.
Faust.
Nein, nein! ich bin nicht frei, ich will’s nicht sein.
Guter Geist.
So treffe denn die schwere Schuld den Frevler.
Faust.
Die schwere Schuld wälz ich dem Schöpfer zu,
Der mich zu hoch begabt, zu tief gedrückt,
Der feindlich mir den regen Geist gegeben.Guter Geist.
Und ihn zu bändigen, den Willen dir.
Des Rächers Rache trifft den schuld’gen Scheitel!Faust.
Dich, Geist der frühen Rache, schrecklicher,
Der furchtbar ahndend nicht begangne Sünden,
Gedanken nur des Herzens, angstumzischend
Der Hölle Schlangen furchtbar um mich schlingst,
Erschütternd nicht des Mannes ernsten Willen,
Dich straf ich Lügen; nein, ich bin nicht frei;
Ein ehrnes Schicksal waltet über mir
Und unaufhaltsam reißt es mich dahin,
Und eisern fällt, und trifft das grause Los.Böser Geist Halb laut.
Der Falsche lügt sich deinen guten Geist.
Faust.
Du lügst dich meinen guten Geist, entfleuch!
Ich wende mich von dir, ich folge dem.
Belehrung fordr ich, Wahrheit und Erkenntnis.Böser Geist.
Wohlan! so schwöre mir den Preis zu, Faust;
Und öffnen will ich dir der Wahrheit Schätze,
Und was der Mensch vermag, sollst du erkennen.
Selbst brich den Stab denn über deine Seele.Der Stab des Gerichtes wird Fausten in die Hand gezaubert,
er erschrickt, und faßt sich rasch wieder.Faust.
Du, rascher Sohn des Augenblickes, Wille,
Gebäre rasch die Tat.Guter Geist.
Die ernste Tat.
Die spät fortwirkend in der Zeiten Schoße,
Entfallen dir, ein Raub der fremden Mächte,
Gehöre ewig der Notwendigkeit.
Noch, Faust, gehört des Herzens Willen dir.Böser Geist Halblaut und langsam.
Und öffnen will ich dir der Wahrheit Schätze
Und was der Mensch vermag, sollst du erkennen.Faust.
Gehört noch mir, – gedacht, gewollt, gehandelt!
Guter Geist.
Und wagtest du zu denken ihn, den großen,
Den schrecklichen Gedanken: Ewigkeit?Faust.
Ich dacht ihn, ja! doch der Moment allein
Gehört dem Menschen, im Momente lebt er,
Drum kauft er um der Zukunft teuren Preis
Des Augenblickes rasch entflohne Lust.
Es kann die Zukunft auch ein Traum nur sein.Guter Geist.
Und wenn auf Wahrheit jener Traum hindeutet?
Faust.
So mag der Schreckenstraum sich dann entfalten.
Du wetzest selbst des Zweifels gift’gen Zahn,
Der mich zerfleischt. Nicht Wahrheit kann das Herz
Zermalmend treffen, das für sie nur schlägt,
Nur schrecklich ist die Qual mir, die ich dulde;
Sie muß sich enden. Stählern ist die Brust,
Und jedes Schmerzes Pfeil entprallt unmächtig,
Den nicht des Zweifels Schreckensarm geschnellt.
Ich will der ew’gen Rache männlich harren,Und festen Blickes ihr entgegen sehn.
Ich fluche dir, und deinem Gott, und breche
Entschlossen selber des Gerichtes Stab.Guter Geist.
Wehe dem Menschenerzeugten!
Wehe! zerbrechet die Krone.
Er stürzet, nachhallend
Empfängt ihn die Tiefe
Zerschmettert vom jähligen Fall.Es wandle im Tale
Der Menschenerzeugte,
Und weide die Blicke
An blumigen Auen.
Nicht wag er zu heben
In blendende Höhen
Zur Sonne den Blick.
Vom lieblichen Kleide
Der nährende Erde
Rückstrahlt ihm die Farbe,
Ein sanfteres Licht.
Ihm g’nüge der bunte,
Der liebliche Schein.
Nicht gierigen Herzens
Erheb er die Wünsche
Zur Sonne empor.
Erklimmt er der Berge
Beschneiete Gipfel,
Zu nahen der Sonne
Verzehrendem Licht;
Nicht näher der fernen,
Erblindet das Aug ihm,
Und schwankenden Schrittes
Entgleitet der Fuß.
Der schwindlichten Höhe
Entstürzt er, nachhallend
Empfängt ihn die Tiefe
Zerschmettert vom jähligen Fall.Wehe dem Menschenerzeugten!
Wehe! zerbrechet die Krone.
Entwunden den Armen
Der sorgenden Liebe,
Hin eilt er – und stürzet;
Er stürzet, nachhallend
Empfängt ihn die Tiefe
Zerschmettert vom jähligen Fall.Faust den Stab zerbrechend.
Zerbrochen ist der Stab.
Guter Geist.
Er ist zerbrochen.
Böser Geist.
Er ist zerbrochen.
Lange Stille
Faust.
Nun?
Böser Geist.
Ich lache deiner, leichtes Spielwerk du
Der gier’gen Wünsche deines stolzen Herzens;
Ich lache deiner, Tor, den ich verachte,
Und zolle dir den Preis, den du bedungen.Der Zweifel ist menschlichen Wissens Grenze,
Die nur der blinde Glaube überschreitet.
Dich bann ich, ohne Anker, ohne Segel
Zu irren auf dem feindlich dunklen Meere,
Wo dir kein Grund, wo keine Ufer dir,
Dem ohne Hoffnung Strebenden erscheinen;
Bis vor dir nächtlich sich das Tor eröffnet,
Das furchtbar dir geahndete, des Todes,
Und neue Schauder schrecklich dich ergreifen;
Denn mir gehöret deine Ewigkeit:
Ich zolle dir den Preis, den du bedungen.Des Glaubens Blume blühte kindlich dir,
Du hast sie stolz zertreten, forderst Wahrheit.
Wohl! schreckend ruf ich dir die Wahrheit zu:
Aus deiner Weisen Widersprüchen strahlte
Sie dir entgegen, die geahndete:
Der Zweifel ist menschlichen Wissens Grenze,
Es kann der Staubumhüllte nichts erkennen,
Dem Blindgebornen kann kein Licht erscheinen.So wie die Sprache, wie des Wortes Schall
Dir Mittler des Gedankens ist und Zeichen;
So ist des Sinns Empfinden, der Gedanke selbst
Dir Sprache bloß und eitles leeres Zeichen
Der ewig dir verhüllten Wirklichkeit.
Du kannst nur denken durch den Mittler Sprache,
Nur mit dem Sinne schauen die Natur,
Nur nach Gesetzen der Vernunft sie denken.
Und hättest hundert Sinne du und tausend,
Du kargbegabter, und erhöbe freier
Sich dein Gedanke ins vielseitiger –
Befühlte All; so würdest immer du,
Getrennt, vereint mit ihm durch Körpers Bande,
Nur eigne Schatten schaun und nichts erkennen.
Es strebe, trachte angestemmt der Mensch;
Ihm fiel das Los. Der reine Geist allein,
Der ruhende, erkennt; nicht ihn umfaßt
Die ew’ge Mauer, die sich zwischen dir
Und der ersehnten Wahrheit trennend hebt.
Die Mauer stürzt der Tod; die Rächerin,
Sie harret furchtbar deiner in dem Lande,
Wo nicht gestrebet, nicht getrachtet mehr,
Wo zollen einer wird des Lebens Lohn.Nachhallen muß ich deiner Worte Schall,
Nachspiegeln deines Denkens Schatten dir,
Nachlügen deiner Weisen Traumgebilde,
Dir, einem Menschen, ich, ein Geist, zu nahen;
Gedanken, Worte, Menschenträume fassen
Kein ähnlich Bild der ewig dir Verhüllten.
Doch Wahrheit, Wahrheit hast du dir bedungen;
Nun! was der Mensch vermag, sollst du erkennen:Der Zweifel ist menschlichen Wissens Grenze, –
Ist furchtbar rächend deines Lebens Schlange.
Verzweifle, niedrer Erdenwurm, den tiefer
In seinen Staub zurück ich niedertrete;
Nicht heben darfst du jenen dunklen Schleier,
Es bringt die Zeit dir keine Blume mehr,
Und mir gehöret deine Ewigkeit.
So öffn ich rächend dir der Wahrheit Schätze,
So zoll ich dir den Preis, den du bedungen.Faust im Begriff, sich niederzuwerfen gegen die Seite, woher die Stimme des guten Geistes hallte, erhebt sich rasch wieder und spricht.
Nein! niederknieen nicht vor dir, Verkünder
Des siebenmal erfüllten schweren Fluches,
Der mir das Haupt umflammt, und nicht vor ihm.
Vernichtung heißt der Gott, den ich anrufe.
Ihr seid unmächtig, der Vergangenheit
Ihr leicht erworbnes Eigentum zu rauben.O könnt ich wieder fluchen euch! o könnt ich
In Menschenqualen euch verzagen sehn,
In ew’gen Menschenqualen euch verzweifeln,
Und laut auflachend gräßlich euch verhöhnen!
Fluch selber mir, daß ich ohnmächtig bin,
Daß nur ein leiser, eitler Laut der Lippe
Entbebet, in dem Winde zu verhallen!Ersehnte Spornerin der eitlen Wünsche,
Ich habe, Wahrheit, deine Dunstgestalt
Verfolgt, und unermeßlich weit verfolgt,
Und ihr geopfert jeden Hoffnungsschimmer;
Gestrandet steh ich nun auf schroffer Klippe,
Rings um mich her die dunkle tiefe Flut,
Und um das Haupt mir donnerschwangre Wolken.
Ich werde nimmer, nimmer sie umfangen,
Um die ich hin den teuren Preis geworfen!Böser Geist.
Die Mauer stürzt der Tod; die Rächerin,
Sie harret furchtbar deiner in dem Lande,
Wo nicht gestrebet, nicht getrachtet mehr,
Wo zollen einer wird des Lebens Lohn.Faust.
Die Mauer stürzt der Tod; – sie harret meiner
In jenem Lande… – Schlange meines Lebens!
Wo nur das Aug ich wende, starrest du
Mich gräßlich an. – Verdammnis, – Ewigkeit,
Laßt eure Qualen nicht den Zweifel sein!
Umstürze du, Erfüllung, jene Mauer;
Verhüllte Rächerin, sei Rettung mir,
Ich will in jenem Lande dich verfolgen.Wie er sich gegen den Geist wenden will, den Tod zu erflehen, wird ihm ein Dolch in die Hand gezaubert, er wendet die Spitze gegen sein Herz, und stößt ihn langsam hinein.
Verdammnis, ewige, in deinen Schoß! –
Vielleicht Vernichtung nur, vielleicht Erkenntnis,
Gewißheit doch.Er stürzt, die Lampe erlischt, das Theater ist tief verfinstert. Langsam fällt der Vorhang.
Bild: F. C. Weiß: Adelbert von Chamisso, für Julius Eduard Hitzig: derselbe: Werke, 1839.
Soundtrack eigentlich zum anderen Gedicht in dramatischer Form:
Eliza Carthy & Norma Waterson: Bonaparte’s Lament, aus: Gift, 2010:
Dornenstück 0011: Wir wollen keine Vorwarnungen, wir haben schon genug Ärger
Update zu Pflanzenähnlichkeit der Weiber:
Novalis und die Frau als Königin, Mineral und Nahrungsmittel
und Wer hätte da sich um Blumen bekümmert?:
Gehn Sie mir weg mit historischen Romanen. Sag ich jedes Mal, sooft mir einer unterkommt; die ich auch von vorne bis hinten durchhalte, sind selbstverständlich allesamt Ausnahmen. Die Lese-, gleich Lebenszeit gelohnt hat sich zum Beispiel bei Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens, Jakob Wassermann 1908, Der Name der Rose, Umberto Eco 1980 (zweimal!) oder falls der dazuzählt, Lotte in Weimar, Thomas Mann 1939 (auch zwei- und noch nicht das letzte Mal).
Und natürlich konnte ich kein Buch achtlos im Regen aufweichen lassen, das Die blaue Blume heißt, Penelope Fitzgerald 1995 – eine scharf beobachtende Demontage der Sophie von Kühn, die weder viel dafür noch dagegen konnte, dass sie zwölfjährigerweise dem Novalis anverlobt wurde.
——— Penelope Fitzgerald:
Was ist Schmerz?
aus: Die blaue Blume, 1995,
übs. Christa Krüger, Insel 1999, Seite 145 f.:
Was wäre, wenn es keinen Schmerz gäbe? Als sie alle noch Kinder in Grüningen waren, versammelte Friederike, damals noch nicht die Mandelsloh, aber schon in der Pflicht, die Geschwister nach dem Abendgebet um sich und erzählte ihnen eine Sonntagsgeschichte. „Es war einmal ein ehrlicher Kaufmann“, sagte sie, „dem ging es nicht wie uns: Er spürte nie Schmerzen. Von Geburt an hatte er keine Schmerzen gehabt, und so merkte er als Fünfundvierzigjähriger nicht, daß er sehr krank war, und dachte gar nicht daran, den Arzt zu rufen, bis er eines Nachts hörte, wie sich die Zimmertür öffnete, und als er sich im Bett aufsetzte, sah er im hellen Mondlicht, daß jemand, den er nicht kannte, in sein Zimmer gekommen war, und das war der Tod.“
Sophie hatte damals den Sinn der Geschichte nicht verstanden. „Der hatte aber Glück, Frieke.“
„Nein, gar nicht. Der Schmerz hätte ihn vor der Krankheit gewarnt, aber so war er nicht vorgewarnt.“
„Wir wollen keine Vorwarnungen“, erklärten ihr die Kinder. „Wir haben schon genug Ärger.“
„Aber ihm blieb keine Zeit zum Nachdenken, was er mit seinem Leben angefangen hatte, und er konnte nicht bereuen.“
„Reue ist für alte Weiber und Arschlöcher“, brüllte George.
„George, es ist nicht zum Aushalten mit dir“, sagte Friederike. „Du müßtest in der Schule Prügel bekommen.“
„Ich bekomme ja Prügel“, sagte George.
Eine Logik, die mir, historisch gewandet oder aktuell kolportiert, immer schon sehr zugesagt hat.
Wo wir bei historischen Romanen sind: Ausdrückliche Warnung ergeht an dieser Stelle vor Witiko, Adalbert Stifter 1867, Die Säulen der Erde, Ken Follett 1989, und, falls die dazuzählen, Die Wanderhure, „Iny Lorentz“ 2004 ff.
Fachliteratur zur Prügelstrafe:
- Andi: Recherche über die Körperstrafe, Dauerblog 26. April 2019;
- Susanne Grüter: Vom langen Kampf für die Kinderrechte, Deutschlandfunk 25. August 2019.
Bild: Johann Peter Hasenclever: Der erste Schultag, 1852.
Soundtrack: Mazzy Star: Blue Flower, aus: She Hangs Brightly, 1990, live 9. Juli 1994:
Dornenstück 0010: Antisterntaler
Update zu Moral, das ist wenn man moralisch ist, versteht Er. (Kartoffeln schmälzen),
Dieses treffliche Märchen vom Schmidt
und Ein holprichtes Lied mit tiefer und rauher Stimme::
In my own grim dead times of depression, the sun is brutal, the moon is mocking, the stars are terrifying. But Saturn, spinning in its lonely rings, is kind.
Sam Kriss: The Sadness of Saturn, 10. Oktober 2017.
Das Märchen ist ebenso ein Diminutiv wie das Mädchen, das Diminutiv ein Neutrum, die Augmentativa beider ersteren sind Feminina. Auch keine Erklärung dafür, dass man sich im traurigsten Märchen der Welt „ein arm Kind“ automatisch als Mädchen vorstellt.
——— Georg Büchner:
Marie mit Mädchen vor der Hausthür.
aus: Woyzeck, 1836,
cit. nach Georg Büchner: Werke und Briefe, Münchner Ausgabe, dtv 1988, Seite 252:
Kinder. Marieche sing du uns.
Marie. Kommt ihr klei Krabbe!
Ringle, ringel Rosekranz,
König Herodes.
…
Großmutter erzähl!
Großmutter. Es war eimal ein arm Kind und hat kein Vater und kei Mutter, war Alles tot und war Niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es ist hingangen und hat gerrt Tag und Nacht. Und wie auf der Erd Niemand mehr war, wollt’s in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an und wie’s endlich zum Mond kam, war’s ein Stück faul Holz und da ist es zur Sonn gangen und wie’s zur Sonn kam, war’s ein verwelkt Sonneblum und wie’s zu den Sterne kam warn’s klei golde Mücke, die warn angesteckt wie der Neuntöter sie auf die Schlehe steckt, und wie’s wieder auf die Erd wollt, war die Erd ein umgestürzter Hafen und war ganz allein und da hat sich’s hingesetzt und gerrt und da sitzt es noch und ist ganz allein.
Woyzeck.. Marie!
Marie. (erschreckt). Was ist?
Woyzeck. Marie]wir wolle gehn, ’s ist Zeit.
Marie. Wohinaus?
Woyzeck. Weiß ich’s?
Quellen:
- Jean Paul: Die unsichtbare Loge, 1793;
- Die sieben Raben, KHM 25, ATU 451, 1812 ff.;
- Achim von Arnim: Die drei liebreichen Schwestern und der glückliche Färber, 1812;
- Ludwig Tieck: Alla-Moddin, 1829.
Die Sterntaler, KHM 153, ATU 779H*, 1812 ff.;
Fachliteratur: Richard Kämmerlings: Im Hafen: Großmutters Märchen aus „Woyzeck“,
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. Januar 2006.
Bilder: Josef Walch: Es war einmal ein arm Kind …, Kunst + Unterricht, Heft 48, 1978, Seite 46;
Robert Leinweber: Sterntaler, 1893, via Grimm-Bilder.
But Saturn is kind: Dead Fingers: Ring Around Saturn, aus: Dead Fingers, 2012:
Blumenstück 009: Hunde reden nicht so viel
Update zu La feuille s’émeut comme l’aile dans les noirs taillis frémissants,
Wie Champagnerschaum das wilde Gelächter (deine Erdbeer- und Himbeerdüfte)
und Das Ungeheuer von Laster, das nicht einmal den Namen Feigheit verdient:
Un bon chien vaut mieux que deux kilos de rats.
Boris Vian.
——— Boris Vian:
9 février 1948,
dans: Cantilènes en gelée, 1949,
Poèmes inédits, 1970,
collection 10/18, page 97,
deutsch in eigener Übersetzung, ca. April 2022:
Bonjour, chien
|
Grüß dich, HundIch erblicke einen Hund auf der Straße |
Image: Ирина Ожерельева: Boris Vian „Bonjour, chien“, 20. April 2019.
Hunde singen Blues: Pink Floyd: Seamus, aus: Meddle, 1971,
als Mademoiselle Nobs ohne Text, weil der zweibeinige Sänger den Mund voll hat,
in den Studios de Boulogne, Paris im Frühling 1972 für Live at Pompeii, 1972:
I was in the kitchen,
Seamus, that’s the dog, was outside.
Well, I was in the kitchen,
Seamus, my old hound, was outside.
Well, the sun sinks slowly
But my old hound just sat right down and cried.
Fruchtstück 0005: Opening a can of sardines can be an art
Update for Katerladen and
Dornenstück 0003: Junge Mädchen mit Mündern wie Barrakudas und Körpern wie Zitronenbäume:
——— Charles Bukowski:
Style
c. 1972:
Style is the answer to everything.
A fresh way to approach a dull or a dangerous thing.
To do a dull thing with style is preferable to doing a dangerous thing without it.
To do a dangerous thing with style is what i call art.Bullfighting can be an art,
Boxing can be an art,
Loving can be an art,
Opening a can of sardines can be an art.Not many have style.
Not many can keep style.
I have seen dogs with more style than men,
although not many dogs have style.
Cats have it with abundance.When Hemingway put his brains to the wall with a shotgun,
that was style.
Or sometimes people give you style
Joan of Arc had style,
John the Baptist,
Christ,
Socrates,
Caesar,
García Lorca.I have met men in jail with style.
I have met more men in jail with style than men out of jail.
Style is the difference, a way of doing, a way of being done.
Six herons standing quietly in a pool of water,
or you, naked, walking out of the bathroom without seeing me.
Image: RapidHeartMovement: :behind the scenes:, November 7th, 2015,
via Ahmad Mahbouba, in: Charles Bukowski, Facebook, March 12th, 2022.
Blumenstück 008: Zartes, weißes Knospenblümlein, hebe dein Herz
Update zu Wer hätte da sich um Blumen bekümmert?,
Blumenstück 007: Das Blümchen, das dem Tal entblüht (wenn Krampf dir durch die Nerven glüht)
und Fruchtstück 0004: Der heil’ge Rhythmus in Verselein und Rimelein:
Der Lyrik des Postironismus hinterherspürend kann einem aufmerksamen Leser auffallen, wie rückständig sich eigentlich die Lyriker des Novecento gebärdeten: kein Reim und kein Rhythmus nicht aus Not, sondern als Ideal, der Inhalt nach beliebigen Kriterien in Verse aufgeteilt, und wenn gerade kein Inhalt zur Hand war, umso besser.
Sotane Ansicht klingt heute noch viel rückständiger, als Jörn Pfennig jemals war, aber von der umgekehrten Begeisterung, wie modern uns die alten Recken der wichtigen Jahrhunderte heute noch zu sagen haben, kommt auch nicht mehr Erkenntniswert ums Eck.
Veranschaulichen wir’s am vorgefallenen Beispiel: Auf die Überlegung konnte ich über dem Versuch verfallen, mir Rolf Dieter Brinkmann anzueignen – vorerst antiquarisch, nicht geistig –, und bin dann bei den Polymetern von Jean Paul hängen geblieben.
Was nämlich tut der Aufklärer, Klassiker und Romantiker in einem Jean Paul? Jean Paul geht her und erfindet und kultiviert die halblyrische Form des Streckverses oder Polymeters: rhythmische Prosa, die auf keine Zeilenaufteilung angewiesen ist und sich, wie anarchisch verwildert auch immer, in den sehr viel größeren Rahmen der Romane einfügt. Dem Manne sieht man sogar ein „unbeschreiblich-lieblich lächelnd“ als parodistische Absicht nach. Am Ende hat da die erst später mit Ansage einsetzende Lyrik sogar schon angefangen. Deutschlehrer, übernehmen Sie. Dafür ein paar Schuljahre lang ein, zwei Stunden weniger Erich Fried, ja?
An Bildmaterial waren nur Blümchen mit immerhin weißen Blütenblättern und gelber Mitte aufzutreiben, die thematisch vorgegebenen Convallaria majalis waren zu speziell, flechten sich aber zusammen mit dem Soundtrack der ersten Fun-Punk-Band Deutschlands, den Nürnberger Carsons, doch wieder zum berückendsten Jungfernkranz – … denn ›Wallflower‹ heißt »Goldlack« und Lily of the valley heißt Maiglöckchen.
——— Jean Paul:
Nr. 59. Notenschnecke
angeblich aus dem Poeten-Winkel eines Haslauer Blattes
in: Flegeljahre, Viertes Bändchen, 1805, Cotta, Tübingen 1804 f.:
Sie bat auch um das Setzen des Gesangs; Walt schwur wieder. „Aber sogar um die Verse dazu muß ich Ihren werten Freund angehen“, setzte sie unbeschreiblich-lieblich lächelnd hinzu, „da ich ihn aus unserer Zeitung als einen weichen Dichter des Herzens kenne.“
Ganz froh erstaunt fragte Walt, was Vult darin gemacht. Sie sagt‘ ihm – mit der den Literatoren noch gewöhnlichern Verwechslung gleicher Namen – folgenden Polymeter von ihm selber her:
Das Maiblümchen
Weißes Glöckchen mit dem gelben Klöppel, warum senkst du dich? Ist es Scham, weil du, bleich wie Schnee, früher die Erde durchbrichst als die großen stolzen Farbenflammen der Tulpen und der Rosen? – Oder senkst du dein weißes Herz vor dem gewaltigen Himmel, der die neue Erde auf der alten erschafft, oder vor dem stürmenden Mai? Oder willt du gern deinen Tautropfen wie ein Freuden-Träne vergießen für die junge schöne Erde? – Zartes, weißes Knospenblümlein, hebe dein Herz! Ich will es füllen mit Blicken der Liebe, mit Tränen der Wonne. O Schönste, du erste Liebe des Frühlings, hebe dein Herz!
Walten waren unter dem Zuhören vor Freude und Liebe und vor Dichtkunst die Augen Übergegangen – und Wina hatte mit geweint, ohne es zu merken –; darauf sagt‘ er: „Ich habe wohl den Vers gemacht.“
Erste Liebe des Frühlings, hebe dein Herz: Try Intimacy: Mon fils m’a cueilli cette fleur hier:
De profil und Un peu de dos, beide 13. Mai 2014, in Flickr erloschen.
Sie bat auch um das Setzen des Gesangs: Carson Sage and the Black Riders:
Red is the Rose, irische Variante eines Scottish Tradtional, arrangiert von M. Nawroth,
aus: Skirl O’Carson, 1991, wiederverwendet in: Walk With an Erection, 1993:
Dornenstück 0008: Aber leider drohte schon wieder ein andres Übel im Hintergrund
Update zu Ermüdung und Verwirrung des Geistes, Eigendünkel, Unwissenheit und Hochmut,
Coronadvent 2: In den blutbetauten Hallen ihres Schwelggelags
und Schlossers fliegendes Schaf:
Wenn Andre vieles um den Einen thun;
So ist’s auch billig, dass der Eine wieder
Sich fleißig frage, was den Andern nützt.Goethe: Torquato Tasso, Fünfter Aufzug, Erster Auftritt, 1790.
Ein gedeihliches neues Jahr gewünscht.
Damit es auch ein gesundes wird, muss das jetzt sein – und ich wünschte bei meinem Höheren Wesen, es wäre anders –, obwohl ich damit gleich zwei gute Vorsätze fürs junge 2022 breche: erstens, „nix mit Corona“ auszuwalzen, zweitens nicht zu viele Textausschnitte vom Werkanfang zu verwenden: Die meisten Bücher, die ich hier leichtherzig einer reifen Jugend näherzubringen suche, stehen eher in dem Ruch, zu dick zu sein als zu wenig Auswahl zu bieten, da kann man ruhig mal was von hinter Seite 100 hernehmen und nicht ewig nur das ohnehin kaputtzitierte Highlight aus Teil I, 1. Abschnitt, Kapitel 1.
Bei einer Qualität der Argumentation, wie sie von Impfgegnern nicht einfach nur billigend in Kauf genommen, sondern in allen Wortsinnen wild verfochten wird, kann man das Zitat aus dem Anfang von Dichtung und Wahrheit getrost als implizite Aufforderung, sich gegen eine weltweit lebensgefährdende Seuche impfen zu lassen, durchwinken.
Im übrigen verlor die Familie Goethe zwischen 1752 und 1766 insgesamt vier Kinder – zwei Mädchen und zwei Jungen im ersten bis zweiten Lebensjahr – an die Pocken. Allein Goethes Bruder Hermann Jakob, 1752 bis 1759, erreichte noch das siebente Lebensjahr, ein halbwegs ernstzunehmendes Alter von immer noch keinen 27 Jahren erreichte Schwester Cornelia – soviel man weiß, pockenfrei.
Erwartbare Gegenargumente des Impfgegners aus Ihrer Nachbarschaft sind erstens: Goethe ist doch seit Jahrhunderten tot, und zweitens: Der Kerl hätte einem auch Aderlass empfohlen. Dem ist auf geeignete Weise entgegenzutreten mit erstens: Ist aber weiterhin Goethe, und zweitens: Na und?
——— Johann Wolfgang von Goethe:
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit
Erster Theil, Erstes Buch, 1811:
Wie eine Familienspazirfahrt im Sommer durch ein ploͤtzliches Gewitter auf eine hoͤchst verdrießliche Weise gestoͤrt, und ein froher Zustand in den widerwaͤrtigsten verwandelt wird, so fallen auch die Kinderkrankheiten unerwartet in die schoͤnste Jahrszeit des Fruͤhlebens. Mir erging es auch nicht anders. Ich hatte mir eben den Fortunatus mit seinem Seckel und Wuͤnschhuͤthlein gekauft, als mich ein Misbehagen und ein Fieber uͤberfiel, wodurch die Pocken sich ankuͤndigten. Die Einimpfung derselben ward bey uns noch immer fuͤr sehr problematisch angesehen, und ob sie gleich populare Schriftsteller schon faßlich und eindringlich empfohlen; so zauderten doch die deutschen Aerzte mit einer Operation, welche der Natur vorzugreifen schien. Speculirende Englaͤnder kamen daher aufs feste Land und impften, gegen ein ansehnliches Honorar, die Kinder solcher Personen, die sie wohlhabend und frey von Vorurtheil fanden. Die Mehrzahl jedoch war noch immer dem alten Unheil ausgesetzt; die Krankheit wuͤthete durch die Familien, toͤdtete und entstellte viele Kinder, und wenige Aeltern wagten es, nach einem Mittel zu greifen, dessen wahrscheinliche Huͤlfe doch schon durch den Erfolg mannigfaltig bestaͤtigt war. Das Uebel betraf nun auch unser Haus, und uͤberfiel mich mit ganz besonderer Heftigkeit. Der ganze Koͤrper war mit Blattern uͤbersaͤet, das Gesicht zugedeckt, und ich lag mehrere Tage blind und in großen Leiden. Man suchte die moͤglichste Linderung, und versprach mir goldene Berge, wenn ich mich ruhig verhalten und das Uebel nicht durch Reiben und Kratzen vermehren wollte. Ich gewann es uͤber mich; indessen hielt man uns, nach herrschendem Vorurtheil, so warm als moͤglich, und schaͤrfte dadurch nur das Uebel. Endlich, nach traurig verflossener Zeit, fiel es mir wie eine Maske vom Gesicht, ohne daß die Blattern eine sichtbare Spur auf der Haut zuruͤckgelassen; aber die Bildung war merklich veraͤndert. Ich selbst war zufrieden, nur wieder das Tageslicht zu sehen, und nach und nach die fleckige Haut zu verlieren; aber Andere waren unbarmherzig genug, mich oͤfters an den vorigen Zustand zu erinnern; besonders eine sehr lebhafte Tante, die fruͤher Abgoͤtterey mit mir getrieben hatte, konnte mich, selbst noch in spaͤtern Jahren, selten ansehen, ohne auszurufen: Pfui Teufel! Vetter, wie garstig ist er geworden! Dann erzaͤhlte sie mir umstaͤndlich, wie sie sich sonst an mir ergetzt, welches Aufsehen sie erregt, wenn sie mich umhergetragen; und so erfuhr ich fruͤhzeitig, daß uns die Menschen fuͤr das Vergnuͤgen, das wir ihnen gewaͤhrt haben, sehr oft empfindlich buͤßen lassen.
Weder von Masern, noch Windblattern, und wie die Quaͤlgeister der Jugend heißen moͤgen, blieb ich verschont, und jedesmal versicherte man mir, es waͤre ein Gluͤck, daß dieses Uebel nun fuͤr immer voruͤber sey; aber leider drohte schon wieder ein andres im Hintergrund und ruͤckte heran.
Bilder: via Stolze Prüde/Fröhliger Luftschiffer, 9. Dezember 2021.
Soundtrack: The Velvet Underground: Heroin, aus: The Velvet Underground & Nico, 1967:
Nachtstück 0029: Hat es hier auf Erden nicht genug Lärm und Wirrnis gegeben?
Update zu Und waiß nit, wann,
Stiefpilzin,
Ein Kreuzchen oder Stein,
Break in college sick bay,
Du Uhu du und
Etwas distinkt Metaphysisch-Transzendentales:
Das scheint ein Original von Frank T. Zumbach zu sein, jedenfalls war es nirgends anderwärts nachzuweisen. Zuzeiten überliefert er auch wärmende Gedanken — und löscht sie wieder. Wie gut, dass wir da sind, um dem Vergessen in den Arm zu fallen.
——— Frank T. Zumbach:
Kommentar zu Hank Nagler:
Licht im Treppenhaus 2021
in: Balan Street Suicide Pictures, 16. August 2021:
Eine uralte irische Sicht lautet:
Wer fürchtet sich vor dem Tode? Ich denke, nur Narren. Denn es ist ja nicht so, daß er nur einem widerführe, sondern allen. Die Reise, auf die sich mein Freund begibt, kann ich ebenso unternehmen. Wenn ich auch sonst nichts weiß, so weiß ich doch, daß ich dorthin gehe, wohin er gegangen ist. Oh, daß ihr zurückschreckt vor jener kleinen Tür, durch die so viele freundliche und liebenswerte Seelen vor euch geschritten sind! Wollt ihr da zurückstehen? Ist es in eurem Falle schwerer und unzumutbarer als für irgend jemand sonst? Gewiß nicht. Zu viel Stille, glaubt ihr? Hat es hier auf Erden nicht genug Lärm und Wirrnis gegeben? Wenn es an der Zeit ist, geht nur guten Mutes. Wohin so viel an Größe und Sanftmut hinüberwechselte, könnt ihr freudig nachfolgen.
Freundliche und liebenswerte Seelen: First Aid Kit: Ghost Town, aus: The Big Black and the Blue, 2010:
If you’ve got visions of the past,
let them follow you down
and they’ll come back to you someday.
And I found myself attached
to this railroad track,
but I’ll come back to you someday.
Blumenstück 007: Das Blümchen, das dem Tal entblüht (wenn Krampf dir durch die Nerven glüht)
Update zu Blumenstück 005: Versprich du es auch:
Welchen Wert legen eigentlich die Verstorbenen auf Geschenke zu ihren Gedenktagen? Naturgemäß fällt ihnen deren Annahme schwer, sosehr manche Leute, an die man sich forterinnert, ein Geschenk verdient hätten: Sie haben genug gelitten. Es geht um Heinrich von Kleist, geboren nach eigener Angabe 10. oder laut Kirchenbuch 18. Oktober 1777 zu Frankfurt an der Oder — und 21. November 1811 erweiterter Selbstmord am Stolper Loch.
Von mir bekommt er zum unrunden Geburtstag nur seine eigene Mehrfachverwertung: 1808 ging das folgende Gedicht von Kleist an seine „liebe treffliche Freundlin“ (cit. Kleist, 18. November 1811) Sophie von Haza, ein Jahr später — wohl als eine Art Dokumentation eines Gelegenheitsgedichts — in sein Kunstjournal Phöbus, 203 Jahre später am 26. d. M. als Gedicht des Monats März 2011 vom Haus der deutschen Sprache an jeden, der es wissen will, heute müsste der Verfasser Kleist selber damit leben, wenn er nicht seit 210 Jahren am Kleinen Wannsee ruhte.
——— Heinrich von Kleist:
An S. v. H.
(als sie die Camille besungen wissen wollte.)
Albumblatt, Dresden 1808,
Druck in: Phöbus. Ein Journal für die Kunst. Erster Jahrgang. Neuntes und Zehntes Stück,
im Verlage der Waltherschen Hofbuchhandlung, Dresden, September und October 1808, Seite 89:
Das Blümchen, das, dem Thal entblüht,
Dir Ruhe giebt und Stille,
Wenn Krampf dir durch die Nerve glüht,
Das nennst du die Camille.Du, die, wenn Krampf das Herz umstrikt,
O Freundin, aus der Fülle
Der Brust, mir so viel Stärkung schickt,
Du bist mir die Camille.H. v. K.
Die Gelegenheit zu diesem Einzelblatt — ausschließlich posthum als Faksimile im Jahrbuch der Kleist-Gesellschaft 1927/1928 erhalten — berichtet Sophiens Tochter Johanna von Haza am 26. November 1816 brieflich an Ludwig Tieck:
Hat Ihnen meine Mutter, ein Gedicht „an die Kamille“ und das „an den König“ geschickt, das für seinen im Frühjahr 1809 erwarteten Einzug bestimmt war? Beides waren nur Gelegenheitsgedichte, aber wie alles von ihm doch von Bedeutung; er dichtete das erste für meine Mutter, die sich einst über die Dichter beklagte, welche alle Blumen nur die Kamille nicht besängen, die doch denen so heilsam sey die, wie sie, an Krämpfen litten Ihr und meiner kleinen Person zu Ehren, wurden sie denn nebst den Vergißmeinnicht und Veilchen im Traum des Käthchen erwähnt.
Frau von Haza kolportiert hier die Gedichtüberschriften ungenau, was wir ihr ebenso formlos nachsehen wollen, wie sie sich äußert. Interessant ist ihr Verweis auf einen „Traum des Käthchen“ — in welchem eine Kamillenblume bei Kleist zum zweiten Mal als ausdrücklicher Gefallen für die ältere Frau von Haza vorkommt.
Stimmt und wird bis heute zahlreich aufgeführt. Heinrich von Kleist, Das Käthchen von Heilbronn, 1810, vierter Akt, zweiter Auftritt:
Graf vom Strahl. Wo bist du denn, mein Herzchen? Sag mir an.
Käthchen.
Auf einer schönen grünen Wiese bin ich,
Wo Alles bunt und voller Blumen ist.Graf vom Strahl. Ach, die Vergißmeinnicht! Ach, die Kamillen!
Käthchen. Und hier die Veilchen; schau! ein ganzer Busch.
Brust, die so viel Stärkung schickt: Jean-Baptiste Greuze: La Simplicité, 1759,
Öl auf Leinwand, 71,1 cm auf 59,7 cm, Kimbell Art Museum, via Gartenbuch.
Soundtrack: Blitzen Trapper: Furr, aus: Furr, 2008:
Filetstück 0003, 3 von 3: Sei nur vor allen Dingen jung! Denn ohne Blüte keine Frucht (Halle und Heidelberg)
Update zu Damit du siehst, wie leicht sich’s leben läßt,
Filetstück 0003, 1 von 3: Europamüde vor Langerweile (Vorwort)
und Filetstück 0003, 2 von 3: Der Adel überhaupt aber zerfiel damals in drei sehr verschiedene Hauptrichtungen (Der Adel und die Revolution):
Der geplante erste Teil von Eichendorffs Memoiren Der Adel und die Revolution wurde von seinem Sohn, zugleich Herausgeber politisch unverfänglicher zu Deutsches Adelsleben am Schlusse des vorigen Jahrhunderts verglimpft. Zur sonstigen Motivation und Anordnung des Fragments siehe den ersten Teil des dreiteiligen „Filetstücks“.
Formale und inhaltliche Anlage sowie Eichendorffs besondere Absicht seiner Memoiren schließen unter anderem ein, dass er bei unserem ungeliebten Schulstoff live dabeigewesen ist. Zum Beispiel mit Arnim & Brentano in der Kneipe gesessen.
——— Joseph von Eichendorff:
Erlebtes
1857, gedruckt posthum in Hermann von Eichendorff, Hrsg.:
Aus dem literarischen Nachlasse Joseph Freiherrn von Eichendorffs, Paderborn 1866,
als Erlebtes. Deutsches Adelsleben am Schlusse des vorigen Jahrhunderts; Halle und Heidelberg:
II. Halle und Heidelberg
Das vorige Jahrhundert wird mit Recht als das Zeitalter der Geisterrevolution bezeichnet. Allein damals wurden nur erst Parole und Feldgeschrei ausgeteilt, es war nur der erste Ausbruch des großen Kampfes, der sich unter wechselnden Evolutionen an das neunzehnte Jahrhundert vererbt hat, und noch bis heute nicht ausgefochten ist. Die deutschen Universitäten aber sind die Werbeplätze und Übungslager dieses von Generation zu Generation sich erneuernden Kriegsheeres. Von Wittenberg ging einst die Reformation aus, von Halle Wolffsche Lehre, von Königsberg die Kantsche, von Jena die die Fichtesche und Schellingsche Philosophie; lauter unsichtbare Gedankenkatastrophen, die einen wesentlichen und entscheidenderen Einfluß auf das Gesamtleben ausgeübt haben, als sich die Staatskünstler träumen ließen.
Bekanntlich ist unser Jahrhundert unter dem Gestirn der Aufklärung geboren. Kant hatte soeben die philosophische Arbeit seiner Vorgänger streng geordnet und, da er dieselbe in seiner großartigen Wahrheitsliebe für das Ganze als unzureichend erkannte, die Welt lieber sogleich in zwei Provinzen geteilt: in die durch menschliche Erfahrung wahrnehmbare, die er sich glorreich erobert, und in die terra incognita des Unsichtbaren, die er mit der nur dem Genie eigenen heiligen Scheu auf sich beruhen ließ. Seine Schüler aber wollten klüger sein als der Meister und alles aufklären; eine Art chinesischer Schönmalerei ohne allen Schatten, der doch das Bild erst wahrhaft lebendig macht. Sie setzten daher nun ihren lichtseligen Verstand ganz allgemein als alleinigen Weltbeherrscher ein; es sollte fortan nur noch einen Vernunftstaat, nur Vernunftreligion, Vernunftpoesie usw. geben. Da jedoch jene zweite dunkle Provinz höchst unvernünftig mit ihrer Phantasie, mit ihrem Glauben, ihren Volksgefühlen und Traditionen gegen dieses unerhörte Regiment zu rebellieren unternahm, so machten sie sich’s bequem, indem sie das Geheimnisvolle und Unerforschliche, das sich durch das ganze menschliche Dasein hindurchzieht, ohne weiteres als störend und überflüssig negierten. Kein Wunder demnach, daß das deutsche Leben und das deutsche Reich, das grade auf diesen unsichtbaren Fundamenten vorzugsweise geruht, sich nun nach allen Seiten hin bedenklich senkte und zuletzt so lebensgefährliche Risse bekam, daß es von Polizei wegen abgetragen werden mußte. Und so war denn in der Tat der ganze alte Bau schon im Anfange unseres Jahrhunderts in sich zusammengebrochen; der Sturm der Französischen Revolution und der nachfolgenden Fremdherrschaft hat nur den unnützen Schutt auseinandergefegt.
Allein auf freiem Felde können dauernd nur Wilde wohnen, über die man sich bei aller Naturvergötterung doch so unendlich erhaben fühlte. Das begriffen alle, und so entstand damals sofort ein unerhörtes Treiben, Klopfen, Hämmern und Richten, als wäre alle Welt plötzlich Freimaurer geworden. Aber der Neubau förderte nicht, weil sie über Fundament, Grund- und Aufriß fortwährend untereinander zankten. Am geschäftigsten und vergnügtesten nämlich zeigten sich zunächst die alten zähen Enzyklopädisten, die jetzt auf dem völlig kahlgefegten Bauplatze endlich ganz freie Hand hatten. Diese wußten wirklich nicht, daß seit Erschaffung der Erde schon mancherlei Bemerkenswertes darauf sich zugetragen; sie wollten daher schlechterdings die Welt ganz von neuem anfangen und abstrakt konstruieren. Als Material hierzu trockneten sie vorerst alle Seelenkräfte auf, um sie in ihren philosophischen Herbarien gehörig zu klassifizieren, und daraus gingen damals die zahllosen neuen Gesetzbücher mit ihren Urrechten und Menschenveredelungen hervor. Sie waren, was sie freilich am wenigsten sein wollten, eigentlich gutmütige Phantasten, wie ja jederzeit grade bei den Nüchternsten das bißchen defekte Phantasie am häufigsten überschnappt, welches der gesunden nicht leicht begegnet. Es ist hiernach auch sehr begreiflich, daß in dieser alles verwischenden Gleichmacherei ohne Nationalität und Geschichte ein kühner Geist, wie Napoleon, den Gedanken einer ganz gleichförmigen europäischen Universalmonarchie fassen konnte.
Aber diesen Transzendentalen gegenüber oder vielmehr direkt entgegen arbeiteten gleichzeitig ganz andere Bauleute: die Freischar der Romantiker, die in Religion, Haus und Staat auf die Vergangenheit wieder zurückgingen; also eigentlich die historische Schule. Das deutsche Leben sollte aus seinen verschütteten geheimnisvollen Wurzeln wieder frisch ausschlagen, das ewig Alte und Neue wieder zu Bewußtsein und Ehren kommen. – Da jedoch beide Parteien einander keineswegs hinreichend gewachsen waren, so nahm bei solchem Stoß und Gegenstoß späterhin die ganze Sache eine diagonale Richtung. Es entstand die aus beiden widerstrebenden Elementen wunderlich komponierte moderne Vaterländerei; ein imaginäres Deutschland, das weder recht vernünftig, noch recht historisch war.
Alle diese verschiedenen Richtungen waren natürlich vorzugsweise und in möglichster Konzentration auch auf den deutschen Universitäten repräsentiert. Namentlich in dem ersten Dezennium unseres Jahrhunderts bildeten dort die obenerwähnten Abstrakten, meist halbverkommene Kantianer, durchaus noch die tonangebende Majorität. Die Philosophen setzten in ihrer Logik, wie wenn man beim Lesen erst wieder buchstabieren sollte, umständlich auseinander, was sich ganz von selbst verstand; die Theologen lehrten eine elegante Aufklärungsreligion; die Juristen ein sogenanntes Naturrecht, das nirgends galt und niemals gelten konnte. Nur etwa die Lehrer des römischen Rechts machten hie und da eine auffallende Ausnahme, weil der Gegenstand sie zwang, sich in das Positive einer großartigen Vergangenheit zu vertiefen. Es ist bekannt, wie Bedeutendes Thibaut auf diesem Felde geleistet und wie der mild-ernste Savigny, der überdies niemals in dieser Reihe gestanden, grade damals sich überall neue Bahnen gebrochen hat. Jene halbinvaliden und philosophischen Handwerker dagegen, da sie an sich so wenig Anziehungskraft besaßen, suchten nun mit allerlei schlauen Kunststücken zu werben; die Derbsten unter ihnen durch zum Teil sehr schmutzige Witze und Späße, die alljährlich bei demselben Paragraphen wiederkehrten; die vornehmeren, zumal wenn sie heiratslustige Töchter hatten, durch intime Soireen und Plaudertees, um die bärtigen Burschen zu zivilisieren. Und das gelang auch ganz vortrefflich, denn zu ihnen hielt in der Tat bei weitem die Mehrzahl der jungen Leute, nämlich alle die unsterblichen Bettelstudenten, wie man sie billigerweise nennen sollte, da sie bloß auf Brot studieren. Es war wahrhaft rührend anzusehen, wie da in den überfüllten Auditorien in der schwülen Atmosphäre der entsetzlichsten Langenweile Lehrer und Schüler um die Wette verzweiflungsvoll mit dem Schlummer rangen, und dennoch überall die Federn unermüdlich fortschwirrten, um die verschlafene Wissenschaft zu Papier zu bringen und in sauberen Heften gewissenhaft heimzutragen.
Allein nebenher ging auch noch ein anderer geharnischter Geist durch diese Universitäten. Sie hatten vom Mittelalter noch ein gut Stück Romantik ererbt, was freilich in der veränderten Welt wunderlich und seltsam genug, fast wie Don Quijote, sich ausnahm. Der durchgreifende Grundgedanke war dennoch ein kerngesunder: der Gegensatz von Ritter und Philister. Stets schlagfertige Tapferkeit war die Kardinaltugend des Studenten, die Muse, die er oft gar nicht kannte, war seine Dame, der Philister der tausendköpfige Drache, der sie schmählich gebunden hielt, und gegen den er daher, wie der Malteser gegen die Ungläubigen, mit Faust, List und Spott beständig zu Felde lag; denn die Jugend kapituliert nicht und kennt noch keine Konzessionen. Und gleichwie überall grade unter Verwandten – weil sie durch gleichartige Gewohnheiten und Prätensionen einander wechselseitig in den Weg treten – oft die grimmigste Feindschaft ausbricht, so wurde auch hier aller Philisterhaß ganz besonders auf die Handwerksburschen (Knoten) gerichtet. Wo diese etwa auf dem sogenannten breiten Steine (dem bescheidenen Vorläufer des jetzigen Trottoirs) sich betreten ließen, oder gar Studentenlieder anzustimmen wagten, wurden sie sofort in die Flucht geschlagen. Waren sie aber vielleicht in allzu bedeutender Mehrzahl, so erscholl das allgemeine Feldgeschrei: „Burschen heraus!“ Da stürzten, ohne nach Grund und Veranlassung zu fragen, halbentkleidete Studenten mit Rapieren und Knütteln aus allen Türen, durch den herbeieilenden Sukkurs des nicht minder rauflustigen Gegenparts wuchs das improvisierte Handgemenge von Schritt zu Schritt, dichte Staubwirbel verhüllten Freund und Feind, die Hunde bellten, die Häscher warfen ihre Bleistifte (mit Fangeisen versehene Stangen) in den verwickelten Knäuel; so wälzte sich der Kampf oft mitten in der Nacht durch Straßen und Gäßchen fort, daß überall Schlafmützen erschrocken aus den Fenstern fuhren und hie und da wohl auch ein gelocktes Mädchenköpfchen in scheuer Neugier hinter den Scheiben sichtbar wurde.
Die damaligen Universitäten hatten überhaupt noch ein durchaus fremdes Aussehen, als lägen sie außer der Welt. Man konnte kaum etwas Malerischeres sehen, als diese phantastischen Studententrachten, ihre sangreichen Wanderzüge in der Umgebung, die nächtlichen Ständchen unter den Fenstern imaginärer Liebchen; dazu das beständige Klirren von Sporen und Rapieren auf allen Straßen, die schönen jugendlichen Gestalten zu Roß, und alles bewaffnet und kampfbereit wie ein lustiges Kriegslager oder ein permanenter Mummenschanz. Alles dies aber kam erst zu rechter Blüte und Bedeutsamkeit, wo die Natur, die ewig jung, auch am getreusten zu der Jugend hält, selber mitdichtend studieren half. Wo, wie z.B. in Heidelberg, der Waldhauch von den Bergen erfrischend durch die Straßen ging und nachts die Brunnen auf den stillen Plätzen rauschten, und in dem Blütenmeer der Gärten rings die Nachtigallen schlugen, mitten zwischen Burgen und Erinnerungen einer großen Vergangenheit; da atmete auch der Student freier auf und schämte vor der ernsten Sagenwelt sich der kleinlichen Brotjägerei und der kindischen Brutalität. Wie großartig im Vergleich mit anderen Studentengelagen war namentlich der Heidelberger Kommers, hoch über der Stadt auf der Altane des halbverfallenen Burgschlosses, wenn rings die Täler abendlich versunken, und von dem Schlosse nun der Widerschein der Fackeln die Stadt, den Neckar und die drauf hingleitenden Nachen beleuchtete, die freudigen Burschenlieder dann wie ein Frühlingsgruß durch die träumerische Stille hinzogen und Wald und Neckar wunderbar mitsangen. – So war das ganze Studentenwesen eigentlich ein wildschönes Märchen, dem gegenüber die übrige Menschheit, die altklug den Maßstab des gewöhnlichen Lebens daran legte, notwendig, wie Sancho Pansa neben Don Quijote, philisterhaft und lächerlich erscheinen mußte.
In jener Zeit brütete äußerlich noch ein unheimlicher Frieden über Deutschland, aber die prophetischen Gedanken, die den Krieg bedeuten, arbeiteten gebunden in jeder Brust, und suchten sich überall in wunderlichen Geheimbünden Luft zu machen. Auch auf den Universitäten bestanden dergleichen Ordensverbindungen, noch ohne speziell politischen Beischmack, bloß auf allgemeine humanistische Zwecke gerichtet, mit allerlei abenteuerlichen Symbolen, furchtbaren Eiden und rasselndem Heldenschmuck, wie man es damals in den vielen Ritterromanen fand. Bestand auch ihr Hauptreiz eben nur in ihrer Heimlichkeit, die Sache war doch ehrlich, bitterernst und für die ganze Lebenszeit gemeint. Als aber jene humanistischen Ideen nach und nach abgenutzt, und alle Lebensverhältnisse immer matter wurden, da trat auch hier an die Stelle der strengen Orden die laxere Observanz der Landsmannschaften. Wie man draußen in der Philisterwelt nun mit dem Anstand statt der Tugend sich begnügte, so gingen auch diese Landsmannschaften eigentlich nur auf den Schein des Seins, auf den bloßen „Komment“. Gegen eine nähere Verbrüderung der speziellen Landsleute, obgleich im allgemeinen beengend und einseitig, ließ sich im Grunde nicht viel einwenden. Allein dies war nicht einmal der Fall bei ihnen, sie warben eifersüchtig auch aus anderen Provinzen und verfolgten die eigenen Landsleute, wenn sie sich ihrem Zwange nicht unterwerfen mochten. Und da mithin hier die rechte sittliche Grundlage fehlte, dieses Treiben vielmehr, wie schon der selbstgewählte fade Name „Kränzchen“ andeutet, sich lediglich auf der Oberfläche geselliger Verhältnisse bewegte; so artete das Ganze sehr bald in bloßes Dekorationswesen, in ein pedantisches Systematisieren der Jugendlust aus; Mut, Fröhlichkeit, Tracht, Trinken, Singen, alles hatte seine handwerksmäßige Tabulatur, das unwürdige Prellen und Pressen der „Füchse“ war ein löbliches Geschäft, Sittenlosigkeit und affektierte Roheit eine besondere Auszeichnung, und es ist hiernach leicht erklärlich, daß grade ihre Matadore im späteren Leben oft die stattlichsten Philister wurden. Mit der inneren Hohlheit aber wuchs die Prätension, sie knechteten die akademische Freiheit, indem jeder nur auf ihre Weise frei sein sollte, und so währte noch langehin ein gewaltiges Ringen zwischen ihnen und den alternden Orden; ein Kampf, der in einzelnen Fällen mit einer heroischen Aufopferung geführt wurde, die wohl eines größeren Zieles würdig gewesen wäre. So faßte z.B. einst ein hervorragendes Ordensmitglied den kühnen Gedanken sich unerkannt mitten in das feindliche Lager zu begeben, um durch Überredung, Rat und Tat die Gegenpartei zu den Seinigen herüberzuführen. Er hatte sich auch wirklich bereits zum Senior einer Landsmannschaft heraufgeschwungen, und der abenteuerliche Plan wäre fast geglückt, als feiger Verrat alles zu früh aufdeckte, und er nun in zahllosen Zweikämpfen sich durch sämtliche Landsmannschaften wieder herausschlagen mußte, was allerdings ein Kampf auf Tod und Leben war. Das mag uns in gesetzteren Jahren jetzt unnütz und kindisch erscheinen; es war aber immerhin eine Vorschule bedeutender Charaktere, die, wie wir wissen, zur Zeit der Not und als es höhere Dinge galt, sich als tüchtig bewährt haben.
So war in der Tat auf den Universitäten eine gewisse mittelalterliche Ritterlichkeit niemals völlig ausgegangen und selbst in jener Verzerrung und Profanation noch erkennbar. Unter allen diesen Jünglingen aber bildeten die eigentlichen, die literarischen Romantiker wiederum eine ganz besondere Sekte. – Die allgemeine Stimmung oder vielmehr Verstimmung war schon seit langer Zeit so prosaisch geworden, daß jeder romantische Anflug für ein Sakrilegium gegen den gesunden Menschenverstand gehalten und höchstens als ein barocker Jugendstreich noch toleriert wurde. Der schwere Proviantwagen der Brotwissenschaften bewegte sich langsam in dem hergebrachten Geleise eines hölzernen Schematismus, die Religion mußte Vernunft annehmen und beim Rationalismus in die Schule gehn, die Natur wurde atomistisch wie ein toter Leichnam zerlegt, die Philologie vergnügte sich gleich einem kindisch gewordenen Greise mit Silbenstechen und endlosen Variationen über ein Thema, das sie längst vergessen, die bildende Kunst endlich brüstete sich mit einer sklavischen Nachahmung der sogenannten Natur. Die Kraftgenies in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hatten durch ihre Übertreibung und lärmende Renommisterei das Übel eigentlich nur noch schlimmer und unheilbarer gemacht, indem sie in vollem Burschenwichs ohne weiteres aus der Universität in die Welt hinaussprengten und Leben und Literatur burschikos einrichten wollten, was natürlicherweise einen allgemeinen Landsturm der Gelehrten gegen die Freibeuter auf die Beine brachte. Zwar hatten Lessing, Hamann und Herder nach den verschiedensten Richtungen hin schon Blitze und Leuchtkugeln dazwischengeschleudert. Allein Lessings kritische Blitze waren nur kalte Schläge, und da sie nicht zündeten, meinte jeder, es gelte den Nachbar, und hielt ihn getrost für den Seinigen. Herder dagegen trug aus aller Welt herrliche Bausteine zusammen, als es aber ans Bauen kam, war er inzwischen alt und müde geworden, sein Leben und Wirken blieb ein großartiges Fragment; und Hamanns Geisterstimme verklang unverstanden in den Wolken. Auch in der Poesie hatten Goethe und Schiller bereits den neuen Tag angebrochen, aber sie hatten noch keine Gemeinde. Das Wetterleuchten dieser Genien, obgleich den Frühling andeutend und vorbereitend, blendete und erschreckte vielmehr im ersten Augenblick die Menge; man hörte überall die Sturmglocken gehn, niemand aber wußte, ob und wo es brennt, die einen wollten löschen, die anderen schüren, und so entstand die allgemeine Konfusion, womit das neunzehnte Jahrhundert debütierte.
Da standen unerwartet und fast gleichzeitig mehrere gewaltige Geister in bisher ganz unerhörter Rüstung auf: Schelling, Novalis, die Schlegels, Görres, Steffens und Tieck. Schelling mit seiner kleinen Schrift über das akademische Studium, worin er den geheimnisvollen Zusammenhang in den Erscheinungen der Natur sowie in den Wissenschaften andeutete, warf den ersten Feuerbrand in die Jugend; gleich darauf suchten andere diese pulsierende Weltseele in den einzelnen Doktrinen nachzuweisen: Werner in der Geologie, Creuzer im Altertum und dessen Götterlehre, Novalis in der Poesie. Es war, als sei überall, ohne Verabredung und sichtbaren Verein, eine Verschwörung der Gelehrten ausgebrochen, die auf einmal eine ganz neue wunderbare Welt aufdeckte.
Am auffallendsten wohl zeigte sich die Verwirrung, welche diese plötzliche Revolution anrichtete, auf der damals frequentesten Universität: in Halle, weil dort das heterogenste Material auch den entschiedensten Kampf provozierte. Hier trennte sich alles in zwei Hauptlager: in das stabile der Halbinvaliden, und das bewegliche des neuen Freikorps, während das letztere wieder in mehrere verschiedenartige Gruppen zerfiel, welche aber von der Jugend, die noch nicht so ängstlich sondert, unter den Begriff der Romantik zusammengefaßt wurden. An der Spitze der Romantiker stand Steffens. Jung, schlank, von edler Gesichtsbildung und feurigem Auge, in begeisterter Rede kühn und wunderbar mit der ihm noch fremden Sprache ringend, so war seine Persönlichkeit selbst schon eine romantische Erscheinung, und zum Führer einer begeisterungsfähigen Jugend vorzüglich geeignet. Sein freier Vortrag hatte durchaus etwas Hinreißendes durch die dichterische Improvisation, womit er in allen Erscheinungen des Lebens die verhüllte Poesie mehr divinierte, als wirklich nachwies. Am unmittelbarsten mußte diese Naturphilosophie begreiflicherweise die Mediziner berühren, unter denen die besseren Köpfe sich jetzt von der bisherigen Empirie zu dem ritterlichen Reil und zu Froriep wandten, die überall auf das geheimnisvolle Walten höherer Naturkräfte hindeuteten. – Eine andere Gruppe wieder bildeten die jungen Theologen, welche sich um Schleiermacher scharten. Dieser merkwürdig komponierte Geist schien, seiner ursprünglichen stachelichten Anlage nach zum Antipoden der Romantik geeignet; und doch hielt er wacker zu ihr, und hat auf demselben platonischen Wege der Theologie, die damals zum Teil in toten Formeln, zum Teil in fader Erfahrungsseelenlehre sich erging, wieder Gemüt erobert; eine Art von geharnischtem Pietismus, der mit scharfer Dialektik alle Sentimentalität männlich zurückwies. – Am entferntesten wären vielleicht die Philologen geblieben, hätte nicht Wolf, obgleich persönlich nichts weniger als Romantiker, hier wider Wissen und Willen die Vermittelung übernommen durch den divinatorischen Geist, womit er das ganze Altertum wieder lebendig zu machen wußte, sowie durch eine geniale Humoristik und den schneidenden Witz, mit dem der stets Streitlustige gegen Schütz und andere, welche die Alten noch immer mumienhaft einzubalsamieren fortfuhren, fast in dramatischer Weise beständig zu Felde lag. – Zwischen diese Gruppen klemmte sich endlich noch eine ganz besondere Spezies von Philosophen herein, die den unmöglichen Versuch machte, die Kantsche Lehre ins Romantische zu übersetzen. Hierher gehörte Professor Kayßler, ein ehemaliger katholischer Priester, der geheiratet, und nun, gleichsam zur Rechtfertigung dieses abenteuerlichen Schrittes, sich eine noch abenteuerlichere Philosophie erfunden hatte. Er hatte es indes als doppelter Renegat mit den Kantianern wie mit den Romantikern verdorben; seine trockenen, abstrusen Vorträge fanden fast nur unter seinen schlesischen Landsleuten geringen Anklang, und wir wollten ihn hier bloß nennen, um das Bild der damaligen elementarischen Gärung möglichst zu vervollständigen. – Gegenüber allen diesen neuen Bestrebungen lag aber die breite schwere Masse der Kantschen Orthodoxen und der Stockjuristen, sämtlich von dem wohlfeilen Kunststück vor nehmen Ignorierens fleißig Gebrauch machend; unter den letzteren einerseits Schmaltz, der nachherige Geheimrat der Demagogenjäger, der die Kantsche Philosophie, die er vor kurzem sich in Königsberg geholt, auf seine faselige Weise elegant zu machen suchte; andrerseits Dabelow, König, Woltaer u.a., die von der Philosophie überhaupt nichts wußten.
Übrigens stand Halle, so unfreundlich auch die Stadt und ein großer Teil ihrer Umgebung ist, in jener Zeit noch in mancherlei lokalem Rapport mit der romantischen Stimmung. Der nahe Giebichenstein mit seiner Burgruine, an die sich die Sage von Ludwig dem Springer knüpft, war damals noch nicht modern englisiert und eingehegt, wie jetzt, und bot in seiner verwilderten Einsamkeit eine ganz artige Werkstatt für ein junges Dichterherz. Wer als Jüngling von dieser Höhe hinabgeblickt, und sie im Alter nach vielen Jahren wiedersieht, dem wird vielleicht dabei ungefähr zumute sein, wie dem Autor nachstehenden Liedchens:
Da steht eine Burg überm Tale
Und schaut in den Strom hinein,
Das ist die fröhliche Saale,
Das ist der Giebichenstein.Da hab ich so oft gestanden,
Es blühten Täler und Höhn,
Und seitdem in allen Landen
Sah ich nimmer die Welt so schön!Durchs Grün da Gesänge schallten,
Von Rossen, zu Lust und Streit,
Schauten viel schlanke Gestalten
Gleichwie in der Ritterzeit.Wir waren die fahrenden Ritter,
Eine Burg war noch jedes Haus,
Es schaute durchs Blumengitter
Manch schönes Fräulein heraus.Das Fräulein ist alt geworden,
Und unter Philistern umher
Zerstreut ist der Ritterorden,
Kennt keiner den andern mehr.Auf dem verfallenen Schlosse,
Wie der Burggeist, halb im Traum,
Steh ich jetzt ohne Genossen
Und kenne die Gegend kaum.Und Lieder und Lust und Schmerzen,
Wie liegen sie nun so weit –
Jugend, wie tut im Herzen
Mir deine Schönheit so leid.Völlig mystisch dagegen erschien gar vielen der am Giebichenstein belegene Reichhardsche Garten mit seinen geistreichen und schönen Töchtern, von denen die eine Goethesche Lieder komponierte, die andere sogar Steffens‘ Braut war. Dort aus den geheimnisvollen Bosketts schallten oft in lauen Sommernächten, wie von einer unnahbaren Zauberinsel, Gesang und Gitarrenklänge herüber; und wie mancher junge Poet blickte da vergeblich durch das Gittertor, oder saß auf der Gartenmauer zwischen den blühenden Zweigen die halbe Nacht, künftige Romane vorausträumend. – Nicht allzu fern davon aber, um auch in dieser Beziehung die Gegensätze zu vervollständigen, bewohnte Lafontaine ein idyllisches Landhaus. Man erzählte von ihm, daß er selbst an seinen schlechten Romanen eigentlich am wenigsten schuld sei, daß ihn vielmehr seine Verleger von Zeit zu Zeit nach Berlin verlockten und dort so lange gleichsam eingesperrt hielten, bis er einen neuen dicken Roman fertig gemacht; was er denn, um nur wieder freizukommen, jedesmal mit unglaublicher Geschwindigkeit besorgt habe. Und hiemit stimmte in der Tat auch seine ganze äußere Erscheinung. Es war ein bequemer, freundlicher, lebensfroher Mann, der jetzt, da die Zeit seine Sentimentalität quiesziert hatte, sich getrost auf das Übersetzen alter Klassiker verlegte, und wie ein harmloser Revenant unter der verwandelten Generation umherging.
Von nicht geringer Bedeutsamkeit war auch die Nähe von Lauchstädt, wo die Weimarschen Schauspieler während der Badesaison Vorstellungen gaben. Diese Truppe war damals in der Tat ein merkwürdiges Phänomen, und hatte unter Goethes und Schillers persönlicher Leitung wirklich erreicht, was späterhin andere, z.B. Immermann in Düsseldorf, vergeblich anstrebten, nämlich das Theater zu einer höheren Kunstanstalt und poetischen Schule des Publikums emporzuheben. Sie hatten allerdings, und wir möchten fast hinzufügen: glücklicherweise, keine eminent hervorragenden Talente, die durch das Hervortreten einer übermächtigen Persönlichkeit so oft die Harmonie des Ganzen mehr stören als fördern, gleichwie die sogenannten schönen Stellen noch lange kein Gedicht machen. Aber sie hatten, was damals überall fehlte, ein künstlerisches Zusammenspiel. Denn eben jener höhere Aufschwung der waltenden Intentionen hob alle gleichmäßig über das Gewöhnliche und schloß das Gemeine oder Mittelmäßige von selbst aus; jeder hatte ein intimeres Verständnis seiner Kunst und seiner jedesmaligen Aufgabe, und ging daher mit Lust und Begeisterung ans Werk. Und so durften sie wagen, was den berühmtesten Hoftheatern bei unverhältmäßig größeren Kräften damals noch gar nicht in den Sinn kam. Mitten in der allgemeinen Misere der Kotzebueaden und Iffländerei eroberten sie sich kühn ganz neue Provinzen; gleichsam die Tragweite der Kunstwerke und des Publikums nach allen Seiten hin prüfend, brachten sie Calderon auf die Bühne, gaben den „Alarcos“ und den „Jon“ der Schlegel, Brentanos „Ponce de Leon“ usw. – Man kann leicht denken, wie sehr dieses Verfahren grade das empfänglichste und dankbarste Publikum der Studenten enthusiasmieren mußte. Die Komödienzettel kamen des Morgens schon, gleich Götterboten, nach Halle herüber, und wurden, wie später etwa die politischen Zeitungen und Kriegsbulletins, beim „Kuchenprofessor“ eifrigst studiert. War nun eines jener literarischen Meteore oder ein Stück von Goethe oder Schiller angekündigt, so begann sofort eine wahre Völkerwanderung zu Pferde, zu Fuß, oder in einspännigen Kabrioletts, nicht selten einer großen Retirade mit lahmen Gäulen und umgeworfenen Wägen vergleichbar; niemand wollte zurückbleiben, die Reicheren griffen den Unbemittelten mit Entree und sonstiger Ausrüstung willig unter die Arme, denn die Sache wurde ganz richtig als eine Nationalangelegenheit betrachtet. In Lauchstädt selbst aber konnte man, wenn es sich glücklich fügte, Goethe und Schiller oft leibhaftig erblicken, als ob die olympischen Götter wieder unter den Sterblichen umherwandelten. Und außerdem gab es dort auch vor und nach der Theatervorstellung, in der großen Promenade noch eine kleine Weltkomödie, in welcher, wenigstens in den Augen der jüngeren Damen, die Studenten selbst die Heldenrollen spielten. Diese fühlten sich hier überhaupt wahrhaft als Musensöhne, es war ihnen zumute, als sei dies alles eigentlich nur ihretwegen veranstaltet, und sie hatten im Grunde recht, da sie vor allen andern das rechte Herz dazu mitbrachten.
Dieses althallesche Leben aber wurde im Jahre 1806 beim Zusammensturz der preußischen Monarchie unter ihren Trümmern mit begraben. Die Studenten hatten unzweideutig Miene gemacht, sich in ein bewaffnetes Freikorps zusammenzutun. Napoleon, dem hier zum ersten Male ein Symptom ernsteren Volkswillens gleichsam prophetisch warnend entgegentrat, hob daher zornentbrannt die Universität auf, die Studenten wurden mit unerhörtem Vandalismus plötzlich und unter großem Wehgeschrei der Bürger nach allen Weltgegenden auseinandergetrieben und mußten, ausgeplündert und zum Teil selbst der nötigen Kleidungsstücke beraubt, sich einzeln nach Hause betteln. – Wunderbarer Gang der Weltgerichte! Dieselben vom übermütigen Sieger in den Staub getretenen Jünglinge sollten einst siegreich in Paris einziehen.
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Der Geist einer bestimmten Bildungsphase läßt sich nicht aufheben, wie eine Universität. Was wir vorhin als das Charakteristische jener Periode bezeichnet: die Opposition der jungen Romantik gegen die alte Prosa war keineswegs auf Halle beschränkt, sondern ging wie ein unsichtbarer Frühlingssturm allmählich wachsend durch ganz Deutschland. Insbesondere aber gab es dazumal in Heidelberg einen tiefen, nachhaltenden Klang. Heidelberg ist selbst eine prächtige Romantik; da umschlingt der Frühling Haus und Hof und alles Gewöhnliche mit Reben und Blumen, und erzählen Burgen und Wälder ein wunderbares Märchen der Vorzeit, als gäb es nichts Gemeines auf der Welt. Solch gewaltige Szenerie konnte zu allen Zeiten nicht verfehlen, die Stimmung der Jugend zu erhöhen und von den Fesseln eines pedantischen Komments zu befrein; die Studenten tranken leichten Wein anstatt des schweren Bieres, und waren fröhlicher und gesitteter zugleich als in Halle. Aber es trat grade damals in Heidelberg noch eine ganz besondere Macht hinzu, um jene glückliche Stimmung zu vertiefen. Es hauste dort ein einsiedlerischer Zauberer, Himmel und Erde, Vergangenheit und Zukunft mit seinen magischen Kreisen umschreibend – das war Görres.
Es ist unglaublich, welche Gewalt dieser Mann, damals selbst noch jung und unberühmt, über alle Jugend, die irgend geistig mit ihm in Berührung kam, nach allen Richtungen hin ausübte. Und diese geheimnisvolle Gewalt lag lediglich in der Großartigkeit seines Charakters, in der wahrhaft brennenden Liebe zur Wahrheit und einem unverwüstlichen Freiheitsgefühl, womit er die einmal erkannte Wahrheit gegen offene und verkappte Feinde und falsche Freunde rücksichtslos auf Tod und Leben verteidigte; denn alles Halbe war ihm tödlich verhaßt, ja unmöglich, er wollte die ganze Wahrheit. Wenn Gott noch in unserer Zeit einzelne mit prophetischer Gabe begnadigt, so war Görres ein Prophet, in Bildern denkend und überall auf den höchsten Zinnen der wildbewegten Zeit weissagend, mahnend und züchtigend, auch darin den Propheten vergleichbar, daß das „Steiniget ihn!“ häufig genug über ihm ausgerufen wurde. Drüben in Frankreich hatte er bei den Banketten der bluttriefenden Revolution, hier in den Kongreßsälen der politischen Weltweisen las Menetekel kühn an die Wand geschrieben, und konnte sich nur durch rasche Flucht vor Kerker und Banden retten, oft monatelang arm und heimatlos umherirrend. – Seine äußere Erscheinung erinnerte einigermaßen an Steffens und war doch wieder grundverschieden. Steffens hatte bei aller Tüchtigkeit, etwas Theatralisches, während Görres, ohne es zu wollen oder auch nur zu wissen schlicht und bis zum Extrem selbst die unschuldigsten Mittel des Effekts verschmähte. Sein durchaus freier Vortrag war monoton, fast wie fernes Meeresrauschen schwellend und sinkend, aber durch dieses einförmige Gemurmel leuchteten zwei wunderbare Augen und zuckten Gedankenblitze beständig hin und wider; es war wie ein prächtiges nächtliches Gewitter, hier verhüllte Abgründe, dort neue ungeahnte Landschaften plötzlich aufdeckend, und überall gewaltig, weckend und zündend fürs ganze Leben.
Neben ihm standen zwei Freunde und Kampfgenossen: Achim von Arnim und Clemens Brentano, welche sich zur selben Zeit nach mancherlei Wanderzügen in Heidelberg niedergelassen hatten. Sie bewohnten im „Faulpelz“, einer ehrbaren aber obskuren Kneipe am Schloßberg, einen großen luftigen Saal, dessen sechs Fenster mit der Aussicht über Stadt und Land die herrlichsten Wandgemälde, das herüberfunkelnde Zifferblatt des Kirchturms ihre Stockuhr vorstellte; sonst war wenig von Pracht oder Hausgerät darin zu bemerken. Beide verhielten sich zu Görres eigentlich wie fahrende Schüler zum Meister, untereinander aber wie ein seltsames Ehepaar, wovon der ruhige mild-ernste Arnim den Mann, der ewig bewegliche Brentano den weiblichen Part machte. Arnim gehörte zu den seltenen Dichternaturen, die, wie Goethe, ihre poetische Weltansicht jederzeit von der Wirklichkeit zu sondern wissen, und daher besonnen über dem Leben stehen und dieses frei als ein Kunstwerk behandeln. Den lebhafteren Brentano dagegen riß eine übermächtige Phantasie beständig hin, die Poesie ins Leben zu mischen, was denn häufig eine Konfusion und Verwickelungen gab, aus welchen Arnim den unruhigen Freund durch Rat und Tat zu lösen hatte. Auch äußerlich zeigte sich der große Unterschied. Achim von Arnim war von hohem Wuchs und so auffallender männlicher Schönheit, daß eine geistreiche Dame einst bei seinem Anblick und Namen in das begeisterte Wortspiel: „Ach im Arm ihm“ ausbrach; während Bettina, welcher, wie sie selber sagt, eigentlich alle Menschen närrisch vorkamen, damals an ihren Bruder Clemens schrieb: „Der Arnim sieht doch königlich aus, er ist nicht in der Welt zum zweitenmal.“ – Das letztere konnte man zwar auch von Brentano, nur in ganz anderer Beziehung sagen. Während Arnims Wesen etwas wohltuend Beschwichtigendes hatte, war Brentano durchaus aufregend; jener erschien im vollsten Sinne des Worts wie ein Dichter, Brentano dagegen selber wie ein Gedicht, das, nach Art der Volkslieder, oft unbeschreiblich rührend, plötzlich und ohne sichtbaren Übergang in sein Gegenteil umschlug und sich beständig in überraschenden Sprüngen bewegte. Der Grundton war eigentlich eine tiefe, fast weiche Sentimentalität, die er aber gründlich verachtete, eine eingeborene Genialität, die er selbst keineswegs respektierte und auch von andern nicht respektiert wissen wollte. Und dieser unversöhnliche Kampf mit dem eigenen Dämon war die eigentliche Geschichte seines Lebens und Dichtens, und erzeugte in ihm jenen unbändigen Witz, der jede verborgene Narrheit der Welt instinktartig aufspürte und niemals unterlassen konnte, jedem Toren, der sich weise dünkte, die ihm gebührende Schellenkappe aufzustülpen, und sich somit überall ingrimmige Feinde zu erwecken. Klein, gewandt und südlichen Ausdrucks, mit wunderbar schönen, fast geisterhaften Augen, war er wahrhaft zauberisch, wenn er selbstkomponierte Lieder oft aus dem Stegreif zur Gitarre sang. Dies tat er am liebsten in Görres‘ einsamer Klause, wo die Freunde allabendlich einzusprechen pflegten; und man könnte schwerlich einen ergötzlicheren Gegensatz der damals florierenden ästhetischen Tees ersinnen, als diese Abendunterhaltungen, häufig ohne Licht und brauchbare Stühle, bis tief in die Nacht hinein: wie da die dreie alles Große und Bedeutende, das je die Welt bewegt hat, in ihre belebenden Kreise zogen, und mitten in dem Wetterleuchten tiefsinniger Gespräche Brentano mit seinem witzsprühenden Feuerwerk dazwischenfuhr, das dann gewöhnlich in ein schallendes Gelächter zerplatzte.
Das nächste Resultat dieser Abende war die „Einsiedlerzeitung„, welche damals Arnim und Brentano in Heidelberg herausgaben. Das selten gewordene Blatt war eigentlich ein Programm der Romantik; einerseits die Kriegserklärung an das philisterhafte Publikum, dem es feierlich gewidmet und mit dessen wohlgetroffenen Poträt es verziert war; andrerseits eine Probe- und Musterkarte der neuen Bestrebungen: Beleuchtung des vergessenen Mittelalters und seiner poetischen Meisterwerke, sowie die ersten Lieder von Uhland, Justinus Kerner u.a. Die merkwürdige Zeitung hat nicht lange gelebt, aber ihren Zweck als Leuchtkugel und Feuersignal vollkommen erfüllt. Übrigens standen ihre Verfasser in der Tat einsiedlerisch genug über dem großen Treiben und Arnim und Brentano, obgleich sie neben Tieck, die einzigen Produzenten der Romantiker waren, wurden doch von der Schule niemals als vollkommen zünftig anerkannt. Sie strebten vielmehr, die Schule, die schon damals in überkünstlichen Formen üppig zu luxurieren anfing, auf die ursprüngliche Reinheit und Einfachheit des Naturlauts zurückzuweisen. In diesem Sinne sammelten sie selbst auf ihren Fahrten und durch gleichgestimmte Studenten überall die halbverschollenen Volkslieder für „Des Knaben Wunderhorn“, das, wie einst Herders „Stimmen der Völker“, durch ganz Deutschland einen erfrischenden Klang gab.
Auch Creuzer lebte damals in Heidelberg und gehörte, wiewohl dem genannten Triumvirat persönlich ziemlich fernstehend, durch seine Bestrebungen diesem Kreise an. Seine mystische Lehre hat, z.B. später in Lobeck, sehr tüchtige Gegner gefunden, und wir wollen keineswegs in Abrede stellen, daß die phantastische Weise, womit er die alte Götterlehre als ein bloßes Symbolum christlich umzudeuten sucht, gar oft an den mittelalterlichen Neuplatonismus erinnert und am Ende zu einer gänzlichen Auflösung des Altertums führt. Allein in Kriegszeiten bedarf ein grober Feind auch eines gewaltsamen Gegenstoßes. Erwägt man, wie geistlos dazumal die Mythologie als ein bloßes Schulpensum getrieben wurde, so wird man Creuzers Tat billigerweise wenigstens als eine sehr zeitgemäße und heilsame Aufregung anerkennen müssen. – Noch zwei andere, höchst verschiedene Heidelberger Zeitgenossen dürfen hier nicht unerwähnt bleiben; wir meinen: Thibaut und Gries. In solchen Übergangsperioden ist die sanguinische Jugend gern bereit, den Spruch: „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns“ gelegentlich auch umzukehren und jeden für den Ihrigen zu nehmen, der nicht zum Gegenpart hält; und in dieser Lage befand sich Thibaut. Schon seine äußere Erscheinung mit den lang herabwallenden, damals noch dunkelen Locken, was ihm ein gewisses apostolisches Ansehen gab, noch mehr der eingeborene Widerwillen gegen alles Kleinliche und Gemeine unterschied ihn sehr fühlbar von dem Troß seiner eigentlichen Zunftgenossen, und mit seiner propagandistischen Liebe und Kenntnis von der Musik der alten tiefsinnigen Meister berührte er in der Tat den Kreis der Romantiker. – Bei weitem unmittelbarer indes wirkte Gries. Wilhelm Schlegel hatte soeben durch das dicke Gewölk verjährter Vorurteile auf das Zauberland der südlichen Poesie hingewiesen. Gries hat es uns wirklich erobert. Seine meisterhaften Übersetzungen von Ariost, Tasso und Calderons Schauspielen treffen, ohne philologische Pedanterie und Wortängstlichkeit, überall den eigentümlichen Sinn und Klang dieser Wunderwelt; sie haben den poetischen Gesichtskreis unendlich erweitert und jene glückliche Formfertigkeit erzeugt, deren sich unsere jüngeren Poeten noch bis heut erfreuen. Auch war Gries sehr geeignet, für den Ritt in das alte romantische Land Proselyten zu machen. Er verkehrte gern und viel mit den Studenten, die Abendtafel im Gasthofe „Zum Prinzen Karl“ war sein Katheder, und es war, da er sehr schwerhörig, oft wahrhaft komisch, wie da die leichten Scherze und Witze gleichsam aus der Trompete gestoßen wurden, so daß die heitere Konversation sich nicht selten wie ein heftiges Gezänke ausnahm.
Man sieht, die Romantik war dort reich vertreten. Allein sie hatte auch damals schon ihren sehr bedenklichen Afterkultus. Graf von Löben war in Heidelberg der Hohepriester dieser Winkelkirche. Der alte Goethe soll ihn einst den vorzüglichsten Dichter jener Zeit genannt haben. Und in der Tat er besaß eine ganz unglaubliche Formengewandtheit und alles äußere Rüstzeug des Dichters, aber nicht die Kraft, es gehörig zu brauchen und zu schwingen. Er hatte ein durchaus weibliches Gemüt mit unendlich feinem Gefühl für den salonmäßigen Anstand der Poesie, eine überzarte empfängliche Weichheit, die nichts Schönes selbständig gestaltete, sondern von allem Schönen wechselnd umgestaltet wurde. So durchwandelte er in seiner kurzen Lebenszeit ziemlich fast alle Zonen und Regionen der Romantik; – bald erschien er als begeisterungswütiger Seher, bald als arkadischer Schäfer, dann plötzlich wieder als aszetischer Mönch, ohne sich jemals ein eigentümliches Revier schaffen zu können. In Heidelberg war er gerade „Isidorus Orientalis“ und novalisierte, nur leider ohne den Tiefsinn und den dichterischen Verstand von Novalis. In dieser Periode entstand sein frühester Roman „Guido“, sowie die „Blätter aus dem Reisebüchlein eines andächtigen Pilgrims“; jener durch seine mystische Überschwenglichkeit, diese durch ein unkatholisches Katholisieren, ganz wider Wissen und Willen, die erstaunlichste Karikatur der Romantik darstellend. Er hatte in Heidelberg nur wenige sehr junge Jünger, die ihn gehörig bewunderten; aber die Gemeinde dieser Gleichgestimmten war damals sehr zahlreich durch ganz Deutschland verbreitet. Es wäre eine schwierige, ja fast unmögliche Aufgabe, jenes wunderliche Gewirr von Talent und Zopf, Lüge und Wahrheit mit wenigen Worten in einen Begriff zusammenzufassen; und doch ist dieses Treiben insofern von literarhistorischer Wichtigkeit, als dasselbe den schmählichen Verfall der Romantik vorzüglich verschuldet hat. Es sei uns daher lieber vergönnt, aus unserer frühesten Schrift („Ahnung und Gegenwart“) die aus dem Leben gegriffene Darstellung der damaligen Salonwirtschaft hier einzuschalten, da sie, obgleich erfunden, und doch vielleicht unmittelbarer, als eine Definition, in den Zirkel einführen dürfte.
Es ist nämlich dort von einer Soiree in der Residenz die Rede, wobei die Gesellschaft über die soeben beendigte Darstellung eines lebenden Bildes in große Bewegung geraten. „Mitten in dieser Entzückung fiel der Vorhang plötzlich wieder, das Ganze verdeckend, herab, der Kronleuchter wurde heruntergelassen und ein schnatterndes Gewühl und Lachen erfüllte auf einmal wieder den Saal. Der größte Teil der Gesellschaft brach nun von allen Sitzen auf und zerstreute sich. Nur ein kleiner Teil von Auserwählten blieb im Saale zurück. Graf Friedrich“ (der Held des Romans) „wurde währenddessen vom Minister, der auch zugegen war, bemerkt und sogleich der Frau vom Hause vorgestellt. Es war eine fast durchsichtig schlanke, schmächtige Gestalt, gleichsam im Nachsommer ihrer Blüte und Schönheit. Sie bat ihn mit so überaus sanften, leisen, lispelnden Worten, daß er Mühe hatte, sie zu verstehen, ihre künstlerische ‚Abendandachten‘, wie sie sich ausdrückte, mit seiner Gegenwart zu beehren, und sah ihn dabei mit blinzelnden, fast zugedrückten Augen an, von denen es zweifelhaft war, ob sie ausforschend, gelehrt, sanft, verliebt, oder nur interessant sein sollten.
Die Gesellschaft zog sich nun in eine kleinere Stube zusammen. Die Zimmer waren durchaus prachtvoll und im neuesten Geschmacke dekoriert, nur hin und wieder bemerkte man einige auffallende Besonderheiten und Nachlässigkeiten, unsymmetrische Spiegel, Gitarren, aufgeschlagene Musikalien und Bücher, die auf den Ottomanen zerstreut umherlagen.
Friedrich kam es vor, als hätte es der Frau von Hause vorher einige Stunden mühsamen Studiums gekostet, um in das Ganze eine gewisse unordentliche Genialität hineinzubringen.
Es hatte sich unterdes ein niedliches, etwa zehnjähriges Mädchen eingefunden, die in einer reizenden Kleidung mit langen Beinkleidern und kurzem schleiernen Röckchen darüber, keck im Zimmer herumsprang. Es war die Tochter von Hause. Ein Herr aus der Gesellschaft reichte ihr ein Tamburin, das in einer Ecke auf dem Fußboden gelegen hatte. Alle schlossen bald einen Kreis um sie, und das zierliche Mädchen tanzte mit einer wirklich bewunderungswürdigen Anmut und Geschicklichkeit, während sie das Tamburin auf mannigfache Weise schwang und berührte und ein niedliches italienisches Liedchen dazu sang. Jeder war begeistert, erschöpfte sich in Lobsprüchen und wünschte der Mutter Glück, die sehr zufrieden lächelte. Nur Friedrich schwieg still. Denn einmal war ihm schon die moderne Knabentracht bei Mädchen zuwider, ganz abscheulich aber war ihm diese gottlose Art, unschuldige Kinder durch Eitelkeit zu dressieren. Er fühlte vielmehr ein tiefes Mitleid mit der schönen kleinen Bajadere. Sein Ärger und das Lobpreisen der anderen stieg, als nachher das Wunderkind sich unter die Gesellschaft mischte, nach allen Seiten hin in fertigem Französisch schnippische Antworten erteilte, die eine Klugheit weit über ihr Alter zeigten, und überhaupt jede Unart als genial genommen wurde.
Die Damen, welche sämtlich sehr ästhetische Mienen machten, setzten sich darauf nebst mehreren Herren unter dem Vorsitz der Frau vom Hause, die mit vieler Grazie den Tee einzuschenken wußte, förmlich in Schlachtordnung und fingen an, von Ohrenschmäusen zu reden. Der Minister entfernte sich in die Nebenstube, um zu spielen. – Friedrich erstaunte, wie diese Weiber geläufig mit den neuesten Erscheinungen der Literatur umzuspringen wußten, von denen er selber manche kaum dem Namen nach kannte; wie leicht sie mit Namen herumwarfen, die er nie ohne heilige tiefe Ehrfurcht auszusprechen gewohnt war. Unter ihnen schien besonders ein junger Mann mit einer verachtenden Miene in einem gewissen Glauben und Ansehen zu stehen. Die Frauenzimmer sahen ihn beständig an, wenn es darauf ankam, ein Urteil zu sagen, und suchten in seinem Gesichte seinen Beifall oder Tadel im voraus herauszulesen, um sich nicht etwa mit etwas Abgeschmacktem zu prostituieren.
Er hatte viele genialische Reisen gemacht, in den meisten Hauptstädten auf seine eigene Faust Ball gespielt, Kotzebue einmal in einer Gesellschaft in den Sack gesprochen, fast mit allen berühmten Schriftstellern zu Mittag gegessen oder kleine Fußreisen gemacht. Übrigens gehörte er eigentlich zu keiner Partei, er übersah alle weit und belächelte die entgegengesetzten Gesinnungen und Bestrebungen, den eifrigen Streit unter den Philosophen oder Dichtern: Er war sich der Lichtpunkt dieser verschiedenen Reflexe. Seine Urteile waren alle nur wie zum Spiele flüchtig hingeworfen mit einem nachlässig mystischen Anstrich, und die Frauenzimmer erstaunten nicht über das, was er sagte, sondern was er, in der Überzeugung nicht verstanden zu werden, zu verschweigen schien.
Wenn dieser heimlich die Meinung zu regieren schien, so führte dagegen ein anderer fast einzig das hohe Wort. Es war ein junger voller Mensch mit strotzender Gesundheit, ein Antlitz, das vor wohlbehaglicher Selbstgefälligkeit glänzte und strahlte. Er wußte für jedes Ding ein hohes Schwungwort, lobte und tadelte ohne Maß und sprach hastig mit einer durch dringenden gellenden Stimme. Er schien ein wütend Begeisterter von Profession und ließ sich von den Frauenzimmern, denen er sehr gewogen schien, gern den heiligen Thyrsusschwinger nennen. Es fehlte ihm dabei nicht an einer gewissen schlauen Miene, womit er niedrere, nicht so saftige Naturen seiner Ironie preiszugeben pflegte. Friedrich wußte gar nicht, wohin dieser während seiner Deklamationen so viel Liebesblicke verschwende, bis er endlich ihm gerade gegenüber einen großen Wandspiegel entdeckte. Der Begeisterte ließ sich übrigens nicht lange bitten, etwas von seinen Poesien mitzuteilen. Er las eine lange Dithyrambe von Gott, Himmel, Hölle, Erde und dem Karfunkelstein mit angestrengtester Heftigkeit vor, und schloß mit solchem Schrei und Nachdruck, daß er ganz blau im Gesicht wurde. Die Damen waren ganz außer sich über die heroische Kraft des Gedichts, sowie des Vortrags.
Ein anderer junger Dichter von mehr schmachtendem Ansehen, der neben der Frau vom Hause seinen Wohnsitz aufgeschlagen hatte, lobte zwar auch mit, warf aber dabei einige durchbohrende neidische Blicke auf den vom Lesen erschöpften Begeisterten. Überhaupt war dieser Friedrich schon vom Anfang an durch seinen großen Unterschied von jenen beiden Flausenmachern aufgefallen. Er hatte sich während der ganzen Zeit, ohne sich um die Verhandlungen der andern zu bekümmern, ausschließlich mit der Frau vom Hause unterhalten, mit der er eine Seele zu sein schien, wie man von dem süßen zugespitzten Munde beider abnehmen konnte, und Friedrich hörte nur manchmal einzelne Laute, wie: ‚Mein ganzes Leben wird zum Roman‘ – ‚überschwengliches Gemüt‘ – ‚Priesterleben‘ – herüberschallen. Endlich zog auch dieser ein ungeheures Paket aus der Tasche, und begann vorzulesen, unter andern folgendes Assonanzenlied:
‚Hat nun Lenz die silbern’n Bronnen
Losgebunden:
Knie ich nieder, süßbeklommen,
In die Wunder.Himmelreich, so kommt geschwommen
Auf die Wunden
Hast du einzig mich erkoren
Zu den Wundern?In die Ferne süß verloren
Lieder fluten,
Daß sie, rückwärts sanft erschollen,
Bringen Kunde.Was die andern sorgen, wollen,
Ist mir dunkel,
Mir will ew’ger Durst nur frommen
Nach dem Durste.Was ich liebte und vernommen,
Was geklungen,
Ist den eignen tiefen Wonnen
Selig Wunder!‘Er las noch einen Haufen Sonette mit einer Art von priesterlicher Feierlichkeit. Keinem derselben fehlte es an irgendeinem wirklich aufrichtigen kleinen Gefühlchen, an großen Ausdrücken und lieblichen Bildern. Alle hatten einen einzigen, bis ins Unendliche breit auseinandergeschlagenen Gedanken, sie bezogen sich alle auf den Beruf des Dichters und die Göttlichkeit der Poesie, aber die Poesie selber, das ursprüngliche, freie, tüchtige Leben, das uns ergreift ehe wir darüber sprechen, kam nicht zum Vorschein vor lauter Komplimenten davor und Anstalten dazu. Friedrich kamen diese Poesien in ihrer durchaus polierten, glänzenden, wohlerzogenen Weichlichkeit wie der fade unerquickliche Teedampf, die zierliche Teekanne mit ihrem lodernden Spiritus auf dem Tische wie der Opferaltar dieser Musen vor. – Es ist aber eigentlich nichts künstlicher und lustiger, als die Unterhaltung einer solchen Gesellschaft. Was das Ganze noch so leidlich zusammenhält, sind tausend feine, fast unsichtbare Fäden von Eitelkeit, Lob und Gegenlob usw., und sie nennen es dann gar zu gern ein Liebesnetz. Arbeitet aber unverhofft einmal einer, der davon nichts weiß, tüchtig darin herum, so geht die ganze Spinnewebe von ewiger Freundschaft und heiligem Bunde auseinander.
So hatte auch heute Friedrich den ganzen Tee versalzen. Keiner konnte das künstlerische Weberschiffchen, das sonst fein im Takte so zarte ästhetische Abende wob, wieder recht in Gang bringen. Die meisten wurden mißlaunisch, keiner konnte oder mochte, wie beim babylonischen Baue, des anderen Wortgepräng verstehen, und so beleidigte einer den andern in der gänzlichen Verwirrung. Mehrere Herren nahmen endlich unwillig Abschied, die Gesellschaft wurde kleiner und vereinzelter. Die Damen gruppierten sich hin und wieder auf den Ottomanen in malerischen und ziemlich unanständigen Stellungen. Friedrich bemerkte bald ein heimliches Verständnis zwischen der Frau vom Hause und dem Schmachtenden. Doch glaubte er zugleich an ihr ein feines Liebäugeln zu entdecken, das ihm selber zu gelten schien. Er fand sie überhaupt viel schlauer, als man anfänglich ihrer lispelnden Sanftmut hätte zutrauen mögen; sie schien ihren schmachtenden Liebhaber bei weitem zu übersehen und selber nicht so viel von ihm zu halten, als sie vorgab und er aus ganzer Seele glaubte.“
Als aber Friedrich späterhin, noch ganz entrüstet, dieses Abenteuer einem Freunde erzählt, erwidert dieser: „Ich kann dir im Gegenteil versichern, daß ich nicht bald so lustig war, als an jenem Abende, da ich zum ersten Male in diese Teetaufe oder Traufe geriet. Aller Augen waren prüfend und in erwartungsvoller Stille auf mich neuen Jünger gerichtet. Da ich die ganze heilige Synode, gleich den Freimaurern mit Schurz und Kelle, so feierlich im poetischen Ornate dasitzen sah, konnt ich mich nicht enthalten, despektierlich von der Poesie zu sprechen und mit unermüdlichem Eifer ein Gespräch von der Landwirtschaft, von Runkelrüben usw. anzuspinnen, so daß die Damen wie über den Dampf von Kuhmist die Nasen rümpften und mich bald für verloren hielten. Mit dem Schmachtenden unterhielt ich mich besonders viel. Er ist ein guter Kerl, aber er hat keine Mannesmuskel im Leibe. Ich weiß nicht, was er gerade damals für eine fixe Idee von der Dichtkunst im Kopfe hatte, aber er las ein Gedicht vor, wovon ich trotz der größten Anstrengung nichts verstand und wobei mir unaufhörlich des simplizianisch – deutschen Michels verstümmeltes Sprachgepränge im Sinne lag. Denn es waren deutsche Worte, spanische Konstruktionen, welsche Bilder, altteutsche Redensarten, doch alles mit überaus feinem Firnis von Sanftmut verschmiert. Ich gab ihm ernsthaft den Rat, alle Morgen gepfefferten Schnaps zu nehmen, denn der ewige Nektar erschlaffe nur den Magen, worüber er sich entrüstet von mir wandte. – Mit dem vom Hochmutsteufel besessenen Dithyrambisten aber bestand ich den schönsten Strauß. Er hatte mit pfiffiger Miene alle Segel seines Witzes aufgespannt und kam mit vollem Winde der Eitelkeit auf mich losgefahren, um mich Unpoetischen vor den Augen der Damen in den Grund zu bugsieren. Um mich zu retten, fing ich zum Beweise meiner poetischen Belesenheit an, aus Shakespeares ‚Was ihr wollt‘ wo Junker Tobias den Malvolio peinigt, zu rezitieren ‚Und besäße ihn eine Legion selbst, so will ich ihn doch anreden.‘ Er stutzte und fragte mich mit herablassender Genügsamkeit und kniffigem Gesichte, ob vielleicht gar Shakespeare mein Lieblingsautor sei? Ich ließ mich aber nicht stören, sondern fuhr mit Junker Tobias fort ‚Ei Freund, leistet dem Teufel Widerstand, er ist der Erbfeind der Menschenkinder.‘ Er fing nun an, sehr salbungsvolle, genialische Worte über Shakespeare ergehen zu lassen, ich aber, da ich ihn sich so aufblasen sah, sagte weiter ‚Sanftmütig, sanftmütig! Ei, was machst du, mein Täubchen? Wie geht’s, mein Puthühnchen? Ei, sieh doch, komm, tuck tuck!‘ – Er schien nun mit Malvolio zu bemerken, daß er nicht in meine Sphäre gehöre, und kehrte sich mit einem unsäglich stolzen Blicke, wie von einem unerhört Tollen, von mir. Das Schlimmste war aber nun, daß ich dadurch demaskiert war, ich konnte nicht länger für einen Ignoranten gelten; und die Frauenzimmer merkten dies nicht so bald, als sie mit allerhand Phrasen, die sie da und dort ernascht, über mich herfielen. In der Angst fing ich daher nun an, wütend mit gelehrten Redensarten und poetischen Paradoxen nach allen Seiten um mich herumzuwerfen, bis sie mich, ich sie, und ich mich selber nicht mehr verstand und alles verwirrt wurde. Seit dieser Zeit haßt mich der ganze Zirkel und hat mich als eine Pest der Poesie förmlich exkommuniziert.“ – –
Es ist sehr begreiflich, daß dieses prätentiöse Unwesen von den Gedankenlosen und Schwachmütigen für die wirkliche Romantik gehalten, von den Hämischen aber gern benutzt wurde, den neuen Aufschwung überhaupt zu verketzern. Vergebens verspottete Tieck selbst in den wenigen Nummern seines „Poetischen Journals“ jene falsche Romantik, vergebens zogen Arnim und Görres mitten durch den Lärm neue leuchtende Bahnen; das Gekläff der Wächter des guten Geschmacks, die den Mond anbellen und bei Musik heulen, war einmal unaufhaltsam erwacht. Es erschien ein „Klingkling-Almanach“, der die Lyrik der Romantiker parodisch lächerlich machen sollte, aber durch ein stupides Mißverständnis des Parodierten nur sich selbst blamierte. Der Däne Baggesen schrieb einen „Faust“, eine Komödie, worin Fichte, Schelling, Schlegel und Tieck die lächerlichen Personen spielen; an Witzlosigkeit, Bosheit und Langweiligkeit, etwa Nicolais „Werthers Leiden“ vergleichbar. Garlieb Merkel endlich trommelte in seinem „Freimütigen“ ein wahres Falstaffsheer zusammen, allerdings freimütig genug, denn die armutselige Gemeinheit lag ganz offen zutage. In Heidelberg selbst aber saß der alte Voß, der sich bereits überlebt hatte, und darüber ganz grämlich geworden war. Mitten in dem staubigen Gewebe seiner Gelehrsamkeit lauerte er wie eine ungesellige Spinne, tückisch auf alles Junge und Neue zufahrend, das sich unvorsichtig dem Gespinste zu nähern unterfing. Besonders waren ihm, nebst dem Katholizismus, die Sonette verhaßt. Daher konnte Arnim, obgleich er anfangs aus großmütiger Pietät mit dem vereinsamten Greise friedlich zu verkehren suchte, dennoch zuletzt nicht umhin, ihm zu Ehren in der „Einsiedlerzeitung“ in hundert Sonetten den Kampf des Sonetts mit dem alten Drachen zu beschreiben.
Und auf ähnliche Weise hatte sich die Romantik überhaupt ihren Gegnern gegenübergestellt, indem sie – wie in Tiecks „Verkehrter Welt“, im „Zerbino“ und „Gestiefelten Kater“, in Schlegels „Triumphpforte für den Theaterpräsidenten Kotzebue„, in Mahlmanns „Hussiten vor Naumburg“ – jenes hämische Treiben heiter als bloßes Material nahm und humoristisch der Poesie selbst dienstbar zu machen wußte.
Aber die Romantik war keine bloß literarische Erscheinung, sie unternahm vielmehr eine innere Regeneration des Gesamtlebens, wie sie Novalis angekündigt hat; und was man später die romantische Schule nannte, war eben nur ein literarisch abgesonderter Zweig des schon kränkelnden Baumes. Ihre ursprüngliche Intentionen, alles Irdische auf ein Höheres, das Diesseits auf ein größeres Jenseits zu beziehen, mußten daher insbesondere auch das ganze Gebiet der Kunst gleichmäßig umfassen und durchdringen. Die Revolution, die sie in der Poesie bewirkt, ist schon zu vielfach besprochen, um hier noch besonders erörtert zu werden. Der Malerei vindizierte sie die Schönheit der Religion als höchste Aufgabe, und begründete durch deutsche Jünglinge in Rom die bekannte Malerschule, deren Führer Overbeck, Philipp Veit und Cornelius waren. Derselbe ernstere Sinn führte die Tonkunst vom frivolen Sinnenkitzel zur Kirche, zu den altitalienischen Meistern, zu Sebastian Bach, Gluck und Händel zurück; er weckte auch in der Profanmusik das geheimnisvolle wunderbare Lied, das verborgen in allen Dingen schlummert, und Mozart, Beethoven und Karl Maria von Weber sind echte Romantiker. Die Baukunst endlich, diese hieroglyphische Lapidarschrift der wechselnden Nationalbildung, war grade in das allgemeine Stadium der damaligen Literatur mit eingerückt: kaserniertes Bürgerwohl mit heidnischen Substruktionen, die Antike im Schlafrock des häuslichen Familienglücks. Da erfaßte plötzlich die erstaunten Deutschen wieder eine Ahnung von der Schönheit und symbolischen Bedeutung ihrer alten Bauwerke, an denen sie so lange gleichgültig vorübergegangen. Der junge Goethe hatte zuerst vom Straßburger Münster den neuen Tag ausgerufen, sich aber leider dabei so bedeutend überschrien, daß er seitdem ziemlich heiser blieb. Besonnener und gründlicher wies Sulpice Boisserée auf den Riesengeist des Kölner Domes hin, der bekanntlich noch bis heut sein mühseliges Auferstehungsfest feiert. – Das augenfälligste Bild dieser Umwandlung aber gibt die Geschichte der Marienburg, des Haupthauses des deutschen Ritterordens in Preußen. Dieser merkwürdige Bau hatte nicht einmal die Genugtuung, in malerische Trümmer zerfallen zu dürfen, er wurde methodisch für den neuen Orden der Industrieritter verstümmelt und zugerichtet. Die kühnen Gewölbe wurden mit unsäglicher Mühe eingeschlagen, in den hohen luftigen Sälen drei niedrige Stockwerke schmutziger Weberwerkstätten eingeklebt; ja um den letzten Prachtgiebel des Schlosses waren bereits die Stricke geschlungen, um ihn niederzureißen, als ein Romantiker, Max von Schenkendorf, ganz unerwartet in einer vielgelesenen Zeitschrift Protest einlegte gegen diesen modernen Vandalismus, den der damalige Minister von Schrötter, ein sonst geistvoller und für alles Große empfänglicher Mann, im Namen der Aufklärung als ein löblich Unternehmen trieb. Jetzt veränderte sich plötzlich die Szene. Schrötter, da er seinen wohlgemeinten Mißverstand begriff, hieß, fast erschrocken darüber, sofort alle weitere Zerstörung einstellen, die Weber wurden ausgetrieben, Künstler, Altertumsfreunde und Techniker stiegen verwundert in den rätselhaft gewordenen Bau hinab, wie in einem Bergwerke dort ein Fenster, hier einen verborgnen Gang oder Remter entdeckend, und je mehr allmählich von der alten Pracht zutage kam, je mehr wuchs, erst in der Provinz dann in immer weiteren Kreisen der Enthusiasmus, und erweckte, soviel davon noch zu retten war, das wunderbare Bauwerk aus seinem jahrhundertelangen Zauberschlaf.
Ein ähnliches Bewandtnis beinah hatte es mit dem Einfluß der Romantik auf die religiöse Stimmung der Jugend, indem sie gleichfalls den halbvergessenen Wunderbau der alten Kirche aus seinem Schutte wieder emporzuheben strebte. Allein was dort genügte, konnte hier unmöglich ausreichen, denn die Romantiker, wenn wir Novalis, Görres und Friedrich Schlegel ausnehmen, taten es nicht um der Religion, sondern um der Kunst willen, für die ihnen der Protestantismus allzu geringe Ausbeute bot; ein Grundthema, das in „Sternbalds Wanderungen“, in Tiecks „Phantasien“ und in den „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ durch die ganze Klaviatur der Künste hindurch auf das anmutigste variiert ist. Wir wollen daher auf die Konversion einiger, durch die Musik, die Pracht des äußeren Gottesdienstes u.dgl.m. bekehrter protestantischer Jünglinge keineswegs ein besonderes Gewicht legen. Der ganze Hergang aber erinnert lebhaft an Schillers Grundsatz von der ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts; wir meinen die indirekte Macht, welche diese katholisierende Ästhetik auf die katholische Jugend selber ausgeübt.
Es ist nicht zu leugnen, ein großer Teil dieser, fast überall protestantisch geschulten Jugend ist in der Tat durch die Vorhalle der Romantik zur Kirche zurückgekehrt. Die katholischen Studenten, die überhaupt etwas wollten und konnten, erstaunten nicht wenig, als sie in jenen Schriften auf einmal die Schönheit ihrer Religion erkannten, die sie bisher nur geschmäht oder mitleidig belächelt gesehen. Der Widerspruch, in den sie durch diese Entdeckung mit der gemeinen Menge gerieten, entzündete ihren Eifer, voll Begeisterung brachten sie die alt-neue Lehre von der Universität mit nach Hause, ja sie kokettierten zum Teil damit in der Philisterwelt, wo man über die jungen Zeloten verwundert den Kopf schüttelte, mit einem Wort: Das Katholische wurde förmlich Mode. Die Mode ging nach Art aller Mode bald vorüber, aber der einmal angeschlagene Ton blieb und hallte in immer weiteren Kreisen nach, und daraus entstand im Verlauf der immer ernster werdenden Zeiten endlich wieder eine starke katholische Gesinnung, die der Romantik nicht mehr bedarf.
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So war die Romantik bei ihrem Aufgange ein Frühlingshauch, der alle verborgenen Keime belebte, eine schöne Zeit des Erwachens, der Erwartung und Verheißung. Allein sie hat die Verheißung nicht erfüllt, und weil sie sie nicht erfüllte, ging sie unter, und wie und warum dies geschehen mußte, haben wir bereits an einem anderen Orte ausführlich nachzuweisen versucht. Als jedoch auf solche Weise die Ebbe kam und jene Springfluten zurücktobten, wurde auch der alte Boden wieder trockengelegt, den man für neuentdecktes Land hielt. Der zähe Rationalismus, die altkluge Verachtung des Mittelalters, die Lehre von der alleinseligmachenden Nützlichkeit, wozu die sublime Wissenschaft nicht sonderlich nötig sei; all das vorromantische Ungeziefer, das sich unterdes im Sande eingewühlt, kam jetzt wieder zum Vorschein und heckte erstaunlich. Dennoch war aber der bloßgelegte Boden nicht mehr ganz derselbe. Die Romantik hatte einige unvertilgbare Spuren darauf hinterlassen; sie hatte durch ihr beständiges Hinweisen auf die nationale Vergangenheit die Vaterlandsliebe, durch ihren Experimental – Katholizismus ein religiöses Bedürfnis erweckt. Allein diese Vaterlandsliebe war durch die abermalige Trennung vom Mittelalter ihres historischen Bodens und aller nationalen Färbung beraubt, und so entstand aus dem alten abstrakten Weltbürgertum die ebenso abstrakte Deutschtümelei. Andrerseits konnte das wiederangeregte religiöse Gefühl natürlicherweise weder von dem romantischen Katholisieren, noch von dem wiedererstandenen Rationalismus befriediget werden, und flüchtete sich daher bei den Protestanten zu dem neuesten Pietismus.
Von diesen veränderten Zuständen mußten denn auch zunächst die Universitäten wieder berührt werden; sie verloren allmählich ihr mittelalterliches Kostüm und suchten sich der modernen Gegenwart möglichst zu akkommodieren. Das deutsche Universitätsleben war bis dahin im Grunde ein lustiger Mummenschanz, in exzeptioneller Maskenfreiheit die übrige Welt neckend, herausfordernd und parodierend; eine Art harmloser Humoristik, die der Jugend, weil sie ihr natürlich ist, großenteils gar wohl anstand. Jetzt dagegen, durch die halbe Schulweisheit und Vielwisserei aufgeblasen, und von der epidemischen neuen Altklugheit mit fortgerissen, begnügten sie sich nicht mehr, sich an den dünkelhaften Torheiten der Philisterwelt lachend zu ergötzen; sie wollten sich über die Welt stellen, sie meistern und vernünftiger einrichten. Dazu kam, daß sie in den Befreiungskriegen wirklich auf dem Welttheater rühmlich mitagiert hatten, und nun auch das Recht beanspruchten, die übrigen Akte des großen Weltdramas mit fortzuspielen, mit einem Worte: Politik zu machen. Das war aber höchst unpolitisch, denn auf dieser komplizierten Bühne fehlte es glücklicherweise der Jugend durchaus an der unerläßlichen Kenntnis, Erfahrung und Routine. Die Burschenschaften, die zunächst aus jener inneren Umwandlung der Universitäten hervorgingen, waren ohne allen Zweifel ursprünglich gut und ernst gemeint und mit einem nicht genug zu würdigenden moralischen Stoizismus gegen die alte Roheit und Sittenlosigkeit gerichtet. Anstatt aber nur erst sich selbst gehörig zu befestigen, wollten sie sehr bald im leicht erklärlichen Eifer des guten Gewissens auch die kranken Staaten durch utopische Weltverbesserungspläne regenerieren, die man am füglichsten als unschädliche Donquijotiaden hätte übersehen sollen, wenn sich nicht, wie es scheint, nun die wirklichen Politiker mit dareingemischt, und die jugendliche Unbefangenheit für ihre ehrgeizigen und unlauteren Zwecke gemißbraucht hätten. Und so wurden die Studenten, die so lange heiter die Welt düpiert hatten, nun selber von der undankbaren Welt düpiert.
Als ein anderes Symptom der neuesten Zeit haben wir vorhin den bei den Protestanten wiedererwachten Pietismus bezeichnet. Man könnte ihn, da er wesentlich auf der subjektiven Gefühlsauffassung beruht, füglich die Sentimentalität der Religion nennen. Daher der absonderliche Haß der Pietisten gegen das strenge positive Prinzip der Kirche, die von einem subjektiven Dafürhalten und Umdeuten der Glaubenswahrheiten nichts weiß. Dieser moderne Pietismus ist jetzt auf den deutschen Universitäten sehr zahlreich vertreten, nicht eben zum sonderlichen Heile der Jugend. Denn der nackte Rationalismus war an sich so arm, trocken und trostlos, daß er ein tüchtiges Gemüt von selbst zur resoluten Umkehr trieb. Der weichliche, sanft einschmeichelnde Pietismus dagegen, zumal wenn er Mode wird und zeitliche Vorteile in Aussicht stellt, erzeugt gar leicht heuchlerische Tartüffe, oder, wo er tiefer gegriffen, einen geistlichen Dünkel und Fanatismus, der das ganze folgende Leben vergiftet. Eine Sekte dieser Pietisten gefällt sich darin, grundsätzlich allen Zweikampf abzulehnen, und sich dies als einen Akt besonderen Mutes anzurechnen. Allein dieser passive Mut, die gemeine Meinung zu verachten und gelassen über sich ergehen zu lassen, ist noch sehr verschieden von der persönlichen Tapferkeit, die jeden Jüngling ziert. Es ist ganz löblich, aber noch lange nicht genug, das Unrechte hinter dem breiten Schilde der vortrefflichsten Grundsätze von sich selber abzuwehren; das Böse soll direkt bekämpft werden. Überhaupt aber darf hierbei nicht übersehen werden, daß dem Zweikampf ein an sich sehr ehrenwertes Motiv zum Grunde liegt: das der gesunden Jugend eigentümliche, spartanische Gerechtigkeitsgefühl, das sich ohne innere Einbuße nicht unterdrücken läßt. Es gibt fast unsichtbare Kränkungen, infam, perfid und boshaft, die bis in das innerste Mark verwunden, und doch, eben weil sie juridisch ungreifbar sind, vom Gesetz nicht vorgesehen werden können. Dies ist der eigentliche Sitz des Übels, der Kampfplatz, wo der Zweikampf, wie früher die Gottesgerichte, ausgleichend eintritt. Dasselbe gilt im großen auch von den Kriegen, diesen barbarischen Völkerduellen um Güter, die das materielle Staatsrecht nicht zu würdigen und zu schützen vermag, und zu denen wir namentlich die Nationalehre rechnen. – Demungeachtet sind wir weit entfernt, die ganz unchristliche Selbsthilfe des Zweikampfs irgendwie verteidigen zu wollen, wünschen vielmehr vorerst nur eine genügende Vermittelung und Beseitigung seines tieferen Grundes, ohne welche, nach menschlichem Ermessen, alle Verbotsgesetze dagegen stets illusorisch bleiben werden.
Mit der neuen Umwandelung des Zeitgeistes hängt auch der Grundsatz wesentlich zusammen, die Universitäten möglichst in die großen Residenzstädte zu verlegen. Wir wollen keineswegs in Abrede stellen, daß die großen Städte mit ihrem geselligen Verkehr, mit ihren Kunstschätzen, Bibliotheken, Museen und industriellen Anstalten eine sehr bequeme Umschau, eine wahre Universitas alles Wissenswürdigen bieten. Allein es frägt sich nur, ob dieser Vorteil nicht etwa durch Nachteile anderer Art wieder neutralisiert, ja überwogen wird? Uns wenigstens scheint das alles mehr für die Professoren, als für die Studenten geeignet zu sein. Es kommt für die letzteren auf der Universität doch vorzüglich nur auf eine Orientierung in dem Labyrinth der neuen Bildung an. Auf jenen großen Stapelplätzen der Kunst und Wissenschaft aber erdrückt und verwirrt die überwältigende Masse des Verschiedenartigsten, gleichwie schon jeder Reisende, wenn er eine reiche Bildergalerie hastig durchlaufen hat, zuletzt selbst nicht mehr weiß, was er gesehen; und namentlich die großen Bibliotheken kann nur der Gelehrte, der sich bereits für ein bestimmtes Studium entschieden und gehörig vorbereitet hat, mit Nutzen gebrauchen. Wie aber soll der, für alles gleich empfängliche Jüngling mitten zwischen den nach allen Seiten auslaufenden Bahnen sich wahrhaft entscheiden, wo jedes natürliche Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler, wie es in kleinen Universitätsstädten stattfindet, durch den betäubenden Lärm und die allgemeine Zerfahrenheit der Residenz ganz unmöglich wird? Auch hier also droht abermals ein vager Dilettantismus und der lähmende Dünkel der Vielwisserei. Bei der Jugend ist eine kecke Wanderlust, sie ahnt hinter dem Morgenduft die wunderbare Schönheit der Welt; sie sich selbsttätig zu erobern ist ihre Freude. In den großen Städten aber fängt die Jugend gleich mit dem Ende an: aller Reichtum der Welt liegt in der staubigen Mittagschwüle schon wohlgeordnet um sie her, sie braucht ihren Fauteuil nur gähnend da oder dorthin zu wenden, sie hat nichts mehr zu wünschen und zu ahnen – und ist blasiert. Und auch in sittlicher Hinsicht ist der Gewinn nur illusorisch. In den kleinen Universitätsstädten herrscht allerdings oft eine arge Verwilderung, und die Studenten werden in den großen Städten gewiß ruhiger und manierlicher sein. Allein dort erscheint die Liederlichkeit in der Regel so handgreiflich, bestialisch roh und abschreckend, daß jedes gesunde Gemüt von selbst ein Ekel davor überkommt, während hier die schön übertünchten und ästhetisierten Pestgruben wohl auch die Besseren mit ihrem Gifthauch betäuben. – Unsere Universitäten sind endlich bisher eine Art von Republik gewesen, die einzigen noch übriggebliebenen Trümmer deutscher Einheit, ein brüderlicher Verein ohne Rücksicht auf die Unterschiede der Provinz, des Ranges oder Reichtums, wo den Niedriggeborenen die Überlegenheit des Geistes und Charakters zum Senior über Fürsten und Grafen erhob. Diese uralte Bedeutung der Universitäten wird von der in ganz andern Bahnen kreisenden Großstädterei notwendig verwischt, die Studenten werden immer mehr in das allgemeine Philisterium eingefangen und frühzeitig gewöhnt, die Welt diplomatisch mit Glacéhandschuhen anzufassen.
Dies halten wir aber, zumal in unserer materialistischen Zeit, für ein bedeutendes Unglück. Denn was ist denn eigentlich die Jugend? Doch im Grunde nichts anderes, als das noch gesunde und unzerknitterte, vom kleinlichen Treiben der Welt noch unberührte Gefühl der ursprünglichen Freiheit und der Unendlichkeit der Lebensaufgabe. Daher ist die Jugend jederzeit fähiger zu entscheidenden Entschlüssen und Aufopferungen, und steht in der Tat dem Himmel näher, als das müde und abgenutzte Alter; daher legt sie so gern den ungeheuersten Maßstab großer Gedanken und Taten an ihre Zukunft. Ganz recht! denn die geschäftige Welt wird schon dafür sorgen, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen und ihnen die kleine Krämerelle aufdrängen. Die Jugend ist die Poesie des Lebens, und die äußerlich ungebundene und sorgenlose Freiheit der Studenten auf der Universität die bedeutendste Schule dieser Poesie, und man möchte ihr beständig zurufen: sei nur vor allen Dingen jung! Denn ohne Blüte keine Frucht.
Bilder: via Frank T. Zumbach: Long Gone, Teil 1, 2, 3, 4, 5, 6, alle 4. August 2021.
Soundtrack: Robert Schumann: Quintett Es-Dur für 2 Violinen, Viola, Violoncello und Klavier opus 44, 1842;
Carmina Quartet mit Konstanze Eickhorst, Klavier: Martha Argerich,
live auf dem KlavierFestival Ruhr 2016:
Filetstück 0003, 2 von 3: Der Adel überhaupt aber zerfiel damals in drei sehr verschiedene Hauptrichtungen (Der Adel und die Revolution)
Update zu Filetstück 0003, 1 von 3: Europamüde vor Langerweile (Vorwort):
Der geplante erste Teil von Eichendorffs Memoiren Der Adel und die Revolution wurde von seinem Sohn, zugleich Herausgeber politisch unverfänglicher zu Deutsches Adelsleben am Schlusse des vorigen Jahrhunderts verglimpft. Zur sonstigen Motivation und Anordnung des Fragments siehe den ersten Teil des dreiteiligen „Filetstücks“.
——— Joseph von Eichendorff:
Erlebtes
1857, gedruckt posthum in Hermann von Eichendorff, Hrsg.:
Aus dem literarischen Nachlasse Joseph Freiherrn von Eichendorffs, Paderborn 1866,
als Erlebtes. Deutsches Adelsleben am Schlusse des vorigen Jahrhunderts; Halle und Heidelberg:
I. Der Adel und die Revolution
Sehr alte Leute wissen sich wohl noch einigermaßen der sogenannten guten alten Zeit zu erinnern. Sie war aber eigentlich weder gut noch alt, sondern nur noch eine Karikatur des alten Guten. Das Schwert war zum Galanteriedegen, der Helm zur Zipfelperücke, aus dem Burgherrn ein pensionierter Husarenoberst geworden, der auf seinem öden Landsitz, von welchem seine Vorfahren einst die vorüberziehenden Kaufleute gebrandschatzt hatten, nun seinerseits von den Industriellen belagert und immer enger eingeschlossen wurde. Es war mit einem Wort die mürb und müde gewordene Ritterzeit, die sich puderte, um den bedeutenden Schimmel der Haare zu verkleiden; einem alten Gecken vergleichbar, der noch immer selbstzufrieden die Schönen umtänzelt, und nicht begreifen kann und höchst empfindlich darüber ist, daß ihn die Welt nicht mehr für jung halten will.
Der Adel in seiner bisherigen Gestalt war ganz und gar ein mittelalterliches Institut. Er stand durchaus auf der Lehenseinrichtung, wo, wie ein Planetensystem, die Zentralsonne des Kaisertums von den Fürsten und Grafen und diese wiederum von ihren Monden und Trabanten umkreist wurden. Die wechselseitige religiöse Treue zwischen Vasall und Lehnsherrn war die bewegende Seele aller damaligen Weltbegebenheiten und folglich die welthistorische Macht und Bedeutung des Adels. Aber der Dreißigjährige Krieg, diese große Tragödie des Mittelalters, hatte den letzteren, der ohnedem schon längst an menschlicher Altersschwäche litt, völlig gebrochen und beschlossen. Indem er die Idee des Kaisers, wenigstens faktisch, aus der Mitte nahm oder doch wesentlich verschob, mußte notwendig der ganze strenggegliederte Bau aus seinen Fugen geraten. Die Stelle der idealen Treue wurde sofort von der materiellen Geldkraft eingenommen; die mächtigeren Vasallen kauften Landsknechte und wurden Raubritter im großen, die kleinern, die in der allgemeinen Verwirrung oft selbst nicht mehr wußten, wem sie verpflichtet, folgten dem größeren Glücke oder besserem Solde. Und als endlich die Wogen sich wieder verlaufen, bemerkte der erstaunte Adel zu spät, daß er sich selbst aus dem großen Staatsverbande heraus, auf den ewig beweglichen Triebsand gesetzt hatte: aus dem freien Lehensadel war unversehens ein Dienstadel geworden, der zu Hofe ging oder bei den stehenden Heeren sich einschreiben ließ.
So war denn namentlich auch die Ritterlichkeit zuletzt fast ausschließlich an die modernen Offizierkorps gekommen. Auf diese warf nun der Siebenjährige Krieg noch einmal einen wunderbaren Glanz, Ruhmbegier, kecke Lust am Abenteuer, Tapferkeit, aufopfernde Treue und manche der anderen Tugenden, die das Mittelalter groß gemacht, schienen von neuem aufzuleben. Allein es war kein in sich geschlossenes Rittertum im alten Sinne mehr, sondern nur das Aufleuchten einzelner bedeutender Persönlichkeiten, die eben deshalb wohl ihre Namen, nicht aber den Geist des Ganzen unsterblich machen konnten. Auch hier gibt schon das Kostüm, das niemals willkürlich oder zufällig ist, ein charakteristisches Signalement dieses neuen Ritters. Die Eisenrüstung war ihm allmählich zum Küraß, der Küraß zum bloßen Brustharnisch und dieser endlich gar zu einem handbreiten Blechschildchen zusammengeschrumpft, das er gleichsam zum Andenken an die entschwundene Rüstung wie etwa jetzt der Orden zweiter Klasse, dicht unter dem Halse trug, die Rechte, der die Manschette nicht fehlen durfte, ruhte auf einem stattlichen spanischen Rohr, das gepuderte Haupt umschwebten zu beiden Seiten, anstatt der alten Geierflügel, zwei wurfähnlich aufgerollte Locken und „der Zopf der hing ihm hinten“. Ein Ritter mit dem Zopf ist aber durchaus eine undenkbare Mißgeburt, was die armen Bildhauer, welche die Helden des Siebenjährigen Krieges darstellen sollen, am schmerzlichsten empfinden. Und dieser fatale Zopf war in der Tat das mystische Symbol der verwandelten Zeit: alles Naturwüchsige, als störend und abgemacht, hinter sich geworfen und mumienhaft zusammengewickelt, bedeutete er zugleich den Stock, die damalige Zentripetalkraft der Heere.
Die jungen Kavaliere jener Zeit dienten in der Regel nicht um einen Krieg, sondern um einen galanten Feldzug gegen die Damen so lange mitzumachen, bis sie die Verwaltung ihrer Güter antreten konnten, oder, wenn sie keine hatten, bis sie mit der glänzenden Uniform eine Schöne oder auch Häßliche erobert, die ihre vielen Schulden zu bezahlen bereit und imstande war. Vom Ritterwesen hatten sie einige verworrene Reminiszenzen ererbt und auf ihre Weise sich zurechtgemacht: vom ehemaligen Frauendienst die fade Liebelei, von der altdeutschen Ehre einen französischen, höchst kapriziösen point d’honneur, vom strengen Lehnsverbande einen kapriziösen Esprit de corps, der nur selten über den ordinärsten Standesegoismus hinauslangte. Es war die hohe Schule des Junkertums, an die selbst Fouqués Recken mit ihren Gardereiterpositionen und ausbündig galanten Redensarten noch zuweilen erinnern.
Der Adel überhaupt aber zerfiel damals in drei sehr verschiedene Hauptrichtungen. Die zahlreichste, gesündeste und bei weitem ergötzlichste Gruppe bildeten die, von den großen Städten abgelegenen kleineren Gutsbesitzer in ihrer fast insularischen Abgeschiedenheit, von der man sich heutzutage, wo Chausseen und Eisenbahnen Menschen und Länder zusammengerückt haben und zahllose Journale wie Schmetterlinge, den Blütenstaub der Zivilisation in alle Welt vertragen, kaum mehr eine deutliche Vorstellung machen kann. Die fernen blauen Berge über den Waldesgipfeln waren damals wirklich noch ein unerreichbarer Gegenstand der Sehnsucht und Neugier, das Leben der großen Welt, von der wohl zuweilen die Zeitungen Nachricht brachten, erschien wie ein wunderbares Märchen. Die große Einförmigkeit wurde nur durch häufige Jagden, die gewöhnlich mit ungeheurem Lärm, Freudenschüssen und abenteuerlichen Jägerlügen endigten, sowie durch die unvermeidlichen Fahrten zum Jahrmarkt der nächsten Landstadt unterbrochen. Die letzteren insbesondere waren seltsam genug und könnten sich jetzt wohl in einem Karnevalszuge mit Glück sehen lassen. Vorauf fuhren die Damen im besten Sonntagsstaate, bei den schlechten Wegen nicht ohne Lebensgefahr, unter beständigem Peitschenknall in einer mit vier dicken Rappen bespannten altmodischen Karosse, die über dem unförmlichen Balkengestell in ledernen Riemen hängend, bedenklich hin und her schwankte. – Die Herren dagegen folgten auf einer sogenannten „Wurst“, einem langen gepolsterten Koffer, auf welchem diese Haimonskinder dicht hintereinander und einer dem andern auf den Zopf sehend, rittlings balancierten. – Am liebenswürdigsten aber waren sie unstreitig auf ihren Winterbällen, die die Nachbarn auf ihren verschneiten Landsitzen wechselweise einander ausrichteten. Hier zeigte es sich, wie wenig Apparat zur Lust gehört, die überall am liebsten improvisiert sein will und jetzt so häufig von lauter Anstalten dazu erdrückt wird. Das größte, schnell ausgeräumte Wohnzimmer mit oft bedrohlich elastischem Fußboden stellte den Saal vor, der Schulmeister mit seiner Bande das Orchester, wenige Lichter in den verschiedenartigsten Leuchtern warfen eine ungewisse Dämmerung in die entfernteren Winkel umher, und über die Gruppe von Verwalter- und Jägerfrauen, die in der offenen Nebentüre Kopf an Kopf dem Tanze der Herrschaften ehrerbietig zusahen. Desto strahlender aber leuchteten die frischen Augen der vergnügten Landfräulein, die beständig untereinander etwas zu flüstern, zu kichern und zu necken hatten. Ihre unschuldige Koketterie wußte noch nichts von jener fatalen Prüderie, die immer nur ein Symptom von sittlicher Befangenheit ist. Man konnte sie füglich mit jungen Kätzchen vergleichen, die sorglos in wilden und doch graziös-anmutigen Sprüngen und Windungen im Frühlingssonnenscheine spielen. Denn hübsch waren sie meist, bis auf wenige dunkelrote Exemplare, die in ihrem knappen Festkleide, wie Päonien, von allzu massiver Gesundheit strotzten. – Der Ball wurde jederzeit noch mit dem herkömmlichen Initialschnörkel einer ziemlich ungeschickt aus geführten Menuett eröffnet, und gleichsam parodisch mit dem graden Gegenteil, dem tollen „Kehraus“ beschlossen. Ein besonders gutgeschultes Paar gab wohl auch, von einem Kreise bewundernder Zuschauer umringt, den „Kosakischen“ zum besten, wo nur ein Herr und eine Dame ohne alle Touren, sie in heiter zierlichen Bewegungen, er mit grotesker Kühnheit wie ein am Schnürchen gezogener Hampelmann abwechselnd gegeneinander tanzten. Überhaupt wurde damals, weil mit Leib und Seele, noch mit einer aufopfernden Todesverachtung und Kunstbeflissenheit getanzt, gegen die das heutige vornehm nachlässige Schlendern ein ermüdendes Bild allgemeiner Blasiertheit darbietet. Dabei schwirrten die Geigen und schmetterten die Trompeten und klirrten unaufhörlich die Gläser im Nebengemach, ja zuweilen, wenn der Punsch stark genug gewesen, stürzten selbst die alten Herren, zum sichtbaren Verdruß ihrer Ehefrauen, sich mit den ungeheuerlichsten Kapriolen mit in den Tanz; es war eine wahrhaft ansteckende Lustigkeit. Und zuletzt dann noch auf der nächtlichen Heimfahrt durch die gespensterhafte Stille der Winterlandschaft unter dem klaren Sternenhimmel das selige Nachträumen der schönen Kinder.
Die Glücklichen hausten mit genügsamem Behagen großenteils in ganz unansehnlichen Häusern (unvermeidlich „Schlösser“ geheißen), die selbst in der reizendsten Gegend nicht etwa nach ästhetischem Bedürfnis schöner Fernsichten angelegt waren, sondern um aus allen Fenstern Ställe und Scheunen bequem überschauen zu können. Denn ein guter Ökonom war das Ideal der Herren, der Ruf einer „Kernwirtin“ der Stolz der Dame. Sie hatten weder Zeit noch Sinn für die Schönheit der Natur, sie waren selbst noch Naturprodukte. Das bißchen Poesie des Lebens war als nutzloser Luxus lediglich den jungen Töchtern überlassen, die denn auch nicht verfehlten, in den wenigen müßigen Stunden längst veraltete Arien und Sonaten auf einem schlechten Klaviere zu klimpern und den hinter dem Hause gelegenen Obst- und Gemüsegarten mit auserlesenen Blumenbeeten zu schmücken. Gleich mit Tagesanbruch entstand ein gewaltiges Rumoren in Haus und Hof, vor dem der erschrockene Fremde, um nicht etwa umgerannt zu werden, eilig in den Garten zu flüchten suchte. Da flogen überall die Türen krachend auf und zu, da wurde unter vielem Gezänk und vergeblichem Rufen gefegt, gemolken, und gebuttert, und die Schwalben, als ob sie bei der Wirtschaft mit beteiligt wären, kreuzten jubelnd über dem Gewirr, und durch die offenen Fenster schien die Morgensonne so heiter durchs ganze Haus über die vergilbten Familienbilder und die Messingbeschläge der alten Möbel, die jetzt als Rokoko wieder für jung gelten würden. An schönen Sommernachmittagen aber kam häufig Besuch aus der Nachbarschaft. Nach den geräuschvollen Empfangskomplimenten und höflichen Fragen nach dem werten Befinden, ließ man sich dann gewöhnlich in der desolaten Gartenlaube nieder, auf deren Schindeldache der buntübermalte hölzerne Cupido bereits Pfeil und Bogen eingebüßt hatte. Hier wurde mit hergebrachten Späßen und Neckereien gegen die Damen scharmütziert, hier wurde viel Kaffee getrunken, sehr viel Tabak verraucht, und dabei von den Getreidepreisen, von dem zu verhoffenden Erntewetter, von Prozessen und schweren Abgaben verhandelt; während die ungezogenen kleinen Schloßjunker auf dem Kirschbaum saßen und mit den Kernen nach ihren gelangweilten Schwestern feuerten, die über den Gartenzaun ins Land schauten, ob nicht der Federbusch eines insgeheim erwarteten Reiteroffiziers der nahen Garnison aus dem fernen Grün emportauche. Und dazwischen tönte vom Hofe herüber immerfort der Lärm der Sperlinge, die sich in der Linde tummelten, das Gollern der Truthähne, der einförmige Takt der Drescher und all jene wunderliche Musik des ländlichen Stillebens, die den Landbürtigen in der Fremde, wie das Alphorn den Schweizer oft unversehens in Heimweh versenkt. In den Tälern unten aber schlugen die Kornfelder leise Wellen, überall eine fast unheimlich schwüle Gewitterstille, und niemand merkte oder beachtete es, daß das Wetter von Westen bereits aufstieg und einzelne Blitze schon über dem dunklen Waldeskranze prophetisch hin und her zuckten.
Man sieht, das Ganze war ein etwas ins Derbe gefertigtes Idyll, nicht von Geßner, sondern etwa wie das „Nußkernen“ vom Maler Müller. Da fehlte es nicht an manchem höchst ergötzlichen Junker Tobias oder Junker Christoph von Bleichenwang, aber ebensowenig auch an tüchtigen Charakteren und patriarchalischen Zügen. Denn diese Edelleute standen in der Bildung nur wenig über ihren „Untertanen“, sie verstanden daher noch das Volk und wurden vom Volke wieder begriffen. Es war zugleich der eigentliche Tummelplatz der jetzt völlig ausgestorbenen Originale, jener halb eigensinnigen, halb humoristischen Ausnahmenaturen, die den stagnierenden Strom des alltäglichen Philisteriums mit großem Geräusch in Bewegung setzten, indem sie, gleich wilden Hummeln, das konventionelle Spinnengewebe beständig durchbrachen. Unter ihnen sah man noch häufig bramarbasierende Haudegen des Siebenjährigen Krieges und wieder andre, die mit einer unnachahmlich lächerlichen Manneswürde von einer gewissen Biederbigkeit Profession machten. Die fruchtbarsten in diesem Genre aber waren die sogenannten „Krippenreiter„, ganz verarmte und verkommene Edelleute, die, wie die alten Schalksnarren, von Schloß zu Schloß ritten und, als Erholung von dem ewigen Einerlei, überall willkommen waren. Sie waren zugleich Urheber und Zielscheibe der tollsten Schwänke, Maskeraden und Mystifikationen, denn sie hatten, wie Falstaff, die Gabe, nicht nur selbst witzig zu sein, sondern auch bei anderen Witz zu erzeugen.
Unser deutscher Lafontaine ist, bei aller sentimentalen Abschwächung, nicht ohne einige historische Bedeutung, indem er uns oft einen recht anschaulichen Prospekt in jene gute alte Zeit eröffnet, deren adeliger Zopf sich noch fühlbar durch alle seine Romane hindurchzieht.
In der zweiten Reihe des Adels dagegen standen die Exklusiven, Prätentiösen, die sich und andere mit übermäßigem Anstande langweilten. Sie verachteten die erstere Gruppe und wurden von dieser ebenso gründlich verachtet; beides sehr natürlich, denn diese hatten die frischere Lebenskraft, die jene als plebejisches Krautjunkertum bemitleideten, die Exklusiven aber eine zeitgemäßere Bildung voraus, welche von ersteren nicht verstanden oder als affektierte Vornehmtuerei zurückgewiesen wurde. Bei diesen Vornehmen war nun die ganze Szenerie eine andere. Sie bewohnten wirkliche Schlösser, der Wirtschaftshof, dessen gemeine Atmosphäre besonders den Damen ganz unerträglich schien, war in möglichste Ferne zurückgeschoben, der Garten trat unmittelbar in den Vordergrund. Und diese Gärten müssen wir uns hier notwendig etwas genauer ansehen. Denn diese Adelsklasse, wie bereits erwähnt, ambitionierte sich durchaus, mit der Zeitbildung fortzuschreiten; und obgleich sie in der Regel nichts weniger als Literaten waren, so konnten sie doch nicht umhin, den Geist der jedesmaligen Literatur wenigstens äußerlich, als Mode, in ihrem Luxus abzuspiegeln. Die Gartenkunst aber, wie alle Künste untereinander, hängt mit den wechselnden Phasen namentlich der eben herrschenden poetischen Literatur jederzeit wesentlich zusammen.
Es ist leider hinreichend bekannt, daß wir einst das große poetische Pensum, das uns der Himmel aufgegeben, ungeschickterweise vergessen hatten und daher zu gerechter Strafe lange Zeit in der französischen Schule nachsitzen mußten, wo die Muse, sie mochte nun mutwillig oder tragisch sein, nur in Schnürleib und Reifrock erscheinen durfte. Und der abgemessenen Architektonik dieser Schule entspricht denn auch zunächst der feierliche Kurialstil unserer damaligen geradlinigen Ziergärten:
Es glänzt der Tulpenflor, durchschnitten von Alleen,
Wo zwischen Taxus still die weißen Statuen stehen,
Mit goldnen Kugeln spielt die Wasserkunst im Becken,
Im Laube lauert Sphinx, anmutig zu erschrecken.Die schöne Chloe da spazieret in dem Garten,
Zur Seit ein Kavalier, ihr höflich aufzuwarten,
Und hinter ihnen leis Cupido kommt gezogen,
Bald duckend sich im Grün, bald zielend mit dem Bogen.Es neigt der Kavalier sich in galantem Kosen,
Mit ihrem Fächer schlägt sie manchmal nach dem Losen,
Es rauscht der taftne Rock, es blitzen seine Schnallen,
Dazwischen hört man oft ein art’ges Lachen schallen.Jetzt aber hebt vom Schloß, da sich’s im West will röten
Die Spieluhr schmachtend an, ein Menuett zu flöten.
Die Laube ist so still, er wirft sein Tuch zur Erde
Und stürzet auf ein Knie mit zärtlicher Gebärde.„Wie wird mir, ach, ach, ach, es fängt schon an zu dunkeln –“
„So angenehmer nur seh ich zwei Sterne funkeln – –“
„Verwegner Kavalier!“ – „Ha, Chloe, darf ich hoffen? –“
Da schießt Cupido los und hat sie gut getroffen.So ungefähr sind uns diese, ganz bezeichnend französisch benannten, Lust- und Ziergärten jederzeit vorgekommen. Wir konnten uns dieselben niemals ohne solche Staffage, diese Chloes und galanten Kavaliere nicht ohne solchen Garten denken; und insofern hatten diese Paradegärten allerdings ihre vollkommene Berechtigung und Bedeutung: Sie sollten eben nur eine Fortsetzung und Erweiterung des Konversationssalons vorstellen. Daher mußte die zudringlich störende Natur durch hohe Laubwände und Bogengänge in einer gewissen ehrerbietigen Form gehalten werden, daher mußten Götterbilder in Allongeperücken überall an den Salon und die französierte Antike erinnern; und es ist nicht zu leugnen, daß in dieser exklusiven Einsamkeit, wo anstatt der gemeinen Waldvögel nur der Pfau courfähig war, die einzigen Naturlaute: die Tag und Nacht einförmig fortrauschenden Wasserkünste, einen um so gewaltigeren, fast tragischen Eindruck machten. Allein solche wesentlich architektonische Effekte sind immer nur durch große würdige Dimensionen erreichbar, wozu es bei den deutschen Landschlössern gewöhnlich an Raum und Mitteln fehlte. Überdies war das Ganze im Grunde nichts weniger als national, sondern nur eine Nachahmung der Versailler Gartenpracht; jede Nachahmung aber, weil sie denn doch immer etwas Neues und Apartes aufweisen will, gerät unfehlbar in das Übertreiben und Überbieten des Vorbildes. Und so erblicken wir denn auch hier, besonders von Holland her, sehr bald und nicht ohne Entsetzen die Mosaikbeete von bunten Scherben, die Pyramiden und abgeschmackten Tiergestalten von Buxbaum, die vielen schlechten, zum Teil hölzernen Götterbilder, mit einem Wort: die Karikatur; und auf diesen Plätzen promenierte der alte Gottsched als Prinz Rokoko mit seinem Gefolge.
Aber dem feierlichen Professor trat fast schon auf die Ferse die bekannte literarische Rebellion gegen das französische Regime, zum Teil durch Franzosen selbst. Rousseau, Diderot, Lessing, jeder in seiner Art, vindizierten der Natur wieder ihr angeborenes Recht. Da brach auf einmal auch das Prachtgerüste jener alten Gärten zusammen, die lang abgesperrte Wildnis kletterte hurtig von allen Seiten über die Buxwände und Scherbenbeete herein, die Natur selbst war ihnen noch nicht natürlich genug, man wollte womöglich bis in den Urwald zurück, und ein wüstes Gehölz mit wenigen Blumen und vielen ärgerlichen Schlangenpfaden, auf denen man nicht vom Fleck und zum Ziele gelangen konnte, mußte den neuen Park bedeuten. Dazu kam noch die in Deutschland unsterbliche Sentimentalität, in beständigem Handgemenge mit dem Terrorismus einer groben Vaterländerei, Lafontaine und Iffland gegen Spieß und Cramer, und über alle hinweg schritt der stolze, kein Vaterland anerkennende Kosmopolitismus. Und sofort finden wir denn dieselbe Anarchie auch in dem neuen Garten wieder: idyllische Hütten und Tränenurnen für imaginäre Tote neben schauerlichen Burgruinen, Heiligenkapellen neben japanischen Tempeln und chinesischen Kiosks; und damit in der totalen Konfusion doch jeder wisse, wie und was er eigentlich zu empfinden habe, wurden an den Bäumen als gefühlvolle Wegweiser, Tafeln mit Sprüchen und sogenannten schönen Stellen aus Dichtern und Philosophen ausgehängt. – Jeder wahre Garten aber, sagt Tieck irgendwo ganz richtig, ist von seiner eigentümlichen Lage und Umgebung bedingt, er muß ein schönes Individuum sein, und kann also nur einmal existieren.
Und eben dies war auch das Geschick oder vielmehr Ungeschick der damaligen Bewohner jener Schlösser. Sie waren, wie ihre Gärten, nicht eigentümlich ausgeprägte Individuen, hatten auch keine Nationalgesichter, sondern nur eine ganz allgemeine Standesphysiognomie; überall bis zur tödlichsten Langweiligkeit, dieselbe Courtoisie, dieselben banalen Redensarten, Liebhabereien und Abneigungen. Sie waren die Akteurs der großen Weltbühne, die nicht den Zeitgeist machten, sondern den Zeitgeist spielten; das Dekorationswesen der Repräsentation war daher ihr eigentliches Fach und Studium, und bühnengerecht zu sein ihr Stolz. Die alten Kavaliere nebst Haarbeutel und Stahldegen waren nun freilich von der Bühne verschwunden, die neuen hatten aber von ihnen die pedantische Kultur des Anstandes als heiligstes Familienerbstück überkommen. Allein der an sich löbliche Anstand ist doch nur der Schein dessen, was er eigentlich bedeuten soll, und so ging ihnen denn auch ihr Dasein lediglich in einer traditionellen Ästhetik des Lebens auf. Ihre Ställe verwandelten sich in Prachttempel, wo mit schönen Pferden und glänzenden Schweizerkühen ein fast abgöttischer Kultus getrieben wurde, im Innern des Schlosses schillerte ein blendender Dilettantismus in allen Künsten und Farben, die Fräuleins musizierten, malten oder spielten mit theatralischer Grazie Federball, die Hausfrau fütterte seltene Hühner und Tauben oder zupfte Goldborten, und alle taten eigentlich gar nichts. Sie hatten sich gleichsam die Prosa des Lebensdramas in ein prächtiges Metrum transferiert, und das ist ihre große negative Bedeutsamkeit, daß sie dadurch allerdings langehin das absolut Gemeine und Rohe unterdrückten und abwehrten. Aber Metrik ist noch keine Poesie, und den Gehalt des Lebens konnten sie dadurch nicht veredeln.
Die dritte und bei weitem brillanteste Gruppe endlich war die extreme. Hier figurierten die ganz gedankenlosen Verschwender, jene „im Irrgarten der Liebe herumtaumelnden Kavaliere„, welche ziemlich den Zug frivoler Libertinage repräsentierten, der sich wie eine narkotische Liane durch die damalige Literatur schlang. Zu diesem Berufe wurden die jungen Herren schon frühzeitig mit der sogenannten „guten Konduite“ ausgerüstet, d.h. sie mußten bei meist sehr zweideutigen und abenteuernden Strolchen tanzen, fechten, reiten und Französisch sprechen lernen. Die Eltern hatten vor lauter feiner Lebensart und gesellschaftlichen Pflichten weder Zeit noch Lust, sich um die langweilige Pädagogik zu kümmern, die eigentliche Erziehung war vielmehr gewöhnlich gewissenlosen oder unwissenden Ausländern von armer und geringer „Extraktion“ überlassen; die natürlich von ihren vornehmen Zöglingen in aller Weise düpiert wurden. Eine Anekdote aus dem Leben mag vielleicht am anschaulichsten andeuten, wie cavalièrement sich dieses Verhältnis oft gestaltete. Einer dieser Jünglinge hatte einen zwar gewissenhaften, aber sehr pedantischen Mentor, der wohl nicht ohne Grund nächtliche Ausflüge argwöhnen mochte und daher, wenn er, nachts im Garten eine ungewöhnliche Bewegung wahrnahm, jedesmal sich vorsichtig zum Fenster hinauszulehnen pflegte, um seinen Zögling zu belauern. Das war dem letztern schon längst störend und verdrießlich gewesen; er machte daher einmal in seinem nächtlichen Versteck absichtlich ein verdächtiges Geräusch. Kaum aber hatte der Mentor den Kopf wieder aus dem Fenster gestreckt, als zwei unten bereitstehende, als Spukgeister vermummte Lakaien ihm ihrer Instruktion gemäß einen hölzernen Bogen über den Nacken warfen und den Erschrockenen damit am Fensterbrett festklemmten, während ein dritter ihm, zum großen Ergötzen der Schalke, mit einem langen Pinsel das ganze Gesicht einseifte.
Nach dergleichen Studien wurden dann die „jungen Herrschaften“ mit ihrem autonomen Hofmeister auf Reisen geschickt, um insbesondere auf der hohen Schule zu Paris sich in der Praxis der Galanterie zu vervollkommnen. Da sie jedoch, bei Strafe der sozialen Exkommunikation, nirgends mit dem Volke, sondern wieder nur in den Kreisen von ihresgleichen verkehren durften, die sich damals überall zum Erschrecken ähnlich sahen, so ist es leicht begreiflich, daß sie auf allen ihren Fahrten nichts erfuhren und lernten, und regelmäßig ziemlich blasiert zurückkehrten. Und ebenso natürlich machten sie nun zu Hause, um nur die unerträgliche Langeweile loszuwerden, die verzweifeltsten Anstrengungen, fuhren mit Heiducken, Laufern und Kammerhusaren zum Besuch, rissen ihre alten Schlösser ein und bauten sich lustig moderne Trianons. Allein das forcierte Lustspiel nahm gewöhnlich ein tragisches Ende, dem kurzen Rausche folgte der moralische und finanzielle Katzenjammer. So ein Lebenslauf verpuffte rasch wie ein prächtiges Feuerwerk mit Geprassel, leuchtenden Raketen und sprühenden Feuerrädern, bis zuletzt plötzlich nur noch die halbverbrannten dunklen Gerüste dastanden; und das verblüffte Volk rieb sich die Blendung aus den Augen und lachte auseinanderlaufend über den närrischen Spaß. – Der Spaß hatte jedoch auch seine ernste Kehrseite, und grade diese Gruppe hat dem Adel am empfindlichsten geschadet, wie denn überall liebenswürdiger Leichtsinn und Unverstand gefährlicher ist als abstoßende Bosheit. Denn sie waren es vorzüglich, die nicht nur ihren eigenen Stand in schlimmen Ruf brachten, sondern auch in den unteren Schichten der Gesellschaft, die damals noch gläubig und bewundernd zum Adel aufblickten, die Seuche der Glanz und Genußsucht verbreiteten. Sie haben zuerst die schöne Pietät des von Generation zu Generation fortgeerbten Grundbesitzes untergraben, indem sie denselben in ihrer beständigen Geldnot durch verzweifelte Güterspekulationen zur gemeinen Ware machten. Und so legten sie unwillkürlich mit ihrem eigenen Erbe den Goldgrund zu der von ihnen höchst verachteten Geldaristokratie, die sie verschlang und ihre Trianons in Fabriken verwandelte.
Glücklicherweise aber läßt sich das menschliche Walten nicht in einzelne Kapitel und Paragraphen einfangen. Es versteht sich daher von selbst, daß die Grenzen aller jener Gruppen, die hier nur des klareren Überblicks wegen so konzentriert und scharf gesondert wurden, im Leben häufig ineinanderliefen. Am isoliertesten standen wohl die Prätentiösen durch ihre außerordentliche Langweiligkeit, die sie aller Welt als guten Geschmack aufdringen wollten. Am leichtesten dagegen sympathisierten die erste und dritte Gruppe miteinander, denn die unbefangenen Landjunker besaßen eben noch hinreichenden Humor, um sich an dem Mutwillen und den tollen Luftsprüngen ihrer extremen Standesgenossen zu ergötzen, während die letzteren beständig das Bedürfnis immer neuer und frappanterer Amüsements verspürten, und sich von dem ewigen Nektar nach derberer Hausmannskost sehnten; es bestand zwischen beiden ein stillschweigender Pakt wechselseitiger Erfrischung. In allen Klassen aber gab es noch Familien genug, die gleichsam mit einem traditionellen Instinkt, den alten Stammbaum frommer Zucht und Ehrenhaftigkeit in den Stürmen und Staubwirbeln der neuen Überbildung, wenn auch nicht zu regenerieren, doch wacker aufrechtzuhalten wußten; sowie einzelne merkwürdige und alle Standesschranken hoch überragende Charaktere, auf die wir weiterhin noch besonders zurückkommen wollen.
So ungefähr standen die Sachen in den letzten Dezennien des vorigen Jahrhunderts. Es brütete, wie schon gesagt, eine unheimliche Gewitterluft über dem ganzen Lande, jeder fühlte, daß irgend etwas Großes im Anzuge sei, ein unausgesprochenes, banges Erwarten, man wußte nicht von was, hatte mehr oder minder alle Gemüter beschlichen. In dieser Schwüle erschienen, wie immer vor nahenden Katastrophen, seltsame Gestalten und unerhörte Abenteurer, wie der Graf St. Germain, Cagliostro u.a., gleichsam als Emissäre der Zukunft. Die ungewisse Unruhe, da sie nach außen nichts zu tun und zu bilden fand, fraß immer weiter und tiefer nach innen; es kamen die Rosenkreuzer, die Illuminaten, man improvisierte allerlei private Geheimbünde für Beglückung und Erziehung der Menschheit, wie wir sie z.B. in Goethes „Wilhelm Meister“ auf Lotharios Schlosse sehen; albern und kindisch, aber als Symptome der Zeit von prophetischer Vorbedeutung. Denn der Boden war längst von heimlichen Minen, welche die Vergangenheit und Gegenwart in die Luft sprengen sollten, gründlich unterwühlt, man hörte überall ein spukhaftes unterirdisches Hämmern und Klopfen, darüber aber wuchs noch lustig der Rasen, auf dem die fetten Herden ruhig weideten. Vorsichtige Grübler wollten zwar schon manchmal gelinde Erdstöße verspürt haben, ja die Kirchen bekamen hin und wieder bedenkliche Risse, allein die Nachbarn, da ihre Häuser und Krämerbuden noch ganz unversehrt standen, lachten darüber, den guten Leuten im „Faust“ vergleichbar, die beim Glase Bier vom fernen Kriege, weit draußen in der Türkei behaglich diskurrieren.
Man kann sich daher heutzutage schwer noch einen Begriff machen von dem Schreck und der ungeheueren Verwirrung, die der plötzliche Knalleffekt durch das ganze Philisterium verbreitete, als nun die Mine in Frankreich wirklich explodierte. Die Landjunker wollten gleich aus der Haut fahren und den Pariser Drachen ohne Barmherzigkeit spießen und hängen. Die Prätentiösen lächelten vornehm und ungläubig und ignorierten den impertinenten Pöbelversuch, Weltgeschichte machen zu wollen; ja es galt eine geraume Zeit unter ihnen für plebejisch, nur davon zu sprechen. Die Extremen dagegen, die ohnedem zu Hause damals nicht viel mehr zu verlieren hatten, erfaßten die Revolution als ein ganz neues und höchst pikantes Amüsement und stürzten sich häufig kopfüber in den flammenden Krater. – Es ist überhaupt ein Irrtum, wenn man den Adel jener Zeit als die ausschließlich konservative Partei bezeichnen will. Er hatte, wie wir gesehen, damals nur noch ein schwaches Gefühl und Bewußtsein seiner ursprünglichen Bedeutung und Bestimmung, eigentlich nur noch eine vage Tradition zufälliger Äußerlichkeiten und folglich selbst keinen rechten Glauben mehr daran. Überdies war das Neue in Deutschland noch keineswegs bis zum Volke gedrungen, es war lediglich eine Geheimwissenschaft der sogenannten gebildeten Klassen, und daher häufig von Adeligen vertreten. Unter ihnen befanden sich viele ernste und hochgestimmte Naturen, die überall zuletzt den Ausschlag geben; aber grade diese, da sie die Unrettbarkeit des Alten einsahen, waren dem Neuen zugewandt. Und diese hatten den schlimmsten Stand. Den Landjunkern waren sie zu gelehrt und durchaus unverständlich, den Prätentiösen zu bürgerlich, den Extremen zu schulmeisterlich; sie wurden von allen ihren Standesgenossen als Renegaten desavouiert, was sie denn freilich in gewissem Sinne auch wirklich waren. Aus diesen Sonderbündlern sind später, als die Revolution zur Tat geworden, einige höchst denkwürdige Charaktere hervorgegangen. So der rastlos unruhige Freiheitsfanatiker Baron Grimm, unablässig wie der Sturmwind die Flammen schürend und wendend, bis sie über ihm zusammenschlugen und ihn selbst verzehrten. So auch der berühmte Pariser Einsiedler Graf Schlabrendorf, der in seiner Klause die ganze soziale Umwälzung wie eine große Welttragödie unangefochten, betrachtend, richtend und häufig lenkend, an sich vorübergehen ließ. Denn er stand so hoch über allen Parteien, daß er Sinn und Gang der Geisterschlacht jederzeit klar überschauen konnte, ohne von ihrem wirren Lärm erreicht zu werden. Dieser prophetische Magier trat noch jugendlich vor die große Bühne, und als kaum die Katastrophe abgelaufen, war ihm der greise Bart bis an den Gürtel gewachsen.
Wenn auf den unwirtbaren Eisgipfeln der Theorie die Lawine fertig und gehörig unterwaschen ist, so reicht der Flug eines Vogels, der Schall eines Wortes hin, um, Felsen und Wälder entwurzelnd, das Land zu verschütten; und dieses Wort hieß: Freiheit und Gleichheit. Das Alte war in der allgemeinen Meinung auf einmal zertrümmert, der goldene Faden aus der Vergangenheit gewaltsam abgerissen. Aber unter Trümmern kann niemand wohnen, es mußte notwendig auf anderen Fundamenten neu gebaut werden, und von da ab begann das verzweifelte Experimentieren der vermeintlichen Staatskünstler, das noch bis heut die Gesellschaft in beständiger fieberhafter Bewegung erhält. Es wiederholte sich abermals der uralte Bau des Babylonischen Turmes mit seiner ungeheueren Sprachenverwirrung, und die Menschheit ging fortan in die verschiedenen Stämme der Konservativen, Liberalen und Radikalen auseinander. Es waren aber vorerst eigentlich nur die Leidenschaften, die unter der Maske der Philosophie, Humanität oder sogenannten Untertanentreue, wie Drachen mit Lindwürmen auf Tod und Leben gegeneinander kämpften; denn die Ideen waren plötzlich Fleisch geworden und wußten sich in dem ungeschlachten Leibe durchaus noch nicht zurechtzufinden.
Fassen wir jedoch diesen Kampf der entfesselten und gärenden Elemente schärfer ins Auge, so bemerken wir den der Religion gegen die Freigeisterei, als das eigentlich bewegende Grundprinzip, offenbar im Vordertreffen, denn die Veränderungen der religiösen Weltansicht machen überall die Geschichte. Hier aber war der Kampf zunächst ein sehr ungleicher. Der kleine Landadel trieb großenteils die Religion nur noch wie ein löbliches Handwerk, und blamierte sich damit nicht wenig vor den weit ausgreifenden Fortschrittsmännern. Die vermeintlich gebildeteren Adelsklassen dagegen, denen die Lächerlichkeit jederzeit als die unverzeihlichste Todsünde erschien, hatten, schon längst mit den freigeisterischen französischen Autoren heimlich fraternisierend, die neue Aufklärung als notwendige Mode- und Anstandssache, gleichsam als moderne Gasbeleuchtung ihrer Salons stillschweigend bei sich aufgenommen, und erschraken jetzt zu spät vor den ganz unanständigen Konsequenzen, da ihre Franzosen plötzlich Gott abschafften und die nackte Vernunft leibhaftig auf den Altar stellten. Wie aber sollten sie so halbherzig und nachdem sie die rechte Waffe selbst aus der Hand gegeben, sich nun den ungestümen Drängern entgegenstemmen? Es konnte nicht anders sein: die neue Welt schritt über ihre ganz verblüfften Köpfe hinweg, ohne nach ihnen zu fragen. Christus galt fortan für einen ganz guten, nur leider etwas überspannten Mann, dem sich jeder Gebildete wenigstens vollkommen ebenbürtig dünkte. Es war eine allgemeine Seligsprechung der Menschheit, die durch ihre eigene Kraft und Geistreichigkeit kurzweg sich selbst zu erlösen unternahm; mit einem Wort: der vor lauter Hochmut endlich toll gewordene Rationalismus, welcher in seiner praktischen Anwendung eine Religion des Egoismus proklamierte.
Hatte man aber hiermit alles auf die subjektive Eigenmacht gestellt, so kam es natürlich nun darauf an, diese Eigenmacht auch wirklich zu einer Weltkraft zu entwickeln; und daraus folgte von selbst der gewaltige Stoß der neuen Pädagogik gegen die alte Edukation. Diese war bisher wesentlich eine partikuläre Standeserziehung gewesen, das Individuum ging in seinem bestimmten Stande, alle Stände aber in der allgemeinen Idee des Christentums auf. Jetzt dagegen sollte auch hier die bloße Natur frei walten, jeder Knabe sollte seine subjektive Art oder Unart ungeniert herausbilden, gleichsam spielend sich selbst erziehn, man wollte lauter Rousseausche Emile, das Endziel war der „starke Mensch“. Diese Emanzipation der Jugend vom alten Schulzwange hatte zunächst Basedow in die derbe Faust genommen, von dessen Dessauer Philantropie Herder sagte: „Mir kommt alles schrecklich vor; man erzählte mir neulich von einer Methode, Eichwälder in zehn Jahren zu machen; wenn man den jungen Eichen unter der Erde die Herzwurzeln nähme, so schieße alles über der Erde in Stamm und Äste. Das ganze Arkanum Basedows liegt, glaub ich, darin, und ihm möchte ich keine Kälber zu erziehen geben, geschweige Menschen.“ – Basedow war ein revolutionärer Renommist, sein Nachfolger Campe ein zahmer Philister; jener hat diesen Realismus aufgebracht, Campe hat ihn für die Gebildeten zurechtgemacht und Goethe das ganze Treiben in seinen „Wanderjahren“ köstlich parodiert.
Allein solcher Umschwung macht sich nirgend so plötzlich, als die sich überstürzenden Pädagogen es wollten und erwarteten. Namentlich die Gymnasien waren noch keineswegs nach der neuen Schablone zugeschnitten, und es dauerte eine geraume Zeit, ehe hier der moderne Realismus, neben dem alten Klassizismus freundnachbarlich Platz nehmen konnte. Sie waren noch weit davon entfernt, jene Musterkarte von Vielwisserei zu bieten, die nur das eingebildete Halbwissen erzeugt, indem sie das fröhliche Argonautenschiff der Jugend über seine natürliche Tragfähigkeit, mit einer ganz disparaten Ausrüstung belastet, von der dann gewöhnlich die Hälfte als unnützer Ballast wieder über Bord geworfen wird. Die protestantischen Gymnasien jener Zeit basierten noch wesentlich auf der Reformation, welche die Philologie als eine Weltmacht hingestellt hatte. Sie litten daher allerdings an einer, fast nur für künftige Professoren oder Theologen berechneten philologischen Starrheit; haben aber in dieser einseitigen Gründlichkeit Außerordentliches geleistet und eine Menge namhafter Gelehrten in die Welt gesandt. – Dasselbe kann man von den damaligen katholischen Gymnasien nicht rühmen. Diese befanden sich früher größtenteils in den Händen der Jesuiten, die eine mehr allgemeine Bildung mit einer gewissen klösterlichen Zucht und Strenge gar wohl zu vereinigen wußten. Jetzt aber, nach Aufhebung des Ordens, sahen sie sich plötzlich von allen Seiten den Anfechtungen des tumultuarischen Zeitgeistes, und zwar wehrlos, ausgesetzt. Denn die übriggebliebenen Exjesuiten und mit ihnen ihre alten Erziehungstraditionen waren allmählich ausgestorben, und die neuen Lehrkräfte, wie sie die veränderte Zeit durchaus erforderte, noch keineswegs herangebildet. Es entstand aber, bevor man sich nur erst einigermaßen orientiert hatte, notwendig ein augenblicklicher Stillstand, eine sehr fühlbare hin und her schwankende Unsicherheit und schüchterne Nachahmung des protestantischen Wesens, die natürlich anfangs ziemlich ungeschickt ausfallen mußte. Nur das fortdauernde Bedürfnis eines feierlichen Gottesdienstes erhielt hier noch lange Zeit eine ernste und gründliche musikalische Schule, aus der mancher berühmte Künstler hervorgegangen ist. Die Schüler veranstalteten zwar noch immer zur Weihnachtszeit theatralische Vorstellungen, aber statt der früheren, mit aller würdigen Pracht ausgestatteten Aufführung geistlicher Schauspiele, wo man nicht selten kühn auf die Meisterwerke Calderons zurückgegriffen hatte, wurden jetzt alberne Stücke aus dem „Kinderfreund“, ja sogar Kotzebueaden gegeben. Auch ihre sogenannten Konvikte bestanden noch, wirkten jedoch häufig störend durch den aristokratischen Unterschied zwischen den armen Freischülern (Fundatisten) und den reichen Pensionärs, die fast ausschließlich dem Adel angehörten. Denn auch der Adel mußte nun, wenn er nicht von der Zukunft exkludiert sein wollte, dem allgemeinen Zuge folgen. Das nach dem neuen Maßstabe durchaus unzureichende Hauslehrerunwesen, sowie die Pariser Reisestudien hatten fast ganz aufgehört, der Offiziersdienst reduzierte sich immer mehr erblich von Generation zu Generation auf bestimmte unbegüterte Militärfamilien, die jungen Kavaliere gingen auf die Gymnasien wie die andern. Ihre Erziehung war also keine spezifisch adelige mehr, sondern mehr oder minder in die Volksschule aufgegangen.
Fast noch unmittelbarer berührte jedoch den Adel der gleichzeitig zur Herrschaft gelangte Kosmopolitismus, jener seltsame „Überall und Nirgends„, der in aller Welt und also recht eigentlich nirgend zu Hause war. Aus allen möglichen und unmöglichen Tugenden hatte man für das gesamte Menschengeschlecht eine prächtige Bürgerkrone verfertiget, die auf alle Köpfe passen sollte, als sei die Menschheit ein bloßes Abstraktum und nicht vielmehr ein lebendiger Föderativstaat der verschiedensten Völkerindividuen. Alle Geschichte, alles Nationale und Eigentümliche wurde sorgfältigst verwischt, die Schulbücher, die Romane und Schauspiele predigten davon; was Wunder, daß die Welt es endlich glaubte! Der Adel aber war durchaus historisch, seine Stammbäume wurzelten grade in dem Boden ihres speziellen Vaterlandes, der ihnen nun plötzlich unter den Füßen hinwegphilosophiert wurde. Diese barbarische Gleichmacherei, dieses Verschneiden des frischen Lebensbaumes nach einem eingebildeten Maße war die größte Sklaverei; denn was wäre denn die Freiheit anderes, als eben die möglichst ungehinderte Entwickelung der geistigen Eigentümlichkeit?
Hiermit hing wesentlich auch das politische Dogma zusammen, wonach alle Laster, wie etwa jetzt den Jesuiten, dem Adel, alle Tugenden den niederen Ständen zugewiesen wurden. Wer erinnert sich nicht noch aus den damaligen Leihbibliotheken und Theatern der falschen Minister, der abgefeimten Kammerherren, der Scharen unglücklicher Liebender, die vom Ahnenstolz unbarmherzig unter die Füße getreten werden, sowie andrerseits der edelmütigen Essighändler, biederen Förster usw., wovon z.B. Schillers „Kabale und Liebe“ ein geistreiches Resumee gibt. Allein in der Wirklichkeit verhielt es sich anders als in den Leihbibliotheken; es war, nur unter verschiedenen Formen und Richtungen, der eine eben nicht besser und nicht schlimmer als der andre. Der Bauernstolz ist sprichwörtlich geworden, und die Bauern sind noch heutzutage die letzten Aristokraten vom alten Stil. Der Bürgerstand aber hatte längst dieselbe retrograde Bewegung gemacht, wie der Adel. Seine ursprüngliche Bedeutung und Aufgabe war die Wiederbelebung der allmählich stagnierenden Gesellschaft durch neue bewegende Elemente, mit einem Wort: die Opposition gegen den verknöcherten Aristokratismus. In seiner frischen Jugend daher, da er noch mit dem Rittertum um die Weltherrschaft gerungen, atmete er wesentlich einen republikanischen Geist. Die Städte regierten und verteidigten sich selbst, ihre streng gegliederten Handwerkerinnungen waren zugleich eine kriegerische Verbrüderung zu Schutz und Trutz, und die Handelsfahrten in die ferne Fremde erweiterten ihr geistiges Gebiet weit über den beschränkten Gesichtskreis der einsam lebenden Ritter hinaus. Da war überall ein rüstiges Treiben, Erfinden, Wagen, Bauen und Bilden, wovon ihre Münster, sowie ihre welthistorische Hansa ein ewig denkwürdiges Zeugnis geben. Nachdem aber draußen die Burgen gebrochen und somit die bewegenden Ideen der zu erobernden Reichsfreiheit abgenutzt und verbraucht waren, fingen sie nach menschlicher Weise an, die materiellen Mittel, womit ihre jugendliche Begeisterung so Großes geleistet, als Selbstzweck zu betrachten; gleichwie sie ja auch in der Kunst nun die handwerksmäßigen Reimtabulaturen ihres Meistergesanges für Poesie nahmen. Und mit dieser gemeinen Herabstimmung hatten sie auch sich selbst schon aufgegeben, denn ihre Stärke war die Korporation, die Korporation aber ist nur stark durch den beseelenden Geist, der alle dem Ganzen unterordnet und keinen Egoismus duldet. Da aber, wie gesagt, dieser strenge Geist ihnen im Siegesrausch abhanden gekommen, so mußten nun wohl ihre großartigen Vereine in ihre einzelnen Bestandteile auseinanderfallen und jeder Teil in seinen bloßen Schein umschlagen; von ihrer lebendigen Gliederung blieb nur die pedantische Schablone, von ihrem fröhlichen Volksliede nur die Reimtabulatur übrig, ihre Stadtwehr wurde zur geputzten Schützengilde, die nach gemalten Feinden schoß, der alte Welthandel zur Kleinkrämerei. In ihrer schönen Jugendzeit hatten sie die Buchdruckerkunst um der Wissenschaft willen ersonnen und um Gottes willen Kirchen gebaut, an deren kühnen Pfeilern und Türmen die heutigen Geschlechter schwindelnd emporschauen. Jetzt bauten sie Fabriken und Arbeiterkasernen, erfanden klappernde Maschinen zum Spinnen und Weben, und es ist offenbar, die Industrie wuchs zusehends weit und breit. Aber wir dürfen uns keine Illusionen machen. Die Industrie an sich ist eine ganz gleichgültige Sache, sie erhält nur durch die Art ihrer Verwendung und Beziehung auf höhere Lebenszwecke Wert und Bedeutung.
So hatte also der Bürgerstand – dessen Seele die geistige Bewegung, oder wie wir es jetzt nennen würden: das Prinzip des beständigen Fortschritts war – sich kampfesmüde auf den goldenen Boden des Handwerks gelegt, und die Städte waren allmählich aus einer Weltmacht eine Geldmacht geworden. Allein hierin war ihnen der Adel im allgemeinen durch seinen großen Landbesitz noch immer bedeutend überlegen; sie hatten sich mit ihm auf denselben materiellen Boden gestellt, auf dem sie ihn unmöglich innerlich bewältigen konnten. Sie suchten daher nun äußerlich mit ihm zu rivalisieren, sie wollten nicht bloß frei und reich, sondern auch vornehm sein. Das ist aber jederzeit ein höchst mißliches Unternehmen, denn um vornehm zu erscheinen, muß man, wie Goethe irgendwo sagt, wirklich vornehm, d.h. durch die allgemeine Meinung irgendwie bereits geadelt sein. Das forcierte Vornehmtun macht gerade den entgegengesetzten Effekt: „man merkt die Absicht und ist verstimmt„; wogegen das wirklich Vornehme sich durchaus bequem und passiv zeigt, als ein natürliches bloßes Ablehnen des Gemeinen bei völliger Unbekümmertheit um eine höhere Geltung, die sich ja schon ganz von selbst versteht. Es ist demnach sehr begreiflich, daß jene kleinliche Rivalität der Bürgerlichen, da sie auf der neuen Bühne die ihnen noch mangelnde Routine durch feierlichen Pathos zu ersetzen strebten, anfangs noch ziemlich ungeschickt ausfallen mußte, und daß der Adel seinerseits diese gewaltsamen und pompösen Anstrengungen der „Ellenreiter“ mit einer gewissen Schadenfreude belächelte.
Beides indes, dieses Lächeln sowie jenes Großtun, nahm plötzlich ein Ende mit Schrecken, als gegen Schluß des vorigen Jahrhunderts auf einmal die ganze Aufklärung, die echte und die falsche, aus den Bücherschränken in alle Welt ausgefahren. Es handelte sich nun nicht mehr um dies und jenes, sondern um die gesamte Existenz, Satan sollte durch Beelzebub ausgetrieben werden, es war ein Krieg aller gegen alle. Der grobe Materialismus rang mit körperlosen Abstrakten, die zärtliche Humanität fraternisierte mit der Bestialität des Freiheitspöbels, die dickköpfige Menschheit wurde mit Bluthunden zu ihrer neuen Glückseligkeit gehetzt, und Philosophie und Aberglauben und Atheismus rannten wild gegeneinander, so daß zuletzt in dem rasenden Getümmel niemand mehr wußte, wer Freund oder Feind. – Und in dieser ungeheueren Konfusion tat der Adel grade das Allerungeschickteste. Anstatt die im Sturm umher flatternden Zügel kraft höherer Intelligenz kühn zu erfassen, isolierte er sich stolz grollend und meinte durch Haß und Verachtung die eilfertige Zeit zu bezwingen, die ihn natürlich in seinem Schmollwinkel sitzenließ. Aber nur die völlige Barbarei kann ohne Adel bestehen. In jedem Stadium der Zivilisation wird es, gleichviel unter welchen Namen und Formen, immer wieder Aristokraten geben, d.h. eine bevorzugte Klasse, die sich über die Massen erhebt, um sie zu lenken. Denn der Adel (um ihn bei dem einmal traditionell gewordenen Namen zu nennen) ist seiner unvergänglichen Natur nach das ideale Element der Gesellschaft; er hat die Aufgabe, alles Große, Edle und Schöne, wie und wo es auch im Volke auftauchen mag, ritterlich zu wahren, das ewig wandelbare Neue mit dem ewig Bestehenden zu vermitteln und somit erst wirklich lebensfähig zu machen. Mit romantischen Illusionen und dem bloßen eigensinnigen Festhalten des längst Verjährten ist also hierbei gar nichts getan. Dahin aber scheint der heutige Aristokratismus allerdings zu ziehen, dem wir daher zum Valet wohl meinend zurufen möchten:
Prinz Rokoko, hast dir Gassen
Abgezirkelt fein von Bäumen
Und die Bäume scheren lassen,
Daß sie nicht vom Wald mehr träumen.Wo sonst nur gemein Gefieder
Ließ sein bäurisch Lied erschallen,
Muß ein Papagei jetzt bieder:
„Vivat Prinz Rokoko!“ lallen.Quellen, die sich unterfingen,
Durch die Waldesnacht zu tosen,
Läßt du als Fontänen springen
Und mit goldnen Bällen kosen.Und bei ihrem sanften Rauschen
Geht Damöt bebändert flöten
Und in Rosenhecken lauschen
Daphnen fromm entzückt Damöten.Prinz Rokoko, Prinz Rokoko,
Laß dir raten, sei nicht dumm!
In den Bäumen, wie in Träumen,
Gehen Frühlingsstimmen um.Springbrunn in dem Marmorbecken
Singt ein wunderbares Lied,
Deine Taxusbäume recken
Sehnend sich aus Reih und Glied.Daphne will nicht weiter schweifen
Und Damöt erschrocken schmält,
Können beide nicht begreifen,
Was sich da der Wald erzählt.Laß die Wälder ungeschoren,
Anders rauscht’s, als du gedacht
Sie sind mit dem Lenz verschworen,
Und der Lenz kommt über Nacht.
Bilder: via Frank T. Zumbach: Long Gone, Teil 1, 2, 3, 4, 5, 6, alle 4. August 2021.
Soundtrack: François-Adrien Boieldieu: Concerto für Klavier in F-Dur, 1792;
Innsbrucker Symphonieorchester unter Robert Wagner, Klavier: Martin Galling, 1994:
Filetstück 0003, 1 von 3: Europamüde vor Langerweile (Vorwort)
Update zu Des eigenen Herzens süße Melodie,
Alle wurden bei diesem Anblicke still und atmeten tief über dem Wellenrauschen: Regensburg bis Grein,
Ahnung und Gegenwart. Jeune femme assise. Wie sie ist
und Eichendorffs Märchen:
Freunde hatten mich längst aufgefordert, meine Memoiren zu schreiben, ohne daß ich mich dazu bisher zu entschließen vermochte. Nun der Abend meines Lebens aber immer tiefer hereindunkelt, fühle ich selbst ein Bedürfniß, im scharfen Abendroth noch einmal mein Leben zu überschauen, bevor die Sonne ganz versunken. Ich will jedoch weniger meinen Lebenslauf schildern, als die Zeit, in der ich gelebt, mit einem Wort: Erlebtes im weitesten Sinne. Wenn dennoch meine Person vorkommt, so soll sie eben nur der Reverbère sein, um die Bilder und Ereignisse schärfer zu beleuchten. Man tadelt an den Memoiren häufig, daß sie entweder die Sentimentalität oder die Reflexion zu sehr vorwalten lassen. Mir scheint, wer die eine oder die andere absichtlich sucht, fehlt ebenso, als wer sie ängstlich vermeidet. Sie wechseln beide nothwendig im Leben, und so will ich denn schreiben, wie sich’s eben schicken und fügen will. Und wenn auch immerhin weder meine Persönlichkeit noch meine Schicksale ein allgemeineres Interesse ansprechen, so dürften doch vielleicht manche Streiflichter dabei auch eine Zeit erhellen, die uns so fremd geworden ist.
Soweit Eichendorff in seinem Todesjahr 1857, überliefert von seinem Sohn Hermann, zugleich Herausgeber seiner ersten Sämmtlichen Werke, 1864 in der Biographischen Einleitung zum 1. Band mit den Gedichten, Seite 212. Leider schaffte er nur noch die ersten beiden Kapitel zu seinen Memoiren auszuführen, die hier als dreiteiliges „Filetstück“ erscheinen.
Das Vorwort dazu druckt Ansgar Hillach noch 1970 in der Gesamtausgabe bei Winkler eben als Vorwort dazu ab — ausdrücklich
trotz erheblicher Bedenken an dieser Stelle belassen, nicht um Koschs kaum begründete Plazierung zu rechtfertigen, sondern um Erlebtes, als ein Fragment, sichtbar in den Zusammenhang der E’schen Bemühungen um eine autobiographische Dichtung zu stellen.
1980 im vierten Band mit Nachlese der Gedichte, Erzählerische und dramatische Fragmente, Tagebücher 1798–1815) wird die Stelle als Vorwort zu den Memoiren als „irrtümlich“ eingestuft und als Entwurf einer Rahmenhandlung zur Einsiedler-Novelle. Tröst-Einsamkeit berichtigt und nach zehn Jahren innerhalb derselben Ausgabe zum zweiten Mal abgedruckt.
Soll noch einer behaupten, Literatur-Wissenschaft wäre keine Wissenschaft.
——— Joseph von Eichendorff:
Erlebtes
1857, gedruckt posthum in Hermann von Eichendorff, Hrsg.:
Aus dem literarischen Nachlasse Joseph Freiherrn von Eichendorffs, Paderborn 1866,
als Erlebtes. Deutsches Adelsleben am Schlusse des vorigen Jahrhunderts; Halle und Heidelberg:
Vorwort
An einem schönen warmen Herbstmorgen kam ich auf der Eisenbahn vom andern Ende Deutschlands mit einer Vehemenz dahergefahren, als käme es bei Lebensstrafe darauf an, dem Reisen, das doch mein alleiniger Zweck war, auf das allerschleunigste ein Ende zu machen. Diese Dampffahrten rütteln die Welt, die eigentlich nur noch aus Bahnhöfen besteht, unermüdlich durcheinander wie ein Kaleidoskop, wo die vorüberjagenden Landschaften, ehe man noch irgendeine Physiognomie gefaßt, immer neue Gesichter schneiden, der fliegende Salon immer andere Sozietäten bildet, bevor man noch die alten recht überwunden. Diesmal blieb indessen eine Ruine rechts überm Walde ganz ungewöhnlich lange in Sicht. Europamüde vor Langerweile fragte ich, ohne daß es mir grade um eine Antwort sonderlich zu tun gewesen wäre, nach Namen, Herkunft und Bedeutung des alten Baues; erfuhr aber zu meiner größten Verwunderung weiter nichts als gerade das Unerwartetste, daß nämlich dort oben ein Einsiedler hause. – „Was! so ein wirklicher Eremit mit langem Bart, Rosenkranz, Kutte und Sandalen?“ – Keiner von der Gesellschaft im fliegenden Kasten konnte mir jedoch über diesen impertinenten Rückschritt genügende Auskunft erteilen, niemand hatte den Einsiedel selbst gesehen. Einer der Herren erklärte ihn schlechtweg für einen hochmütigen Sonderling, da er, wie er erfahren, bei der gebildeten Nachbarschaft nirgends Besuch gemacht, ja nicht einmal Visitenkarten umhergeschickt habe. Ein zweiter meinte, da stecke wohl etwas ganz anderes, eine dunkle Tat, ein großes politisches Verbrechen dahinter. – „Ja, diese heimlichen Jesuiten!“ fiel ihm da ein dritter mit einem wichtigen Augenzwick in die Rede, und sprach nichts weiter. Eine Berliner Dame dagegen, die eben ihre Zigarre angeraucht, versicherte lachend, das sei ohne Zweifel der letzte Romantiker, der sich vor dem Fortschritt der wachsenden Bildung in den mittelalterlichen Urwald geflüchtet. Alle stimmten endlich darin überein, daß besagter Einsiedler etwas verdreht im Kopfe sein müsse.
Diese Notwendigkeit wollte mir zwar keineswegs so unbedingt einleuchten, doch war das wenige, das ich gehört, abenteuerlich genug, um mich neugierig zu machen. Ich beschloß daher, auf der nächsten Station zurückzubleiben, und den seltsamen Kauz womöglich in seinem eignen Neste aufzusuchen.
Das war aber nicht so leicht, wie ich’s mir vorgestellt hatte. In den Bahnhöfen ist eine so große Eilfertigkeit, daß man vor lauter Eile mit nichts fertig werden kann. Die Leute wußten genau, in welcher Stunde und Minute ich in Paris oder Triest oder Königsberg, wohin ich nicht wollte, sein könne, über Zugang und Entfernung des geheimnisvollen Waldes aber, wohin ich eben wollte, konnte ich nichts Gewisses erfahren; ja der Befragte blickte verwundert nach der bezeichneten Richtung hin, ich glaube, er hatte die Ruine bisher noch gar nicht bemerkt. Desto besser! dachte ich, schnürte mein Ränzel und schritt wieder einmal mit lang entbehrter Reiselust in die unbestimmte Abenteuerlichkeit des altmodischen Wanderlebens hinein.
Schon war die Rauchschlange des Bahnzuges weit hinter mir in den versinkenden Tälern verschlüpft, statt der Lokomotive pfiffen die Waldvögel grade ebenso wie vor vielen, vielen Jahren, da ich mir als Student zum erstenmal die Welt besehen, als wollten sie fragen, wo ich denn so lange gewesen? So kletterte ich unter dem feierlichen Waldesrauschen auf dem steilen Fußsteig, den mir die Hirten verraten, an einsamen Wiesen vorüber, wo die weidenden Kühe scheu und neugierig nach mir aufsahen, zwischen Weißdorn und Berberitzen, die im vollen Blütenstaat jugendlichen Übermuts auf meine grauen Haare und abgetragene Wandertasche stichelten, siegreich immer höher und höher hinan, bis ich mich endlich durch das Dickicht auf die letzte Höhe herausgearbeitet hatte.
Da lag plötzlich, wie in einem Nest von hohem Gras und Unkraut und die Tatzen weit nach mir vorgestreckt, eine riesenhafte Sphinx neben mir, die mich mit ihren steinernen Augen fragend anglotzte. Und in der Tat, das unverhoffte Ungeheuer gab mir ein Rätsel auf, das mich ganz verwirrte. Denn statt der erwarteten Klüfte, wilden Quellen und Felsenklausen nebst Zubehör erblickte ich einen, freilich arg verwilderten, altfranzösischen Garten: hohe Alleen und gradlinige Kiesgänge; rechts und links einzelne Päonien und Kaiserkronen, über denen bunte Schmetterlinge wie verwehte Blüten dahinschwebten, und in der Mitte eine Fontäne, die einförmig fortplätscherte in der großen Stille; nur ein Pfau spazierte stolz zwischen den Kaiserkronen. Es war aber eben Mittagszeit und eine fast gespenstische Beleuchtung ohne Schatten, die Sonne brannte, die Vögel schwiegen, der Wald rauschte kaum noch wie im Traume. Mir war’s, als ginge ich durch irgendeine Verzauberung mitten in die gute alte Zeit, ich schüttelte mehrmal mit dem Kopf, ob mir nicht etwa unversehens ein Haarbeutel im Nacken gewachsen.
So kam ich an die Ruine, oder vielmehr an ein Schloß, das allerdings ruiniert genug war, aber offenbar weniger durch sein Alter, als durch einen gewaltsamen Brand. Der eine Teil lag malerisch verfallen, und fraternisierte längst mit dem Frühling, der mit seinen blühenden Ranken überall an Pfeilern und Wänden lustig hinaufkletterte. Nur der nach dem Garten hin gelegene Flügel, alle Fenster künstlich umschnörkelt und durch steinerne Blumengirlanden miteinander verbunden, sah noch sehr vornehm aus, wie eine Residenz des Prinzen Rokoko. Ein Fenster unten stand offen. Ich blickte hinein und übersah eine lange Reihe großer und hoher Gemächer mit reichen Tapeten, parkettierten Fußböden und prächtigen Stuckverzierungen an den Decken, überall samtene Kanapees und Sessel, die Lehnen weißlackiert mit goldenen Leisten, große Spiegel und Marmortische darunter. Es war so kühl da drinnen in der feierlichen Einsamkeit, aus einem der entfernteren Gemächer flötete soeben eine unsichtbare Spieluhr eine Menuett herüber, die ich noch aus meiner Kindheit zu kennen glaubte.
Jetzt hörte ich kleine, feine Stimmen hinter mir: es war ein Knabe und ein Mädchen, die einander gejagt hatten und stutzig stillstanden, da sie mich erblickten. „Wo ist der Zauberer – der Herr Einsiedler?“ fragte ich, mich selbst verbessernd. Der erhitzte Knabe schüttelte die Locken aus dem hübschen Gesichtchen und sah mich schweigend und fast trotzig an. Das etwas ältere Mädchen aber wies nach einer Laube hin und sagte mit einem zierlichen Knicks: „Er betet.“ – Also am Ende doch wirklich ein Eremit im alten Stil, dachte ich und eilte der bezeichneten Geißblattlaube zu. Dort saß ein Mann, den Rücken nach mir gekehrt und, wie es schien, eifrig in einen schweinsledernen Quartanten vertieft, der auf dem steinernen Tische vor ihm lag. Auf einmal aber, als ich schon ziemlich nahe war, fuhr ein zahmer Storch, den ich bisher gar nicht bemerkt hatte, erschrocken neben mir aus seinen Gedanken, legte den Hals hintenüber, sperrte den langen Schnabel weit auf und klapperte aus Leibeskräften. Da wandte sich der Einsiedler. – „Arthur!“ rief ich ganz erstaunt – es war mein liebster Kriegskamerad vom Lützowschen Korps!
„Um des Himmels willen, was machst denn du hier?“ – „Ich lese Calderons Autos“ – „Aber just in dieser seltsamen Abgeschiedenheit!“ – „Das sind die Trümmer meiner Heimat“, entgegnete er ruhig, „und das dort die Enkel meiner Spielgesellen aus der Kinderzeit“, fügte er lächelnd hinzu, auf die beiden Kinder weisend, die unterdes neugierig mir gefolgt waren.
Er hatte sich inzwischen hoch aufgerichtet. Er trug nichts weniger als eine korrekte Einsiedleruniform, sondern einen grünen kurzen Jagdrock und nur einen schönen vollen Bart, wie ihn unsere modernen Einsiedler in den Kaffeehäusern und Lesekabinetten tragen. Wir hatten uns seit den Kriegsjahren nicht mehr gesehen; nun beschauten wir einander eine Zeitlang stillschweigend, bis wir zuletzt beide in ein lautes Lachen ausbrachen: so uralt und ehrwürdig waren wir beide seitdem geworden; nur seine Augen waren noch immer die alten, treuen, ich hatte ihn sogleich an dem ganz eigentümlichen Blicke wiedererkannt.
Bilder: via Frank T. Zumbach: Long Gone, Teil 1, 2, 3, 4, 5, 6, alle 4. August 2021.
Fachfilm: Landsmannschaft der Oberschlesier e.V.: Schläft ein Lied in allen Dingen …,
Aladin-Filmproduktion im Auftrag des Bayerischen Rundfunks, 1981:
Soundtrack: Carl Maria von Weber: Klavierkonzert Nr. 1 C-Dur opus 11, 1810;
Klavier: Eduard Erdmann, live 16. November 1952:
Nachtstück 0028: Du siehst, man muß nur etwas aus sich machen (daß es denn doch um die Dauer der Menschheit noch nicht so gar schlecht stehe)
Update zu Der Mensch ist ein einfaches Wesen. Und wie reich, mannigfaltig und unergründlich er auch sein mag, so ist doch der Kreis seiner Zustände bald durchlaufen,
Du hast mir mein Gerät verstellt und verschoben
und Einige Reste Wein:
Im Thema Body-switch wussten die alten weißen Männer der deutschen Klassik mal wieder selbst am wenigsten davon, wie privilegiert sie waren.
1. Aus Frauensicht:
——— Emma. 25. Very Bad Catholic. Wife and mom:
Swimsuit shopping, a dialogue
aus: The Daily Plod, 21. April 2018:
Me: All I’m looking for is a cute, modest swimsuit that has a good design and a reasonable price
Swimsuit designers: Let’s make all the one pieces have plunging necklines this year!
Me: Well that’s great if you have a small chest but I need good suppo-
Swimsuit designers: Let’s make the front of this high-waisted two piece modest in the front…
Me: Great!
Swimsuit designers: AND THEN let’s make it all strappy and cheeky in the back!
Me: Do not
Swimsuit designers: Let’s make all the modest swimsuits frumpy with ugly patterns and really expensive!
Me: Why-
Swimsuit designers: …And make all the strappy, revealing bikinis dirt cheap!
Me:
Me: Look! Finally, a cute, modest swimsuit in the front and back with a good design and a lovely pattern! It’s EXACTLY what I’ve been looking for! Good job guys-
Swimsuit designers: We have decided to make this swimsuit that has every single quality you want absurdly expensive and out of your price range!
Me: Well….this other one is pretty cute and reasonably priced. I’d settle for it at least
Swimsuit designers: We know that women love swimsuits with good coverage and good design with a reasonable price
Me: Thank you.
Swimsuit designers: That’s why this particular swimsuit you’d settle for is all sold out in your size
Me: WHY DO YOU HATE ME AND ALL WOMANKIND
2. Aus Männersicht:
——— Johann Peter Eckermann:
Mittwoch, den 12. März 1828
aus: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Brockhaus, Leipzig 1836:
Nachdem ich Goethe gestern Abend verlassen hatte, lag mir das mit ihm geführte bedeutende Gespräch fortwährend im Sinne.
Auch von den Kräften des Meeres und der Seeluft war die Rede gewesen, wo denn Goethe die Meinung äußerte, daß er alle Insulaner und Meeranwohner des gemäßigten Klimas bei weitem für productiver und thatkräftiger halte als die Völker im Innern großer Continente.
War es nun daß ich mit diesen Gedanken und mit einer gewissen Sehnsucht nach den belebenden Kräften des Meeres einschlief, genug, ich hatte in der Nacht folgenden anmuthigen und mir sehr merkwürdigen Traum.
Ich sah mich nämlich in einer unbekannten Gegend unter fremden Menschen überaus heiter und glücklich. Der schönste Sommertag umgab mich in einer reizenden Natur, wie es etwa an der Küste des Mittelländischen Meeres im südlichen Spanien oder Frankreich oder in der Nähe von Genua sein möchte. Wir hatten mittags an einer lustigen Tafel gezecht, und ich ging mit andern, etwas jüngern Leuten, um eine weitere Nachmittagspartie zu machen. Wir waren durch buschige angenehme Niederungen geschlendert, als wir uns mit einem Male im Meere auf der kleinsten Insel sahen, auf einem herausragenden Felsstück, wo kaum fünf bis sechs Menschen Platz hatten und wo man sich nicht rühren konnte ohne Furcht, ins Wasser zu gleiten. Rückwärts, wo wir hergekommen waren, erblickte man nichts als die See, vor uns aber lag die Küste in der Entfernung einer Viertelstunde auf das einladendste ausgebreitet. Das Ufer war an einigen Stellen flach, an andern felsig und mäßig erhöht, und man erblickte zwischen grünen Lauben und weißen Zelten ein Gewimmel lustiger Menschen in hellfarbigen Kleidern, die sich bei schöner Musik, die aus den Zelten herübertönte, einen guten Tag machten. „Da ist nun weiter nichts zu thun,“ sagte einer zum andern, „wir müssen uns entkleiden und hinüberschwimmen.“ – „Ihr habt gut reden,“ sagte ich, „ihr seid jung und schön und überdies gute Schwimmer. Ich aber schwimme schlecht und es fehlt mir die ansehnliche Gestalt, um mit Lust und Behagen vor den fremden Leuten am Ufer zu erscheinen.“ – „Du bist ein Thor,“ sagte einer der schönsten; „entkleide dich nur und gieb mir deine Gestalt, du sollst indeß die meinige haben.“ Auf dieses Wort entkleidete ich mich schnell und war im Wasser und fühlte mich im Körper des andern sofort als einen kräftigen Schwimmer. Ich hatte bald die Küste erreicht und trat mit dem heitersten Vertrauen nackt und triefend unter die Menschen. Ich war glücklich im Gefühl dieser schönen Glieder, mein Benehmen war ohne Zwang, und ich war sogleich vertraut mit den Fremden vor einer Laube an einem Tische, wo es lustig herging. Meine Kameraden waren auch nach und nach ans Land gekommen und hatten sich zu uns gesellt, und es fehlte nur noch der Jüngling mit meiner Gestalt, in dessen Gliedern ich mich so wohl fühlte. Endlich kam auch er in die Nähe des Ufers, und man fragte mich, ob ich denn nicht Lust habe, mein früheres Ich zu sehen. Bei diesen Worten wandelte mich ein gewisses Unbehagen an, theils weil ich keine große Freude an mir selber zu haben glaubte, theils auch weil ich fürchtete, jener Freund möchte seinen eigenen Körper sogleich zurückverlangen. Dennoch wandte ich mich zum Wasser und sah mein zweites Selbst ganz nahe heranschwimmen und, indem er den Kopf etwas seitwärts wandte, lachend zu mir heraufblicken. „Es steckt keine Schwimmkraft in deinen Gliedern,“ rief er mir zu; „ich habe gegen Wellen und Brandung gut zu kämpfen gehabt, und es ist nicht zu verwundern, daß ich so spät komme und von allen der letzte bin.“ Ich erkannte sogleich das Gesicht, es war das meinige, aber verjüngt und etwas voller und breiter und von der frischesten Farbe. Jetzt trat er ans Land, und indem er, sich aufrichtend, auf dem Sande die ersten Schritte that, hatte ich den Überblick seines Rückens und seiner Schenkel und freute mich über die Vollkommenheit dieser Gestalt. Er kam das Felsufer herauf zu uns andern, und als er neben mich trat, hatte er vollkommen meine neue Größe. Wie ist doch, dachte ich bei mir selbst, dein kleiner Körper so schön herangewachsen! Haben die Urkräfte des Meeres so wunderbar auf ihn gewirkt, oder ist es weil der jugendliche Geist des Freundes die Glieder durchdrungen hat? Indem wir darauf eine gute Weile vergnügt beisammen gewesen, wunderte ich mich imstillen, daß der Freund nicht that als ob er seinen eigenen Körper einzutauschen Neigung habe. Wirklich, dachte ich, sieht er auch so recht stattlich aus, und es könnte ihm im Grunde einerlei sein; mir aber ist es nicht einerlei, denn ich bin nicht sicher, ob ich in jenem Leibe nicht wieder zusammengehe und nicht wieder so klein werde wie zuvor. Um über diese Angelegenheit ins Gewisse zu kommen, nahm ich meinen Freund auf die Seite und fragte ihn, wie er sich in meinen Gliedern fühle. „Vollkommen gut,“ sagte er; „ich habe dieselbe Empfindung meines Wesens und meiner Kraft wie sonst. Ich weiß nicht was du gegen deine Glieder hast, sie sind mir völlig recht, und du siehst, man muß nur etwas aus sich machen. Bleibe in meinem Körper so lange du Lust hast; denn ich bin vollkommen zufrieden, für alle Zukunft in dem deinigen zu verharren.“ Über diese Erklärung war ich sehr froh, und indem auch ich in allen meinen Empfindungen, Gedanken und Erinnerungen mich völlig wie sonst fühlte, kam mir im Traum der Eindruck einer vollkommenen Unabhängigkeit unserer Seele und der Möglichkeit einer künftigen Existenz in einem andern Leibe.
„Ihr Traum ist sehr artig,“ sagte Goethe, als ich ihm heute nach Tische die Hauptzüge davon mittheilte. „Man sieht,“ fuhr er fort, „daß die Musen Sie auch im Schlaf besuchen, und zwar mit besonderer Gunst; denn Sie werden gestehen, daß es Ihnen im wachen Zustande schwer werden würde, etwas so Eigenthümliches und Hübsches zu erfinden.“
„Ich begreife kaum, wie ich dazu gekommen bin,“ erwiederte ich; „denn ich fühlte mich alle die Tage her so niedergeschlagenen Geistes, daß die Anschauung eines so frischen Lebens mir sehr fern stand.“
„Es liegen in der menschlichen Natur wunderbare Kräfte,“ erwiederte Goethe, „und eben wenn wir es am wenigsten hoffen, hat sie etwas Gutes für uns in Bereitschaft. Ich habe in meinem Leben Zeiten gehabt, wo ich mit Thränen einschlief, aber in meinen Träumen kamen nun die lieblichsten Gestalten, mich zu trösten und zu beglücken, und ich stand am andern Morgen wieder frisch und froh auf den Füßen.
Es geht uns alten Europäern übrigens mehr oder weniger allen herzlich schlecht; unsere Zustände sind viel zu künstlich und complicirt, unsere Nahrung und Lebensweise ist ohne die rechte Natur, und unser geselliger Verkehr ohne eigentliche Liebe und Wohlwollen. Jedermann ist fein und höflich, aber niemand hat den Muth, gemüthlich und wahr zu sein, sodaß ein redlicher Mensch mit natürlicher Neigung und Gesinnung einen recht bösen Stand hat. Man sollte oft wünschen, auf einer der Südseeinseln als sogenannter Wilder geboren zu sein, um nur einmal das menschliche Dasein ohne falschen Beigeschmack, durchaus rein zu genießen.
Denkt man sich bei deprimirter Stimmung recht tief in das Elend unserer Zeit hinein, so kommt es einem oft vor als wäre die Welt nach und nach zum Jüngsten Tage reif. Und das Übel häuft sich von Generation zu Generation! Denn nicht genug, daß wir an den Sünden unserer Väter zu leiden haben, sondern wir überliefern auch diese geerbten Gebrechen, mit unsern eigenen vermehrt, unsern Nachkommen.“
„Mir gehen oft ähnliche Gedanken durch den Kopf,“ versetzte ich; „allein wenn ich sodann irgend ein Regiment deutscher Dragoner an mir vorüberreiten sehe und die Schönheit und Kraft der jungen Leute erwäge, so schöpfe ich wieder einigen Trost, und ich sage mir, daß es denn doch um die Dauer der Menschheit noch nicht so gar schlecht stehe.“
Bilder: Duane Bryers: Hilda, „from around the 1950s to the 1980s“,
via Greta Jaruševičiūtė: Hilda: The Forgotten Plus-Size Pin-Up Girl From The 1950s, 2017.
Soundtrack: Baby Gramps: Old Man of the Sea,
aus: Rogues Gallery: Pirate Ballads, Sea Songs, and Chanteys, ANTI- 2006:
Fruchtstück 0004: Der heil’ge Rhythmus in Verselein und Rimelein
Update zu Der unverzichtbare Buchstabe e
und The Metrum is the Message:
Über Sinn oder Unsinn der Poesie, Literatur und/oder gar Kunst lässt sich in den Zeiten des gerade erst zu seinen optimierten Vernichtungsschlägen ausholenden Neoliberalismus nicht mehr sinnvoll diskutieren. Über den Sinn von Formgebung in der Lyrik offenbar schon.
——— August von Platen:
1825:
Was stets und aller Orten
Sich ewig jung erweist,
Ist in gebundnen Worten
Ein ungebundner Geist.
I
Entled’ge dich von jenen Ketten allen,
Die gutgemutet du bisher getragen,
Und wolle nicht, mit kindischem Verzagen,
Der schnöden Mittelmäßigkeit gefallen!Und mag die Bosheit auch die Fäuste ballen,
Noch atmen Seelen, welche keck es wagen,
Lebendig, wie die deinige, zu schlagen,
Drum laß die frischen Lieder nur erschallen!Geschwätz’gen Krittlern gönne du die Kleinheit,
Bald dies und das zu tadeln und zu loben,
Und nie zu fassen eines Geistes Einheit.Ihr kurzer Groll wird allgemach vertoben,
Du aber schüttelst ab des Tags Gemeinheit,
Wenn dich der heil’ge Rhythmus trägt nach oben.
——— Thomas Mann:
Der Erwählte
1951, 1. Kapitel: Wer läutet?, Schluss,
Rolle Mönch Clemens der Ire, vormals Morhold, im Kloster Sankt Gallen als Der Geist der Erzählung:
Eines ist gewiß, nämlich, daß ich Prosa schreibe und nicht Verselein, für die ich im ganzen keine übertriebene Achtung hege. Vielmehr stehe ich diesbezüglich in der Überlieferung Kaisers Caroli, der nicht nur ein großer Gesetzgeber und Richter der Völker, sondern auch der Schutzherr der Grammatik und der beflissene Gönner richtiger und reiner Prosa war. Ich höre zwar sagen, daß erst Metrum und Reim eine strenge Form abgeben, aber ich möchte wohl wissen, warum das Gehüpf auf drei, vier jambischen Füßen, wobei es obendrein alle Augenblicke zu allerlei daktylischem und anapästischem Gestolper kommt, und ein bißchen spaßige Assonanz der Endwörter die strengere Form darstellen sollten gegen eine wohlgefügte Prosa mit ihren so viel feineren und geheimeren rhythmischen Verpflichtungen, und wenn ich anheben wollte:
Es war ein Fürst, nommé Grimald,
Der Tannewetzel macht‘ ihn kalt.
Der ließ zurück zween Kinder klar,
Ahî, war das ein Sünderpaar!oder in dieser Art, – ob das eine strengere Form wäre als die grammatisch gediegene Prosa, in der ich jetzt sogleich meine Gnadenmär vortragen und sie so musterhaft ausgestalten und gültig darstellen werde, daß viele Spätere noch, Franzosen, Angeln und Deutsche, daraus schöpfen und ihre Rimelein darauf machen mögen.
——— König Friedrich Wilhelm III:
September 1811, zu August Neidhardt von Gneisenaus Hinweis auf die „tapferen österreichischen Milizen im letzten Kriege, die, fest zusammengeschlossen, dem Anfall der französischen Reiterei muthvoll widerstanden“:
Als Poesie gut.
——— August Neidhardt von Gneisenau:
September 1811:
Ew. Majestät werden mir, indem ich dieses sage, abermals Poesie Schuld geben, und ich will mich gern hiezu bekennen. Religion, Gebet, Liebe zum Regenten, zum Vaterland sind nichts anderes als Poesie, keine Herzenserhebung ohne poetischen Schwung. Wer nur nach kalter Berechnung handelt, wird ein starrer Egoist. Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet. Wie so mancher von uns, die wir mit Bekümmernis auf den wankenden Thron blicken, würde eine ruhige, glückliche Lage in stiller Eingezogenheit finden können, wie mancher selbst eine glänzende erwarten dürfen, wenn er statt zu fühlen nur berechnen wollte. Jeder Herrscher ist ihm dann gleichgültig. Aber die Bande der Geburt, der Zuneigung, der Dankbarkeit, des Hasses gegen die Fremdlinge fesseln ihn an seinen alten Herrn, mit ihm will er leben und fallen, für ihn entsagt er den Familienfreuden, für ihn gibt er Leben und Gut ungewisser Zukunft preis. Dies ist Poesie, und zwar der edelsten Art. An ihr will ich mich aufrichten mein lebelang, und zur Ehre will ich mir es rechnen, der Schar jener Begeisterten anzugehören, die alles daran setzen, um Ew. Majestät alles zu retten, denn wahrlich, zu einem solchen Entschluss gehört Begeisterung, die jede selbstsüchtige Berechnung verschmäht. Viel sind der Männer, die so denken, und weit siehe ich ihnen an Adel der Gesinnungen nach, aber ich will mich bestreben, ihnen ähnlich zu werden.
——— Joseph von Eichendorff:
Ahnung und Gegenwart
1815, Zweites Buch, Sechszehntes Kapitel:
„Warum fürchten Sie sich?“ sagte Friedrich hastig, denn ihm war, als sähe ihn das stille, weiße Bild wie in der Kirche wieder an, „wenn Sie den Mut hatten, das hinzuschreiben, warum erschrecken Sie, wenn es auf einmal Ernst wird und die Worte sich rühren und lebendig werden? Ich möchte nicht dichten, wenn es nur Spaß wäre, denn wo dürfen wir jetzt noch redlich und wahrhaft sein, wenn es nicht im Gedichte ist? Haben Sie den rechten Mut, besser zu werden, so geh’n Sie in die Kirche und bitten Sie Gott inbrünstig um seine Kraft und Gnade. Ist aber das Beten und alle unsere schönen Gedanken um des Reimes willen auf dem Papiere, so hol‘ der Teufel auf ewig den Reim samt den Gedanken!“ –
Hier fiel der Prinz Friedrich’n ungestüm um den Hals.
Bilder: Abbie Cornish featuring Topper, in: Bright Star, 2009.
Soundtrack von hohem metrischen Gestaltungswillen in the merry month of June mit dem luziden Kommentar des YouTübners smokelet’sgo von 2017:
Shane sings 503 words in this song in 2 miutes 13 seconds (lyrics start at 1:00 in the song). 226 words per minute, 3.77 words per second. All from a man who abused his body beyond the comprehension of most human beings, basically he shouldn’t be alive today. Simply amazing.
The Pogues: Rocky Road to Dublin:
Dornenstück 0007: Non stabat pater dolorosus
Update zu Des Frühlings beklommnes Herz,
Show me a guy that doesn’t want to come down off the cross,
Oh my, oh my, oh my, what if it was true? (O wolle nicht ergründen, was einmal unergründlich ist)
und Nachtstück 0027: Uns lieben Brüdern Wohlgefallen und ein recht gutes Jahr!:
Karfreitag in siebenzeiligen Strophen.
Im übrigen halte ich in der christlichen Ikonographie den Pater dolorosus, der Sankt Joseph einmal gewesen sein muss, für unterrepräsentiert. Zwei Jahrtausende haben nicht zu überliefern für nötig befunden, ob ein Mensch und Vater namens ܝܰܘܣܶܦܢܳܨ ܡܶܢ ܪܰܬ݂ bei Jesu Kreuzigung überhaupt zugegen war; dass er vorher etwa 63-jährig verstarb, muss man sich nach Kirchenvater Hieronymus umständlich herbeideduzieren.
Umso anrührender finde ich es von Matthias Claudius, dass er in der Totenklage um einen noch nicht zweijährigen Sohn ganz selbstverständlich dem Vater wie der Mutter die Hoffnung auf Auferstehung zuschreibt: Er muss wieder lebendig werden, sonst hätte doch das ganze Leben keinen Sinn.
Die Hoffnung stirbt zuletzt, das ist das Perfide.
——— Matthias Claudius:
Die Mutter am Grabe
Auf den Tod des zweiten Sohnes, Matthias, geboren 6. Dezember 1786, gestorben 4. Juli 1788
aus: Asmus omnia sua secum portans, oder: Sämmtliche Werke des Wandsbecker Boten, Fünfter Theil,
Wandsbeck. Beim Verfasser, 1789, und in Comißion bey Carl Ernst Bohn in Hamburg, 1790:
Wenn man ihn auf immer hier begrübe,
Und es wäre nun um ihn gescheh’n;
Wenn er ewig in dem Grabe bliebe,
Und ich sollte ihn nicht wieder seh’n,
Müßte ohne Hoffnung von dem Grabe geh’n –
Unser Vater, o du Gott der Liebe!
Laß ihn wieder aufersteh’n.
~~~\~~~~~~~/~~~
Der Vater
Er ist nicht auf immer hier begraben,
Es ist nicht um ihn gescheh’n!
Armes Heimchen, Du darfst Hoffnung haben,
Wirst gewiß ihn wieder seh’n
Und kannst fröhlich von dem Grabe geh’n,
Denn die Gabe aller Gaben
Stirbt nicht, und muß aufersteh’n.
Bilder: Krypta der Asamkriche Sankt Johann Nepomuk in München,
Öffnungszeiten ausschließlich karfreitags und karsamstags mit Stillem Gebet 17 bis 20 Uhr,
selbergemacht am Karfreitag, 29. März 2013.
Soundtrack: Giovanni Battista Pergolesi: Stabat mater, 1736,
vermutlich einzige Einspielung mit dem deutschen Text von Christoph Martin Wieland, 1779,
in: Der Teutsche Merkur 1781, 1. Quartal, Seite 101 bis 106,
aufgenommen 2008 in der Peterskirche Oßmannstedt, als CD bei Naxos 8.551276, als Playlist:
Fruchtstück 0003: Du und dein Gedächtnis 50+
Update zu Unter sotanen Umständen und
Nachtstück 0019: Noch weit beunruhigendere Betrachtungen:
——— Arno Schmidt:
Heiliger Antropoff : tat mir der Rücken weh! (»Mitternacht ist vorüber : das Kreuz beginnt sich zu neigen.« hatten Humboldts Gauchos immer gesagt : demnach wärs also bestimmt 12. – Tembladores fielen mir ein, mit allen Geschichten und Widerlegungen, und die ganze voyage équinoxiale prozessionierte heran, so daß ich entrüstet an was anderes dachte : ein gußeisernes Gedächtnis ist eine Strafe ! !)
Brand’s Haide, 1951.
Vorm Bücherregal. Ich griff eins heraus, dessen Farbe mir leidlich ins Gesicht fiel; dunkelgrüner Lederrücken mit hellgrünem Schildchen : ‹J. A. E. Schmidt, Handwörterbuch der Französischen Sprache. 1855›. Ich schlug aufs geratewohl auf, Seite 33 : ‹Auget = Leitrinne, in welcher die Zündwurst liegt› – ich kniff mich in den Oberschenkel, um mich meiner Existenz zu vergewissern : Zündwurst ? ? ! ! (und dieses ‹auget› würde ich nun nie mehr in meinem Leben vergessen; ein gußeisernes Gedächtnis ist eine Strafe !). –
Sommermeteor, in: Trommler beim Zaren, 1966.
Und bloß nicht den Namen dieses Nachbardorfes einprägen; jetzt noch nicht; mit 55 muß man das Gedächtnis für’s Notwendigste reservieren.
Kühe in Halbtrauer, 1961.
Bild: Marie Dashkova: Librarian, Moskau, 4. März 2020.
I hope we remember all the words („What’s the the next chorus to this song now? This is the one now I don’t know.“): Ella Fitzgerald (46-jährig): Mack the Knife, aus: Ella in Berlin: Mack the Knife,
live in der Deutschlandhalle, Berlin, 13. Februar 1960:
Dornenstück 0006: Lyrik im Liegen
Update zum Nachtstück 0022: Zu schweigen beginnen
und Frohnleichnamsfahnen wehen:
Für einen Philosophen mittlerschwerer, in seinem Hauptwerk sehr schwerer Verständlichkeit hat Schopenhauer etliche Fans, und zwar die richtigen. Leider ist seine komplette Lyrik unter aller Sau.
Das Beste an Schopenhauers Gedichten ist, dass es auf eine Lebenszeit von 72 Jahren verteilt nur 39 geworden sind. Da sind die Stammbuchverse schon mitgerechnet. Einer von denen war ohne Reim und Rhythmus, aber im Alter von 70 Jahren doch noch sein lyrisches Highlight:
——— Arthur Schopenhauer: Stammbucheintrag,
8. April 1858, gesammelt in: Parerga und Paralimpomena, Band II,
cit. nach Arthur Hübscher, Hrsg.: Gedichte von an über Arthur Schopenhauer, Haffmans Verlag, Zürich 1994:
Sitzen ist besser, als stehen, u. liegen ist besser, als sitzen:
Besser, als liegen, ist schlafen, und besser, als schlafen, ist todt seyn.Frankfurt a. M. d. 8ten April 1858
Arthur Schopenhauer.
Das Poesiealbum mit dem Original ist verloren. Schopenhauers Quelle ist wahrscheinlich Nicolas Chamfort: Maximes et pensées, caractères et anecdotes II, 1795:
Wenn behauptet wird, daß die Menschen, die am wenigsten empfinden, am glücklichsten sind, so muß ich immer an das indische Sprichwort denken: Sitzen ist besser als stehen, liegen besser als sitzen, aber das Beste ist tot sein.
Lebenslustige Franzosen: Chamfort sagt das noch, als ob’s was Befremdliches wäre.
Bild: Alexandre Séon: La Pensée, ohne Jahr.
Soundtrack: The Be Good Tanyas: The Littlest Birds (Sing the Prettiest Songs), aus: Blue Horse, 2000:
Nachtstück 0027: Uns lieben Brüdern Wohlgefallen und ein recht gutes Jahr!
Upate zu Naseweise Weihnachten und
Nachtstück 0025: Die Thurmuhr brummte Zwölf:
Anfang Januar bis Ende Februar 1777 redigierte Matthias Claudius das amtliche Organ der Landkommission Hessen-Darmstädtische privilegierte Landzeitung, das er, wie aus den ursprünglich darin erschienenen Görgeliana erkennbar, ähnlich führte wie zuvor 1770 bis 1775 seine vierte, feuilletonartig letzte Seite im Wandsbecker Boten. In alle Sammlungen des Boten und die Werkausgaben von Matthias Claudius wurde immer nur die folgende Auswahl aufgenommen.
„Görgel“ ist verbreitet mundartlich für „Georg“ oder „Jürgen“.
Das Bildmaterial ist unabhängig von Matthias Claudius.
Gedeihliches neues Jahr für alle!
——— Matthias Claudius:
Görgeliana
in: ASMUS omnia sua SECUM portans, oder Sämmtliche Werke des Wandsbecker Bothen, Dritter Theil, Wandsbeck, beym Verfasser, 1777, korrigiert nach der mit „1774“ bezeichneten Erstausgabe:
Vorbericht.
Diese Görgeliana schreiben sich von Görgeln her, und Görgel ist eigentlich ein alter lahmer Invalide, der sich in seinen alten Tagen noch auf die Feder applicirte, und würklich der Verfasser einer gewissen Druckschrift ward, die als disjecti membra poëtae ins Publikum herausgieng. Ich war mit ihm bekannt worden, und wie’s unter den Gelehrten ist, daß sie einander aushelfen, so half ich ihm, wenn er keine Zeit, oder Reissen im Bein hatte, nach meiner Wenigkeit auch aus, wie zum Theil folget, nicht ohne seine Erlaubnis.
Weiter wüßte ich nichts vorzuberichten, etwa noch daß die Tanne ein Wald von Tannen ist, etliche Stunden groß, darin sich’s im Jahr 1776 und 1777 recht gut spatziren ließ.
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No. 1. Des alten lahmen Invaliden, Görgel, sein Neujahrswunsch.
Sie haben mich dazu beschieden,
So bring‘ ichs denn auch dar:
Im Namen aller Invaliden
Wünsch ich ein fröhlich Jahr.Zuerst dem lieben Bauernstande;
Ich bin von Bauern her,
Und weiß, wie nöthig auf dem Lande
Ein fröhlich Neujahr wär.Gehn viele da gebückt, und welken
In Elend und in Müh,
Und andre zerren dran und melken,
Wie an dem lieben Vieh.Und ist doch nicht zu defendiren,
Und gar ein böser Brauch;
Die Bauern gehn ja nicht auf Vieren,
Es sind doch Menschen auch;Und sind zum Theil recht gute Seelen.
Wenn nun ein solches Blut
Zu Gott seufzt, daß sie ihn so quälen;
Das ist fürwahr nicht gut.Ein fröhlich, fröhlich Jahr den Fürsten,
Die nach Gerechtigkeit,
Nach Menschlichkeit und Wohlthun dürsten;
Der Fürsten Ehrenkleid!Sie sind in diesem Ehrenkleide
Wie Gottes Engel schön!
Und haben selbst die meiste Freude;
Sonst muß ichs nicht verstehn.Ein fröhlich Jahr und Wohlbehagen
Dem Fürsten unserm Herrn!
Der auch in unsern alten Tagen
Nicht lässet, der noch gernAn alte Invaliden denket
Auf seinem Fürstenthron,
Und uns des Lebens Pflege schenket!
Dank ihm und Gotteslohn!Und seinen Unterthanen allen,
Wir sind ja Brüder gar,
Uns lieben Brüdern Wohlgefallen
Und ein recht gutes Jahr!„Und allen edeln Menschen Friede
„Und Freud‘ auf ihrer Bahn!
„Ich segne sie in meinem Liede,
„So viel ich segnen kann;„Und fühl in diesem Augenblicke
„Den lahmen Schenkel nicht,
„Und steh‘ und schwinge meine Krücke,
„Und glühe im Gesicht.“
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No. 4. Billet doux, von Görgel an seinen Herrn, den 10. Jan.
Es schneit noch immer, mein lieber Herr, als obs gar nicht wieder aufhören wolle.
Was doch für eine Menge Schnee in der Welt ist! hier so viel Schnee! und in der Pfalz so viel! und in Amerika! und in der Tanne! – ich pflege denn so meinen Gang nach der Tanne zu haben, weiß er wohl. Der grosse Wald ist von Natur mein Lustrevier, und die Tanne liegt mir so bequem, grade am Thor, und führt eine schöne lange Lindenallee dahin; denn sind auch immer so viele arme Leute darin, alt und jung, die Holz sammlen, und auf dem Kopf zu Hause tragen; und das seh ich so mit an, und gehe meinen Gang hin. Seit der viele Schnee gefallen ist, fehlt mir aber meine Gesellschaft; die armen Leute können nicht zu, und ich kann denken, daß sie sowohl hier, als überall wo so viel Schnee liegt, bey der Kälte übel daran sind. Mein Herr hat Gottlob einen warmen Rock und eine warme Stube, da merkt er’s nicht so; aber wenn [man nichts in und um den Leib hat und] denn kein Holz im Ofen ist, da friert’s einen gewaltig.
Am Nordpol, hinter Frankfurt, soll Sommer und Winter hoch Schnee liegen, sagen die Gelehrten, und in den Hundstagen treiben da Eisschollen in der See, die so groß sind als die ganze Herrschaft Epstein, und thauen ewig nicht auf! und doch hat der liebe Gott allerley Thiere da, und weiße Bären, die auf den Eisschollen herum gehen und guter Dinge sind, und große Wallfische spielen in dem kalten Wasser und sind frölich. Ja, und auf der andern Seite unter der Linie, über Heidelberg hinaus, brennt die Sonne das ganze Jahr hindurch, daß man sich die Fußsohlen am Boden sengt. Und hier bei uns ists bald Sommer und bald Winter. Nicht wahr, mein lieber Herr, das ist doch recht wunderbar! und der Mensch muß es sich heiß oder kalt um die Ohren wehen lassen, und kann nichts davon noch dazu thun, er sei Fürst oder Knecht, Bauer oder Edelmann. Wenn ich das so bedenke, so fällt’s mir immer ein, daß wir Menschen doch eigentlich nicht viel können, und daß wir nicht stolz und störrisch, sondern lieber hübsch bescheiden und demüthig sein sollten. Sieht auch besser aus, und man kommt weiter damit.
Nun Gott befohlen, lieber Herr, und wenn er n Stück Holz übrig hat, geb‘ ers hin, und denk‘ er, daß die armen Leute keine weiße Bären noch Wallfische sind.
Sein Diener Görgel
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No. 15. Schreiben von Görgel an seinen Herrn, d. d. 1777.
Ich komme morgen nicht zu Hause. „Warum nicht Görgel?“ Darum nicht, mein lieber Herr! ich komme nicht und kann nicht kommen.
’s wird ihm bekannt seyn, daß unser lieber Erbprinz sich morgen vermählt, und daß alle Leute im Lande, Vornehme und Geringe, so was machen und thun wollen, so ’n Carmina, oder Illumination, oder Musick, Tanz und dergleichen, ein jeder nach seiner Art, und wie ihm der Schnabel gewachsen ist, alles aber, damit der Erbprinz sehen soll, wie lieb sie ihn und seine Braut haben. Und da wollen wir alten Invaliden auch was thun, sieht er, mein lieber Herr! und da wollen unser etliche zusammen kommen in unsern Sonntagsröcken und mit weissen Vorermeln, und denn will ich vor ihnen hintreten und eine Rede halten.
Er kann leicht denken, was das für eine Rede werden, und daß es nicht gehauen und nicht gestochen seyn wird. Aber ’n jeder macht’s, so gut er kann, und kurz, ich werde ohngefähr so sagen: „Cam’raden, wir haben alle graue Haare und sollen bald sterben; hofieren und schmeicheln steht uns nicht an. Aller Welt Lust und Herrlichkeit ist eitel und vergänglich, und am Ende besteht nichts, als wenn man Gott fürchtet und recht thut! Cam’raden, auch die besten Fürsten sind Menschen, und darum muß man bey aller Gelegenheit für sie beten. Glückzu denn heute unserm geliebten Erbprinzen und seiner Braut! wenn sie der Pfarrer einseegnet und sie einander die Hände geben, so seegne sie Gott ein, und die Sonne scheine milde und freundlich vom Himmel herab! – Und wenn er einst, wir erlebens nicht, wir liegen dann alle schon im Grabe, aber wenn er einst die Regierung seines Landes übernimmt, so erfülle Gott unsre Hoffnung, und gebe, daß er ein guter Regent werde, damit er im Himmel zu uns komme.“
Wenn ich das sage, „daß er ein guter Regent werde etc.“, dann sollen alle Cam’raden die Hüte und Kappen abthun, und denn wollen wir ’n „Vater Unser“ beten, und hernach uns hinsetzen, und unsers gnädigen Herrn Landesfürsten, des Erbprinzen, der Erbprinzessin und aller F. Herrschaften, und des Herrn Präsidenten seine Gesundheit trinken, in 66iger wenn uns der Wirthsmann nicht betriegt. Addies lieber Herr, schreib er mir doch ’nmal, er hat mir so lange nicht geschrieben, und schenk‘ er mir einen krummen Kamm in meine Haare.
Sein Diener etc.
Görgel
~~~\~~~~~~~/~~~
No. 19. Beschluß-Nachricht von Görgel an seinen Herrn,
d. d. Gr. den 27sten Februar 1777.
Das Himmelszeichen ist auch hier zu sehen gewesen; ’s gieng grade über unser Invalidenhaus! und hat ausgesehn wie eine Ruthe! Es wird aber doch mit Gottes Hülfe nichts Böses bedeuten. Denn es war so schön weiß und helle, und man konnte die lieben Sternlein durchsehen.
Ende der GÖRGELIANA
Bilder: Christoph Weiss, deutscher Comödie- und Raritäten-Zetteltrager, Kupferstich 1771;
Joseph Bergler: Neujahrswünsche für 1807, 26 auf 21,5 cm;
Johann Adam Klein: Zum neuen Jahr 1820, Milano 1819, Platte 9,3 auf 7,5 cm;
via Jutta Assel/Georg Jäger: Neujahrswünsche auf Grafiken von Künstlern der Goethezeit, Neujahr 2013.
Soundtrack als zweiter Versuch für einen neuen Anfang:
Anti Cornettos: Korsakov Syndrom, aus: Dohuggandedeoiweidohuggan, 2014:
Coronadvent 1: Dornenstück 0005: Voilà le Choléra-morbus!
Update zu Süßer Freund, das bißchen Totsein hat ja nichts zu bedeuten,
Nachtstück 0020: Im rauschenden Wellenschaumkleide (In dem düstern Poetenstübchen)
und Und der liebe Gott sitzt ernsthaft in seiner großen Loge und langweilt sich vielleicht:
Für das Jahr 2020 drängt sich nichts so sehr auf wie ein Rückblick auf vergangene Pandemien.
Es ist Advent. Gott steh uns bei.
Nach einer gnädigen Pause von zwei Jahresläufen erreichte eine zweite Cholera-Pandemie ab 1826 Frankreich über Mekka und Ägypten, die bis 1841 andauern sollte. Heinrich Heine war 1832 in Paris als Journalist zugegen und berichtete für die Augsburger Allgemeine Zeitung so Lebensnahes, dass er es für seine längerlebigen Französischen Zustände weiterverwenden konnte. Für seine gewohnt schonungslosen Begriffe in der Ausdrucksweise nimmt er sich hier sogar noch zurück. Was muss der alles gesehen haben.
——— Heinrich Heine:
Ich rede von der Cholera
für Außerordentliche Beilage zur Allgemeinen Zeitung, Nro. 164 und 165, Augsburg, 29. und 30. April 1832,
in: Französische Zustände, Schluss von Artikel VI, Julius Campe, Hamburg, Dezember 1832,
Historisch-kritische Gesamtausgabe, Band 12/1, Seite 133 bis 142:
Paris, 19. April 1832.
[…]
Ich rede von der Cholera, die seitdem hier herrscht, und zwar unumschränkt, und die, ohne Rücksicht auf Stand und Gesinnung, tausendweise ihre Opfer niederwirft.
Man hatte jener Pestilenz um so sorgloser entgegen gesehn, da aus London die Nachricht angelangt war, daß sie verhältnißmäßig nur wenige hingerafft. Es schien anfänglich sogar darauf abgesehen zu seyn, sie zu verhöhnen, und man meinte, die Cholera werde, eben so wenig wie jede andere große Reputazion, sich hier in Ansehn erhalten können. Da war es nun der guten Cholera nicht zu verdenken, daß sie, aus Furcht vor dem Ridikül, zu einem Mittel griff, welches schon Robespierre und Napoleon als probat befunden, daß sie nemlich, um sich in Respekt zu setzen, das Volk dezimirt. Bey dem großen Elende, das hier herrscht, bey der kolossalen Unsauberkeit, die nicht bloß bey den ärmern Klassen zu finden ist, bey der Reitzbarkeit des Volks überhaupt, bey seinem grenzenlosen Leichtsinne, bey dem gänzlichen Mangel an Vorkehrungen und Vorsichtsmaaßregeln, mußte die Cholera hier rascher und furchtbarer als anderswo um sich greifen. Ihre Ankunft war den 29. März offiziell bekannt gemacht worden, und da dieses der Tag des Mi-Carême und das Wetter sonnig und lieblich war, so tummelten sich die Pariser um so lustiger auf den Boulevards, wo man sogar Masken erblickte, die, in karikirter Mißfarbigkeit und Ungestalt, die Furcht vor der Cholera und die Krankheit selbst verspotteten. Desselben Abends waren die Redouten besuchter als jemals; übermüthiges Gelächter überjauchzte fast die lauteste Musik, man erhitzte sich beim Chahut, einem nicht sehr zweydeutigen Tanze, man schluckte dabey allerley Eis und sonstig kaltes Getrinke: als plötzlich der lustigste der Arlequine eine allzu große Kühle in den Beinen verspürte, und die Maske abnahm, und zu aller Welt Verwunderung ein veilchenblaues Gesicht zum Vorscheine kam. Man merkte bald, daß solches kein Spaß sey, und das Gelächter verstummte, und mehrere Wagen voll Menschen fuhr man von der Redoute gleich nach dem Hotel-Dieu, dem Centralhospitale, wo sie, in ihren abentheuerlichen Maskenkleidern anlangend, gleich verschieden. Da man in der ersten Bestürzung an Ansteckung glaubte, und dieältern Gäste des Hotel-Dieu ein gräßliches Angstgeschrey erhoben, so sind jene Todten, wie man sagt, so schnell beerdigt worden, daß man ihnen nicht einmal die buntscheckigen Narrenkleider auszog, und lustig, wie sie gelebt haben, liegen sie auch lustig im Grabe.
Nichts gleicht der Verwirrung, womit jetzt plötzlich Sicherungsanstalten getroffen wurden. Es bildete sich eine Commission sanitaire, es wurden überall Bureaux de secours eingerichtet, und die Verordnung in Betreff der Salubrité publique sollte schleunigst in Wirksamkeit treten. Da kollidirte man zuerst mit den Interessen einiger tausend Menschen, die den öffentlichen Schmutz als ihre Domaine betrachten. Dieses sind die sogenannten Chiffonniers, die von dem Kehricht, der sich des Tags über vor den Häusern in den Kothwinkeln aufhäuft, ihren Lebensunterhalt ziehen. Mit großen Spitzkörben auf dem Rücken, und einem Hakenstock in der Hand, schlendern diese Menschen, bleiche Schmutzgestalten, durch die Straßen, und wissen mancherley, was noch brauchbar ist, aus dem Kehricht aufzugabeln und zu verkaufen. Als nun die Polizey, damit der Koth nicht lange auf den Straßen liegen bleibe, die Säuberung derselben in Entreprise gab, und der Kehricht, auf Karren verladen, unmittelbar zur Stadt hinaus gebracht ward, aufs freye Feld, wo es den Chiffonniers frey stehen sollte, nach Herzenslust darin herum zu fischen: da klagten diese Menschen, daß sie, wo nicht ganz brodlos, doch wenigstens in ihrem Erwerbe geschmälert worden, daß dieser Erwerb ein verjährtes Recht sey, gleichsam ein Eigenthum, dessen man sie nicht nach Willkühr berauben könne. Es ist sonderbar, daß die Beweisthümer, die sie, in dieser Hinsicht, vorbrachten, ganz dieselben sind, die auch unsere Krautjunker, Zunftherren, Gildemeister, Zehntenprediger, Fakultätsgenossen, und sonstige Vorrechtsbeflissene vorzubringen pflegen, wenn die alten Mißbräuche, wovon sie Nutzen ziehen, der Kehricht des Mittelalters, endlich fortgeräumt werden sollen, damit durch den verjährten Moder und Dunst unser jetziges Leben nicht verpestet werde. Als ihre Protestazionen nichts halfen, suchten die Chiffonniers gewaltthätig die Reinigungsreform zu hintertreiben; sie versuchten eine kleine Kontrerevoluzion, und zwar in Verbindung mit alten Weibern, den Revendeuses, denen man verboten hatte, das übelriechende Zeug, das sie größtentheils von den Chiffonniers erhandeln, längs den Kays zum Wiederverkaufe auszukramen. Da sahen wir nun die widerwärtigste Emeute: die neuen Reinigungskarren wurden zerschlagen und in die Seine geschmissen; die Chiffonniers barrikadirten sich bey der Porte St. Denis; mit ihren großen Regenschirmen fochten die alten Trödel-Weiber auf dem Chatelet; der Generalmarsch erscholl; Casimir Perier ließ seine Myrmidonen aus ihren Boutiquen heraustrommeln; der Bürgerthron zitterte; die Rente fiel; die Karlisten jauchzten. Letztere hatten endlich ihre natürlichsten Alliirten gefunden, Lumpensammler und alte Trödelweiber, die sich jetzt mit denselben Prinzipien geltend machten, als Verfechter des Herkömmlichen, der überlieferten Erbkehrichtsinteressen, der Verfaultheiten aller Art.
Als die Emeute der Chiffonniers durch bewaffnete Macht gedämpft worden, und die Cholera noch immer nicht so wüthend um sich griff, wie gewisse Leute es wünschten, die bey jeder Volksnoth und Volksaufregung, wenn auch nicht den Sieg ihrer eigenen Sache, doch wenigstens den Untergang der jetzigen Regierung erhoffen, da vernahm man plötzlich das Gerücht: die vielen Menschen, die so rasch zur Erde bestattet würden, stürben nicht durch eine Krankheit, sondern durch Gift. Gift, hieß es, habe man in alle Lebensmittel zu streuen gewußt, auf den Gemüsemärkten, bey den Bäckern, bey den Fleischern, bey den Weinhändlern. Je wunderlicher die Erzählungen lauteten, desto begieriger wurden sie vom Volke aufgegriffen, und selbst die kopfschüttelnden Zweifler mußten ihnen Glauben schenken, als des Polizeypräfekten Bekanntmachung erschien. Die Polizey, welcher hier, wie überall, weniger daran gelegen ist, die Verbrechen zu vereiteln, als vielmehr sie gewußt zu haben, wollte entweder mit ihrer allgemeinen Wissenschaft prahlen, oder sie gedachte, bey jenen Vergiftungsgerüchten, sie mögen wahr oder falsch seyn, wenigstens von der Regierung jeden Argwohn abzuwenden: genug, durch ihre unglückselige Bekanntmachung, worin sie ausdrücklich sagte, daß sie den Giftmischern auf der Spur sey, ward das böse Gerücht offiziell bestätigt, und ganz Paris gerieth in die grauenhafteste Todesbestürzung.
Das ist unerhört, schrieen die ältesten Leute, die selbst in den grimmigsten Revoluzionszeiten keine solche Frevel erfahren hatten. Franzosen, wir sind entehrt! riefen die Männer, und schlugen sich vor die Stirne. Die Weiber, mit ihren kleinen Kindern, die sie angstvoll an ihr Herz drückten, weinten bitterlich, und jammerten: daß die unschuldigen Würmchen in ihren Armen stürben. Die armen Leute wagten weder zu essen noch zu trinken, und rangen die Hände vor Schmerz und Wuth. Es war als ob die Welt unterginge. Besonders an den Straßenecken, wo die rothangestrichenen Weinläden stehen, sammelten und beriethen sich die Gruppen, und dort war es meistens, wo man die Menschen, die verdächtig aussahen, durchsuchte, und wehe ihnen, wenn man irgend etwas verdächtiges in ihren Taschen fand! Wie wilde Thiere, wie Rasende, fiel dann das Volk über sie her. Sehr viele retteten sich durch
Geistesgegenwart; viele wurden durch die Entschlossenheit der Kommunalgarden, die an jenem Tage überall herumpatrouillirten, der Gefahr entrissen; Andere wurden schwer verwundet und verstümmelt; sechs Menschen wurden aufs unbarmherzigste ermordet. Es giebt keinen gräßlichern Anblick, als solchen Volkszorn, wenn er nach Blut lechzt und seine wehrlosen Opfer hinwürgt. Dann wälzt sich durch die Straßen ein dunkles Menschenmeer, worin hie und da die Ouvriers in Hemdärmeln, wie weiße Sturzwellen, hervorschäumen, und das heult und braust, gnadenlos, heidnisch, dämonisch. An der Straße St. Denis hörte ich den altberühmten Ruf »à la lanterne!« und mit Wuth erzählten mir einige Stimmen, man hänge einen Giftmischer. Die Einen sagten, er sey ein Karlist, man habe ein brevet du lis in seiner Tasche gefunden; die Andern sagten, es sey ein Priester, ein solcher sey Alles fähig. Auf der Straße Vaugirard, wo man zwey Menschen, die ein weißes Pulver bey sich gehabt, ermordete, sah ich einen dieser Unglücklichen, als er noch etwas röchelte, und eben die alten Weiber ihre Holzschuhe von den Füßen zogen und ihn damit so lange auf den Kopf schlugen, bis er todt war. Er war ganz nackt, und blutrünstig zerschlagen und zerquetscht; nicht bloß die Kleider, sondern auch die Haare, die Scham, die Lippen und die Nase waren ihm abgerissen, und ein wüster Mensch band dem Leichname einen Strick um die Füße, und schleifte ihn damit durch die Straße, während er beständig schrie: voilà le Cholera-morbus! Ein wunderschönes, wuthblasses Weibsbild mit entblößten Brüsten und blutbedeckten Händen stand dabey, und gab dem Leichname, als er ihr nahe kam, noch einen Tritt mit dem Fuße. Sie lachte, und bat mich, ihrem zärtlichen Handwerke einige Franks zu zollen, damit sie sich dafür ein schwarzes Trauerkleid kaufe; denn ihre Mutter sey vor einigen Stunden gestorben, an Gift.Des andern Tags ergab sich aus den öffentlichen Blättern, daß die unglücklichen Menschen, die man so grausam ermordet hatte, ganz unschuldig gewesen, daß die verdächtigen Pulver, die man bey ihnen gefunden, entweder aus Campher, oder Chlorüre, oder sonstigen Schutzmitteln gegen die Cholera bestanden, und daß die vorgeblich Vergifteten ganz natürlich an der herrschenden Seuche gestorben waren. Das hiesige Volk, das, wie das Volk überall, rasch in Leidenschaft gerathend, zu Gräueln verleitet werden kann, kehrt jedoch eben so rasch zur Milde zurück, und bereut mit rührendem Kummer seine Unthat, wenn es die Stimme der Besonnenheit vernimmt. Mit solcher Stimme haben die Journale gleich des andern Morgens das Volk zu beschwichtigen und zu besänftigen gewußt, und es mag als ein Triumph der Presse signalisirt werden, daß sie im Stande war, dem Unheile, welches die Polizey angerichtet, so schnell Einhalt zu thun. Rügen muß ich hier das Benehmen einiger Leute, die eben nicht zur untern Klasse gehören, und sich dochvom Unwillen so weit hinreißen ließen, daß sie die Parthey der Karlisten öffentlich der Giftmischerey bezüchtigten. So weit darf die Leidenschaft uns nie führen; wahrlich, ich würde mich sehr lange bedenken, ehe ich gegen meine giftigsten Feinde solche gräßliche Beschuldigung ausspräche. Mit Recht, in dieser Hinsicht, beklagten sich die Karlisten. Nur daß sie dabey so laut schimpfend sich gebärdeten, könnte mir Argwohn einflößen; das ist sonst nicht die Sprache der Unschuld. Aber es hat, nach der Ueberzeugung der Bestunterrichteten, gar keine Vergiftung statt gefunden. Man hat vielleicht Scheinvergiftungen angezettelt, man hat vielleicht wirklich einige Elende gedungen, die allerley unschädliche Pulver auf die Lebensmittel streuten, um das Volk in Unruhe zu setzen und aufzureitzen; war dieses letztere der Fall, so muß man dem Volke sein tumultuarisches Verfahren nicht zu hoch anrechnen, um so mehr, da es nicht aus Privathaß entstand, sondern, »im Interesse des allgemeinen Wohls, ganz nach den Prinzipien der Abschreckungstheorie.« Ja, die Karlisten waren vielleicht in die Grube gestürzt, die sie der Regierung gegraben; nicht dieser, noch viel weniger den Republikanern, wurden die Vergiftungen allgemein zugeschrieben, sondern jener Parthey, »die, immer durch die Waffen besiegt, durch feige Mittel sich immer wieder erhob, die immer nur durch das Unglück Frankreichs zu Glück und Macht gelangte, und die jetzt, die Hülfe der Kosaken entbehrend, wohl leichtlich zu gewöhnlichem Gifte ihre Zuflucht nehmen konnte.« So ungefähr äußerte sich der Constitutionnel.
Was ich selbst an dem Tage, wo jene Todtschläge statt fanden, an besonderer Einsicht gewann, das war die Ueberzeugung daß die Macht der ältern Bourbone nie und nimmermehr in Frankreich gedeihen wird.Ich hatte aus den verschiedenen Menschengruppen die merkwürdigsten Worte gehört; ich hatte tief hinabgeschaut in das Herz des Volkes; es kennt seine Leute.
Seitdem ist hier Alles ruhig; l’ordre règne à Paris, würde Horatius Sebastiani sagen. Eine Todtenstille herrscht in ganz Paris. Ein steinerner Ernst liegt auf allen Gesichtern. Mehrere Abende lang sah man sogar auf den Boulevards wenig Menschen, und diese eilten einander schnell vorüber, die Hand oder ein Tuch vor dem Munde. Die Theater sind wie ausgestorben. Wenn ich in einen Salon trete, sind die Leute verwundert, mich noch in Paris zu sehen, da ich doch hier keine nothwendigen Geschäfte habe. Die meisten Fremden, namentlich meine Landsleute, sind gleich abgereist. Gehorsame Eltern hatten von ihren Kindern Befehl erhalten, schleunigst nach Hause zu kommen. Gottesfürchtige Söhne erfüllten unverzüglich die zärtliche Bitte ihrer lieben Eltern, die ihre Rückkehr in die Heimath wünschten; ehre Vater und Mutter, damit du lange lebest auf Erden! Bey Andern erwachte plötzlich eine unendliche Sehnsucht nach dem theuern Vaterlande, nach den romantischen Gauen des ehrwürdigen Rheins, nach den geliebten Bergen, nach dem holdseligen Schwaben, dem Lande der frommen Minne, der Frauentreue, der gemüthlichen Lieder und der gesündern Luft. Man sagt, auf dem Hotel-de-Ville seyen seitdem über 120,000 Pässe ausgegeben worden. Obgleich die Cholera sichtbar zunächst die ärmere Klasse angriff, so haben doch die Reichen gleich die Flucht ergriffen. Gewissen Parvenüs war es nicht zu verdenken, daß sie flohen; denn sie dachten wohl, die Cholera, die weit her aus Asien komme, weiß nicht, daß wir in der letzten Zeit viel Geld an der Börse verdient haben, und sie hält uns vielleicht noch für einen armen Lump, und läßt uns ins Gras beißen. Hr. Aguado, einer der reichsten Banquiers und Ritter der Ehrenlegion, war Feldmarschall bey jener großen Retirade. Der Ritter soll beständig mit wahnsinniger Angst zum Kutschenfenster hinausgesehen, und seinen blauen Bedienten, der hinten aufstand, für den leibhaftigen Tod, den Cholera-morbus, gehalten haben.
Das Volk murrte bitter, als es sah, wie die Reichen flohen, und bepackt mit Aerzten und Apotheken sich nach gesündern Gegenden retteten. Mit Unmuth sah der Arme, daß das Geld auch ein Schutzmittel gegen den Tod geworden. Der größte Theil des Justemilieu und der haute Finance ist seitdem ebenfalls davon gegangen und lebt auf seinen Schlössern. Die eigentlichen Repräsentanten des Reichthums, die Herren v. Rothschild, sind jedoch ruhig in Paris geblieben, hierdurch beurkundend, daß sie nicht bloß in Geldgeschäften großartig und kühn sind. Auch Casimir Perier zeigte sich großartig und kühn, indem er nach dem Ausbruche der Cholera das Hotel-Dieu besuchte; sogar seine Gegner mußte es betrüben, daß er in der Folge dessen, bey seiner bekannten Reitzbarkeit, selbst von der Cholera ergriffen worden. Er ist ihr jedoch nicht unterlegen, denn er selber ist eine schlimmere Krankheit. Auch der junge Kronprinz, der Herzog von Orleans, welcher in Begleitung Periers das Hospital besuchte, verdient die schönste Anerkennung. Die ganze königliche Familie hat sich, in dieser trostlosen Zeit, ebenfalls rühmlich bewiesen. Beim Ausbruche der Cholera versammelte die gute Königinn ihre Freunde und Diener, und vertheilte unter ihnen Leibbinden von Flanell, die sie meistens selbst verfertigt hat. Die Sitten der alten Chevalerie sind nicht erloschen; sie sind nur ins Bürgerliche umgewandelt; hohe Damen versehen ihre Kämpen jetzt mit minder poetischen, aber gesündern Schärpen. Wir leben ja nicht mehr in den alten Helm- und Harnischzeiten des kriegerischen Ritterthums, sondern in der friedlichen Bürgerzeit der warmen Leibbinden und Unterjacken; wir leben nicht mehr im eisernen Zeitalter, sondern im flanellenen. Flanell ist wirklich jetzt der beste Panzer gegen die Angriffe des schlimmsten Feindes, gegen die Cholera. Venus würde heutzutage, sagt Figaro, einen Gürtel von Flanell tragen. Ich selbst stecke bis am Halse in Flanell, und dünke mich dadurch cholerafest. Auch der König trägt jetzt eine Leibbinde vom besten Bürgerflanell.
Ich darf nicht unerwähnt lassen, daß er, der Bürgerkönig, bey dem allgemeinen Unglücke viel Geld für die armen Bürger hergegeben und sich bürgerlich mitfühlend und edel benommen hat. – Da ich mahl im Zuge bin, will ich auch den Erzbischof von Paris loben, welcher ebenfalls im Hotel-Dieu, nachdem der Kronprinz und Perier dort ihren Besuch abgestattet, die Kranken zu trösten kam. Er hatte längst prophezeyt, daß Gott die Cholera als Strafgericht schicken werde um ein Volk zu züchtigen, »welches den allerchristlichsten König fortgejagt und das katholische Religionsprivilegium in der Charte abgeschafft hat.« Jetzt, wo der Zorn Gottes die Sünder heimsucht, will Hr. v. Quelen sein Gebet zum Himmel schicken und Gnade erflehen, wenigstens für die Unschuldigen; denn es sterben auch viele Karlisten. Außerdem hat Hr. v. Quelen, der Erzbischof, sein Schloß Conflans angeboten, zur Errichtung eines Hospitals. Die Regierung hat aber dieses Anerbieten abgelehnt, da dieses Schloß in wüstem, zerstörtem Zustande ist, und die Reparaturen zu viel kosten würden. Außerdem hatte der Erzbischof verlangt, daß man ihm in diesem Hospitale freye Hand lassen müsse. Man durfte aber die Seelen der armen Kranken, deren Leiber schon an einem schrecklichen Uebel litten, nicht den quälenden Rettungsversuchen aussetzen, die der Erzbischof und seine geistlichen Gehülfen beabsichtigten; man wollte die verstockten Revoluzionssünder lieber ohne Mahnung an ewige Verdammniß und Höllenqual, ohne Beicht und Oehlung, an der bloßen Cholera sterben lassen. Obgleich man behauptet, daß der Katholizismus eine passende Religion sey für so unglückliche Zeiten, wie die jetzigen, so wollen doch die Franzosen sich nicht mehr dazu bequemen, aus Furcht, sie würden diese Krankheitsreligion alsdann auch in glücklichen Tagen behalten müssen.
Es gehen jetzt viele verkleidete Priester im Volke herum, und behaupten, ein geweihter Rosenkranz sey ein Schutzmittel gegen die Cholera. Die Saint-Simonisten rechnen zu den Vorzügen ihrer Religion, daß kein Saint-Simonist an der herrschenden Krankheit sterben könne; denn da der fortschritt ein Naturgesetz sey, und der sociale Fortschritt im Saint-Simonismus liege, so dürfe, so lange die Zahl seiner Apostel noch unzureichend ist, keiner von denselben sterben. Die Bonapartisten behaupten: wenn man die Cholera an sich verspüre, so solle man gleich zur Vendomesäule hinaufschauen: man bleibe alsdann am Leben. So hat Jeder seinen Glauben in dieser Zeit der Noth. Was mich betrifft, ich glaube an Flanell. Gute Diät kann auch nicht schaden, nur muß man wieder nicht zu wenig essen, wie gewisse Leute, die des Nachts die Leibschmerzen des Hungers für Cholera halten. Es ist spaßhaft, wenn man sieht, mit welcher Poltronerie die Leute jetzt bey Tische sitzen, und die menschenfreundlichsten Gerichte mit Mißtrauen betrachten, und tiefseufzend die besten Bissen hinunterschlucken. Man soll, haben ihnen die Aerzte gesagt, keine Furcht haben und jeden Aerger vermeiden; nun aber fürchten sie, daß sie sich mahl unversehens ärgern möchten, und ärgern sich wieder, daß sie deßhalb Furcht hatten. Sie sind jetzt die Liebe selbst, und gebrauchen oft das Wort mon Dieu, und ihre Stimme ist hingehaucht milde, wie die einer Wöchnerinn. Dabey riechen sie wie ambulante Apotheken, fühlen sich oft nach dem Bauche, und mit zitternden Augen fragen sie, jede Stunde, nach der Zahl der Todten. Daß man diese Zahl nie genau wußte, oder vielmehr, daß man von der Unrichtigkeit der angegebenen Zahl überzeugt war, füllte die Gemüther mit vagem Schrecken und steigerte die Angst ins Unermeßliche. In der That, die Journale haben seitdem eingestanden, daß in Einem Tage, nemlich den zehnten April, an die zweytausend Menschen gestorben sind. Das Volk ließ sich nicht offiziell täuschen, und klagte beständig, daß mehr Menschen stürben, als man angebe. Mein Barbier erzählte mir, daß eine alte Frau auf dem Faubourg Mont-Martre die ganze Nacht am Fenster sitzen geblieben, um die Leichen zu zählen, die man vorbeytrüge; sie habe dreyhundert Leichen gezählt, worauf sie selbst, als der Morgen anbrach, von dem Froste und den Krämpfen der Cholera ergriffen ward und bald verschied. Wo man nur hinsah auf den Straßen, erblickte man Leichenzüge, oder, was noch melancholischer aussieht, Leichenwagen, denen Niemand folgte. Da die vorhandenen Leichenwagen nicht zureichten, mußte man allerley andere Fuhrwerke gebrauchen, die, mit schwarzem Tuch überzogen, abentheuerlich genug aussahen. Auch daran fehlte es zuletzt, und ich sah Särge in Fiackern fortbringen; man legte sie in die Mitte, so daß aus den offenen Seitenthüren die beiden Enden herausstanden. Widerwärtig war es anzuschauen, wenn die großen Möbelwagen, die man beim Ausziehen gebraucht, jetzt gleichsam als Todten-Omnibusse, als omnibus mortuis, herumfuhren, und sich in den verschiedenen Straßen die Särge aufladen ließen, und sie dutzendweise zur Ruhestätte brachten.
Die Nähe eines Kirchhofs, wo die Leichenzüge zusammentrafen, gewährte erst recht den trostlosesten Anblick. Als ich einen guten Bekannten besuchen wollte und eben zur rechten Zeit kam, wo man seine Leiche auflud, erfaßte mich die trübe Grille, eine Ehre, die er mir mahl erwiesen, zu erwiedern, und ich nahm eine Kutsche und begleitete ihn nach Père-la-Chaise. Hier nun, in der Nähe dieses Kirchhofs, hielt plötzlich mein Kutscher still, und als ich, aus meinen Träumen erwachend, mich umsah, erblickte ich nichts als Himmel und Särge. Ich war unter einige hundert Leichenwagen gerathen, die vor dem engen Kirchhofsthore gleichsam Queue machten, und in dieser schwarzen Umgebung, unfähig mich herauszuziehen, mußte ich einige Stunden ausdauern. Aus langer Weile frug ich den Kutscher nach dem Namen meiner Nachbarleiche, und, wehmüthiger Zufall! er nannte mir da eine junge Frau, deren Wagen einige Monathe vorher, als ich zu Lointier nach einem Balle fuhr, in ähnlicher Weise einige Zeit neben dem meinigen stille halten mußte. Nur daß die junge Frau damals mit ihrem hastigen Blumenköpfchen und lebhaften Mondscheingesichtchen öfters zum Kutschenfenster hinausblickte, und über die Verzögerung ihre holdeste Mißlaune ausdrückte. Jetzt war sie sehr still und vielleicht blau. Manchmal jedoch, wenn die Trauerpferde an den Leichenwagen sich schaudernd unruhig bewegten, wollte es mich bedünken, als regte sich die Ungeduld in den Todten selbst, als seyen sie des Wartens müde, als hätten sie Eile ins Grab zu kommen; und wie nun gar an dem Kirchhofsthore ein Kutscher dem andern vorauseilen wollte, und der Zug in Unordnung gerieth, die Gendarmen mit blanken Säbeln dazwischen fuhren, hie und da ein Schreyen und Fluchen entstand, einige Wagen umstürzten, die Särge aus einander fielen, die Leichen hervorkamen: da glaubte ich die entsetzlichste aller Emeuten zu sehen, eine Todtenemeute.
Ich will, um die Gemüther zu schonen, hier nicht erzählen, was ich auf dem Père-la-Chaise gesehen habe. Genug, gefesteter Mann wie ich bin, konnte ich mich doch des tiefsten Grauens nicht erwehren. Man kann an den Sterbebetten das Sterben lernen und nachher mit heiterer Ruhe den Tod erwarten; aber das Begrabenwerden, unter die Choleraleichen, in die Kalkgräber, das kann man nicht lernen. Ich rettete mich so rasch als möglich auf den höchsten Hügel des Kirchhofs, wo man die Stadt so schön vor sich liegen sieht. Eben war die Sonne untergegangen, ihre letzten Stralen schienen wehmüthig Abschied zu nehmen, die Nebel der Dämmerung umhüllten wie weiße Laken das kranke Paris, und ich weinte bitterlich über die unglückliche Stadt, die Stadt der Freyheit, der Begeisterung und des Martyrthums, die Heilandstadt, die für die weltliche Erlösung der Menschheit schon so viel gelitten!
Bilder:
- Darstellung eines Cholera-Opfers in Paris im Jahr 1832,
via Thomas Zimmer: Das Zeitalter der Pandemien, Die Zeit, 14. Juli 2020; - Le Cholera Morbus: zeitgenössische Karikatur, via Catherine J. Kudlick:
Learning from cholera: medical and social responses to the first great Paris epidemic in 1832; - J. Roze: Le choléra à Paris, Chardon ainè et fils, Paris 1832, und
- Honoré de Daumier: Souvenirs du Choléra-Morbus,
in: Antoine François Hippolyte Fabre: Némésis médicale illustrée, recueil de satires,
Bureau de la Némésis médicale, Paris 1840,
via Cholera Online. A Modern Pandemic in Text and Images: Patients and Victims,
U.S. National Library of Medicine; - Denis-Auguste-Marie Raffet: La Barbarie et Le Choléra-Morbus Entrant en Europe.
Les Polonais se battent, les puissances font des protocoles et la France, 1831.
Soundtrack: Lola Ngoma Kadogo: La chanson choléra, aus: Tout est possible, 2012:
Blumenstück 006: Sie weinten nicht, sie klagten nicht, sie starben sonder Laut
Update zum Wunderblatt 11: Die blühenden Narkosen und
Ein alter Moortopf, der auf seinem eigenen Herd sitzt und sich selbst kocht:
Wer sich Schnittblumen in die Wohnung stellt, kann tagelang dem Tod bei der Arbeit zuschauen. Soviel zur Romantik von Blumensträußen.
Eins der traurigsten Gedichte der Freifrau von Droste zu Hülshoff, vulgo Frau Nette, handelt von so einer vorzeitigen Folter zum Tode. Die Umstände, unter denen der Strauß am Hof zu Bökendorf gepflückt wurde, sind komplizierter als das heutige Vorsprechen in einem Blumenladen, vielmehr eingebunden ins nachmals so bezeichnete Arnswaldt-Straube-Erlebnis — eine verwickelte Liebesaffäre der Droste mit August von Arnswaldt und Heinrich Straube, deren genauerer Verlauf sich bei fortbestehender Forschungslage der Rekonstruktion entziehen wird.
Drostes Entwurf lässt sich aufgrund eines Stammbucheintrags ihrer Tante Sophie vom Haxthausen auf Juni 1820 datieren, von der die Situation beschrieben wird:
Im Juny 1820 als Nette auf dem Hof in Bökendorf mit Anna unter der Akazie saß und einen Blumenstrauß, den ihr Anna gebracht, zerrissen.
Anna ist Drostes andere, vier Jahre jüngere und eng vertraute Tante Anna von Haxthausen, die sich ihrerseits in ihrem Stammbuch erinnert:
Wir saßen auf einer Bank, auf dem Hof unter der Linde die Ludowine gepflanzt, und sie zerpflückte einen Blumenstrauß, den ich ihr gebracht; nach einem ernsten Gespräch, das wir führten, diktierte sie mir das Gedicht, was ich in eine Brieftasche schrieb.
Anna pflückt also den Strauß, schenkt ihn Annette, dieselbe zerpflückt ihn. Es folgt ein ernstes Gespräch. Eine Auseinandersetzung unter adligen jungen Fräulein, die sich vermutlich um adlige junge Männlein dreht. So genau will man’s am Ende gar nicht wissen.
Die üblich gewordene Überschrift Blumentod hat die große Schwester „Hans“, eigentlich Jenny, in den Entwurf dazugeschrieben. In der rohen, nur leicht modernisierten Fassung mit ganz wenigen Satzzeichen, in der die Haxthausen das Diktat der Droste aufgenommen haben muss, und wie sie der Deutsche Klassiker Verlag in den Sämtlichen Werken bringt, wirkt das Gedicht aber erst richtig verzweifelt und archaisch.
——— Annette von Droste-Hülshoff:
Blumentod
Schloss Bökerhof, Juni 1820:
Wie sind meine Finger so grün
Blumen hab ich zerrissen
Sie wollten für mich blühn
Und haben sterben müssen
Wie neigten sie um mein Angesicht
Wie fromme schüchterne Lieder
Ich war in Gedanken, ich achtets nicht
Und bog sie zu mir nieder
Zerriß die lieben Glieder
In sorgenlosem Mut
Da floß ihr grünes Blut
Um meine Finger nieder
Sie weinten nicht, sie klagten nicht,
Sie starben sonder Laut
Nur dunkel ward ihr Angesicht
Wie wenn der Himmel graut
Sie konnten mirs nicht ersparen
Sonst hätten sies wohl getan, —
Wohin bin ich gefahren!
In trüben Sinnens Wahn!
O töricht Kinderspiel!
O schuldlos Blutvergießen!
Und gleichts dem Leben viel,
Laßt mich die Augen schließen,
Denn was geschehn ist, ist geschehn
Und wer kann für die Zukunft stehn!
Schloss Bökerhof bei Brakel im nordrhein-westfälischen Landkreis Höxter ist heute Gedenkstätte für den Bökendorfer Romantikerkreis mit Literaturmuseum, mithin eine touristische Unternehmung wert. Wer mir durch Bild und/oder lebende — also nicht etwa sinnlos ausgerupfte — Präparate schlüssig nachweisen kann, aus welchen Pflanzenarten anno 1820 ein Blumenstrauß von unter Ludowinens Linde bestanden haben mag, gewinnt was richtig Schönes. Ein Buch, wie ich mich einschätze.
Bild: John William Waterhouse: Narcissus, 1912.
Soundtrack: John Mayall: Don’t Pick a Flower, aus: Empty Rooms, 1970:
Nachtstück 0026: Heut hat der Sommer Schnaps gesoffen
Update zu The boys and girls are one tonight (I marry the bed)
und Du warst den Meeren mitternachts entstiegen:
——— Barbara Maria Kloos:
Münchner Honeymoon
aus: Solo. Gedichte, Piper Verlag, München 1986,
cit. nach Hans Ulrich Hirschfelder und Gert Nieke, Hrsgg.: Nachtstücke. Ein Lesebuch, Suhrkamp 1988:
Himmel, hat der Halbmond
einen Ständer! Die Sterne
reiben sich in Scharen
an seinem gelben Schwanz.Ich glaub, heut hat der
Sommer Schnaps gesoffen.
Die heiße Nacht nimmt mich
von hinten: voll und ganz!
Buidl: Maxine Anastasia für Instagram.
Soundtrack: Frank Zappa: Satumaa (Finnish Tango), live 1974,
aus: You Can’t Do That on Stage Anymore, Vol. 2, Juli 1988:
Blumenstück 005: Versprich du es auch
Update zu Nachtstück 0021: Нет хуже ада:
——— Richard Brautigan:
Japanisches Popkonzert
aus: Japan bis zum 30. Juni, Eichborn, Frankfurt 1989, cit. nach Rowohlt, Reinbek 1995, Seite 39,
i. e. June 30th, June 30th, Delacorte Press/Seymour Lawrence, New York 1977,
deutsche Übersetzung: Günter Ohnemus:
Vergiß nie, nie
die Blumen
die nicht angenommen wurden,
vehöhnt wurden.Ein sehr schüchternes Mädchen gibt dem
angehenden Popstar einen schönen,
einen wunderschönen
Blumenstraußzwischen zwei Liedern. Wieviel Mut
sie gebraucht hat, zur Bühne
hinauszugehen und ihm die Blumen zu
geben.Er legt sie wie Unrat
auf den Boden. Da liegen sie jetzt.
Sie geht zu ihrem Platz und schaut
zu ihren Blumen hinaus.
Dann hält sie es nicht mehr aus.Sie flüchtet.
Sie ist weg
aber die Musik geht weiter.Ich versprech es.
Versprich du es auch.Tokio
31. Mai 1976
Bild: Eichborn-Cover, Auflage 1996.
Soundtrack: 郷ひろみ: あなたがいたから僕がいた, 1976. Musik ab Sekunde 47:
~~~\~~~~~~~/~~~
Bonusbild: 正刀: 聴こえない, 24. März 2020.
Fruchtstück 0002: Ein Schooß voll den begehr ich nicht
Update zum Weihnachtsengel 3: Lasst mich scheinen, bis ich werde
(Mit Freuds Worten singt Mignon als Engel ihr Liebeslied der schönen Seele ohne Geschlecht)
und Zu Lolitas Verteidigung:
Drei Beerenarten – weil vorerst im Winter keine gedeihen –, drei Jahrhunderte, chronologisch geordnet nicht nach der Entstehungszeit, sondern nach den Jahreszeiten.
Das mittlere über die Brombeeren stammt aus Des Knaben Wunderhorn, aufgenommen durch Achim von Arnim, und verarbeitet ein verbreitetes volkstümliches Motiv. Das späteste über die Heidelbeeren von Bierbaum ist eine recht freie Form, der Ode verwandt, die erst im abschließenden Volksliedzitat in Reime ausbricht, ohne realistisch nicht erreichbare Buchausgaben schon nicht mehr genau nachweisbar. Das früheste über die Walderdbeeren von Herder ist eindeutig eine Ode im hohen Ton, ungereimt, dafür formal streng in siebenzeilige Strophen unterteilt.
Auffallend bleibt durch alle drei Jahrhunderte der anzügliche Vergleich von heranreifendem Obst mit sehr jungen Mädchen, die vorerst nur unter Aufbietung verharmlosender Koketterie zum Geschlechtsverkehr herangezogen werden können.
——— Johann Gottfried Herder:
Die Erdbeeren
1772, gesammelt in: Sämmtliche Werke. Zur schönen Literatur und Kunst,
Fünfzehnter Theil, Cotta 1817, Seite 164 f.:
Holde Erdentöchter,
Frühlings frühe Kinder,
Schon aus Sonnenvaters
Warmem Lebenshauche
Und aus Mutter-Erden
Kühlem Schooß empfangen,
Kühle, süße Beeren!
Wie sie dort im Grase
Hügelaufwärts glühen
Und ins Grün erröthen,
Jetzt den Wandrer lieblich
Locken, jetzt entschlüpfend
Täuschen – Buhlerinnen,
Wie die Erdentöchter!Ha, wie Vater Frühlings
Odem sie durchbalsamt,
Und der Mutter Erde
Kühle sie erfrischet!
Wie aus niederm Grase
Labung auf sie duften!
Glühen da wie Sterne!Sollet bald in Schaaren
Lieblich schwimmen! – Sterne,
Jetzt in weißer Unschuld,
Jetzt in goldnem Feuer
Schöngepaaret! Feuer,
Unschuld! und der Liebe
Und der Freude Töchter!Mir ein ganzer Frühling,
Mir ein ganzes Leben!
Unschuld, Kraft und Freude,
Kühl‘ und Süße! Rose
Ohne Stachel, Labung
Ohne Felsenschlaube!
Schön und tief im Grase!Mir ein ganzer Frühling,
Mir ein Duft aus Eden!
Als einst Paradieses
Sel’ge Fluren schwanden,
Waren’s Manns Gebete,
Waren’s Eva’s Thränen,
Die zu Duft da blieben?Oder bracht‘ ein Bruder-
Engel Euch hinieden
In die Wilde? – Labung
Wo dem matten Wandrer
Zu bereiten, Labung,
Als er, halb verschmachtet,
Traurig abwärts blickte?Kommt dem matten Wandrer
Auch in wüster Wilde
Labung! Wenn er traurig
Pfadverloren abwärts
Blicket – dann erscheint ihm
Kühle, Labung, ferner
Rosenduft aus Eden!
——— Otto Julius Bierbaum:
Heidelbeeren
vermutlich aus: Irrgarten der Liebe, 1901,
posthum gesammelt in: Ausgewählte Gedichte, 1921:
Als heut ich durch die Dresdner Haide fuhr,
Stand meine Kindheit vor mir da: Ein Kind,
Ein Bauernmädelchen im kurzen Rock,
Das bunte Kopftuch über dem blonden Haar:
Die „Guge“, die sich so hübsch an rote Backen schmiegt
Und unterm Kinne zipfelig geschlungen ist.
„Barbs“ geht sie – barfuß: was für Wädelchen!
Wie süß die zierlichen Zehen geschnitten sind
(Ob auch ein wenig mit Staub gepudert) –, ach und sieh:
Wie sich das Bäuchlein leise vorwärts wölbt
(Grad nur, zu zeigen, daß es da ist), und
Wie schelmhaft dieses Fräulein lächeln kann!
Ein Fräulein von zwölf Jahren, ein Kind und doch
Ein Frauchen: Allerliebst kokett bereits
Und doch unschuldig, Duft noch ganz und Tau
Des frischen Morgens. In den Händen hält
Das Kindchen einen Korb, bis obenan
Gefüllt mit Heidelbeeren. Und da seh ich nun,
Warum die Lippen ihm ein bißchen „schnuddlich“ sind:
Gefärbt vom Blaurot unsrer Wäldlerin,
Der drallen Blauen, die sich den Armen schenkt.Ja wohl, so wars: So sah meine Kindheit aus.
Die Heidelbeere, nicht die Ananas,
Seh ich als Sinnbild jener zagen Zeit.
Die Heidelbeere, tief im Wald gesucht,
Die wäßrig-säuerliche, die so süß doch war
Dem unverwöhnt gesunden Kindesmund,
Der damals schon beim Süße-Suchen sang:
Heedelbeern, Heedelbeern,
Such ich in der Haide.
Heedelbeern, Heedelbeern
Suchen macht mir Freide.
Heedelbeern sin scheene,
In den Kober kommt keene;
Ich esse alle Heedelbeern, Heedelbeern alleene.
——— Achim von Arnim:
Die schweren Brombeeren.
(Vielfach schriftlich und mündlich.)
aus: Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, Band 2,
Mohr und Zimmer, Heidelberg 1808, Seite 206:
Es wollt ein Mägdlein früh aufstehn,
Drey Stündelein vor dem Tag,
Wollt in den grünen Wald n’aus gehn,
Brombeerlein brechen ab.Und als sie in den Wald nein kam,
Begegnet ihr Jägers Knecht.
Ey Mädchen scher dich weg nach Haus,
Dem Herren ist das nicht recht.Und als das Mädchen rückwärts kam,
Begegnet ihr Jägers Sohn:
„Ey Mädchen brech dir ohne Scham,
Ein Schooß voll gönn ich dir schon.“„Ein Schooß voll den begehr ich nicht,
Ein Handvoll hab ich genug.“
Die Brombeeren standen da so dicht,
Sie suchten da immerzu.Und als ein halbes Jahr um war,
Brombeerlein wurden groß,
Und als ein drey Vierteljahr um waren,
Ein Kindlein auf dem Schooß.Ach Gott sind das die Brombeerlein,
Die ich mir gebrochen hab,
Komm her du falsches Jägerlein,
Hilf tragen mich ins Grab.
Tondokument: Zupfgeigenhansel: Die Brombeeren, aus: Volkslieder II, 1976:
Bilder: Erd-, Heidel- und Brombeeren via Ireth Alcarin, ca. 2014 bis 2019;
Extra-Brombeer-Querformat: Can I Kiss You?, 29. Februar 2020.
Bonus Track: Bikini Girl: Rebel Girl, aus: Yeah Yeah Yeah Yeah, 1992,
für: Ghost World, 2001:
Blumenstück 004: Und wohl im armen Herzen auch
Update zu Meteorologischer Frühlingsbeginn,
Frühlingsreigen Buranum und
Wer fühlt den Krampf der Freuden und der Schmerzen nicht:
Zum meteorologischen Frühlingsanfang bietet sich die Gelegenheit, auf den Facebook-Ableger von DFWuH hinzuweisen. Nicht dass jemand außer dem bekannten Herrn Zuckerberg etwas davon hätte, aber bei 39 Gruppenmitgliedern komme ich voraussichtlich ohne weiteres mit ein paar zusätzlichen Likes klar. Besonderer Dank geht in diesem Sinne nach annähernd einem Jahr endlich an Thomas Faulhaber, der mir am 17. März 2019 auf demselben Facebook-Ableger ein Schmuckstück für unsere Sammlung siebenzeiliger Strophen nahegelegt hat: eins vom virtuosen, leider — irgendwas ist ja immer — naziverdächtigen Josef Weinheber, * 9. März 1892, † 8. April 1945. Sagen wir, ich bin bemüht um die zuverlässigste Leistung, nicht um die schnellste Lieferung. Hat mir meine Frau beigebracht.
Ein Schmuck- ist das Stück besonders wegen der sechsten Zeile, die weder inhaltlich noch formal notwendig, um nicht zu sagen: verlustfrei entbehrlich gewesen wäre. Durch ihre schiere Anwesenheit macht sie das Gedicht zu dem, was es ist: eins mit dem seltenen siebenzeiligen Reimschema ABACBAC und mit einer allegorischen Ebene. Die Idee wirkt wie nebenbei hingeworfen, wird aber durch den Vers 6 von 7 zu einem unscheinbaren Kristall. Wow.
——— Josef Weinheber:
Vorfrühling
aus: Von beiden Ufern, Burgverlag, Wien 1923:
Die Hänge streift ein goldner Hauch.
Und in die süße Stille
blüht feierlich ein Schlehdornstrauch.
Am Waldrand äst ein Reh.
In Spalt und Ackerrille,
und wohl im armen Herzen auch,
liegt noch ein wenig Schnee.
Bilder: Jana Martish:
aus: .identity, Sammlung ab 5. April 2009.
Soundtrack: Bedouine: Solitary Daughter, aus: Bedouine, 2017:
Fruchtstück 0001: Das Angenehme mit dem Schönen zu verbinden
Upate zu Wir rechnen jahr auff jahre / in dessen wirdt die bahre vns für die thüre bracht,
Wie es enden wird, vermag ein irdischer Verstand nicht zu ergründen und
Ein Haufen belebter Maschinen, welche von der Natur hervor getrieben worden wären, für sie zu arbeiten:
——— Christoph Martin Wieland:
Zufällige Gedanken
über das Verhältniß des Angenehmen und Schönen
zum Nützlichen
Schluss, aus: Teutscher Merkur I, 1775, in: Von der Freiheit der Literatur, Insel 1997:
Und dann giebt es noch eine Gattung unverbesserlicher Leute, die von jeher erklärte Verächter des Schönen gewesen sind; nicht weil ihnen der Kopf schief sitzt, sondern weil sie nichts nützlich nennen als was ihren Seckel füllt. Nun ist das Handwerk eines Sykofanten, Quacksalbers, Amuletenkrämers, Dukatenbeschneiders, Kupplers, Tartüffen, u. s. w. so einträglich es auch sein mag, gewiß nicht schön: es ist also natürlich, daß diese Herren allerseits bey jeder Gelegenheit eine tiefe Verachtung gegen das Schöne das ihnen nichts einträgt zu Tage legen. Ueberdieß, wie manchem Görgen ist seine Dummheit nützlich? Wie mancher verlöhre sein ganzes Ansehen, wenn die Leute, unter denen er’s gewonnen oder erschlichen hat, Geschmack genug hätten, Ächtes vom Unächten, und Schönes vom Schlechten zu unterscheiden? Solche Leute haben freylich eine wichtige Personalursache, Feinde vom Wiz und Geschmack zu seyn. Sie sind in dem Falle jenes Ehrenmannes, der seine häßliche Tochter an einen Blinden verheyrathet hatte, und nicht zugeben wollte, daß seinem Tochtermanne der Staar gestochen würde. Aber wir andern, die nur dabey zu gewinnen haben, wenn wir klüger werden, was für Abderiten müßten wir seyn, wenn wir uns von diesen interessierten Herren bereden lassen wollten blind zu werden oder blind zu bleiben, damit — ihrer Töchter Häßlichkeit nicht offenbar werde?
Der Tochter Hässlichkeit: Ray Donley: Omnia Vanitas; Medea, 2012,
via Frank T. Zumbach: Ray Donley (Continued), 27. Februar 2012.
Der Hässlichkeit Tochter: Bridge City Sinners: Through and Through, aus: Here’s to the Devil, 2019.
Man beachte Libby Lux‘ Dobro-Ukulele:
Filetstück 0002: Eisbruch
Update zu Hochwaldklangwolke: Die einzelnen Minuten, wie sie in den Ozean der Ewigkeit hinuntertropfen
und Wenn–dann (weiß ich auch nicht):
Da mag einer von Adalbert Stifter (* 23. Oktober 1805; † 28. Jänner 1868), vor allem vom späten, so wenig und so viel Abfälliges halten wie er will, aber sein Perfektionismus ging weit genug, um Die Mappe meines Urgroßvaters gleich viermal zu schreiben — bei weitem nicht seine einzige Arbeit, die er mehrmals von Grund auf neu schrieb.
Ein erstes Kapitel Die Geschichte zweier Bettler, noch ohne Plan zum Einbau in einen größeren Rahmen, stammt von 1839, die kürzeste „Urmappe“ oder „Journalfassung“ in der Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode von 1841/1842, die erweiterte und in der Kapitelstruktur umgebaute „Studienfassung“ im dritten Band der Studien von 1847, eine unvollendet liegen gelassene und weitgehend folgenlos gebliebene „Romanfassung“ von 1864, die „letzte Mappe“ mit 164 Manuskriptseiten noch aus Stifters Todesjahr 1868 — ebenfalls fragmentarisch und mit dem seither grundsätzlich übernommenen Zusatz vom Nachlassverwalter und posthumen Herausgeber Johann Aprent: „Hier ist der Dichter gestorben.“
Das macht Stifters erklärten eigenen Lieblingsstoff zu einem ähnlichen Lebenswerk wie den Faust für Goethe — nur in allen Fassungen schlüssiger als Goethes nach lebenslanger Umarbeitung endlich freigegebenes Stückwerk. Die Fassungen der Mappe sind erst seit 1999 im 6. Band der historisch-kritischen Gesamtausgabe grundlegend erschlossen.
Der Abschnitt, der als „Eisbruch“ kursiert, war in der ersten Fassung noch nicht, in der dritten nicht mehr enthalten; allein in der Studienfassung steht er unscheinbar ins Kapitel Margarita eingearbeitet. Dabei gehört der zum Besten, was Stifter je geschrieben hat: Man friert mit.
——— Adalbert Stifter:
4. Margarita
aus: Die Mappe meines Urgroßvaters, „Studienfassung“ 1841 f., in: Studien, Band III, 1847:
Wir mußten einen schweren Winter überstehen. So weit die ältesten Menschen zurück denken, war nicht so viel Schnee. Vier Wochen waren wir einmal ganz eingehüllt in ein fortdauerndes graues Gestöber, das oft Wind hatte, oft ein ruhiges, aber dichtes Niederschütten von Flocken war. Die ganze Zeit sahen wir nicht aus. Wenn ich in meinem Zimmer saß und die Kerzen brannten, hörte ich das unablässige Rieseln an den Fenstern, und wenn es licht wurde und die Tageshelle eintrat, sah ich durch meine Fenster nicht auf den Wald hin, der hinter der Hütte stand, die ich hatte abbrechen lassen, sondern es hing die graue, lichte, aber undurchdringliche Schleierwand herab; in meinem Hofe und in der Nähe des Hauses sah ich nur auf die unmittelbarsten Dinge hinab, wenn etwa ein Balken empor stand, der eine Schneehaube hatte und unendlich kurz geworden war, oder wenn ein langer, weißer, wolliger Wall anzeigte, wo meine im Sommer ausgehauenen Bäume lagen, die ich zum weitern Baue verwenden wollte. Als alles vorüber war und wieder der blaue und klare Winterhimmel über der Menge von Weiß stand, hörten wir oft in der Totenstille, die jetzt eintrat, wenn wir an den Hängen hinunter fuhren, in dem Hochwalde oben ein Krachen, wie die Bäume unter ihrer Last zerbrachen und umstürzten. Leute, welche von dem jenseitigen Lande über die Schneide herüber kamen, sagten, daß in den Berggründen, wo sonst die kleinen, klaren Wässer gehen, so viel Schnee liege, daß die Tanne in von fünfzig Ellen und darüber nur mit den Wipfeln heraus schauen. Wir konnten nur den leichteren Schlitten brauchen – ich hatte nämlich noch einen machen lassen –, der etwas länger, aber schmäler war als der andere. Er fiel wohl öfter um, aber konnte auch leichter durch die Schlachten, welche die Schneewehen bildeten, durchdringen. Ich konnte jetzt nicht mehr allein zur Besorgung meiner Geschäfte herum fahren, weil ich mir mit allen meinen Kräften in vielen Fällen allein nicht helfen konnte. Und es waren mehr Kranke, als es in allen sonstigen Zeiten gegeben hatte. Deswegen fuhr jetzt der Thomas immer mit mir, daß wir uns gegenseitig beistünden, wenn der Weg nicht mehr zu finden war, wenn wir den Fuchs aus dem Schnee, in den er sich verfiel, austreten mußten, oder wenn einer, da es irgendwo ganz unmöglich war durch zu dringen, bei dem Pferde bleiben und der andere zurück gehen und Leute holen mußte, damit sie uns helfen. Es wurde nach dem großen Schneefalle auch so kalt, wie man es je kaum erlebt hatte. Auf einer Seite war es gut; denn der tiefe Schnee fror so fest, daß man über Stellen und über Schlünde gehen konnte, wo es sonst unmöglich gewesen wäre; aber auf der andern Seite war es auch schlimm; denn die Menschen, welche viel gingen, ermüdet wurden und unwissend waren, setzten sich nieder, gaben der süßen Ruhe nach, und wurden dann erfroren gefunden, wie sie noch saßen, wie sie sich nieder gesetzt hatten. Vögel fielen von den Bäumen, und wenn man es sah und sogleich einen in die Hand nahm, war er fest wie eine Kugel, die man werfen konnte. Wenn meine jungen Rappen ausgeführt wurden und von einem Baume oder sonst wo eine Schneeflocke auf ihren Rücken fiel, so schmolz dieselbe nicht, wenn sie nach Hause kamen, wie lebendig und tüchtig und voll von Feuer die Tiere auch waren. Erst im Stalle verlor sich das Weiß und Grau von dem Rücken. Wenn sie ausgeführt wurden, sah ich manchmal den jungen Gottlieb mit gehen und hinter den Tieren her bleiben, wenn sie auf verschiedenen Wegen herum geführt wurden, aber es tut nichts, die Kälte wird ihm nichts anhaben, und er ist ja in den guten Pelz gehüllt, den ich ihm aus meinem alten habe machen lassen. Ich ging oft in die Zimmer der Meinigen hinab, und sah, ob alles in der Ordnung sei, ob sie gehörig Holz zum Heizen haben, ob die Wohnung überall gut geborgen sei, daß nicht auf einen, wenn er vielleicht im Bette sei, der Strom einer kalten Luft gehe und er erkranke; ich sah auch nach der Speise; denn bei solcher Kälte ist es nicht einerlei, ob man das oder jenes esse. Dem Gottlieb, der nur mit Spänen heizte, ließ Ich von den dichten Buchenstöcken hinüber legen. Im Eichenhage oben soll ein Knall geschehen sein, der seines Gleichen gar nicht hat. Der Knecht des Beringer sagte, daß einer der schönsten Stämme durch die Kälte von unten bis oben gespalten worden sei, er habe ihn selber gesehen. Der Thomas und ich waren in Pelze und Dinge eingehüllt, daß wir zwei Bündeln, kaum aber Menschen gleich sahen. Dieser Winter, von dem wir dachten, daß er uns viel Wasser bringen würde, endigte endlich mit einer Begebenheit, die wunderbar war, und uns leicht die äußerste Gefahr hätte bringen können; wenn sie nicht eben gerade so abgelaufen wäre, wie sie ablief. Nach dem vielen Schneefalle und während der Kälte war es immer schön, es war immer blauer Himmel, morgens rauchte es beim Sonnenaufgange von Glanz und Schnee, und nachts war der Himmel dunkel wie sonst nie, und es standen viel mehr Sterne in ihm als zu allen Zeiten. Dies dauerte lange – aber einmal fiel gegen Mittag die Kälte so schnell ab, daß man die Luft bald warm nennen konnte, die reine Bläue des Himmels trübte sich, von der Mittagseite des Waldes kamen an dem Himmel Wolkenballen, gedunsen und fahlblau, in einem milchigen Nebel schwimmend, wie im Sommer, wenn ein Gewitter kommen soll – ein leichtes Windigen hatte sich schon früher gehoben, daß die Fichten seufzten und Ströme Wassers von ihren Ästen niederlassen. Gegen Abend standen die Wälder, die bisher immer bereift und wie in Zucker eingemacht gewesen waren, bereits ganz schwarz in den Mengen des bleichen und wässerigen Schnees da. Wir hatten bange Gefühle, und ich sagte dem Thomas, daß sie abwechselnd nachschauen, daß sie die hinteren Tore im Augenmerk halten sollen, und daß er mich wecke, wenn das Wasser zu viel werden sollte. Ich wurde nicht geweckt, und als ich des Morgens die Augen öffnete, war alles anders, als ich es erwartet hatte. Das Windchen hatte aufgehört, es war so stille, daß sich von der Tanne, die ich keine Büchsenschußlänge von meinem Fenster an meinem Sommerbänkchen stehen sah, keine einzige Nadel rührte; die blauen und mitunter bleifarbigen Wolkenballen waren nicht mehr an dem Himmel, der dafür in einem stillen Grau unbeweglich stand, welches Grau an keinem Teile der großen Wölbung mehr oder weniger grau war, und an der dunkeln Öffnung der offen stehenden Tür des Heubodens bemerkte ich, daß feiner, aber dichter Regen niederfalle; allein wie ich auf allen Gegenständen das schillerige Glänzen sah, war es nicht das Lockern oder Sickern des Schnees, der in dem Regen zerfällt, sondern das blasse Glänzen eines Überzuges, der sich über alle die Hügel des Schnees gelegt hatte. Als ich mich angekleidet und meine Suppe gegessen hatte, ging ich in den Hof hinab, wo der Thomas den Schlitten zurecht richtete. Da bemerkte ich, daß bei uns herunten an der Oberfläche des Schnees während der Nacht wieder Kälte eingefallen sei, während es oben in den höheren Teilen des Himmels warm geblieben war; denn der Regen floß fein und dicht hernieder, aber nicht in der Gestalt von Eiskörnern, sondern als reines, fließendes Wasser, das erst an der Oberfläche der Erde gefror und die Dinge mit einem dünnen Schmelze überzog, derlei man in das Innere der Geschirre zu tun pflegt, damit sich die Flüssigkeiten nicht in den Ton ziehen können. Im Hofe zerbrach der Überzug bei den Tritten noch in die feinsten Scherben, es mußte also erst vor Anbruch des Tages zu regnen angefangen haben. Ich tat die Dinge, die ich mitnehmen wollte, in ihre Fächer, die in dem Schlitten angebracht waren, und sagte dem Thomas, er solle doch, ehe wir zum Fortfahren kämen, noch den Fuchs zu dem untern Schmied hinüber führen und nachschauen lassen, ob er scharf genug sei, weil wir heute im Eise fahren müßten. Es war uns so recht, wie es war, und viel lieber, als wenn der unermeßliche Schnee schnell und plötzlich in Wasser verwandelt worden wäre. Dann ging ich wieder in die Stube hinauf, die sie mir viel zu viel geheizt hatten, schrieb einiges auf, und dachte nach, wie ich mir heute die Ordnung einzurichten hätte. Da sah ich auch, wie der Thomas den Fuchs zum untern Schmied hinüber führte. Nach einer Weile, da wir fertig waren, richteten wir uns zum Fortfahren. Ich tat den Regenmantel um und setzte meine breite Filzkappe auf, davon der Regen abrinnen konnte. So machte ich mich in dem Schlitten zurechte und zog das Leder sehr weit herauf. Der Thomas hatte seinen gelben Mantel um die Schultern und saß vor mir in dem Schlitten. Wir fuhren zuerst durch den Thaugrund, und es war an dem Himmel und auf der Erde so stille und einfach grau, wie des Morgens, so daß wir, als wir einmal stille hielten, den Regen durch die Nadeln fallen hören konnten. Der Fuchs hatte die Schellen an dem Schlittengeschirre nicht recht ertragen können und sich öfter daran geschreckt, deshalb tat ich sie schon, als ich nur ein paar Male mit ihm gefahren war, weg. Sie sind auch ein närrisches Klingeln, und mir war es viel lieber, wenn ich so fuhr, manchen Schrei eines Vogels, manchen Waldton zu hören, oder mich meinen Gedanken zu überlassen, als daß ich immer das Tönen in den Ohren hatte, das für die Kinder ist. Heute war es freilich nicht so ruhig, wie manchmal das stumme Fahren des Schlittens im feinen Schnee war, wie im Sande, wo auch die Hufe des Pferdes nicht wahrgenommen werden konnten; denn das Zerbrechen des zarten Eises, wenn das Tier darauf trat, machte ein immerwährendes Geräusch, daher aber das Schweigen, als wir halten mußten, weil der Thomas in dem Riemzeug etwas zurecht zu richten hatte, desto auffallender war. Und der Regen, dessen Rieseln durch die Nadeln man hören konnte, störte die Stille kaum, ja er vermehrte sie. Noch etwas anderes hörten wir später, da wir wieder hielten, was fast lieblich für die Ohren war. Die kleinen Stücke Eises, die sich an die dünnsten Zweige und an das langhaarige Moos der Bäume angehängt hatten, brachen herab, und wir gewahrten hinter uns in dem Walde an verschiedenen Stellen, die bald dort und bald da waren, das zarte Klingen und ein zitterndes Brechen, das gleich wieder stille war. Dann kamen wir aus dem Walde hinaus und fuhren durch die Gegend hin, in der die Felder liegen. Der gelbe Mantel des Thomas glänzte, als wenn er mit Öl übertüncht worden wäre; von der rauhen Decke des Pferdes hingen Silberfranzen hernieder; wie ich zufällig einmal nach meiner Filzkappe griff, weil ich sie unbequem auf dem Haupte empfand, war sie fest, und ich hatte sie wie eine Kriegshaube auf; und der Boden des Weges, der hier breiter und, weil mehr gefahren wurde, fester war, war schon so mit Eise belegt, weil das gestrige Wasser, das in den Gleisen gestanden war, auch gefroren war, daß die Hufe des Fuchses die Decke nicht mehr durchschlagen konnten, und wir unter hallenden Schlägen der Hufeisen und unter Schleudern unseres kleinen Schlittens, wenn die Fläche des Weges ein wenig schief war, fortfahren mußten.
Wir kamen zuerst zu dem Karbauer, der ein krankes Kind hatte. Von dem Hausdache hing ringsum, gleichsam ein Orgelwerk bildend, die Verzierung starrender Zapfen, die lang waren, teils herabbrachen, teils an der Spitze ein Wassertröpfchen hielten, das sie wieder länger und wieder zum Herabbrechen geneigter machte. Als ich ausstieg, bemerkte ich, daß das Überdach meines Regenmantels, das ich gewöhnlich so über mich und den Schlitten breite, daß ich mich und die Arme darunter rühren könne, in der Tat ein Dach geworden war, das fest um mich stand und beim Aussteigen ein Klingelwerk fallender Zapfen in allen Teilen des Schlittens verursachte. Der Hut des Thomas war fest, sein Mantel krachte, da er abstieg, auseinander, und jede Stange, jedes Holz, jede Schnalle, jedes Teilchen des ganzen Schlittens, wie wir ihn jetzt so ansahen, war in Eis, wie in durchsichtigen, flüssigen Zucker, gehüllt, selbst in den Mähnen, wie tausend bleiche Perlen, hingen die gefrornen Tropfen des Wassers, und zuletzt war es um die Hufhaare des Fuchses wie silberne Borden geheftet.
Ich ging in das Haus. Der Mantel wurde auf den Schragen gehängt, und wie ich die Filzkappe auf den Tisch des Vorhauses legte, war sie wie ein schimmerndes Becken anzuschauen.
Als wir wieder fortfahren wollten, zerschlugen wir das Eis auf unsern Hüten, auf unsern Kleidern, an dem Leder und den Teilen des Schlittens, an dem Riemzeug des Geschirres, und zerrieben es an den Haaren der Mähne und der Hufe des Fuchses. Die Leute des Karbauers halfen uns hiebei. Das Kind war schon schier ganz gesund. Unter dem Obstbaumwalde des Karhauses, den der Bauer sehr liebt und schätzt, und der hinter dem Hause anhebt, lagen unzählige kleine schwarze Zweige auf dem weißen Schnee, und jeder schwarze Zweig war mit einer durchsichtigen Rinde von Eis umhüllt und zeigte neben dem Glanze des Eises die kleine frischgelbe Wunde des Herabbruchs. Die braunen Knösplein der Zweige, die im künftigen Frühlinge Blüten- und Blätterbüschlein werden sollten, blickten durch das Eis hindurch. Wir setzten uns in den Schlitten. Der Regen, die graue Stille und die Einöde des Himmels dauerten fort.
Da wir in der Dubs hinüber fuhren, an der oberen Stelle, wo links das Gehänge ist und an der Schneide der lange Wald hin geht, sahen wir den Wald nicht mehr schwarz, sondern er war gleichsam bereift, wie im Winter, wenn der Schnee in die Nadeln gestreut ist und lange Kälte herrscht; aber der Reif war heute nicht so weiß wie Zucker, dergleichen er sonst ähnlich zu sein pflegt, sondern es war das dumpfe Glänzen und das gleichmäßige Schimmern an allen Orten, wenn es bei trübem Himmel überall naß ist; aber heute war es nicht von der Nässe, sondern von dem unendlichen Eise, das in den Ästen hing. Wir konnten, wenn wir etwas Aufwärts und daher langsamer fuhren, das Knistern der brechenden Zweige sogar bis zu uns herab hören, und der Wald erschien, als sei er lebendig geworden. Das blasse Leuchten des Eises auf allen Hügeln des Schnees war rings um uns herum, das Grau des Himmels war beinahe sehr licht, und der Regen dauerte stille fort, gleichmäßig fein und gleichmäßig dicht.
Wir hatten in den letzten Häusern der Dubs etwas zu tun, ich machte die Gange, da die Orte nicht weit auseinander lagen, zu Fuße, und der Fuchs wurde in den Stall getan, nachdem er wieder von dem Eise, das an ihm rasselte, befreit worden war. Der Schlitten und die Kleider des Thomas mußten ebenfalls ausgelöset werden; die meinigen aber, nämlich der Mantel und die Filzkappe, wurden nur von dem, was bei oberflächlichem Klopfen und Rütteln herabging, erleichtert, das andere aber daran gelassen, da ich doch wieder damit in dem Regen herum gehen mußte und neue Lasten auf mich lud. Ich hatte mehr Kranke, als sie sonst in dieser Jahreszeit zu sein pflegen. Sie waren aber alle ziemlich in der Nähe beisammen, und ich ging von dem einen zu dem andern. An den Zäunen, an den Strunken von Obstbäumen und an den Rändern der Dächer hing unsägliches Eis. An mehreren Planken waren die Zwischenräume verquollen, als wäre das Ganze in eine Menge eines zähen Stoffes eingehüllt worden, der dann erstarrte. Mancher Busch sah aus wie viele in einander gewundene Kerzen, oder wie lichte, wässerig glänzende Korallen.
Ich hatte dieses Ding nie so gesehen wie heute.
Die Leute schlugen manche der bis ins Unglaubliche herabgewachsenen Zapfen von den Dächern, weil sie sonst, wenn sie gar groß geworden waren, im Herabbrechen Stücke der Schindeln oder Rinnen mit sich auf die Erde nahmen. Da ich in der Dubs herum ging, wo mehrere Häuser um den schönen Platz herum stehen, den sie bilden, sah ich, wie zwei Mägde das Wasser, welches im Tragen hin und her geschwemmt haben würde, in einem Schlitten nach Hause zogen. Zu dem Brunnen, der in der Mitte des Platzes steht, und um dessen Holzgeschlacht herum schon im Winter der Schnee einen Berg gebildet hatte, mußten sie sich mit der Axt Stufen hinein hauen. Sonst gingen die Leute gar nicht aus den Häusern, und wo man doch einen sah, duckte er oben mit dem Haupte vor dem Regen in sein Gewand, und unten griff er mit den Füßen vorsichtig vorwärts, um in der unsäglichen Glätte nicht zu fallen.
Wir mußten wieder fort. Wir fuhren mit dem Fuchs, den wir wieder hatten scharf machen lassen, durch die ebenen Felder hinüber gegen das Eckstück, welches die Siller am höher stehenden Walde einfaßt, und wo mehrere Holzhäuser stehen. Wir hörten, da wir über die Felder fuhren, einen dumpfen Fall; wußten aber nicht recht, was es war. Auf dem Raine sahen wir einen Weidenbaum gleißend stehen, und seine zähen, silbernen Äste hingen herab, wie mit einem Kamme nieder gekämmt. Den Waldring, dem wir entgegen fuhren, sahen wir bereift, aber er warf glänzende Funken und stand wie geglättete Metallstellen von dem lichten, ruhigen, matten Grau des Himmels ab.
Von den Holzhausern mußten wir wieder zurück über die Felder, aber schief auf dem Wege gegen das Eidun. Die Hufe unseres Pferdes hallten auf der Decke, wie starke Steine, die gegen Metallschilde geworfen werden. Wir aßen bei dem Wirte etwas, weil wir zu spät nach Hause gekommen sein würden, dann, nachdem wir den Schlitten, das Pferd und unsere Kleider wieder frei gemacht hatten, fuhren wir wieder ab, auf dem Wege, der nach meinem Hause führte. Ich hatte nur noch in den letzteren Eidunhäusern etwas zu tun, und dann konnten wir auf dem Wege hinüber fahren, wo im Sommer die Eidunwiesen sind, im Winter aber alle die fahren und gehen, die im Waldhange und oberen Hage Geschäfte haben. Von da konnten wir gegen den Fahrweg einlenken, der durch den Thaugrund und nach Hause führt. Da wir uns auf den Wiesen befanden, über deren Ebene wir jetzt freilich klafterhoch erhoben fuhren, hörten wir wieder denselben dumpfen Fall, wie heute schon einmal, aber wir erkannten ihn wieder nicht, und wußten auch nicht einmal ganz genau, woher wir ihn gehört hatten. Wir waren sehr froh, einmal nach Hause zu kommen; denn der Regen und das Feuchte, das in unserm ganzen Körper steckte, tat uns recht unwohl, auch war die Glätte unangenehm, die allenthalben unnatürlich über Flur und Feld gebreitet war und den Fuß, wenn man ausstieg, zwang, recht vorsichtig auf die Erde zu greifen, woher man, wenn man auch nicht gar viel und gar weit ging, unglaublich ermüdet wurde.
Da wir endlich gegen den Thaugrund kamen und der Wald, der von der Höhe herüber zieht, anfing, gegen unsern Weg herüber zu langen, hörten wir plötzlich in dem Schwarzholze, das auf dem schön emporragenden Felsen steht, ein Geräusch, das sehr seltsam war, und das keiner von uns je vernommen hatte – es war, als ob viele Tausende oder gar Millionen von Glasstangen durcheinander rasselten und in diesem Gewirre fort in die Entfernung zögen. Das Schwarzholz war doch zu weit zu unserer Rechten entfernt, als daß wir den Schall recht klar hätten erkennen können, und in der Stille, die in dem Himmel und auf der Gegend war, ist er uns recht sonderbar erschienen. Wir fuhren noch eine Strecke fort, ehe wir den Fuchs aufhalten konnten, der im Nachhauserennen begriffen war und auch schon trachten mochte, aus diesem Tage in den Stall zu kommen. Wir hielten endlich und hörten in den Lüften gleichsam ein unbestimmtes Rauschen, sonst aber nichts. Das Rauschen hatte jedoch keine Ähnlichkeit mit dem fernen Getöse, das wir eben durch die Hufschläge unsers Pferdes hindurch gehört hatten. Wir fuhren wieder fort und näherten uns dem Walde des Thaugrundes immer mehr, und sahen endlich schon die dunkle Öffnung, wo der Weg in das Gehölze hinein geht. Wenn es auch noch früh am Nachmittage war, wenn auch der graue Himmel so licht schien, daß es war, als müßte man den Schimmer der Sonne durchsinken sehen, so war es doch ein Winternachmittag, und es war so trübe, daß sich schon die weißen Gefilde vor uns zu entfärben begannen und in dem Holze Dämmerung zu herrschen schien. Es mußte aber doch nur scheinbar sein, indem der Glanz des Schnees gegen das Dunkel der hinter einander stehenden Stämme abstach.
Als wir an die Stelle kamen, wo wir unter die Wölbung des Waldes hinein fahren sollten, blieb der Thomas stehen. Wir sahen vor uns eine sehr schlanke Fichte zu einem Reife gekrümmt stehen und einen Bogen über unsere Straße bildend, wie man sie einziehenden Kaisern zu machen pflegt. Es war unsäglich, welche Pracht und Last des Eises von den Bäumen hing. Wie Leuchter, von denen unzählige umgekehrte Kerzen in unerhörten Größen ragten, standen die Nadelbäume. Die Kerzen schimmerten alle von Silber, die Leuchter waren selber silbern, und standen nicht überall gerade, sondern manche waren nach verschiedenen Richtungen geneigt. Das Rauschen, welches wir früher in den Lüften gehört hatten, war uns jetzt bekannt; es war nicht in den Lüften; jetzt war es bei uns. In der ganzen Tiefe des Waldes herrschte es ununterbrochen fort, wie die Zweige und Äste krachten und auf die Erde fielen. Es war um so fürchterlicher, da alles unbeweglich stand; von dem ganzen Geglitzer und Geglänze rührte sich kein Zweig und keine Nadel, außer wenn man nach einer Weile wieder auf einen gebogenen Baum sah, daß er von den ziehenden Zapfen niederer stand. Wir harreten und schauten hin – man weiß nicht, war es Bewunderung oder war es Furcht, in das Ding hinein zu fahren. Unser Pferd mochte die Empfindungen in einer Ähnlichkeit teilen, denn das arme Tier schob, die Füße sachte anziehend, den Schlitten in mehreren Rucken etwas zurück.
Wie wir noch da standen und schauten – wir hatten noch kein Wort geredet – hörten wir wieder den Fall, den wir heute schon zweimal vernommen hatten. Jetzt war er uns aber völlig bekannt. Ein helles Krachen, gleichsam wie ein Schrei, ging vorher, dann folgte ein kurzes Wehen, Sausen oder Streifen, und dann der dumpfe, dröhnende Fall, mit dem ein mächtiger Stamm auf der Erde lag. Der Knall ging wie ein Brausen durch den Wald und durch die Dichte der dämpfenden Zweige; es war auch noch ein Klingeln und Geschimmer, als ob unendliches Glas durcheinander geschoben und gerüttelt würde – dann war es wieder wie vorher, die Stämme standen und ragten durch einander, nichts regte sich, und das still stehende Rauschen dauerte fort. Es war merkwürdig, wenn ganz in unserer Nähe ein Ast oder Zweig oder ein Stück Eis fiel; man sah nicht, woher es kam, man sah nur schnell das Herniederblitzen, hörte etwa das Aufschlagen, hatte nicht das Emporschnellen des verlassenen und erleichterten Zweiges gesehen, und das Starren, wie früher, dauerte fort.
Es wurde uns begreiflich, daß wir in den Wald nicht hineinfahren konnten. Es mochte irgendwo schon über den Weg ein Baum mit all seinem Geäste liegen, über den er nicht hinüber könnten, und der nicht zu umgehen war, weil die Bäume dicht stehen, ihre Nadeln vermischen und der Schnee bis in das Geäste und Geflechte des Niedersatzes ragte. Wenn wir dann umkehrten und auf dem Wege, auf dem wir gekommen waren, zurück wollten, und da sich etwa auch unterdessen ein Baum herüber legt hätte, so wären wir mitten darinnen gewesen. Der Regen dauerte unablässig fort, wir selber waren schon wieder eingehüllt, daß wir uns nicht regen konnten, ohne die Decke zu zerbrechen, der Schlitten war schwerfällig und verglaste, und der Fuchs trug seine Lasten – wenn nirgends etwas in den Bäumen um eine Unze an Gewicht gewann, so mochte es fallen, ja die Stämme selber mochten brechen, die Spitzen der Zapfen, wie Keile, mochten nieder fahren, wir sahen ohnedem auf unserm Wege, der vor uns lag, viele zerstreut, und während wir standen, waren in der Ferne wieder dampfe Schläge zu vernehmen gewesen. Wie wir umschauten, woher wir gekommen, war auf den ganzen Feldern und in der Gegend kein Mensch und kein lebendiges Wesen zu sehen. Nur ich mit dem Thomas und mit dem Fuchse waren allein in der freien Natur.
Ich sagte dem Thomas, daß wir umkehren müßten. Wir stiegen aus, schüttelten unsere Kleider ab, so gut es möglich war, und befreiten die Haare des Fuchses von dem anhangenden Eise, von dem es uns vorkam, als wachse es jetzt viel schneller an als am Vormittage, war es nun, daß wir damals die Erscheinung beobachteten und im Hinschauen darauf ihr Fortgang uns langsamer vorkam, als Nachmittag, wo wir andere Dinge zu tun hatten und nach einer Weile erst sahen, wie das Eis sich wieder gehäuft hatte – oder war es kälter und der Regen dichter geworden. Wir wußten es nicht. Der Fuchs und der Schlitten wurde sodann von dem Thomas umgekehrt, und wir fuhren, so schnell wir konnten, gegen die uns zunächst gerichteten Eidunhäuser zurück. Es war damals am oberen Ende, wo der Bühl sacht beginnt, noch das Wirtshaus – der Burmann hat es heuer gekauft und treibt bloß Feldwirtschaft – dorthin fuhren wir über den Schnee, der jetzt trug, ohne Weg, in der geradesten Richtung, die wir einschlagen konnten. Ich bat den Wirt, daß er mir eine Stelle in seinem Stalle für meinen Fuchs zurecht räumen möchte. Er tat es, obwohl er ein Rind hinüber auf einen Platz seines Stalles hängen mußte, wo sonst nur Stroh und einstweil Futter lag, das man an dem Tage gebrauchen wollte. Den Schlitten taten wir in die Wagenlaube. Als wir das untergebracht und uns wieder von der angewachsenen Last befreit hatten, nahm ich einiges aus dem Schlitten, was ich brauchte, und sagte, ich werde nun zu Fuße den Weg nach Hause antreten; denn ich müsse in der Nacht in meinem Hause sein, weil manches zu bereiten ist, das ich morgen bedürfe, und weil ich morgen einen andern Weg einzuschlagen hätte, da ich die Kranken in dem oberen Lande besuchen müßte, die mich heute nicht gesehen hatten. – Den Thaugrund könne ich umgehen, ich wolle durch das Gebühl, dann durch die Wiesen des Meierbacher links hinauf, sodann durch die kleinen Erlenbüsche, die gefahrlos sind, hinüber gegen die Hagweiden und von dort gegen mein Haus hinunter, das in dem Tale steht.
Als ich das so gesagt hatte, wollte mein Knecht Thomas nicht zugeben, daß ich allein gehe; denn der Weg, den ich beschrieben hatte, wäre hüglig und ging an Höhen von Wiesen hinauf, wo gewiß überhängende Schneelehnen sind, und wo in dem glatten Eise das Klimmen und Steigen von großer Gefahr sein möchte. Er sagte, er wolle mit mir gehen, daß wir einander an den Meierbacher Wiesen emporhelfen, daß wir einander beistehen und uns durch das Geerle hinüberreichen möchten. Unsere Fahrangelegenheit konnten wir bei dem Wirte da lassen, er würde ihm schon sagen, wie der Fuchs zu füttern und zu pflegen sei. Morgen, wenn sich das Wetter geändert hätte, würde er um den Fuchs herüber gehen, und zu meiner Fahrt, wenn ich zeitlich fort wollte, könnte ich die Pferde des Rothbergerwirtes nehmen, um die ich den Gottlieb oder jemanden hinab schicken möge, wenn ja sonst Gott einen Tag sende, an dem ein Mensch unter den freien Himmel heraus zu gehen sich wage.
Ich sah das alles ein, was mein Knecht Thomas sagte, und da ich mich auch nicht ganz genau erinnerte – man schaut das nicht so genau an – ob denn wirklich überall da, wo ich zu gehen vor hatte, keine Bäume stünden, oder ob ich nicht einen viel weiteren Umweg zu machen oder gar wieder zurück zu gehen hätte, wenn ich nicht vordringen könnte; so gestattete ich ihm, daß er mit gehe, damit wir unser zwei sind und die Sache mit mehr Kräften beherrschten.
Ich habe in meinem Schlitten immer Steigeisen eingepackt, weil ich oft aussteigen und über manche Hügel hinauf, die in unserem Lande sind und steile Hänge haben, zu Kranken gehen muß, wo ich, wenn Glatteis herrscht, gar nicht oder mit Gefahr und Mühe auf den Wegen, die niemand pflegt, oder die verschneit und vereiset sind, hinauf kommen könnte. Weil es aber auch leicht möglich ist, daß etwas bricht, so führe ich immer zwei Paare mit, daß ich in keine Ungelegenheit komme. Heute hatte ich sie nicht gebraucht, weil ich immer an ebenen Stellen zu gehen hatte, und weil ich die Füße nicht an immer dauernde Unterstützung gewöhnen will. Ich suchte die Steigeisen aus dem Schlitten heraus und gab dem Thomas ein Paar. Dann steckte ich aus den Fächern des Schlittens die Dinge und Herrichtungen zu mir, die ich morgen brauchen sollte. An dem Gestelle des Schlittens oberhalb der Kufe dem Korbe entlang sind Bergstöcke angeschnallt, die eine sehr starke Eisenspitze haben und weiter Aufwärts einen eisernen Haken, um sich damit einzuhaken und anzuhängen. Am obersten Ende des Holzes sind sie mit einem Knaufe versehen, daß sie nicht so leicht durch die Hand gleiten. Weil ich aus Vorsicht auch immer zwei solche Stöcke bei mir habe, so gab ich dem Thomas einen, nachdem er sie abgeschnallt hatte, und einen behielt ich mir. So gingen wir dann, ohne uns noch aufzuhalten, sogleich fort, weil an solchen Wintertagen die Nacht schnell einbricht und dann sehr finster ist. Der Thomas hatte darum auch die Blendlaterne aus dem Schlitten genommen und hatte sich mit Feuerzeug versehen.
Auf dem offenen Felde, ehe wir wieder in die Nähe des Thaugrundes kamen, gingen wir ohne Steigeisen bloß mit Hülfe der Stöcke fort, was sehr beschwerlich war. Als wir in die Nähe des Waldes kamen und uns das fürchterliche Rauschen wieder empfing, beugten wir links ab gegen die Wiesen des Meierbacher hin, die eine Lichtung durch den Wald bilden, und die uns den Weg darstellen sollten, auf dem wir nach Hause gelangen könnten. Wir erreichten die Wiesen, das will sagen, wir erkannten, daß wir uns auf dem Schnee über ihrer Grenze befanden, weil die Rinde nun sanft abwärts zu gehen begann, wo unten der Bach sein sollte, über dem aber zwei Klafter hoher Schnee, oder noch höherer, stand. Wir wagten, da der Grund nicht zerrissen ist und die Decke mit ihrem Glänzen ein gleichmäßiges Abgehen zeigte, das Hinabfahren mit unseren Bergstöcken. Es gelang gut. Wir hätten wohl mittelst der Steigeisen lange gebraucht hinabzukommen, aber so gelangten wir in einem Augenblicke hinunter, daß die Luft an unseren Angesichtern und durch unsere Haare sauste. Wirklich glaubten wir, da wir wieder aufgestanden waren, es habe sich ein kleines Windchen gehoben, aber es war nur unsere Bewegung gewesen, und ringsum war es so ruhig, wie den ganzen Tag. Wir legten nun in dem Grunde unsere Steigeisen an, um über die Höhe und den bedeutenden Bühel empor zu kommen, in denen sich die Wiese hinüber gegen die Erlengebüsche legt, auf die wir hinaus gelangen wollten. Es ist gut, daß ich aus Vorsicht die Spitzen der Steigeisen immer zuschleifen und schärfen lasse; denn wir gingen über den Bühel, der wie eine ungeheure gläserne Spiegelwalze vor uns lag, so gerade hinauf, als würden wir mit jedem Tritte an die Glätte angeheftet. Als wir oben waren und an dem Rande des Geerles standen, wo man ziemlich weit herum sieht, meinten wir, es dämmere bereits; denn der Eisglanz hatte da hinab, wo wir herauf gekommen waren, eine Farbe wie Zinn, und wo die Schneewehen sich überwölbten und Rinnen und Löcher bildeten, saß es wie grauliche Schatten darinnen; aber die Ursache, daß wir so trüb sahen, mußte der Tag sein, der durch die weißliche, feste Decke des Himmels dieses seltsame, dämmerige Licht warf. Wir sahen auf mehrere Wälder, die jenseits dieser Höhe herum ziehen: sie waren grau und schwarz gegen den Himmel und den Schnee, und die Lebendigkeit in ihnen, das gedämpfte Rauschen, war fast hörbar – aber deutlich zu vernehmen war mancher Fall, und dann das Brausen, das darauf durch die Glieder der Bergzüge ging.
Wir hielten uns nicht lange an diesem Platze auf, sondern suchten in die Büsche der Erlen einzudringen und durch sie hindurch zu kommen. Die Steigeisen hatten wir weggetan und trugen sie über unsern Rücken herab hängend. Es war schwer, durch die Zweige, die dicht aus dem Schnee nach allen Richtungen ragten, zu kommen. Sie hielten uns die starren Ausläufe wie unzählige stählerne Stangen und Spieße entgegen, die in unsere Gewänder und Füße bohrten und uns verletzt haben würden. Aber wir gebrauchten unsere Bergstöcke dazu, daß wir mit ihnen vor uns in das Gezweige schlugen und Eis und Holz so weit zerschlugen und weich machten, daß wir mit Arbeit und gegenseitiger Hülfe durch gelangen konnten. Es dauerte aber lange.
Da wir endlich heraus waren und an den Hagweiden standen, wo wir hinunter in das Tal sahen, in dem mein Haus ist, dämmerte es wirklich, aber wir waren schon nahe genug, und besorgten nichts mehr. Durch die allgemeine dicke, weißgraue Luft sahen wir mein Haus, und ein gerader bläulicher Rauch stieg aus demselben empor, wahrscheinlich von dem Feuer kommend, an dem Maria, die Haushälterin, unser Mahl in Bereitschaft richtete. Wir legten hier wieder die Steigeisen an und gingen langsam hinunter, bis wir auf ebenem Boden waren, wo wir sie wieder weg taten.
Vor den Türen der Häuser, die in der Nähe des meinigen sind, standen Gruppen von Menschen und schauten den Himmel an.
„Ach, Herr Doktor,“ riefen sie, „ach, Herr Doktor, wo kommt Ihr denn an diesem fürchterlichen Tage her?“
„Ich komme von der Dubs und von den Eidunhäusern,“ sagte ich, „mein Pferd und den Schlitten ließ ich zurück, und bin über die Meierbacher Wiesen und die Hagweiden gekommen, weil ich nicht mehr durch den Wald konnte.“
Ich blieb ein wenig bei den Leuten stehen. Wirklich war der Tag ein furchtbarer. Das Rauschen der Wälder war von ringsum bereits bis hierher zu hören, dazwischen tönte der Fall von Bäumen, und folgte immer dichter auf einander; ja sogar von dem hohen obern Walde her, wo man gar nicht wegen der Dicke des Nebels hin sehen konnte, konnte man das Krachen und Stürzen vernehmen.
Der Himmel war immer weißlich, wie den ganzen Tag, ja sein Schimmer schien jetzt gegen Abend noch lichter zu werden; die Luft stand gänzlich unbewegt, und der feine Regen fiel gerade herunter.
„Gott genade dem Menschen, der jetzt im Freien ist, oder gar im Walde“, sagte einer aus den Umstehenden.
„Er wird sich wohl gerettet haben“, sagte ein anderer; „denn heute bleibt niemand auf einem Wege.“
Ich und der Thomas trugen starke Lasten, die schier nicht mehr zu erhalten waren, deswegen nahmen wir Abschied von den Leuten und gingen unserm Hause zu. Jeder Baum hatte einen schwarzen Fleck um sich, weil eine Menge Zweige herab gerissen war, als hätte sie ein starker Hagelschlag getroffen. Mein hölzernes Gitter, mit dem ich den Hof von dem Garten, der noch nicht fertig war, abschließe, stand silbern da, wie vor dem Altare einer Kirche; ein Pflaumenbaum daneben, der noch von dem alten Allerb herrührte, war geknickt. Die Fichte, bei welcher mein Sommerbänklein steht, hatten sie dadurch vor Schaden zu verwahren gesucht, daß sie mit Stangen, so weit sie reichen konnten, das Eis herabschlugen – und wie der Wipfel sich gar schier zu neigen schien, ist der andere Knecht, Kajetan, hinauf gestiegen, hat vorsichtig oberhalb sich herab geschlagen und hat dann an die obersten Äste zwei Wiesbaumseile gebunden, die er herab hängen ließ, und an denen er von Zeit zu Zeit rüttelte. Sie wußten, daß mir der Baum lieb war, und er ist auch sehr schön, und mit seinen grünen Zweigen so bebuscht, daß sich eine ungeheure Last von Eis daran gehängt und ihn zerspellt oder seine Äste zerrissen hätte. Ich ging in meine Stube, die gut gewärmt war, legte alle Dinge, die ich aus dem Schlitten zu mir gesteckt hatte, auf den Tisch, und tat dann die Kleider weg, von denen sie unten das Eis herab schlugen und sie dann in die Küchenstube aufhängen mußten; denn sie waren sehr feucht. Als ich mich anders angekleidet hatte, erfuhr ich, daß der Gottlieb zu dem Walde des Thaugrundes hinab gegangen und noch immer nicht zurückgekehrt sei, weil er wisse, daß ich durch den Thaugrund mit meinem Schlitten daher kommen müsse. Ich sagte dem Kajetan, daß er ihn holen solle, daß er sich noch jemand mitnehme, wenn er einen finden könne, der ihn begleite, daß sie eine Laterne und Eisen an die Füße und Stöcke in die Hand nehmen sollen. Sie brachten ihn später daher, und er war schier mit Panzerringen versehen, weil er nicht überall das Eis von sich hatte abwehren können.
Ich aß ein weniges von meinem aufgehobenen Mahle. Die Dämmerung war schon weit vorgerückt und die Nacht bereits herein gebrochen. Ich konnte jetzt das verworrene Getöse sogar in meine Stube her ein hören, und meine Leute gingen voll Angst unten in dem Hause herum.
Nach einer Weile kam der Thomas, der ebenfalls gegessen und andere Kleider angetan hatte, zu mir herein und sagte, daß sich die Leute der Nachbarhäuser versammeln und in großer Bestürzung seien. Ich tat einen starken Rock um und ging mittelst eines Stockes über das Eis zu den Häusern hinüber. Es war bereits ganz finster geworden, nur das Eis auf der Erde gab einen zweifelhaften Schein und ein Schneelicht von sich. Den Regen konnte man an dem Angesichte spüren, um das es feucht war, und ich spürte ihn auch an der Hand, mit welcher ich den Bergstock einsetzte. Das Getöse hatte sich in der Finsternis vermehrt, es war rings herum an Orten, wo jetzt kein Auge hindringen konnte, wie das Rauschen entfernter Wasserfälle, – das Brechen wurde auch immer deutlicher, als ob ein starkes Heer oder eine geschreilose Schlacht im Anzuge wäre. Ich sah die Leute, als ich näher gegen die Häuser kam, stehen, aber ich sah die schwarzen Gruppen derselben von den Häusern entfernt mitten im Schnee, nicht etwa vor den Türen oder an der Wand.
„Ach Doktor helft, ach Doktor helft“, riefen einige, da sie mich kommen sahen und mich an meinem Gang erkannten.
„Ich kann euch nicht helfen, Gott ist überall groß und wunderbar, er wird helfen und retten“, sagte ich, indem ich zu ihnen hinzu trat.
Wir standen eine Weile bei einander und horchten auf die Töne. Später vernahm ich aus ihren Gesprächen, daß sie sich fürchteten, daß bei der Nacht die Häuser eingedrückt werden könnten. Ich sagte ihnen, daß sich in den Bäumen, insbesondere bei uns, wo die Nadelbäume so vorherrschend sind, in jedem Zweige, zwischen den kleinsten Reisern und Nadeln das unsäglich herunter rinnende Wasser sammle, in dem seltsamen Froste, der herrsche, gefriere und durch stetes nachhallendes Wachsen an den Ästen ziehe, Nadeln, Reiser, Zweige, Äste mit herab nehme, und endlich Bäume biege und breche; aber von dem Dache, auf welchem die glatte Schneedecke liege, rinne das Wasser fast alles ab, um so mehr, da die Rinde des Eises glatt sei und das Rinnen befördere. Sie möchten nur durch Haken Stücke des Eises herab reißen, und da würden sie sehen, zu welch geringer Dicke die Rinde auf der schiefen Fläche anzuwachsen im Stande gewesen sei. An den Bäumen ziehen unendlich viele Hände gleichsam bei unendlich vielen Haaren und Armen hernieder; bei den Häusern schiebe alles gegen den Rand, wo es in Zapfen niederhänge, die ohnmächtig sind, oder losbrechen, oder herab geschlagen werden können. Ich tröstete sie hiedurch, und sie begriffen die Sache, die sie nur verwirrt hatte, weil nie der gleichen oder nicht in solcher Gewalt und Stärke erlebt worden war.
Ich ging dann wieder nach Hause. Ich selber war nicht so ruhig, ich zitterte innerlich; denn was sollte das werden, wenn der Regen noch immer so fort dauerte und das Donnern der armen Gewächse in so rascher Folge zunahm, wie es jetzt, wo schier alles am Äußersten war, geschah. Die Lasten hatten sich zusammengelegt; ein Lot, ein Quentchen, ein Tropfen konnte den hundertjährigen Baum stürzen. Ich zündete in meiner Stube Lichter an, und wollte nicht schlafen. Der Bube Gottlieb hatte durch das lange Stehen und Warten an dem Thaugrunde ein leichtes Fieber bekommen. Ich hatte ihn untersucht, und schickte ihm etwas hinunter.
Nach einer Stunde kam der Thomas und sagte, daß die Leute zusammen gekommen seien und beten; das Getöse sei furchtbar. Ich erwiderte ihm, es müsse sich bald ändern, und er entfernte sich wieder.
Ich ging in dem Zimmer, in das der Lärmen, wie tosende Meereswogen, drang, auf und nieder, und da ich mich später auf das lederne Sitzbette, das da stand, ein wenig niedergelegt hatte, schlief ich aus Müdigkeit doch ein.
Als ich wieder erwachte, hörte ich ein Sausen oberhalb meinem Dache, das ich mir nicht gleich zu erklären vermochte. Als ich aber aufstand, mich ermannte, an das Fenster trat und einen Flügel öffnete, erkannte ich, daß es Wind sei, ja, daß ein Sturm durch die Lüfte dahin gehe. Ich wollte mich überzeugen, ob es noch regne, und ob der Wind ein kalter oder warmer sei. Ich nahm einen Mantel um, und da ich durch das vordere Zimmer ging, sah ich seitwärts Licht durch die Tür des Gemaches herausfallen, in welchem Thomas schläft. Er ist nämlich in meiner Nähe, damit ich ihn mit der Glocke rufen könne, wenn ich etwas brauche, oder falls mir etwas zustieße. Ich ging in das Gemach hinein und sah, daß er an dem Tische sitze. Er hatte sich gar nicht nieder gelegt, weil er sich, wie er mir gestand, zu sehr fürchtete. Ich sagte ihm, daß ich hinunter gehe, um das Wetter zu prüfen. Er stand gleich auf, nahm seine Lampe, und ging hinter mir die Treppe hinab. Als wir unten im Vorhause angekommen waren, stellte ich mein Licht in die Nische der Stiege und er seine Lampe dazu. Dann sperrte ich die Tür auf, die in den Hof hinaus führt, und als wir aus den kalten Gängen hinaus traten, schlug uns draußen eine warme, weiche Luft entgegen. Der ungewöhnliche Stand der Dinge, der den ganzen Tag gedauert hatte, hatte sich gelöset. Die Wärme, welche von der Mittagseite her kam und bis jetzt nur in den oberen Teilen geherrscht hatte, war nun auch, wie es meist geschieht, in die untern herab gesunken, und der Luftzug, der gewiß oben schon gewesen war, hatte sich herabgedrückt und war in völligen Sturm Übergegangen. Auch am Himmel war es, so viel ich sehen konnte, anders geworden. Die einzelne graue Farbe war unterbrochen; denn ich sah dunkle und schwarze Stücke hie und da zerstreut. Der Regen war nicht mehr so dicht, schlug aber in weiter zerstreuten und stärkeren Tropfen an unser Gesicht. Als ich so stand, näherten sich mir einige Menschen, die in der Nähe meines Hauses gewesen sein mußten. Mein Hof ist nämlich nicht so, wie es gewöhnlich zu sein pflegt, und damals war er noch weniger verwahrt als jetzt. Das Mauerwerk meines Hauses ist nämlich von zwei Seiten ins Rechteck gestellt, und das sind die zwei Seiten des Hofes. Die dritte war damals mit einer Planke versehen, hinter der der Garten werden sollte, in den man durch ein hölzernes Gitter hinein ging. Die vierte war die Einfahrt, damals auch Planke, nicht einmal gut gefügt, und mit einem hölzernen Gittertore versehen, das meistens offen stand. In der Mitte des Hofes sollte ein Brunnen werden, der aber damals noch gar nicht angefangen war. Es kam daher leicht an, daß Menschen zu mir in meinem Hofe herzu treten konnten. Sie waren im Freien gestanden und hatten in großer Angst den Zustand der Dinge betrachten wollen. Als sie das Licht in den Fenstern meiner Stube verschwinden sahen und gleich darauf bemerkten, daß es an den Fenstern des Stiegenhauses herunter gehe, dachten sie, daß ich in den Hof kommen würde, und gingen näher herzu. Sie fürchteten erst rechte Verheerungen und unbekannte Schrecken, da nun der Sturm auch noch dazu gekommen sei. Ich sagte ihnen aber, daß dies gut ist, und daß nun das Ärgste bereits hinter uns liege. Es war zu erwarten, daß die Kälte, die nur unten, nicht aber oben war, bald verschwinden würde. Es könne nun, da der Wind so warm sei, kein neues Eis mehr entstehen, ja das alte müsse weniger werden. Der Wind, wie sie meinten und fürchteten, könne auch nicht mehr Bäume stürzen, als in der Windstille gefallen sind; denn als er sich hob, sei er gewiß nicht so stark gewesen, daß er zu der Wucht, mit der mancher Stamm schon beladen gewesen war, so viel hinzu gegeben hätte, daß der Stamm gebrochen wäre, wohl aber sei er gewiß schon stark genug gewesen, um das Wasser, das locker in den Nadeln geschwebt hatte, und die Eisstücke, die nur mit einem schwachen Halt befestigt gewesen waren, herab zu schütteln. Der nächste, stärkere Stoß habe schon einen erleichterten Baum gefunden und habe ihn noch mehr erleichtert. So sei die Windstille, in der sich alles heimlich sammeln und aufladen konnte, das Furchtbare, und der Sturm, der das Zusammengeladene erschütterte, die Erlösung gewesen. Und wenn auch mancher Baum durch den Wind zum Falle gebracht wurde, so wurden doch gewiß weit mehrere durch ihn gerettet, und der schon im Äußersten stehende Stamm wäre auch in der Windstille, nur um eine kleine Zeit später, gefallen. Und nicht bloß herab geschüttelt habe der Wind das Eis, sondern er habe es auch durch seinen warmen Hauch zuerst in den zarteren Geweben, dann in den stärkeren zerfressen, und habe das dadurch entstandene und auch das vom Himmel gefallene Wasser nicht in den Zweigen gelassen, wie es eine bloß warme, aber stille Luft getan hätte. Und in der Tat, obwohl wir durch das Sausen des Sturmes hindurch das frühere Rauschen der Wälder nicht hören konnten, so waren doch die dumpfen Fälle, die wir allerdings noch vernahmen, viel seltener geworden.
Nach einer Weile, in welcher der Wind immer heftiger und, wie wir meinten, auch immer wärmer geworden war, wünschten wir uns eine gute Nacht, und gingen nach Hause. Ich begab mich auf meine Stube, entkleidete mich, legte mich in das Bett, und schlief recht fest bis an den Morgen, da schon der helle Tag an dem Himmel stand.
Als ich erwacht war, stand ich auf, legte die Kleider an, die ich am Morgen gerne habe, und ging an die Fenster. Der Sturm hatte sich noch gesteigert. Ein weißer Schaum jagte an dem Himmel dahin. Der blaue Rauch, der aus der Hütte des Klum herausging, zerflatterte, wie ein zerrissener Schleier. Wo sich ein Stück einer schwarzen Wolke hinter einem Walde hervorragend sehen ließ, wälzte es sich am Himmel hin, und war gleich wieder nicht sichtbar. Es schien, als sollte jeder Dunst verjagt werden und sogleich das reine Blau zum Vorschein kommen; allein es quoll der weiße Qualm immer wieder heraus, als würde er in der Tiefe des Himmels erzeugt; und braunliche und graue und rötliche Stücke jagten in ihm dahin. Die Dächer der Nachbarhütten schimmerten naß; in den Mulden des Eises, das über dem Schnee lag, stand Wasser, und wurde gekräuselt und in feinen Tropfen in die Lüfte zerspritzt; das andere nasse Eis glänzte schimmernd, als wäre die Weiße des Himmels darauf geworfen, die Wälder ragten finsterer und die schwarze Farbe des Sturmes gewinnend gegen den Himmel, und wo ein näherer Baum seine Äste im Winde wiegte, stand oft augenblicklich ein langer Blitz da und verschwand, und selbst über die ferneren Wände der Wälder lief es noch zu Zeiten wie verlorenes Geschimmer und Geglänze. In meinem Hofe war es naß, und die einzelnen, aber großen Tropfen schlugen gegen die andere Wand meines Hauses und gegen ihre Fenster; denn die meinigen waren dem Winde nicht zugekehrt und schauten gegen Sonnenaufgang. Bei der Fichte, an der mein Sommerbänklein steht, das aber jetzt wegen der großen Überhüllung des Schnees nicht zu erblicken war, sah ich, wie sie Leitern anlegten und der Kajetan hinauf kletterte, um die zwei Wiesbaumseile los zu lösen.
Die Gefahr, in welcher wir schwebten, war nun eine andere und größere als gestern, wo nur für die Wälder und Gärten ein großer Schaden zu fürchten gewesen war. Wenn das Wasser von dem außerordentlich vielen Schnee, der in dem Winter gefallen war, auf einmal los gebunden wird, so kann es unsere Felder, unsere Wiesen und unsere Häuser zerstören. Der Wind war noch wärmer, als in der vergangenen Nacht; denn ich öffnete die Fenster des Ganges, um ihn zu empfinden. Wenn einmal die dichte Eisdecke, die sich gestern wie zum Schutze auf die Erde gelegt hatte, durchfressen ist, dann wird der Schnee, das lockere Gewirre von lauter dünnen Eisnadeln, schnell in Tropfen zerfallen, die wilden Ungeheuer der Waldbäche werden aus den Tälern herausstürzen und donnernd die Felder, die Wiesen, die Flächen mit Wasser füllen; von allen Bergen werden schäumende Bänder niedergehen; das beweglich gewordene Wasser wird, wo Felsen und jähe Abhänge empor ragen, die Lawinen, welche Steine, Schnee und Bäume ballen, die Bäche dämmen und vor sich ein Meer von Wasser erzeugen.
Ich legte meine Kleider an, aß schnell mein Frühmahl und bereitete mich zu dem heutigen Tagewerke. Ich ging zu dem Knaben Gottlieb hinab, um nachzuschauen; aber er war ganz gesund und sah sehr gut aus. Ich sendete zu dem Vetter Martin, dem Wirt am Rothberge, hinunter, daß er mir heute ein Fuhrwerk leihe, denn durch den Thaugrund war der Weg durch gestürzte Bäume verlegt und konnte so bald nicht befreit werden, obwohl nun keine Gefahr mehr unter den Bäumen herrschte. Von dem Rothberge herauf war aber alles frei geblieben; denn die Buchen mit ihren zähen Ästen hatten die belasteten Zweige zwar bis auf die Erde hängen lassen, waren aber doch dem Zerbrechen widerstanden. Auf dem Wege, auf welchem wir gestern gekommen waren, konnte der Thomas nicht in das Eidun und zu dem Fuchse hinüber gelangen, weil das Eis nicht mehr trug; und ein tiefes, gefährliches Versinken in den wässerigen Schnee hätte erfolgen müssen. Er sagte, er wolle es gegen Mittag versuchen, bei den gestürzten Bäumen vorbei zu klettern und so in das Eidun zu kommen. Von den Rothberghäusern war zeitlich früh schon ein Bote herauf gekommen, der mir Nachricht von einem Kranken zu bringen hatte, und dieser hatte mir auch gesagt, daß es durch den Haidgraben und an dem Buchengehäng von dem Rothberge herauf frei geblieben war.
Während ich auf den Knecht wartete, den mir der Wirt am Rothberge mit einem Fuhrwerke senden sollte, untersuchte ich die Eisrinde des Schnees. Sie war noch nicht zerstört, aber an vielen Stellen in der Nähe meines Hauses so dünn, daß ich sie mit meiner Hand zerbrechen konnte. In muldenförmigen Gräben rann das Wasser auf der glatten Unterlage bereits sehr emsig dahin. Der Regen hatte ganz aufgehört, höchstens daß noch mancher einzelne Tropfen von dem Winde geschleudert wurde. Der Wind aber dauerte fort, er glättete das Eis, auf dem er das dünne Wasser dahin jagte, zu dem feinsten Schliffe, und lösete durch seine Weichheit unablässig alles Starre und Wassergebende auf.
Der Knecht des Wirtes am Rothberge kam, ich nahm mein Gewand gegen den Wind zusammen und setzte mich in den Schlitten. Ich habe an diesem Tage viele Dinge gesehen. Statt daß es gestern auf den Höhen und in den Wäldern gerauscht hatte, rauschte es heute in allen Tälern, statt daß es gestern an den Haaren des Fuchses nieder gezogen hatte, flatterten sie an dem heutigen Pferde in allen Winden. Wenn wir um eine Schneewehe herum biegen wollten, sprang uns aus ihr ein Guß Wasser entgegen, es raschelte in allen Gräben, und in den kleinsten, unbedeutendsten Rinnen rieselte und brodelte es. Die Siller, sonst das schöne, freundliche Wasser, brauste aus dem Walde heraus, hatte die fremdartig milchig schäumenden Wogen des Schneewassers, und stach gegen die dunkle Höhle des Waldes ab, aus der sie hervor kam, und in der noch die gestürzten Bäume über einander und über das Wasser lagen, wie sie gestern von dem Eise gefällt worden waren. Wir konnten nicht durch den Wald fahren, und mußten durch die Hagweiden den Feldweg einschlagen, der heuer zufällig befahren war, weil die Bewohner von Haslung ihr Holz von dem Sillerbruche wegen des vielen Schnees nicht durch den Wald, sondern auf diesem Umwege nach Hause bringen mußten. Wir fuhren durch den geweichten Schnee, wir fuhren durch Wasser, daß der Schlitten beinahe schwamm, und einmal mußte das Tier von dem Knechte mit größter Vorsicht geführt werden, und ich mußte bis auf die Brust durch das Schneewasser gehen.
Gegen Abend wurde es kühler, und der Wind hatte sich beinahe gelegt.
Als ich mich zu Hause in andere Kleider gehüllt hatte und um den Thomas fragte, kam er herauf zu mir und sagte, daß er mit dem Fuchse noch glücklich nach Hause gekommen sei. Er habe die gestürzten Bäume überklettert, man sei mit Sägen mit ihm gegangen, um wenigstens die größeren Stücke von dem Wege zu bringen, und da er zurück gekommen war, sei es schon ziemlich frei gewesen. Über die kleineren Stämme und über die Äste habe er den Schlitten hinüber geleitet. Aber der Bach, der im Thaugrunde fließt, hätte ihm bald Hindernisse gemacht. Es ist zwar nicht der Bach da, aber an der Stelle, wo unter dem Schnee der Bach fließen sollte, oder eigentlich gefroren sein mag, rann vieles Wasser in einer breiten Rinne hin. Als er den Fuchs hineinleitete, wäre derselbe im Schnee versunken, der in dem Grunde des Wassers ist, daher er ihn wieder zurück zog und selber durch Hineinwaten so lange versuchte, bis er den festen Boden des heurigen Schlittenweges fand, auf welchem er dann den Fuchs und den Schlitten durchgeführt habe. Später wäre es nicht mehr möglich gewesen; denn jetzt stehe ein ganzer See von Wasser in den Niederungen des Thaugrundes.
Ähnliche Nachrichten kamen aus verschiedenen Teilen meiner Nachbarschaft; von der Ferne konnte ich keine bekommen, weil sich niemand getraute, unter diesen Umständen einen weiteren Weg zu gehen. Selbst zwei Boten, die mir von entfernten Kranken Nachricht bringen sollten, sind ausgeblieben.
So brach die Nacht herein und hüllte uns die Kenntnis aller Dinge zu, außer dem Winde, den wir über die weiße, wassergetränkte, gefahrdrohende Gegend hinsausen hörten.
Am andern Tage war blauer Himmel, nur daß einzelne Wölklein nicht schnelle, sondern gemach durch das gereinigte Blau dahin segelten. Der Wind hatte fast gänzlich aufgehört, und zog auch nicht mehr aus Mittag, sondern ganz schwach aus Untergang Auch war es kälter geworden, zwar nicht so kalt, daß es gefroren hätte, doch so, daß sich kein neues Wasser mehr erzeugte. Ich konnte auf meinen Wegen fast überall durchdringen, außer an zwei Stellen, wo das Wasser in einer solchen Tiefe von aufgelösetem und durchweichtem Schnee dahin rollte, daß es nicht möglich war, durch zu gehen oder zu fahren. An einem andern Platze, wo es zwar ruhig, aber breit und tief in der Absenkung des Tales stand, banden sie Bäume zusammen und zogen mich gleichsam auf einem Floße zu einem gefährlichen Kranken hinüber. Ich hätte die andern zwar auch gerne gesehen, aber es war doch nicht so notwendig, und morgen hoffte ich schon zu ihnen gelangen zu können.
Am nächsten Tage war es wieder schön. Es war in der Nacht so kalt gewesen, daß sich die stehenden Wässer mit einer Eisdecke überzogen hatten. Diese schmolz am Tage nicht weg, wohl aber zerbrach sie, indem die Wässer in die unterhalb befindliche Grundlage des Schnees schnell einsanken und versiegender wurden. Es war doch gestern gut gewesen, daß ich zu dem Kumberger Franz auf dem Floße hinüber gefahren bin, denn das Mittel, welches ich ihm da gelassen hatte, hatte so gut gewirkt, daß er heute viel besser war und fast die Gefahr schon überstanden hatte. Auch zu den andern zweien konnte ich schon gelangen. Man konnte zwar nicht fahren, weil es unter dem Wasser zu ungleich war, aber mit einer Stange und meinem Bergstocke, den ich daran band, konnte ich durchgehen. Die nassen Kleider wurden, nachdem ich die zweiten, die ich mit führte, im Gollwirtshause angelegt hatte, in den Schlitten gepackt.
Am nächsten Tage konnte ich auch schon wieder durch den Thaugrund in das Eidun und in die Dubs hinüber gelangen.
Es kamen nun lauter schöne Tage. Eine stetige, schwache Luft ging aus Sonnenaufgang. Nachts fror es immer, und bei Tage tauete es wieder. Die Wässer, welche sich in jenem Sturme gesammelt hatten, waren nach und nach so versiegt und versunken, daß man keine Spur von ihnen entdecken konnte, und daß man auf allen Wegen, die sonst im Winter gangbar sind, wieder zu gehen und anfangs mit Schlitten und später mit Wägen zu fahren vermochte. Eben so hatte sich die unermeßliche Menge Schnee, die wir so gefürchtet hatten, so allmählig verloren, daß wir nicht wußten, wo er hingekommen ist, als hie und da offene Stellen zum Vorscheine kamen, und endlich nur mehr in Tiefen und Schluchten und in den höheren Wäldern die weißen Flecke lagen.
In den ersten Tagen nach jenem Ereignisse mit dem Eise, als die Leute sich allgemach wieder auf entferntere Wege wagten, konnte man die Zerstörungen erst recht ermessen. An manchen Orten, wo die Bäume dicht standen und wegen Mangel an Luftzug und Licht die Stämme dünner, schlanker und schwächer waren, dann an Gebirgshängen, wo sie mageren Boden hatten, oder durch Einwirkung herrschender Winde schon früher schief standen, war die Verwüstung furchtbar. Oft lagen die Stämme wie gemähte Halme durcheinander, und von denen, die stehen geblieben waren, hatten die fallenden Äste herab geschlagen, sie gespalten oder die Rinde von ihnen gestreift und geschunden. Am meisten hatte das Nadelholz gelitten, weil es zuerst schon, namentlich, wo es dicht steht, schlankere, zerbrechlichere Schafte hat, dann weil die Zweige auch im Winter dicht bebuscht sind und dem Eise um viel mehr Anhaltsstellen gewähren, als die der anderen Bäume. Am wenigsten wurde die Buche mitgenommen, dann die Weide und Birke. Die letztere hatte nur die feinsten herabhängenden Zweige verloren, die wie Streu herum lagen; – wo ein Stamm dünne genug war, hatte er sich zu einem Reife gebogen, derlei Reifen man dann im Frühlinge viele herum stehen sehen konnte; ja noch im Sommer und selbst nach mehreren Jahren waren manche zu sehen. Allein, wie groß auch die Zerstörung war, wie bedeutend auch der Schaden war, der in den Wäldern angerichtet wurde, so war dieses in unserer Gegend weniger empfindlich, als es in andern gewesen wäre; denn da wir Holz genug hatten, ja, da eher ein Überfluß als ein Mangel daran herrschte, so konnten wir das, was wirklich zu Grunde gegangen war, leicht verschmerzen, auch mochten wir zu dem nächsten Bedürfnisse nehmen, was gefallen war, wenn man nämlich dazu gelangen konnte, und es nicht in Schlachten lag oder an unzugänglichen Felsen hing. Größer aber und eindringlicher noch mochte der Schaden an Obstbäumen sein, wo die Äste von ihnen gebrochen waren, und wo sie selber gespalten und geknickt wurden; denn Obstbäume sind ohnedem in der Gegend seltener als sonst wo, und sie brauchen auch mehr Pflege und Sorgfalt, und gedeihen langsamer, als es selbst nur wenige Stunden von uns der Fall ist, in der ebeneren Lage draußen, in Tunberg, in Rohren, in Gurfeld, und selbst in Pirling, das näher an uns ist und an unseren Waldverhältnissen schon Teil nimmt.
Von den Gruppen von Bäumen, die in meiner Wiese und in der Nachbarschaft herum stehen, und die ich so liebe, haben mehrere gelitten. Einige sind geknickt, haben ihre Äste verloren, und drei Eschen sind ganz und gar umgeworfen worden.
Im Thurwalde, der vielleicht der höchste ist, den man vom Hage und vom Hange sehen kann, ist eine Lawine herabgegangen und hat das Holz genommen, daß man jetzt noch den Streifen mit freiem Auge erblicken kann.
Als einige Zeit vergangen war und die Wege an den Orten wieder frei wurden, hörte man auch von den Unglücksfällen, die sich ereignet hatten, und von wunderbaren Rettungen, die vorgekommen waren. Ein Jäger auf der jenseitigen Linie, der sich nicht hatte abhalten lassen, an dem Tage des Eises in sein Revier hinauf zu gehen, wurde von einer Menge stürzender Zapfen erschlagen, die sich am oberen Rande einer Felswand losgelöst und die weiter unten befindlichen mitgenommen hatten. Man fand ihn mitten unter diesen Eissäulen liegen, da man sich am andern Tag trotz des Sturmes und der Schneeweiche den Weg hinauf zu ihm gebahnt hatte; denn der Jägerjung wußte, wohin sein Herr gegangen war, er nahm die Hunde mit, und diese zeigten durch ihr Anschlagen die Stelle, wo er lag. Zwei Bauern, welche von dem Rothberge, wo sie übernachtet hatten, durch die Waldhäuser in die Rid hinübergehen wollten, wurden von fallenden Bäumen erschlagen. Im untern Astung ertrank ein Knabe, der nur zum Nachbar gehen wollte. Er versank in dem weichen Schnee, welcher in der Höhlung des Grundes stand, und konnte nicht mehr herauskommen. Wahrscheinlich wollte er, wie man erzählte, nur ein klein wenig von dem Wege abweichen, weil derselbe schief und mit glattem Eise belegt war, und geriet dadurch in den Schnee, der über einer weiten Grube lag, und unter den am ganzen Tage das Wasser hinein gerieselt war und ihn trügerisch unterhöhlt hatte. Ein Knecht aus den Waldhäusern des Rothbergerhanges, der im Walde war und das beginnende Rauschen und Niederfallen der Zweige nicht beachtet hatte, konnte sich, als er nicht mehr zu entrinnen wußte, nur dadurch retten, daß er sich in die Höhlung, welche zwei im Kreuze aufeinander gestürzte Bäume unter sich machten, hinein legte, wodurch er vor weiteren auf die Stelle stürzenden Bäumen gesichert war und von fallendem Eise nichts zu fürchten hatte, da es auf dem Rund der großen Stämme zerschellte oder abgeschleudert wurde. Allein das wußte er nicht, wenn ein neuer, starker Stamm auf die zwei schon daliegenden fiele, ob sie nicht aus ihrer ersten Lage weichen, tiefer nieder sinken und ihn dann zerdrücken würden. In dieser Lage brachte er einen halben Tag und die ganze Nacht zu, indem er nasse Kleider und nichts bei sich hatte, womit er sich erquicken und den Hunger stillen konnte. Erst mit Anbruch des Tages, wo der Wind sauste und er von fallendem Eise und Holze nichts mehr vernehmen konnte, wagte er sich hervor und ging, teilweise die Eisrinde schon durchbrechend und tief in den Schnee einsinkend, zum nächsten Wege, von dem er nicht weit ab war, und gelangte auf demselben nach Hause.
Auch den Josikrämer hielt man für verunglückt. Er war im Haslung am Morgen des Eistages fortgegangen, um durch den Dusterwald in die Klaus hinüber zu gehen. Allein in der Klaus ist er nicht angekommen, auch ist er in keinem der umliegenden Orte, nachdem er vom Haslung bereits drei Tage weg war, erschienen. Man meinte, in dem hohen Dusterwalde, dessen Gangweg ohnedem sehr gefährlich ist, wird er um das Leben gekommen sein. Er war aber von den letzten Höhen, die von Haslung aus noch sichtbar sind, hinabgegangen, wo das Tal gegen die wilden Wände und die vielen Felsen des Dusterwaldes hinüber läuft und sich dort an der Wildnis empor zieht, dann ist er schräg gegen die Wand gestiegen, die mit dem vielen Gesteine und den dünne stehenden Bäumen gegen Mittag schaut, und wo unten im Sommer der Bach rauscht, der aber jetzt überfroren und mit einer unergründlichen Menge von Schnee bedeckt war. Weil der Weg längs des Hanges immer fort geht und über ihn von der Höhe bald Steine rollen, bald Schnee in die Tiefe abgleitet, so hatte der Krämer seine Steigeisen angelegt; denn wenn sich auch auf der Steile nicht viel Schnee halten kann, vor dem Versinken also keine große Gefahr war, so kannte er doch den Regen, der da nieder fiel und gefror, sehr gut, und fürchtete, an mancher Schiefe des Weges auszugleiten und in den Abgrund zu fallen. Da er, ehe es Mittag wurde, bei dem Kreuzbilde vorbei ging, das vor Zeiten der fromme Söllibauer aus dem Gehänge hatte setzen lassen, hörte er bereits das Rasseln und das immer stärkere Fallen des Eises. Da er weiter ging, die Sache immer ärger wurde und zuletzt Bedenklichkeit gewann, kroch er in eine trockene Steinhöhle, die nicht weit von dem Wege war, die er wußte, und in der er sich schon manchmal vor einem Regen verborgen hatte, um auch heute das Gefahrdrohendste vorübergehen zu lassen. Weil er solche eisbildende Regen kannte, daß ihnen gewöhnlich weiches Wetter zu folgen pflegt, und weil er mit Brod und anderen Lebensmitteln versehen war, indem er gar oft sein Mittagsmahl in irgendeinem Walde hielt, so machte er sich aus dem Dinge nicht viel daraus. Als er am andern Morgen erwachte, ging ein Wasserfall über seine Steinhöhle. Der Wind, welcher von Mittag kam, hatte sich an der Wand, die ihm entgegen schaute, recht fangen können, und da die Bäume wegen dem Gefelse dünner standen, so konnte er sich auch recht auf den Schnee hinein legen und ihn mit seinem Hauche schnell und fürchterlich auflösen. Der Krämer sah, wenn er seitwärts seines Wassers am Eingange der Höhle hinüber blickte, daß allenthalben an den Gehängen weiße, schäumende, springende Bänder nieder flatterten. Hören konnte er nichts wegen dem Tosen des eigenen Wassers, das alles übertäubte. Auch sah er unten manchen Schneestaub aufschlagen von den unaufhörlich an allen Orten niedergehenden Lawinen; denn am oberen Rande der Wand geht schief eine Mulde empor, in welcher im Winter ein unendlicher Schnee zu liegen pflegt, der erstens aus dem Himmel selbst darauf fällt und dann von der noch höher liegenden schiefen, glatten Wand darauf herab rollt. Aus diesem Schnee entwickelte sich nun unsägliches Wasser, das alles über den Hang, an dem der Weg des Krämers dahin ging, nieder rann und zu der Tiefe zielte, in der sonst der Wildbach fließt, jetzt aber ein unbekannt tiefes Gebräu von Schnee und Wasser stand. An den Bäumen zerstäubte manches Stück Schnee, das oben auf dem nassen Boden sachte vorgerückt war und sich los gelöst hatte. Der Krämer blieb außer dem ersten Tage noch die zwei folgenden in der Höhle. Er hatte, um sich gegen die Kälte wehren zu können, die ihn bei seiner langen Ruhe überfiel, aus seinem Packe ein Stück grobes Tuch heraus suchen und sich daraus ein Lager und eine Decke machen müssen. In der Klaus ist er aber dann auch nicht angekommen, sondern man sah ihn am vierten Tage nach dem Eissturze nachmittags mit seinem Packe an dem Hage vorüber gehen. Er ging nach Gurfeld hinaus, um sich sein Tuch, das er gebraucht hatte, wieder zurichten zu lassen.
Spät im Sommer fand ich einmal auch die zusammengedorrten Überreste eines Rehes, das von einem Baume erschlagen worden war.
Ich werde die Herrlichkeit und Größe jenes Schauspieles niemals vergessen. Ich konnte es vielleicht nur allein ganz ermessen, weil ich immer im Freien war und es sah, während die andern in den Häusern waren und, wenn sie auch durch einen Zufall hinein gerieten, sich bloß davor fürchteten.
Ich werde es auch schon darum nicht vergessen, weil sich im Frühlinge darauf etwas angefangen hat, was mir auf ewig in dem Herzen bleiben wird. – – Ach du guter, du heiliger Gott! das werde ich gewiß nie, nie, nie vergessen können!
Es verging der Schnee so gemach, daß alles offen und grüner wurde als sonst, und daß in den tiefsten Tiefen schon die Bäche zu einer Zeit wieder rauschten, wo wir sonst noch manche weiße Inseln auf den Feldern sahen. Es wurde bald warm, und die Wässer des Schnees, die wir so gefürchtet hatten, waren nicht vorhanden. Sie waren entweder in die Erde eingesickert, oder rannen jetzt in den schönen, plätschernden Bächen durch alle Täler dahin. Die Bäume belaubten sich sehr bald, und wunderbar war es, daß es schien, als hätte ihnen die Verwundung des Winters eher Nutzen als Schaden gebracht. Sie trieben fröhliche junge Schossen, und wo einer recht verletzt war und seine Äste gebrochen ragten, und wo mehrere beisammen standen, die sehr kahl geschlagen waren, kam eine Menge feiner Zweige, und es verdichtete sich immer mehr das grüne Netz, aus dem die besten, fettesten Blätter hervor sproßten. Auch die Obstbäume blieben nicht zurück. Aus den stehen gebliebenen Zweigen kamen die dichten Büschel großer Blüten hervor; ja wo die feineren Zweige fehlten, saßen in den Augen der dicken, selbst der Stämme, Büschel von Blüten, waren sehr groß und hielten sich fest, da sie doch sonst in anderen Jahren, wenn sie auch kamen, klein blieben und wieder abfielen.
Als der erste Schnee weg ging und der spätere, den mancher Apriltag noch nieder werfen wollte, sich nicht mehr halten konnte, als die Erde schon gelockert und gegraben werden konnte, kam der Obrist in unsere Gegend. Er hatte sich schier das ganze obere Hag eigentümlich gekauft, und begann an dem Eichenhage die Grundfesten eines Hauses aufwerfen zu lassen. Es war beinahe genau die Stelle, von der ich schon früher zuweilen gedacht hatte, daß hier eine Wohnung sehr gut stehen und recht lieblich auf die Wälder herum blicken könnte. Ich kannte den Obrist nicht. Ich wußte nur – und ich hatte es bei dem Wirte im Rothberge gehört, – daß ein fremder, reicher Mann in Unterhandlung um das obere Hag sei, und daß er sich ansässig machen wolle. Später sagte man, daß der Handel geschlossen sei, und man nannte auch die Summe. Ich hielt nicht viel darauf, weil ich solche Gerüchte kannte, daß sie bei wahren Veranlassungen gewöhnlich sehr gerne über die Wahrheit hinaus gehen, und ich hatte auch keine Zeit, mich an der wahren Stelle um den Sachverhalt zu erkundigen, weil jener Winter gerade viel mehr Kranke brachte als jeder andere. Im Frühlinge hieß es, daß schon gebaut werde, daß Wägen mit Steinen fahren, daß man im Sillerwalde das Bauholz behaue, welches der Zimmermann in Sillerau schon am vorigen Herbste hatte fällen lassen, und daß man bereits die Grundfesten grabe. Ich ging eines Nachmittages, da ich Zeit hatte, hinauf, weil es von meinem Hause nicht weit ist, und weil ich ohnedem gerne dort hinübergehe, wenn ich zum Spazieren eine kleine Zeit habe. Es war wahr, ich fand eine Menge Menschen mit Ausgrabungen an dem Platze beschäftigt, wo man das Haus bauen wollte. Die meisten kannten mich und lüfteten den Hut oder grüßten auf andere Weise. Viele von ihnen hatten bei mir gearbeitet, als ich in dem nämlichen Zustande mit meinem neuen Hause war. Hier aber wurde mit viel mehr Händen und mit viel mehr Mitteln zugleich angefangen, als wollte man in sehr kurzer Zeit fertig werden. Ich sah auch schon eine Menge Baustoff herbei geschafft, und in einer hölzernen Hütte wurde vielfach an den künftigen Tür- und Fensterstöcken gemeißelt. Sogar der Garten, der neben dem künftigen Hause sein sollte, wurde schon seitwärts des Eichenhages abgesteckt. Ich sah den Baueigentümer nirgends, und als ich fragte, antwortete man mir, er sei jetzt selten gegenwärtig, er sei nur einmal gekommen, habe alles besichtigt, und habe dann den weitern Verlauf des Werkes dem Baumeister aufgetragen. Wenn es aber wärmer werde, dann werde er ganz hieher kommen, werde in einem hölzernen Hause wohnen, das er sich neben dem Eichenhage errichten lasse, und werde im Herbste schon ein paar Stoben des neuen Hauses beziehen, die zuerst fertig sein und bis dahin gehörig austrocknen werden.
Ich sah mir die Sache, wie sie hier begonnen wurde, sorgfältig an, und der Plan, wie ihn mir der Werkführer auseinandersetzte, gefiel mir sehr wohl.
Ich fragte gelegentlich auch um den Bauherrn und erfuhr, daß es ein alter Obrist sei. Weiter wußten die Leute selber nichts von ihm.
Dann ging ich wieder in meine Wohnung hinunter.
Bilder: Hinter dem Mond, Terebilovski Blues.
Westsibirischer Dorfpunk auf dem Weg zum Weltruhm, 2010 bis 2018.
Soundtrack: Ringsgwandl: Winter, aus: Staffabruck, 1993:
Bonus Track: Die nicht warm genug zu empfehlenden My Bubba, von denen wir noch hören werden,
featuring Elsa Håkansson: Visa i Molom, live vermutlich im Winter 2016/2017:
Nachtstück 0025: Die Thurmuhr brummte Zwölf
Update zu Ausblick und
Ist das wieder ein Silvester!:
Die Muse will, daß ich mit einer Dichterin beschließen soll, die sich oft, und manchmal am unrechten Ort den Namen Sappho giebt. Ich würde diesen Frauenzimmereinfall nicht zur männlichen Wahrheit machen: wenn nicht die Bestimmtheit, mit der sie auf sich zeigt, es verriethe; einige ihrer Verehrer haben vielleicht ihre Bescheidenheit in diesen süßen Traum gewieget.
Wenn man die Gedichte der Mad. Karschin auch nur als Gemählde der Einbildungskraft betrachtet: so haben sie wegen ihrer vielen originalen Züge mehr Verdienst um die Erweckung Deutscher Genies, als viele Oden nach regelmäßigem Schnitt; ich will ihr auch so gar mehr einräumen, als ihr die Literaturbriefe gestatten; dem ohngeachtet aber kann ich doch fragen: ist sie Sappho?
Johann Gottfried Herder: Sappho und Karschin, aus: Ueber die neuere deutsche Litteratur: Zwote Sammlung von Fragmenten.
Beilage zu den Briefen, die neueste Litteratur betreffend, 1767.
Nowazembla ist die nordwestrussische Nowaja Semlja über der Oblast Archangelsk im Nördlichen Eismeer; die Fußnote zu Kocyt und Acheron geht:
Kocytos, der Fluß des Wehklagens, mit dem Acheron Flüsse der Unterwelt.
Flüsse des Wehklagens. Wir sehen uns am anderen Ufer.
——— Anna Louisa Karsch, „A. L. Karschin, geb. Dürbach“:
Das Abentheuer einer Winternacht.
vor 1792, in: Karl Heinrich Jördens, Hrsg.: Denkwürdigkeiten, Charakterzüge und Anekdoten aus dem Leben der vorzüglichsten deutschen Dichter und Prosaisten, Erster Band, bei Paul Gotthelf Kummer, Leipzig 1812:
Bild: Carl Christian Kehrer: Anna Louisa Karsch, 1791, Gleimhaus Halberstadt.
Soundtrack: The McCalmans: New Year’s Eve Song, aus: Honest Poverty, 1993,
Text zum Mitschmettern auf Ein neues Stiefelpaar for what you really are:
Blumenstück 003: Holdselige Ranunkel
Update zum Wunderblatt 7: Die Vegetation ist der negative Lebensprozeß. Vom ursprünglichsten Gegensatz zwischen Pflanze und Tier — und Emily und Emily
und Wunderblatt 9: Dies ist das Kaktusland:
Wenn die Reben wieder glühen,
Rühret sich der Wein im Fasse,
Wenn die Erbsen wieder blühen,
Weiß ich nicht, wie mir geschieht.Ludwig Tieck, a. a. O., Seite 95.
Einmal hab ich’s versucht: Es ist gar nicht so einfach, mit Absicht ein wirklich abgrundmieses Gedicht zu schreiben. Am zweitschwersten sind ordentliche Gedichte in aufsteigenden Qualitätsgraden, so mittel werden sie von selber; siehe auch: Kathryn und Ross Petras: Very Bad Poetry, Vintage Books 1997 (Kaufempfehlung!).
Arno Schmidt, der alles weiß, lässt genau vier „echte“ deutsche Romantiker gelten: Clemens Brentano, Friedrich de la Motte Fouqué, E.T.A. Hoffmann und Ludwig Tieck. Am wenigsten verwundert Fouqué, weil Schmidt über denselben 1958 die immer noch gültige Standard-Biographie geliefert hat; das Skandalöse an seiner extraknapp gehaltenen Liste ist eher noch, wen er alles nicht erwähnt: Eichendorff, Hölderlin, Novalis, beide Schlegels, Uhland, von Arnim – also die meisten, die unsereinem, die wir nicht gerade „zweimal zehntausend Arbeitsstunden“ (Selbstauskunft; das wären etwa zehn Arbeitsjahre) an eine abseitige Biographie gewandt haben, spontan einfallen mögen.
Ebenso unterschätzt wie vernachlässigt finde ich darunter Ludwig Tieck, der allemal mehr Spaß macht als, sagen wir, der überschätzte, überpräsente und dazu noch heillos überlebte Novalis, wenn man denn wirklich einmal auf Teile seines Werks stößt.
Sehr vereinzelt findet man noch den bedauernden Hinweis: „Eine umfassende Werkausgabe, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen könnte, gibt es nicht. Zum Teil muss man auf die Einzelausgaben oder die von Tieck selbst besorgte Ausgabe der Schriften zurückgreifen.“ Letztere ist von 1828 bis 1854. Selbst der Deutsche Klassiker Verlag hat bezeichnender Weise die auf zwölf Bände – und auf weitgehende Vollständigkeit – angelegte Gesamtausgabe von Ludwig Tieck nach fünf Bänden abgebrochen. Halbwegs aufzutreiben ist antiquarisch die vierbändige Winkler-Ausgabe von Marianne Thalmann, auch schon wieder von 1963 bis 1966. Die ist verdienstreich und wunderschön, beansprucht aber gar nicht erst, vollständig zu sein; unter anderem lässt sie die Gedichte weg.
Gerade Ludwig Tiecks Gedichte sind ein Verlust. Die gute Nachricht ist: Ruprecht Wimmer konnte vor dem Abbruch für die Bibliothek Deutscher Klassiker die Gedichte als siebten Band veranstalten, der sogar noch lieferbar ist; Verlagsbeschreibung: „Band 7 der neuen Tieck-Ausgabe versammelt erstmals alle Gedichte Tiecks und erschließt sie durch einen umfassenden Kommentar.“ Die schlechte Nachricht ist: Der Band kostet verlagsfrisch in Leinen mal kurz 76 Euro, in Leder 138. Irgendwas ist ja immer.
Um Arno Schmidts Einschätzungen über Ludwig Tieck nicht vollends ungenutzt liegen zu lassen, hören wir auf ihn und bemerken: Der Mann empfiehlt in seinem gesamten Werk spätestens aller „gefühlte“ fünfzig Seiten einmal Die Vogelscheuche von 1835 aufs allerwärmste. Im Druck ist diese „Mährchen-Novelle in fünf Aufzügen“ praktisch nicht vorhanden – außer in der Reihe Haidnische Alterthümer von Zweitausendeins 1979, die man erwischen muss – dafür als Einzel-Kindle 0 Euro, fragt sich nur, in was für einem Zustand. Online steht der Originaltext mindestens fünfmal (na gut, und in bekannter Zuverlässigkeit auf Gutenberg):
- als .pdf-Datei in der Referenzbibliothek bei der Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser;
- digitalisiert in der Bayerischen Staatsbibliothek München,
- als Vorlage fürs Google Book;
- noch einmal in der Bayerischen Staatsbibliothek München.
- Am meisten Spaß macht die Version zum Umblättern im Internet-Archiv.
Was wiederum Die Vogelscheuche im Zusammenhang mit Gedichten angeht, schlagen wir unser Haidnisches Alterthum von 1979 auf Seite 97 auf, um unsere kulturellen Verluste leichter zu verschmerzen. Wo Schmidt recht hat mit seiner nimmermüden Empfehlung, die er in jedem nur entfernt sich anbietenden Zeitungsartikel und Radiodialog unterbringt: Das Ding ist schon rein formal die reine Freude, weil die erzählende Prosa, aufgeteilt in die Akte und Szenen eines Theaterstücks, allerlei Auftritte wie Duette, Trios oder Chöre durchdekliniert. Die „Novelle“ zwischen realistischer und phantastischer Handlung umfasst ausführliche 400 Druckseiten, will also ausreden – aber nicht in nach allen Richtungen zerfasernden Assoziationen wie Jean Paul – ein anderer, höchst berechtigter Liebling von Schmidt –, sondern dicht mit wahren Kabinettstückchen vollgepackt.
Mit der auf Seite 98 besungenen Ranunkel ist vermutlich eine domestizierte Spielart des Asiatischen Hahnenfußes Ranunculus asiaticus) gemeint, dessen Wildform im östlichen Mittelmeerraum vorkommt, der aber im 19. Jahrhundert als mitteleuropäische Gärtnerpflanze beliebt war und auf den die Beschreibung „fein geblättert, sinnig, mit allen Farben prangend, und dennoch so bescheiden“ passt, und eben nicht die allzu artenreiche Gattung des Hahnenfuß Ranunculus innerhalb der schier unüberschaubaren Familie der Hahnenfußgewächse Ranunculaceae. Die Figur des Herrn Ledebrinna, ein ledergesichiger Unsympath und rücksichtsloser Emporkömmling, trägt vor:
——— Ludwig Tieck:
Große musikalische Gesellschaft.
Zweiter Aufzug. Dritte Scene,
aus: Die Vogelscheuche. Mährchen-Novelle in fünf Aufzügen. Erster Theil, Reimer, Berlin 1835,
cit. nach: ders.: Die Vogelscheuche. / Das Alte Buch und Die Reise ins Blaue hinein.
Mit einem Nachwort von Ulrich Wergin, Textredaktion Hanne Witte,
Reihe: Michael Bock, Hrsg.: Haidnische Alterthümer. Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, Band 4,
Zweitausendeins, Frankfurt am Main 1979, Seite 97 bis 100:
[…] Ich wüthe eigentlich nur, fuhr Ledebrinna fort, gegen die Rose, so wie gegen die Verehrer dieser ganz nichtsnutzigen Blume. Was ist denn Schönes oder Preiswürdiges an dieser Kreatur? Selbst die wild an den Zäunen wachsende ist nichts Vorzügliches, und doch liefert sie uns wenigstens noch die Hanbutte, die freilich auch, mit Zucker aufgekocht, oder eingemacht, nichts Sonderliches der gebildeten Zunge bietet. Glauben Sie aber nicht, daß ich so ganz einseitig nur einem wilden engherzigen Systeme folge. Ich weiß wohl Unterschiede zu machen, und einer Blume, die auch nichts weiter als eine solche ist, zolle ich meine unbedingte Huldigung, und möchte sie als Königin auf den Thron der Blüthenwelt setzen, den die unwürdige Rose schon seit lange usurpirt hat.
Und wer wäre das? fragte der Apotheker in der höchsten Spannung.
Kann es jemand anders seyn, erwiederte Ledebrinna, als die einzige, fein geblätterte, sinnige, mit allen Farben prangende, und dennoch so bescheidene Ranunkel?
Des Apothekers Gesicht erglühte hochroth in freudiger Ueberraschung. Ledebrinna aber zog ein Blatt mit Goldschnitt aus dem Busen und las:
Dir sei Preis, holdselige Ranunkel,
Denn du bist nach meinem Sinn
Doch der Blumen Königin,
Deiner tausend Farben Lichtgefunkel
Glänzt wie Frühling durch den Garten hin,
Du bedarfst nicht, nur die Rose sucht das Dunkel,
Thau und Feuchtigkeit der Nacht bringt ihr Gewinn,
Wenn es hell wird, bleicht die Röthe bald dahin:
Wozu also noch vom Rosenlob Gemunkel?
Es ist doch nur eiteles Geflunkel,
Lieber selbst ist mir die Rübe, Runkel,
Nein, Ranunkel,
Du bist aller Blumen Kaiserin,
Ros‘ und Lilie dienen höchstens nur als Kunkel-
Frauen deinem Thron, du bist und bleibst nach meinem schlichten Sinn
Die Königin
Der ganzen Blumenwelt, vielstrahlende Ranunkel!Mit dem letzten Worte verbeugte er sich und übergab dem Apotheker sein Gedicht. Dieser schloß den Dichter heftig in seine Arme und weinte laut. Die meisten wußten nicht, was sie von dieser Scene denken sollten, doch da Wilhelm bemerkte, wie sich Alexander und Amalie anlächelten und eine satirische Miene machten, hielt er sich nicht länger zurück, sondern lachte laut auf, da ihm das Gedicht, die Umarmung, Ledebrinna und der Apotheker äußerst komisch erschienen. Der Apotheker drehte sich unwillig um, und Ledebrinna warf nach seiner Art den Kopf schnell nach der Seite und rollte die dunkeln Augen. indem er mit den Armen schlenkerte. Der Magister Ubique, der das Lachen nicht bemerkt hatte, sagte mit seinem glatten Ton: Wahrlich, Herr von Ledebrinna, höchstverehrtester Freund, Sie haben uns da ein eben so originelles als großartiges Gedicht mitgetheilt, es erinnert an die schönsten Zeiten unsrer Poesie, ja auch durch den schlichten Vortrag an die Antike, und hätten Sie das elegische Sylbenmaaß, den Hexameter und Pentameter, beliebt, so zweifle ich, ob etwas in der Anthologie stehe, welches dieser lichten Geistesblüthe vorzuziehen sei. Auch an Göthe’s schönste Jugend-Periode erinnert uns dieser wahrhaft lyrische Schwung; die kühnen Uebergänge sind ganz in seiner besten Manier.
Reden Sie mir von Göthe nicht! rief Ledebrinna entrüstet aus, ich verbitte es mir, mit diesem Weichling, der unsere Moralität von allen Seiten untergraben hat, in irgend eine Parallele gestellt zu werden. […]
Bilder: via Abecedarian:
- Die Muskete, 1941;
- Paul Galdone für Margaret G. Otto: The Man in the Moon, 1957, detail;
- The Link, 1970;
- Fliegende Blätter, 1924.
Soundtrack: Tom Waits: Hold On, aus: Mule Variations, 1999:
Nachtstück 0023: Watch out, the world’s behind you
——— Hank Nagler:
Morgen
1993:
Die Kerzen brennen.
Nico singt vom Sonnenaufgang.
Bukowski säuft bei meinem Wein mit.
Die Angst vor dem Morgen,
zerflackert im Feuer der Dochte.
Lethargie vor den Konsequenzen.
Soundtrack: The Velvet Underground: Sunday Morning,
aus: The Velvet Underground & Nico, 1967 (lead vocals: Lou Reed):
Dornenstück 0001: Jesus liebt euch alle
Update zu Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten: denn Er ist nicht!:
Gestern haben wir den Günter († 52) begraben.
——— Günter „Jack“ Eckl:
J 16. 1 96
16. Januar 1996:
Ich spiele gerade mit dem Gedanken,
„Mein bestes Stück“ in Gips gießen zu lassen,
um der Nachwelt etwas zu hinterlassen,
worauf sie stolz sein kann.
Erst dann dürft ihr mich
in die Urne packen,
und meine Asche anbeten.
J 16 1 96
16. Januar 1996:
Blauschimmernd thront der Morgen vor meinem Fenster,
nicht unglücklich, nein, unnachgiebig,
Zigarettenqualm entsteigt dem marmornen Aschenbecher,
Starker, schwarzer Kaffee ergießt sich
in die Tasse…Warum können Morgen
nicht immer so ablaufen?Im ganzen Haus ist es still,
im Radio hört man leichte,
unaufdringliche Musik
ohne Ecken und Kanten,
einfach nur da,
um gespielt und im Vorbeigehen
gehört zu werden…Warum können Morgen
nicht immer so ablaufen?Draußen auf den Straßen
begrüßen sich wildfremde Menschen,
ein Selbstmord wird in diesen Stunden
nicht verübt,
junge Leute helfen Senioren über die Straße,
keine Vergewaltigungen, keine Morde,
keine Überfälle, keine ausländerfeindlichen Übergriffe,
keine willkürlichen Polizei-Einsätze, kein Ärger,
einfach nur…
ein blauschimmernd
schöner Morgen…Warum können Morgen
nicht immer so ablaufen?
J 1 3. 96
13. Januar 1996:
Zuviel thront oben in der großen Schwärze,
oder zu wenig…
ich weiß es nicht
die Mischung stimmt einfach noch nicht,
wie der Melitta-Mann jetzt sagen würde.
Meine Zahnbürste vereint sich mit Zahnweiß,
meine verstorbene Tochter
braucht noch nicht mal mehr das,
die Musik umarmt mich,
so gut sie kann,
selbst Helmut trägt in diesen Zeiten
Lack- oder Gummi-Unterwäsche,
was soll diese Welt noch?
Wo stecken die Innovationen,
Wo bleibt der letzte Kick?
Wer befreit die letzten Sklaven der Vernunft
endlich aus ihren notdürftig eingerichteten
Kapitalisten-Herbergen?
Wer fackelt endlich das Oktoberfest
pünktlich ab?
Wer buddelt wieder die Gräber zu
die man für eine verstörte, verunsicherte
zutief verängstigte Jugend
bereits ausgebuddelt hat?
Was soll diese Welt?
Was soll diese Zeit?Zerstört die Uhr der Zeit,
sie wirkt so unnatürlich
natürlich,
so billig,
so aufgesetzt, so inszeniert,
so plump, so aufgebläht.EIn Ochsenfrosch
klatscht ins Wasser,
zu dick, unbeweglich und leer,
um untergehen zu können,
trockengelegte Regenwälder machen’s möglich.Also keine Panik,
und vergeßt nicht:Jesus liebt euch alle
Buidl: Günter „Jack“ Eckl (* 13. Juli 1967; † 15. August 2019), Selbstportrait als Leonard Cohen;
Vignette: Paul Scheerbart.
Soundtrack: Leonard Cohen: You Want It Darker, aus: You Want It Darker, 2016:
A million candles burning
For the help that never came
You want it darker
We kill the flame.
Bonus Track: Johnny Cash: I Corinthians 15:55, aus: American VI: Ain’t No Grave, 2010:
Tod / wo ist deine Stachel? / Helle /wo ist dein Sieg?
Filetstück 0001: Vielleicht bis zum Meer
Update zu Happy 189th, Herman:
Herman Melville, * 1. August 1819; † 28. September 1891;
Fanny Morweiser, * 11. März 1940; † 18. August 2014.
Am Sonntag, den 1. August 1819, eine halbe Stunde vor Mitternacht, wird Herman Melville in New York City geboren. Er ist das dritte von bald acht Kindern der Eheleute Allan und Maria Gansevoort Melvill [sic]. Die Geburt findet unter ärztlicher Aufsicht zu Hause statt, in der Pearl Street Nr. 6, nur wenige Steinwürfe von der Battery an der Südspitze Manhattans entfernt. Am nächsten Morgen berichtet der stolze Vater seinem Schwager Peter Gansevoort von der Ankunft seines zweiten Sohnes: „unsere liebe Maria bewies ihre bekannte Tapferkeit in der Stunde der Gefahr, & es geht ihr so gut wie es die Umstände & die starke Hitze erlauben – und der kleine Fremdling hat gute Lungen, schläft gut & trinkt mit Maßen, er ist wirklich ein prächtiger Knabe.“
Daniel Göske: Herman Melville. Ein Leben,
Kapitel I: Harte Zeiten. Kindheit, Jugend, frühe Reisen (1819–1844), 1. Absatz.
O Rosa war mir vom ersten Satz an ein Lieblingsbuch. Meistens mit Erscheinungsdatum 1985 ausgewiesen, steht in meiner Ausgabe, vom Verlag gedruckt: 1983, und das kommt, wenn ich meine Biografie nach Büchern sortiere, viel eher hin: Das hatte meine zuständige Stadtbibliothek schon, als ich in der Neunten war. Und Fanny Morweiser klingt nach den Krimi-Ladies des frühen Diogenes-Verlags, als er noch hautpsächlich schwarz-gelb, meistens mit einer Tuschevignette von Paul Flora, Edward Gorey oder, ganz wichtig: Tomi Ungerer aufgemacht war und was getaugt hat: Patricia Highsmith, Margaret Millar, Dorothy L. Sayers, Muriel Spark oder wie die rechtschaffen zerlesenen, doch etliche Jahrzehnte überdauernden Haushaltsreste im „Zu verschenken !!!!“-Karton alle heißen. Eine Fanny Morweiser hätte genau in die Reihe gepasst, stammt aber tief aus Rheinland-Pfalz; viel deutscher geht’s nicht. O Rosa ist wie ihr restliches Werk ein nicht übersetztes, weil deutsches Original.
Die titelstiftende Rosa ist ein so goldiger, umfassend missmutiger Teenager mit Hang zum Punk und Gothic und so lebensnah gezeichnet, dass man den Fratzen ständig an die Wand klatschen will. Das geschieht aus einer mütterlich erwachsenen Sicht, dass man an ein reales Vorbild glauben möchte, eine nicht sehr zuträgliche Vorliebe für diesen einnehmend abstoßenden Menschenschlag ist mir leider bis heute geblieben. Der Stil gibt sich möglicherweise absichtlich etwas hausbacken harmlos, ist aber zu lakonisch, um als liebloses Lesefutter für unterforderte Hausfrauen durchzugehen. Die Kapitel funktionieren als eigenständige Kurzgeschichten, bilden aber den Handlungsbogen für einen Roman — nicht mit Pulp-Fiction-Loop, aber in dieser Raffinesse mit verloren gehenden und wiederkehrenden, handlungsübergreifenden Figuren hat das erst wieder Daniel Kehlmann in Ruhm 2009 gebracht — wobei ich die Morweiser in ihrem verinnerlichten Understatement sogar brillanter finde.
Ideal für den 200. Geburtstag von Herman Melville, fast gleichzeitig mit dem fünften Todestag von Fanny Morweiser, ist das vorletzte Kapitel:
——— Fanny Morweiser:
Der Badewannenwal
aus: O Rosa. Ein melancholischer Roman, Diogenes Verlag, Zürich 1983, Seite 129 bis 135:
Herbert nahm seinen Urlaub jedes Jahr zur gleichen Zeit. Meistens blieb er zu Hause. Wie seine Mutter, wie Busses, als sie noch lebten, wie Waenbeins und Illichs, die fanden, daß es nirgendwo schöner war. Nur Halil fuhr mit seiner ganzen Familie in die Türkei, um mit schrecklich kitschigen Andenken wiederzukommen.
Blieb Herbert aber zu Hause, hieß das noch lange nicht, daß er so weiterlebte wie sonst, außer daß er nicht zur Abriet ging, natürlich. Er verwandelte sich jedes Jahr für drei Wochen in eine Figur aus einem seiner Bücher. Seine Mutter spielte mit, soweit es ging. Ihr machte das nichts aus, im Gegenteil, der Sommer, in dem er Kipling liebte und Mahbub Ali war, hatte sie auf viele neue Ideen für exotisch gewürzte Gerichte gebracht; in seiner Zeit als Oblomow hatte sie kaum Wäsche, weil er den ganzen Tag in einem alten Schlafrock auf der Couch lag; am liebsten aber war ihr die Dickenszeit gewesen, da war er Mr. Pickwick mit einem Sofakissen unter der Weste, und sie hatten fast jeden Tag etwas unternommen, Ausflüge und Picknicks, sogar Kahnfahrten auf dem Neckar. Daß sie dabei die Rolle irgendeiner unsympathischen Frau, die ihr weiter kein Begriff war, hatte übernehmen müssen, war ihr egal gewesen. Schließlich hatte das keine anderen Folgen für sie gehabt, als daß Herbert ab und zu die Hände über die Augen gelegt und „… ach Mrs. Bardell“ geseufzt hatte.
So erwartete sie einigermaßen gespannt den ersten freien Morgen Herberts, an dem er als die Figur zum Frühstück erscheinen würde, die er dann drei Wochen blieb. Während sie zwei Weißbrotscheiben in den Toaster schob, überlegte sie, welches Buch sie in letzter Zeit in Herberts Zimmer hatte liegen sehen. Als sie ein Plätschern aus der Badewanne hörte, fiel es ihr ein. Moby Dick. Sie stellte Butter und Marmelade auf den Tisch und packte die fertigen Toastscheiben in ein Körbchen.
„Herbert“, rief sie, „das Frühstück ist fertig.“
Aus dem Bad kam keine Antwort, nur das Plätschern schien ihr lauter zu werden. Also ging sie ihn holen. Als sie die Badezimmertür öffnete, sah sie ihn splitternackt in der Wanne liegen, sogar die Brille hatte er abgenommen.
„Ich bin Moby Dick“, sagte er.
„Gut“, erwiderte sie sanft, „du bist Moby Dick. Aber wenn du nicht bald kommst, ist dein Kaffee kalt.“
„Ein paar Algen und etwas Tang wären mir lieber“, er spielte mit den Zehen, tauchte und kam prustend wieder hoch, „aber das wird sich wohl nicht machen lassen. Bring ihn also her.“
„Den Kaffee?“
„Und mein Frühstück.“ Er blinzelte sie aus rotumränderten Augen an. „Sonst stör mich bitte nicht mehr. Das ist hinderlich für die … die …“, er stotterte, „… Mutation.“
„Mutation“, murmelte sie vor sich hin, während sie in die Küche ging, seinen Wunsch zu erfüllen.
Diesmal fand sie Herberts Idee nicht die Spur lustig. Er blieb Tag und Nacht in der Badewanne und stieg nur heraus, wenn er aufs Klo mußte. Seine Haut begann aufzuquellen und einen kränklichen weißen Ton anzunehmen. Sie holte sich das Buch aus seinem Zimmer und las es an drei Nachmittagen durch.
„Du bist der erste Wal, der in eine Badewanne paßt“, erklärte sie nach beendigter Lektüre, als sie ihm das Abendessen brachte.
„Wie groß ist dann dein Kapitän Ahab? Soll ich dir eine von deinen Zinnfiguren bringen?“
Aber Herbert war für Scherze nicht zu haben.
„Laß mich“, sagte er, „laß mich doch. Wie sollst du das auch begreifen. Ich bin frei … ich bin groß … mir gehört das Meer. Nirgendwo stoß ich auf Grenzen.“
„Und ob du auf Grenzen stößt“, erklärte sie wild, „du bist so auseinandergegangen, daß die Wanne bald zu eng für dich sein wird.“
Unglücklich ließ sie ihn allein, um bei den Brüdern Meier Rat zu holen. Meier zwei öffnete ihr und führte sie auf die Loggia, wo sich Meier eins, unsichtbar für seine Umwelt, in einem Liegestuhl sonnte. Taktvoll schlang er sich ein Handtuch um den Bauch und rückte ihr einen Korbstuhl zurecht. Sein Bruder brachte eine Erfrischung in Form eines riesigen Glaskruges, gefüllt mit geeistem Weißwein, in dem Melonenstückchen schwammen. Irma trank ihr Glas mit geschlossenen Augen in langen dankbaren Schlucken auf einmal leer und entließ dann einen tiefen Seufzer.
„Seit vierzehn Tagen“, sagte sie, „freß ich’s in mich rein. Aber jetzt muß ich einfach mit jemandem reden.“
„Nur zu“, sagte Meier eins und füllte nach.
„Er spinnt“, sagte Irma anklagend und wies mit dem Zeigefinger nach oben. „Diesmal spinnt er wirklich. Er liegt Tag und Nacht in der Badewanne und denkt, er sei ein Fisch.“
„Ein Fisch?“
„Ein Wal. Ein weißer Wal.“
„Aha“, sagte Meier zwei und blickte seinen Bruder ratlos an.
„Er macht Tauchübungen“, fuhr Irma fort, „die letzte Woche wollte er nur noch Fisch und Grünzeug. Und gestern verlangte er einen Tintenfisch.“
„Wozu?“
„Um ihn zu essen“, jammerte sie.
„Die schmecken nicht schlecht“, meinte Meier eins, „paniert oder mit einer guten Sauce.“
„Er wollte ihn roh“, sagte Irma düster.
„Und hat er?“
„Er hat“, sagte sie und schüttelte sich.
„Dann werden wir ihn uns einmal ansehen“, erklärte Meier zwei entschieden. „Zieh dir was über, Bruder.“
Irma fischte die Melonenstückchen aus ihrem Glas, während Meier eins in die Wohnung ging, um sich fertigzumachen. Zu dritt, die schon leicht schwankende Irma zwischen sich, stiegen sie einen Stock höher. Die Wohnungstür war nur angelehnt, aus dem Badezimmer kam das Irma inzwischen nur zu gut vertraute Geplätscher. Sie übernahm die Führung und stieß die Tür zum Bad auf. Herbert blickte nicht einmal hoch, als sie zu dritt vor der Wanne standen. Er holte tief Luft, tauchte unter und blieb leise blubbernd, eine Ewigkeit, wie es ihnen schien, unter Wasser. Die Brüder betrachteten ihn nachdenklich. „Er ist dicker geworden“, sagte der eine.
„Kaum noch Hals“, der andere.
„Seine Augen sind ganz klein.“
„Und fast keine Ohren mehr.“
„Und die Füße. Siehst du die Füße?“ Interessiert beugten sie sich vor.
Irma setzte sich auf den plüschbezogenen Schemel, der neben dem Waschbecken stand, und begann zu weinen.
„Nicht doch, nicht doch“, sagte Meier eins, „in acht Tagen ist sein Urlaub vorbei. Dann muß er wieder in die Fabrik. Dann ist er wieder genau wie früher.“
„Ich glaub’s nicht. Ich glaub’s einfach nicht“, sagte Irma, schüttelte den Kopf und schnaubte in ein Handtuch, das gerade da hing.
~~~\~~~~~~~/~~~
Sie sollte recht behalten. In der dritten Woche sprach Herbert nicht einmal mehr mit ihr. Wenn sie ihm das Essen brachte, tauchte er auf und sah sie aus seinen winzigen Augen an, als erkenne er sie nicht. Und dann, in der Nacht, bevor er wieder zur Arbeit mußte, hörte sie ihn schwerfällig aus der Wanne steigen und mit feuchtem Tapp, Tapp durch die Wohnung wandern. Erst tat ihr Herz einen Sprung, weil sie einen Augenblick die Hoffnung hatte, er würde in sein Bett gehen, aber dann hörte sie die Flurtür, und es wurde schwer wie Blei. Langsam schob sie sich aus dem Bett und suchte ihre Pantoffeln. Sie machte Licht im Treppenhaus und ging der nassen Spur hinterher bis zu Meiers Tür. Dort schellte sie – ein paarmal –, bis ihr geöffnet wurde. An den erschrockenen Brüdern vorbei ging sie ins Wohnzimmer und trat ans Fenster.
„Da!“ sagte sie.
Unten ging Herbert über die schlüpfrige Wiese auf den Neckar zu. Aber eigentlich ging er nicht, er schob sich mehr, von einer Seite zur anderen schwankend, als wäre mit seinen Beinen etwas nicht in Ordnung. Als er im Nebel verschwunden war, legte Meier eins Irma tröstend den Arm um die Schulter. „Er war schon immer zu Größerem bestimmt“, sagte er.
Und Meier zwei, die Augen weit aufgerissen, um sich Herberts letzte Spuren für immer einzuprägen, flüsterte: „Wenn er so sehr geübt hat … so geübt … dann schafft er es vielleicht bis zum Meer.“
Bilder: Cover via Leipziger Antiquariat, 12. Juli 2019;
zweimal unsicheres Copyright, vermutlich gemeinfrei;
Skelett vom Wal, Meyers Konversationslexikon 1888.
Soundtrack: The Tellers: Second Category aus: Hands Full of Ink, 2007, video artwork by Deflower Prod.:
This ain’t Hollywood, life is never that good.
She won’t come back with love in her sack,
not a single picture of you in her wallet,
the letters you wrote aren’t pinned up her bed.
Nachtstück 0021: Нет хуже ада
Update zu Lästu dich zum Freien bitten?:
——— Richard Brautigan:
Phantom Kissmid-1950s, from:
|
——— Richard Brautigan: Phantomkußdeutsche Übersetzung:
|
|
Images: Illustration zum 1. Kapitel aus Leo N. Tolstoi: Auferstehung:
Missed Crimes. Pulp Rehash. Resurrection by Lev Tolstoy,
L’ombelico di Svesda, 31. März 2012;
eronsk.xxx, 30. November 2014.
Soundtrack: Patricia Kopatchinskaja & Fazıl Say: Beethoven: Kreutzersonate, Opus 47, 1802:
Nachtstück 0020: Im rauschenden Wellenschaumkleide (In dem düstern Poetenstübchen)
Update zu Süßer Freund, das bißchen Totsein hat ja nichts zu bedeuten:
Wir fahren fort in unserer Sammlung von Gedichten mit siebenzeiligen Strophen. Heinrich Heine, der es sich gar zu oft mit Assonanzen statt Reimen gar zu leicht macht — aber selbstverständlich anders gelagerte Qualitäten im Übermaß hat — liefert ein besonders geschickt gereimtes Exemplar im Schema ABABCCB. Als eine Art erweiterter Limerick, sechs Strophen lang variantenreich durchgehalten, ist das höchste Schule. Es folgt die Fassung aus dem Buch der Lieder 1827 in originaler Orthographie:
——— Heinrich Heine:
Prolog
zu: Lyrisches Intermezzo, 1822–1823:
aus: Tragödien, nebst einem Lyrischen Intermezzo, Ferdinand Dümmler, Berlin 1823,
in: Buch der Lieder, Hoffmann und Campe, Hamburg 1827:
Es war mal ein Ritter, trübselig und stumm,
Mit hohlen, schneeweißen Wangen;
Er schwankte und schlenderte schlotternd herum,
In dumpfen Träumen befangen.
Er war so hölzern, so täppisch, so links,
Die Blümlein und Mägdlein, die kicherten rings,
Wenn er stolpernd vorbeigegangen.Oft saß er im finstersten Winkel zu Haus;
Er hatt‘ sich vor Menschen verkrochen.
Da streckte er sehnend die Arme aus,
Doch hat er kein Wörtlein gesprochen.
Kam aber die Mitternachtstunde heran,
Ein seltsames Singen und Klingen begann.
An die Thüre da hört er es pochen.
Da kommt seine Liebste geschlichen herein,
Im rauschenden Wellenschaumkleide.
Sie blüht und glüht, wie ein Röselein,
Ihr Schleier ist eitel Geschmeide.
Goldlocken umspielen die schlanke Gestalt,
Die Aeugelein grüßen mit süßer Gewalt –
In die Arme sinken sich beide.Der Ritter umschlingt sie mit Liebesmacht,
Der Hölzerne steht jetzt in Feuer,
Der Blasse erröthet, der Träumer erwacht,
Der Blöde wird freier und freier.
Sie aber, sie hat ihn gar schalkhaft geneckt,
Sie hat ihm ganz leise den Kopf bedeckt
Mit dem weißen, demantenen Schleier.In einen kristallenen Wasserpalast
Ist plötzlich gezaubert der Ritter.
Er staunt, und die Augen erblinden ihm fast,
Vor alle dem Glanz und Geflitter.
Doch hält ihn die Nixe umarmet gar traut,
Der Ritter ist Bräut’gam, die Nixe ist Braut,
Ihre Jungfraun spielen die Zither.Sie spielen und singen; es tanzen herein
Viel winzige Mädchen und Bübchen.
Der Ritter, der will sich zu Tode freu’n,
Und fester umschlingt er sein Liebchen –
Da löschen auf einmal die Lichter aus,
Der Ritter sitzt wieder ganz einsam zu Haus,
In dem dustern Poetenstübchen.
Miniaturen: Stundenbuch der Jolante von Flandern, Paris ca. 1353–1363.
BL, Yates Thompson 27, fol. 52v,
via Discarding Images;
Livre de la Vigne nostre Seigneur, ca. 1450–1470. Bodleian Library, MS. Douce 134, fol. 42v,
via Discarding Images.
Soundtrack: Lucinda Williams Bonnie Portmore,
aus: Rogue’s Gallery: Pirate Ballads, Sea Songs, and Chanteys, Anti- Records 2006:
Nachtstück 0019: Noch weit beunruhigendere Betrachtungen
Update zu Unter sotanen Umständen:
——— Arno Schmidt:
Julianische Tage
Berichte aus der Nicht-Unendlichkeit, 1961,
Bargfelder Augabe III/4, Seite 91 f., Schluss,
in: Trommler beim Zaren, 1966:
Es gibt noch weit beunruhigendere Betrachtungen hier ! Setzen wir, daß man vom 5000. Tage an leidlich mit Verstand zu lesen fähig sei; dann hätte man, bei einem green old age von 20 000, demnach rund 15 000 Lesetage zur Verfügung. Nun kommt es natürlich ebenso auf das betreffende Buch, wie auch auf die literarische Aufnahmefähigkeit an. Das Kind schlingt seinen dicklichen MAY=Band in 2 Tagen hinunter (und die schönsten Stellen werden sogar mehrmals genossen); der Mann, tagsüber im Büro, oder hinter Pflug & Schraubstock, druckst, selbst bei bestem Willen, 3 Wochen lang über’m ‚WITIKO‘, den ihm ein sinniger Kollege empfahl. Sagen wir, durchschnittlich alle 5 Tage 1 neues Buch — dann ergibt sich der erschreckende Umstand, daß man im Laufe des Lebens nur 3000 Bücher zu lesen vermag ! Und selbst wenn man nur 3 Tage für eines benötigte, wären’s immer erst arme 5000. Da sollte es doch wahrlich, bei Erwägung der Tatsache, daß es bereits zwischen 10 und 20 Millionen verschiedener Bücher auf unserem Erdrund gibt, sorgfältig auswählen heißen. Ich möchte es noch heilsam=schroffer formulieren :
Sie haben einfach keine Zeit, Kitsch oder auch nur Durchschnittliches zu lesen :
Sie schaffen in Ihrem Leben nicht einmal sämtliche Bände der Hochliteratur !
Jaja, die ‚Julianischen Tage‘ : wieviel Sonnen haben Sie schon aufgehen sehen ? Wieviel Vollmonde unter ? Wieviel Tage trennen uns=heute von GOETHE’s Tod ? Wieviel von Christi Geburt : 1 Milliarde Morgenröten; oder nur 700 000 ?
„Des Menschen Leben währet 70 Jahre“ ? — sagen wir : 25 000 Julianische Tage.
Seelandschaft ohne Pocahontas: Arno-Schmidt-Stiftung: Recherchereise: Arno Schmidt 1953 auf dem Dümmer, via Georges Felten: Pornographie bei Arno Schmidt: Kunst oder Verbrechen? Vor sechzig Jahren geriet Arno Schmidt ins Visier der deutschen Justiz: Sein Roman „Seelandschaft mit Pocahontas“ stand im Verdacht, Pornographie und Gotteslästerung zu verbreiten. Ein Gastbeitrag, Frankfurter Allgemeine Zeitung 28. Juli 2016:
(‚Tag der Deutschn Einheit‘? : unvergleichlich geeignet zum Paddln !)
Zettel’s Traum, Seite 538, 1970.
Und bloß nicht den Namen dieses Nachbardorfes einprägen; jetzt noch nicht; mit 55 muß man das Gedächtnis für’s Notwendigste reservieren.
Kühe in Halbtrauer, 1961.
So wird das freilich nix.
Pass auf, der Schreiner hobelt jetzt und grad an deinem Schrein:
Hannes Wader, Reinhard Mey & Klaus Hoffmann: So trolln wir uns [Lied 21], aus: Liebe, Schnaps, Tod, 1996:
Nachtstück 0018: Es bedarf des Absurden (denn verstört ist der Weltlauf)
Update zum Feinsliebchen:
——— Theodor Wiesengrund Adorno:
Minima Moralia
Dritter Teil, 1946/1947, 128. Regressionen, Suhrkamp 1951, Seite 227 f.:
Seit ich denken kann, bin ich glücklich gewesen mit dem Lied: „Zwischen Berg und tiefem, tiefem Tal„: von den zwei Hasen, die sich am Gras gütlich taten, vom Jäger niedergeschossen wurden, und als sie sich besonnen hatten, daß sie noch am Leben waren, von dannen liefen. Aber spät erst habe ich die Lehre darin verstanden: Vernunft kann es nur in Verzweiflung und Überschwang aushalten; es bedarf des Absurden, um dem objektiven Wahnsinn nicht zu erliegen. Man sollte es den beiden Hasen gleichtun; wenn der Schuß fällt, närrisch für tot hinfallen, sich sammeln und besinnen, und wenn man noch Atem hat, von dannen laufen. Die Kraft zur Angst und die zum Glück sind das gleiche, das schrankenlose, bis zur Selbstpreisgabe gesteigerte Aufgeschlossensein für Erfahrung, in der der Erliegende sich wiederfindet. Was wäre Glück, das sich nicht mäße an der unmeßbaren Trauer dessen was ist? Denn verstört ist der Weltlauf. Wer ihm vorsichtig sich anpaßt, macht eben damit sich zum Teilhaber des Wahnsinns, während erst der Exzentrische standhielte und dem Aberwitz Einhalt geböte. Nur er dürfte auf den Schein des Unheils, die „Unwirklichkeit der Verzweiflung“, sich besinnen und dessen innewerden, nicht bloß daß er noch lebt, sondern daß noch Leben ist. Die List der ohnmächtigen Hasen erlöst mit ihnen selbst den Jäger, dem sie seine Schuld stibitzt.
Gewöhnen wir uns instrumental an die Melodie:
——— N. N. (anonym):
Zwischen Berg und tiefem, tiefem Tal
um 1825, Hessen und Umgebung von Elberfeld (Wuppertal):
Zwischen Berg und tiefem, tiefem Tal
saßen einst zwei Hasen,
fraßen ab das grüne, grüne Gras,
fraßen ab das grüne, grüne Gras
bis auf den Rasen.Als sie sich dann sattgefressen hatten,
setzten sie sich nieder,
bis daß der Jäger, Jäger kam,
bis daß der Jäger, Jäger kam
und schoß sie nieder.Als sie sich dann aufgesammelt hatten
und sich besannen,
daß sie noch am lieben Leben waren,
daß sie noch am lieben Leben waren,
liefen sie von dannen.
Herrschaften, ist das ein schönes Lied. Wo er recht hat, hat er recht, der Adorno: Es ist anrührend schlicht, kurz gefasst, damit jeder sofort alles versteht — und leichtherzig darüber hinwegsieht, dass die überraschende Schlusswendung auf kindliche Weise dramaturgisch durch schon mal gleich überhaupt gar nichts motiviert ist — und mit seinem urtümlichen Thema so allgemeingültig, dass es einem nicht egal sein kann. Ein Volkslied im besten Sinne: archaisch und fragloser Bestandteil der Welt.
Ich selber wusste nichts davon, bis ich in den Minima Moralia daüber gestolpert bin — wenn man Adorno schon mal beim Erzählen von Schwänken aus seiner Kindheit antrifft. Und da kommt die besondere Qualität des Volkslieds rein: Es wird nämlich einen Grund haben, dass ein so betont einfältiges Liedchen seit 1825 — andere Stellen sagen: um 1800 — überliefert wird und auf dem unzuverlässigen Boden des Volksmundes mit seinem anderweitig beschäftigten Gedächtnis so lange überlebt.
Die sotane Qualität und gar noch ihr Grund gehören zum Schwersten, was sich dingfest machen lässt. Egal womit man sie benennt, irgendjemand verdreht immer die Augen und bricht in Begründungen des Gegenteils aus, so schnell und so polemisch wie sonst nur noch bei Glaubensfragen. „Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott!“ (Faust) oder Natur oder kollektives Bewusstsein — etwas hat dazu gereicht, dass sich ein deutscher Professor der Philosophie im kalifornischen Exil daran erinnert — und aus der Kindheitserinnerung eine neue Interpretation zieht. Das gelingt nicht vielen Kunstformen, so eine Tragfähigkeit entsteht nicht durch eine einzige dünne Bedeutungsebene.
Das Lied von zwei Hasen ist üppig veryoutubt; die schönste Version ist die von einem gemischten Chor unausgebildeter Stimmen — die der Heidnischen Gemeinschaft im Berlin-Weddinger Deichgraf —, die dem Lied das leise, dabei unüberhörbare Knirschen zwischen Tod und Lebenslust unbefangen gelten lässt, weil es genau so stimmt:
Bild-Edit: statt Julia Stella Gretchen Hä für Adorno Ultras:
Anand Angrg: Adorno Changed My Life, 17. Juni 2017
jetzt: Manabozho: Little Teddie’s favourite song, 25. August 2017, via Hans Peter Litscher, 19. November 2021.
Nachtstück 0017: Von der Anmaßung erstaunlicher Vorzüge
Update zu Zwischenmaschine,
1. Stattvent: Traudl (Mütter, euch sind alle Feuer, alle Sterne aufgestellt)
und Solch ein Gewimmel möcht ich sehn:
Zur Erinnerung: Das ist von 1786. La grande révolution war erst ab 1789, und dabei ist Moritz nicht einmal als besonders revolutionär hervorgetreten. Nur als anständig.
——— Karl Philipp Moritz:
Das Edelste in der Natur
aus: Denkwürdigkeiten aufgezeichnet zur Beförderung des Edlen und Schönen,
Johann Friedrich Unger, Berlin 1786 (Auszug):
Daß ich denke und den Werth meines Daseyns fühle, will ich nicht dem Zufall danken, der mir gerade unter dem Theile des Menschengeschlechts einen Platz anwieß, der sich den gesitteten Theil nennt — ich stelle mich auf die unterste Stufe, worauf mich der Zufall versetzen konnte, und gebe keinen von meinen Ansprüchen auf die Rechte der Menschheit nach. Ich fordre so viel Freiheit und Muße, als nöthig ist, über mich selbst, über meine Bestimmung, und meinen Werth als Mensch, zu denken.
Eins der größten Uebel, woran das Menschengeschlecht krank liegt, ist die schädliche Absonderung desselben, wodurch es in zwei Theile zerfällt, von welchen man den einen, der sich erstaunliche Vorzüge vor dem andern anmaßt, den gesitteten Theil nennt.
Dieser Theil scheint sich für den Zweck der Schöpfung, und alle übrige Menschen für untergeordnete Wesen zu halten, die deswegen im Schweiß ihres Angesichts die Erde bauen, damit es Rechtsgelehrte, Staatsmänner, Priester, Künstler, Dichter und Geschichtschreiber geben könne, von deren geistigen Beschäftigungen, und verfeinerten Vergnügungen, jene Bebauer des Feldes nicht einmal die Nahmen wissen.
Aber auch selbst in den gesitteten Ständen betrachtet immer ein Theil den andern mehr als bloß brauchbare und nützliche Wesen — so denkt man sich immer einen Theil von Menschen, als ob er bloß um des andern willen da wäre — dieß geht ins Unendliche fort, und warum denn nun zuletzt alle da sind, bleibt unausgemacht. —
Diese falsche Vorstellungsart hat fast in alle menschlichen Dinge eine schiefe Richtung gebracht. — Die herrschende Idee des Nützlichen hat nach und nach das Edle und Schöne verdrängt — man betrachtet selbst die große erhabne Natur nur noch mit kameralistischen Augen, und findet ihren Anblick nur interessant, in so fern man den Ertrag ihrer Produkte überrechnet —
Bei der Einrichtung der Stände und Gewerbe, ist nicht die Frage, in wie fern dieser Stand oder dieß Gewerbe auf die Menschen die es treiben zurückwirkt, den Körper und den Geist schwächt oder gesund erhält, und die Endzwecke der Natur zur Bildung des menschlichen Geistes hintertreiben oder befördern hilft — sondern man scheint immer einen Theil der Menschen als ein bloßes Werkzeug in der Hand eines andern zu betrachten, der wieder in der Hand eines andern ein solches Werkzeug ist, und so fort. —
Beiträge zum Sozialistischen Realismus: V. Tishkin, Postkarte 1955,
via Soviet Postcards. Vintage Paper from Russia, 8. August 2017;
Andrej Gorskij: Bez vesti Propavschij, 1946, via Igorusha, 7. Mai 2018;
The Means of Production, via Those With Guts Need No Plan, 2016.
Sozialistischer Realismus in der Musik:
Dmitri Schostakowitsch: Walzer Nr. 2, frühe 1950er Jahre,
die glaubwürdigste aller Versionen von Oliver Nowak an Mandoline, Gitarre und Banjo,
Aufnahme aus der irischen Arbeiterstadt Limerick, 2017:
Nachtstück 0016: Du nicht
Update zu Des eigenen Herzens süße Melodie und
Jean Paul, sein erster Kuss, meine Bedienung und ich:
Heb Dich weg und küss mich nicht!
in: Mein Lied (Vollständige Sammlung).
Über 180 Titel in einem Buch:
Heimat + Liebe + Welt + Hölle + Himmel,
Musaicum Books — Innovative digitale Lösungen
& Optimale Formatierung —
2017 OK Publishing:
Heb‘ Dich weg und küss‘ mich nicht!
Du nicht, ich bitte Dich,
Ein Kuß von Dir — o, küss‘ mich nicht!
Ein Kuß, er wär‘ mein Tod.
Kleine Schelmin, lächle nicht!
Du nicht; — blick‘ mich nicht an!
Das traute Du, o nenn‘ es nicht!
Sprich nichts, kein Wort zu mir!
O laß mich gehn, berühr‘ mich nicht!
Ich weiß, mein Kind, Du liebst mich nicht.
Und ist nicht auch die Seele mein,
Den Leib allein, den mag ich nicht.
Sprich nichts, kein Wort zu mir:
Paloma Lanna Wool via Surmise-en-scene,
13. November 2014.
Den Leib allein, den mag ich nicht:
Hundreds: Spotless, aus: Wilderness, 2016:
Nachtstück 0015: Bis die Zeit auch Dich verspeist
Update zu Damit du siehst, wie leicht sich’s leben läßt
und Nachtstück 0011: Weiß ich nur, wer ich bin:
——— Joseph von Eichendorff:
Intermezzo.
1810, gesammelt in: Gedichte, Berlin 1837:
Wie so leichte läßt sich’s leben!
Blond und roth und etwas feist,
Thue wie die andern eben,
Daß Dich jeder Bruder heißt,
Speise, was die Zeiten geben,
Bis die Zeit auch Dich verspeist!
Muss auch mal sein: ein vielfach Hurra für gestandene Weibsbilder in allen Farben und Formen!
Die Wölfin meint: „Alle Achtung, mein Lieber. Die drei Grazien von hinten sehen, das feiert nicht jeder als Leichtigkeit und Lebenslust.“
„Man gewöhnt sich dran. Das Ende war schon immer nahe.“
„Aber selten so gut sichtbar.“
„Jetzt hab ich Angst.“
„#MeToo.“
Dass dich jeder Schwester heißt: Fotografia erotica, autore: non trovato. Ein Jammer.
Blond und rothe Mutter & Tochter: The Judds Farewell Concert,
4. Dezember 1991 in Murfreesboro, Tennessee:
Nachtstück 0014: Nun kommt der Frühling (Daß ich weine!)
Update zu Zwetschgenzeit (Du bist gemeint),
Grabesdunstwitterlich,
Der Dr.-Faustus-Weg: Polling–Pfeiffering und wieder weg
und Menschenhaß! Ein Haß über ein ganzes Menschengeschlecht!
O Gott! Ist es möglich, daß ein Menschenherz weit genug für so viel Haß ist!:
Helmut Sembdner, der nachzuweisen versucht hat, daß Kleist der Autor dieses Scherzrätsels ist, hat das Gedicht in seinem Aufsatz „Neuentdeckte Schriften Heinrich von Kleists“ als „anspruchslosen Lückenbüßer“ bezeichnet und dieses Verdikt auch im Stellenkommentar seiner Ausgabe wiederholt, wo es nun wirklich nichts verloren hat.
Walter Hettche: Die journalistische Funktion der Gedichte
in Kleists „Berliner Abendblättern“, 26. Oktober 2011.
——— Heinrich von Kleist:
Kleine Gelegenheitsgedichte
aus: Phöbus, September/Oktober 1808:
Jünglingsklage
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Mädchenrätsel
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Katharina von Frankreich(als der schwarze Prinz
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Jünglingsklage
1808, nach verschollener Handschrift
in: Wilhelm Neumann (Hrsg.): Die Musen. Norddeutsche Zeitschrift, 1814, ohne Überschrift:
Winter so weichst du,
Pfleger der Welt
Der die Gefühle
Ruhig erhält.
Nun kommt der Frühling,
Thymianhauch,
Nachtigallnlauben,
Wehmut, du auch!
Bilder:
- Alex & Erwan in: La fille renne: Intimity/Proximity, Januar/12. März 2015:
This new photographic project plays with different variations of intimity and proximity. The intimity of someone alone or his intimacy with another people, the proximity between two people or with the photographer, which is like a intrusion. The intimity is warped by the presence of the photographer, but it’s the game.
- Floris Neusüss: Schrankpaar, 1959;
- Noir Division: Va-t’en, 6. April 2017;
- Susan Meiselas: Self Portrait. 44 Irving St. Cambridge, Massachusetts, 1971,
via Zero Focus, 21. Januar 2018.
Nachtstück 0013: It merely takes brains to outsmart these dumb critters!
Update zu Doktor Faustus goes Science Fiction
und Weihnachtsgabe:
Für Dipl.-Ing. FH Markus H. (50):
Selbst die nicht einfach kongeniale, sondern schlichtweg geniale Übersetzerin und Wegbereiterin moderner alltagssprachlicher Ausdrucksweisen Frau Doktor Erika Fuchs schöpfte nicht allein aus ihrem eigenen Inneren, sondern war auf Ideenzufuhr von außen angewiesen. Ihren Ehemann Dipl.-Ing. Günter Fuchs, der sie bei technischen Übersetzungspassagen beraten und mit mancher klassisch-literaischen Anspielung versorgen konnte, betrachtete sie als eine Art hiesige Entsprechung zum Entenhausener Daniel Düsentrieb.
Ihr bekanntester Satz „Dem Ingeniör ist nichts zu schwör“, der ihr meistens als Standardbeispiel für stilprägende Urheberschaft zugeschrieben wird, ist eine Ableitung von Heirich Seidel, die offenbar prächtig auf den angetrauten Ingenieur passte, und den sie über die Arbeitsjahre hinweg öfter verwenden konnte. Immer wird der Satz von Daniel Düsentrieb zur Selbstbeschreibung gesprochen, niemals schreibt Fuchs, wie gerne nachlässig kolportiert wird, „Inschinör“.
——— Heinrich Seidel:
Ingenieurlied
1871, aus: Glockenspiel. Gesammelte Gedichte, A. G. Liebeskind, Leipzig [Erstauflage] 1889,
in: Akademischer Verein Hütte e.V. (Hrsg.): Kommers-Buch für Studierende Deutscher Technischer Hochschulen, Verlag von Eisoldt & Rohkrämer, 11. Auflage, Berlin 1904,
III. Abteilung: Technische Lieder, Lied 318. (295.), Notenheft Nr. 57:
Singw.: Krambambuli das ist der Titel etc.
Dem Ingenieur ist nichts zu schwere –
Er lacht und spricht: „Wenn dieses nicht, so geht doch das!“
Er überbrückt die Flüsse und die Meere,
Die Berge unverfroren zu durchbohren ist ihm Spass.
Er thürmt die Bogen in die Luft,
Er wühlt als Maulwurf in der Gruft,
Kein Hinderniss ist ihm zu gross –
Er geht drauf los!Den Riesen macht er sich zum Knechte,
Dess‘ wilder Muth, durch Feuersgluth aus Wasserfluth befreit,
Zum Segen wird dem menschlichen Geschlechte –
Und ruhlos schafft mit Riesenkraft am Werk der neuen Zeit.
Er fängt den Blitz und schickt ihn fort
Mit schnellem Wort von Ort zu Ort,
Von Pol zu Pol im Augenblick
Am Eisenstrick!
Was heut sich regt mit hunderttausend Rädern,
In Lüften schwebt, in Grüften gräbt und stampft und dampft und glüht,
Was sich bewegt mit Riemen und mit Federn,
Und Lasten hebt, ohn‘ Rasten webt und locht und pocht und sprüht,
Was durch die Länder donnernd saust
Und durch die fernen Meere braust,
Das Alles schafft und noch viel mehr
Der Ingenieur!Die Ingenieure sollen leben!
In ihnen kreist der wahre Geist der allerneusten Zeit!
Dem Fortschritt ist ihr Herz ergeben,
Dem Frieden ist hienieden ihre Kraft und Zeit geweiht!
Der Arbeit Segen fort und fort,
Ihn breitet aus von Ort zu Ort,
Von Land zu Land, von Meer zu Meer –
Der Ingenieur!
Bilder: It merely takes brains to outsmart these dumb critters!: 1954;
Dem Ingeniör ist nichts zu schwör: 1954; 1955/1958; 1964 Disney/Egmont Ehapa,
mit besonderem Dank an die Dr.-Erika-Fuchs-Stiftung im Erika-Fuchs-Haus, Museum für Comic und Sprachkunst, Schwarzenbach an der Saale, und D.O.N.A.L.D.; LinkedIn.
Soundtrack: Eddie Vedder: Guaranteed, aus: Into the Wild, 2007
(„I knew all the rules but the rules did not know me“):
Nachtstück 0012: Wie es enden wird, vermag ein irdischer Verstand nicht zu ergründen
Update zu Damals gab es keine:
——— Adalbert Stifter:
Der Nachsommer
Kapitel Das Fest, 1857:
Wie wird es sein, wenn wir mit der Schnelligkeit des Blitzes Nachrichten über die ganze Erde werden verbreiten können, wenn wir selber mit großer Geschwindigkeit und in kurzer Zeit an die verschiedensten Stellen der Erde werden gelangen, und wenn wir mit gleicher Schnelligkeit große Lasten werden befördern können? Werden die Güter der Erde da nicht durch die Möglichkeit des leichten Austauschens gemeinsam werden, daß allen alles zugänglich ist? Jetzt kann sich eine kleine Landstadt und ihre Umgebung mit dem, was sie hat, was sie ist, und was sie weiß, absperren, bald wird es aber nicht mehr so sein, sie wird in den allgemeinen Verkehr gerissen werden. Dann wird, um der Allberührung genügen zu können, das, was der Geringste wissen und können muß, um vieles größer sein als jetzt. Die Staaten, die durch Entwicklung des Verstandes und durch Bildung sich dieses Wissen zuerst erwerben, werden an Reichtum, an Macht und Glanz vorausschreiten und die andern sogar in Frage stellen können. Welche Umgestaltungen wird aber erst auch der Geist in seinem ganzen Wesen erlangen? Diese Wirkung ist bei weitem die wichtigste. Der Kampf in dieser Richtung wird sich fortkämpfen, er ist entstanden, weil neue menschliche Verhältnisse eintraten, das Brausen, von welchem ich sprach, wird noch stärker werden, wie lange es dauern wird, welche Übel entstehen werden, vermag ich nicht zu sagen; aber es wird eine Abklärung folgen, die Übermacht des Stoffes wird vor dem Geiste, der endlich doch siegen wird, eine bloße Macht werden, die er gebraucht, und weil er einen neuen menschlichen Gewinn gemacht hat, wird eine Zeit der Größe kommen, die in der Geschichte noch nicht dagewesen ist. Ich glaube, daß so Stufen nach Stufen in Jahrtausenden erstiegen werden. Wie weit das geht, wie es werden, wie es enden wird, vermag ein irdischer Verstand nicht zu ergründen. Nur das scheint mir sicher, andere Zeiten und andere Fassungen des Lebens werden kommen, wie sehr auch das, was dem Geiste und Körper des Menschen als letzter Grund inne wohnt, beharren mag.
Anmerkung: Adalbert Stifter (gestorben am 28. Januar 1868) ist 23 Jahre älter als Jules Verne (geboren am 8. Februar 1828) — der meines Wissens nie das Internet „vorweggenommen“ hat. Aber sonst nächst Gott und Leonardo da Vinci so ziemlich alles.
Nachträglich angenehme Ruhe zum 150. Todestag, et mes félicitations au 190e anniversaire, maîtres.
Welche Umgestaltungen wird aber erst auch der Geist in seinem ganzen Wesen erlangen?: Rembrandt van Rijn: Die Nachtwache, 1642, Öl auf Leinwand, 363 cm × 437 cm, Rijksmuseum Amsterdam,
via The Adventures of Accordion Guy in the Twenty-First Century:
Nothing to see here…or is there?, 31. März 2015.
Soundtrack: Ajde Jano: The Story, 2017. Unterstützet auch Oliver Nowak an Mandoline, Gitarren, Saz und Moviemaker nebst King John, die miteinander Jack’s Compass bilden. Aufgenommen und filmed on location of Limerick, County Limerick, 2017. Die Moral stimmt immer:
Nachtstück 0011: Weiß ich nur, wer ich bin
Update zu Schwatzen nach der Welt Gebrauch
und Was tat der Eitele, ein Emo zu scheinen?:
——— Gotthold Ephraim Lessing:
Ich
Stammbuch, unterschrieben „Wittenberg den 11. Oct. 1752. Gotthold Ephraim Lessing.“ [23-jährig];
Erstdruck in: Obersächsische Provinzialblätter, 15. Band, Altenburg 1804:
Die Ehre hat mich nie gesucht;
Sie hätte mich auch nie gefunden.
Wählt man, in zugezählten Stunden,
Ein prächtig Feierkleid zur Flucht?Auch Schätze hab ich nie begehrt.
Was hilft es sie auf kurzen Wegen
Für Diebe mehr als sich zu hegen,
Wo man das wenigste verzehrt?Wie lange währts, so bin ich hin,
Und einer Nachwelt untern Füßen?
Was braucht sie wen sie tritt zu wissen?
Weiß ich nur wer ich bin.
Beim Erstdruck war Lessings Gedicht eingeleitet:
Er improvisirte oft (in Wittenberg) an geselligen Abenden in Versen, und schrieb stehenden Fußes seinen Freunden ein Andenken in die Bücher, wie es ihm eben die augenblickliche Stimmung aus der Seele lockte. Folgendes leichtmüthige Lebensgnomon gab er so in das Stammbuch eines seiner Wittenberger Universitätsbekannten (des verstorbenen OK. H. zu L. in Thüringen), welches Ich zur Aufschrift hat, und mit so äußerst flüchtigem Federzuge hingeworfen ist, daß man selbst einige Interpunctionszeichen vergessen oder unrichtig gesetzt findet (auch im 2. Verse der 2. Strophe das Wörtchen sie wie die gelesen werden kann, weil es ein s und d zugleich ist).
Weiß sie nur wer sie ist: Reading Girl, mit der Lomo LC-A, 9. April 2006;
Soundtrack: Polina Tschischik in Tom Waits: Watch Her Disappear aus: Alice, 2002:
Nachtstück 0010: Dieses Zucken im Zwerchfell
——— Juli Zeh:
Griffe und Schritte
in: Adler und Engel, 2001:
Auf der Autobahn dreht sie das Radio an und wippt den Kopf im Takt. Im Dunkeln sehe ich, dass sie lächelt.
Das Leben ist merkwürdig, flüstert sie, es besteht eigentlich nur aus Griffen und Schritten. Ein paar wenige davon und schon ist alles anders.
Ich spüre es wieder, dieses Zucken im Zwerchfell.
Soundtrack: The Byrds: Wasn’t Born to Follow, aus: The Notorious Byrd Brothers, 1968:
Nachtstück 0009: Dieselben Finger
Update zu Japanischer Frühling (Hammer):
Nach keiner Idee von Kathrin Bach von Anakoluth:
——— 谷川俊太郎: ポルノ・バッハ1996:
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——— Shuntaro Tanikawa: Porno-Bachnach Bach in Arts — Hommage a Bach, 1996:
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Bild:David Ramirer: Collage #107, 2004;
Wohltemperiertes Clavier, Buch 1: HJ Lim, 22. September 2014:
Nachtstück 0008: Am oberen Zinnrande eines Bierkrugs
Update zu den Nachtstücken 0002 und 0004:
——— Karl Leberecht Immermann:
aus: Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken, 1839,
Erstes Buch: Münchhausens Debüt. Vierzehntes Kapitel:
Die Nacht hatte inzwischen den ersten Strahlen des Frühlichts Raum gegeben, welche den Ofen und die Bänke der Wachtstube mit gelbrötlichen Streifen säumten. Unvergleichlich war die Wirkung eines scharfen Schlaglichtes am oberen Zinnrande eines Bierkrugs, von welchem ein seltsamer, aber verstandner Reflex den Knopf des Feldwebelstocks traf, welcher darüber am dritten Haken hing. Überall tiefe, satte Farbentöne, klare, durchsichtige Schatten! Die Wachtstube schien keine wirkliche Wachtstube zu sein, sie war heute mehr, sie war eine gemalte.
Bilder: David Teniers der Jüngere: Eine Wachtstube, ca. 1642, Walters Art Museum, Baltimore, Maryland;
derselbe: Wachtstube mit der Befreiung Petri, ca. 1645–1647, Metropolitan Museum of Art, New York.
Die 104 Minuten Nachtwache Nachtwache (nur echt ohne „Die“), Neue Deutsche Filmgesellschaft-Filmaufbau GmbH, Göttingen 1949, sind leider flächendeckend getilgt, Because the Night, aus: Patti Smith: Easter, 1978, am kurzweiligsten live:
Nachtstück 0007: Gespräch mit einem frischerstandenen Vampyren (was niemand hören wollte)
Update zum Nachtstück 0006: Nachtstück 0006: Sie fielen alle über mich her, da dacht‘ ich: nun so hört zu und zu den vier unbekannten Mengen
nach Idee, Vorschlag und Motiven unseres Lesers Thomas Faulhaber
mit Bildmaterial nach Johann Heinrich Füssli: Der Nachtmahr, 1781:
——— Faust 1, Zueignung, Vers 17 ff.:
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——— Faust 2, Weitläufiger Saal, mit Nebengemächern, verziert und aufgeputzt zur Mummenschanz, Vers 5295 ff.:
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Soundtrack: Anton Bruckner: Nullte Symphonie, WAB 100, 1869,
besonders der 2. Satz: Andante:
Frischerstandene Vampyre:
- Johann Heinrich Füssli: Der Nachtmahr, 1781;
- Alex van Warmerdam: Borgman, 2013;
- Carl Theodor Dreyer: Vampyr – Der Traum des Allan Gray, 1932;
- James Whale: Frankenstein, 1931;
- Ken Russell: Gothic, 1986.
Nachtstück 0006: Sie fielen alle über mich her, da dacht‘ ich: nun so hört zu
Update zu Hört zu und berstet vor Langerweile
und Nachtsück 0005:
Sie fielen alle über mich her, da dacht‘ ich: nun so hört zu und berstet vor Langerweile.
E.T.A. Hoffmann: Johannes Kreisler’s, des Kapellmeisters, musikalische Leiden, 1810.
Weil ich’s versprochen hab: Nach eineinhalb Jahren musste ich mal wieder die Playlist für Johannes Kreisler’s, des Kapellmeisters, musikalische Leiden von E.T.A. Hoffmann 1810 auf kaputte Links durchschauen.
Den Weg alles Digitalen waren das Ach ich liebte aus dem Serail und Lodi al gran Dio aus La Betulia liberata gegangen, beide von Mozart, und einen Link hatte ich von Anfang an vertippt (nein, jetzt, wo ich ihn repariert hab, verrat ich nicht mehr, welchen). Es ist schön, nach ein paar Monaten auf dergleichen zu stoßen, vor allem, wenn man Ersatz schaffen kann. Es hilft beobachten, in welchem Tempo das Internet, zumal YouTube, den Bach runtergeht, und in der Folge einschätzen, bis wann man alles, was man noch gehört haben will, gehört haben muss, bevor jeder Gedanke an Musik lizenzpflichtig und jedes Abspielen endgültig illegal geworden ist.
Vorläufig bleibt das Lieblingsvideo aus der o.a. Playlist das erste: Patricia Petibon beim Versuch, die Königin der Nacht zu meistern. Sie scheint eine wirklich Nette, und das Training in der Kempener Paterskirche war für ihr Amoureuses von 2008, da kann sie’s vielleicht schon heute.
Und wo ich schon dabei war, hab ich auch gleich die dahingegangenen Bachschen Inventionen und Sinfonien von Glenn Gould aus Engführung in mikrokosmisch strukturiertem Material (musikalisches Lustspiel) gefixt. Ganz anders, auch wunderschön. Aus den YouTube-Playlisten ist heute schon keine vollständige legale Sammlung mehr aufzutreiben. Für Österreich, Nordkorea oder den Iran möglicherweise schon, für Deutschland eben nicht.
Bild: Milo Manara, mutmaßlich mit einem Mozart auf dem T-Shirt, und spätes Novecento. Erkennt jemand aus dem Notenbild, das die Dame vor sich liegen hat, die Musik?
Da capo:
Nachtstück 0005: Cats and dogs are not our friends (They just pretend)
Update for Nunc dimittis mit Fried und Freud
and Start quoting him now:
Another Shakespearianum because it is his 400th death anniversary, since following the Gregorian calendar, which was „adopted in Catholic countries in 1582, Shakespeare died on 3 May [1616].“
I had rather be a kitten and cry mew
Than one of these same metre ballad-mongers.Hotspur: History of Henry IV, Part I, III,1, 1671 f., 1597.
I had rather be a dog, and bay the moon,
Than such a Roman.Brutus: The Tragedy of Julius Caesar, IV,3,1997 f., 1599.
Images: Susan Herbert: Shakespeare Cats, 2004
via She Who Seeks: Raising the Tone of This Blog, February 1st, 2015;
Yapatkwa: Julius Caesar Dog Art Print 20x28cm, out of stock.
Soundtrack: Camille: Cats and Dogs, from: Music Hole, 2008:
Nachtstück 0004
Update eher zum Nachtstück 0002 denn zum Nachtstück 0003:
Wir sind hier ein Habe-nun-Ach, kein Warte-nur-balde.
Gegeben zu Munichen, in den frühen Morgenstunden am ersten Sonntage nach Ostern MMXVI.
Bild: Pieter Frans Christiaan „Pyke“ Koch: Female Sleepwalker Resting, 1971, Öl auf Leinwand, 45 x 75 cm, Verbleib unbekannt.
Neue Lieblingsmusik: Heinrich Ignaz Franz Biber: Die 16 Mysteriensonaten (Rosenkranzsonaten), zwischen 1678 und 1687: Verkündigung, Ensemble Ars Revalia live. Empfohlene Einspielung ist aber die mit Bell’Arte Salzburg unter Annegret Siedel, 2013, und ich hab bald Geburtstag.
Nachtstück 0003: Polizistenschatten im Laternenschein
Update zu Dann, Engel, blas Posaune und Nachtstück 0002:
Mein Vater war Eisenbahner. Für junge Menschen hat ein Vater bei der Bahn den Vorteil, dass er viel in Deutschland herumkommt, je nachdem, wohin er seine acht Zeilen Freifahrschein ausfüllt; innerhalb Europas geht’s auch, aber die sind nicht so spontan, weil sie beantragt werden müssen. Mein Vater und ich haben im Laufe meiner frühen Jahre mehr als einmal an einem Samstagnachmittag beschlossen, ein Frühstück aus grünem Aal nach Nürnberg zu holen, schrieben „Ottensoos–Hamburg/Altona“ in die nächste Zeile, sprangen in den Hamburger Nachtzug, kamen zu nachtschlafender Zeit zum Fischmarkt zurecht, kauften einige Tüten voll Aale, so frisch, dass sie noch gelebt hatten, während wir die Bahnhofslichter von Hildesheim bewunderten, frühstückten in den Markthallen gegenüber Blohm & Voss Labskaus und Pils, um im Zug besser zu schlafen, vergaßen auch nicht das landwirtschaftliche Kleinvieh nebenan zu besuchen, um doch wieder kein exotisches Huhn zu kaufen, schrieben in die nächste Zeile „Hamburg/Altona–Osterhofen“, damit wir nächstes Mal ins Gebirge konnten, stiegen in Altona ein, um am Hauptbahnhof schon unseren Platz zu haben, stanken das Abteil mit Fisch voll, versorgten die Nachbarn mit Aal, weil das Zeug schnell weg muss, und rechtfertigten uns mit Zeitgründen, warum wir „auf“ Sankt Pauli nicht im Puff gewesen waren. Dann war früher Sonntagnachmittag. Das nur nebenbei.
Einmal kamen wir erst nach der Sportschau auf die Idee, Aal einzukaufen, was zu knapp für Hamburg war, trugen „Ottensoos–Köln Hbf“ ein und besichtigten am Abend die soeben entstandenen Hochwasserschäden entlang des gastronomisch orientierten Rheinufers. In der Altstadt, wo wir uns nicht auskannten, sah es aus wie in der von Nürnberg, nur mit mehr Sandsäcken vor Kellerfenstern, die Türen waren schon wieder benutzbar. Wir benutzten die von einer nicht zu großen Kneipe namens Papa Joe’s. Em Streckstrump, weil wir Wirtshäuser mieden, die ihre Preise nicht draußen anschreiben.
Innen lernten wir, dass der Kölner an sich nichts von fremden Menschen weiß, sondern unterschiedslos mit ihnen zu reden anfängt, weil man mit Leuten eben redet, und weil das natürliches menschliches Verhalten ist, vor allem in Kneipen. Und dass sie hier allgemein ihren Ehrgeiz darein setzen, „ein Mensch zu bleiben“, und nicht ohne ein gemütliches bis nachsichtiges Wohlwollen betonen, dass jemand „auch nur ein Mensch“ sei. Und dass der Kerl, der sich mit einem runden Gestell voller zahnputzglasgroßer Biere über dem Kopf durch das Kneipengetümmel schlängelt, Köbes heißt. Und dass man Dixieland in Köln außerhalb von Sonntagsfrühschoppen spielt, aber vielleicht war die Kapelle auch nur ein paar Stunden zu früh da.
Während mein Vater von Einheimischen dazu verdonnert wurde, seinen Samstgagabend mit Erzählungen von vergangenen und bevorstehenden Bahnreisen zu verbringen und dazu, an 0,5 Liter große Gläser gewöhnt, dem Köbes einen Zahnputzbecher Kölsch nach dem anderen abkaufte, war für mich das Faszinierendste die Tapete des Lokals: Sie bestand von unten bis unter die hohe Decke aus alten Zeitungsseiten, weil sie so in Rheinufernähe zuverlässig jährlich erneuert werden musste. Undenkbar für bodenständige Menschen aus Binnenfranken, einen Wohnsitz noch zu halten, nachdem er das zweite und dritte Mal überschwemmt worden war, aber et kütt wie et kütt, woll?
Unser zuständiger Köbes mochte mich offenbar, denn er stellte mir jedes Mal, wenn eine neue Runde fällig war, diskret auch so ein Kölsch ab und kassierte es vom Rundenspender mit. Das funktionierte, weil alle Beteiligten damit glücklich waren.
Meinem Vater sagte wenig zu, dass sie im ganzen Rheinland Rosinen in den Sauerbraten schütteten, aber in dem Gedrängel an den Stehtischen hätten wir sowieso nichts „Richtiges“ — ein Ausdruck „unserer“ daheimgebliebenen Mutter — essen können. Auf das Anraten mehrerer Einheimischer, der Halve Hahn sei hier sehr ordentlich, bestellten wir zwei davon. Wir verzehrten sie, während wir einigen Schnurrbartträgern dabei zuschauten, wie sie sich beim Versuch, das Wort „Käsweggla“, was Käsebrötchen oder Halver Hahn bedeutet, korrekt auszusprechen, fast das Gesicht brachen.
Die Kapelle schickte fast so regelmäßig wie den Köbes ein Instrument, das gerade nichts zu tun hatte, mit einem Filzhut durch die Menge und rief eine Kollekte für hochwassergeschädigte Musiker aus. Dann spielte sie eine besonders anrührende, stillvergnügte Version von When You’re Smiling, und ich fand im Gewirr der meterhohen, meterbreiten Zeitungsseiten ein Gedicht. Es stand in einer Ecke, die zu den folkloristisch unverzichtbaren Hochwassern offenbar lange trocken blieb, denn das Blatt sah schwer vergilbt und im Design nach Goldenen Zwanzigern aus, als Herrschaften wie Tünnes und Schäl leibhaftig umherliefen, mit Jugenstilschriftarten und im- oder expressionistischen — das kann ich bis heute nicht unterscheiden — Ornamenten, etwa wie die frühe Reklame für Roth-Händle. Ein gutes Eck, um im Gewimmel ungestört zu verweilen, ein nur halb ergaunertes Kölsch zu verkasematuckeln, wie der Kölner sagt, Dixieland zu hören und ein schlagend kurzes, herrlich sinnloses Gedicht an der Wand auswendig zu lernen.
Nachtstück
Klingt wie Hellebarde
Auf dem Pflasterstein.
Polizistenschatten
im Laternenschein.Bruder Kain noch immer
Flieht vor dem Gericht.
In das Dunkel bergen
Diebe ihr Gesicht.
Mein Vater konnte das bundesdeutsche Kursbuch, Gesamtausgabe, praktisch auswendig, auch in hohen Promillebereichen, so einer war das nämlich, ein Bahnerer mit Leib und Seele. Daher ist es nur mit Vorsatz zu erklären, dass wir den letzten Zug Köln–Nürnberg verpassten und bis zum ersten ausharren mussten.
Hoch über dem Bahnhof thronte der Dom leider zugesperrt, die Domplatte war trotzdem beeindruckend weitläufig und belebt. In einer so weltoffenen Stadt schien es uns dennoch statthaft, gegen die Wand des Kölner Doms zu pinkeln; mein Vater war evangelisch. „Et hätt noch immer jot jejange“, hatte er sich gemerkt.
Die majestätischen Fluten des Rheins begannen schon in einer Morgendämmerung zu glitzern, es wurde also Zeit, mein neu gelerntes Gedicht aufzusagen. Es dauerte einschließlich der Denkpausen angesichts der ungefrühstückten Stunde so lange, wie man pinkeln muss.
„Du lernst ein Zeug“, sagte mein Vater und schüttelte ab.
Bild: Papa Joe, Köln.
Nachtstück 0002
Update zum Nachtstück 0001:
Neulich im Bus 62:
I drink ja nie koan Schnaps net.
Einem tautologischen Pleonasmus hat es noch nie an keiner Redundanz nicht gefehlt.
Stück Nacht: Maxilimilián Pirner:
Die Nachtwandlerin, 1878.
Blumenstück 002: Die Zueignung der Zuneigung
Beiträge zur deutsch-italienischen Freundschaft.
Friedrich Overbeck: Italia und Germania, 1828.
Öl auf Leinwand, 94,4 cm × 104,7 cm, Neue Pinakothek München.
Emlan: Italia und Germania, 4. März 2013.
Paraphrase of a painting with the same name by Johann Friedrich Overbeck.
Bitstrips Photos: Katrina and Federica Start Reading Goethe’s Faust, 2. Oktober 2013,
ruoli principali Federica Ligarò e Katrina Clara Liszt.
Zur Orientierung: Italien ist links, Deutschland ist rechts. In allen drei Bildern. Muss ja nichts heißen.
Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten: denn Er ist nicht!
Spätestens seit dem letzten Monatswechsel löst das Richard-Wagner-Jahr 2013 mit großer Bestimmtheit das Jean-Paul-Jahr 2013 ab.
Nun ist der Hauptunterschied im geeigneten Umgang mit dem Gesamtwerk beider, dass man sich über Richard Wagner am besten leichtherzig kaputtlacht; Jean Paul darf man wenigstens stellenweise ernst nehmen. Oder kann jemand in sein Libretto Verse wie „Vergessens güt’ger Trank, dich trink‘ ich sonder Wank!“ hineintexten und dabei ernst bleiben?
Als Jean Pauls Paradestück wird besonders gern seine Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei herangezogen. Das ist ein wilder Alptraum, ein Fremdkörper im ansonsten eher humorig skurrilen Siebenkäs, der einen denkenden, fühlenden Menschen durch Stil und Inhalt heute noch in die Fresse hauen kann.
Zu Christi Himmelfahrt des Jean-Paul-Jahres gebe ich die gekürzte Version wieder, in der Madame de Staël in ihrem Über Deutschland 1810 Jean Paul europaweit verbreitet hat — wegen der wirkungsvolleren Rechtschreibung. Die Vollversion, falls sie nicht gratis in Ihrer zuständigen Stadtbücherei herumgilbt, steht mehrfach online und sei warm gegen die Folgen von Vatertagsfeiern empfohlen.
——— Jean Paul:
Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sey.
aus: Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel, 1796–97;
cit. n. Madame Anne Louise Germaine de Staël: Über Deutschland. Zweiter Theil. II. Abtheilung.
Acht und zwanzigstes Capitel: Von den Romanen, 1810;
erste deutsche Übersetzung: Friedrich Buchholz, Samuel Heinrich Catel und Eduard Hitzig, 1814:
Wenn man in der Kindheit erzählen hört, daß sich die Todten um Mitternacht, wo unser Schlaf nahe bis an die Seele reicht und selber die Träume verfinstert aus ihrem Aufrichten, und daß sie in den Kirchen den Gottesdienst der Lebendigen nachäffen: so schaudert man der Todten wegen vor dem Tode; und wendet in der nächtlichen Einsamkeit den Blick von den langen Fenstern der stillen Kirche weg und fürchtet sich, ihrem Schillern nachzuforschen, ob es vom Monde niederfalle. Die Kindheit, und noch mehr ihre Schrecken als ihre Entzückungen, nehmen im Traume wieder Flügel und Schimmer an, und spielen wie Johanneswürmchen in der kleinen Nacht der Seele. Zerdrücken uns diese flatternden Funken nicht! – Lasset uns sogar die dunkeln peinlichen Träume als hebende Halbschatten der Wirklichkeit! – Und womit will man uns die Träume ersetzen, die uns aus dem untern Getöse des Wasserfalls wegtragen in die stille Höhe der Kindheit, wo der Strom des Lebens noch in seiner kleinen Ebene schweigend und als ein Spiegel des Himmels seinen Abgründen entgegenzog? – Ich lag einmal an einem Sommerabende vor der Sonne auf einem Berge und entschlief. Da träumte mir, ich erwachte auf dem Gottesacker. Die abrollenden Räder der Thurmuhr, die eilf Uhr schlug, hatten mich erweckt. Ich suchte im ausgeleerten Nachthimmel die Sonne, weil ich glaubte, eine Sonnenfinsterniß verhülle sie mit dem Mond. Alle Gräber waren aufgethan, und die eisernen Thüren des Gebeinhauses gingen unter unsichtbaren Händen auf und zu. An den Mauern flogen Schatten, die niemand warf, und andere Schatten gingen aufrecht in der blassen Luft. In den offnen Särgen schlief nichts mehr als die Kinder. Am Himmel hing in großen Falten blos ein grauer schwüler Nebel, den ein Riesenschatte wie ein Netz immer näher, enger und heisser herein zog. Ueber mir hört‘ ich den fernen Fall der Lauwinen, unter mir den ersten Tritt eines unermeßlichen Erdbebens. Die Kirche schwankte auf und nieder von zwei unaufhörlichen Mißtönen, die in ihr mit einander kämpften und vergeblich zu einem Wohllaut zusammenfließen wollten. Zuweilen hüpfte an ihren Fenstern ein grauer Schimmer hinan und unter dem Schimmer lief das Blei und Eisen zerschmolzen nieder. Das Netz des Nebels und die schwankende Erde rückten mich in den fürchterlichen Tempel, vor dessen Thore in zwei Gift-Hecken zwei Basilisken funkelnd brüteten. Ich ging durch unbekannte Schatten, denen alte Jahrhunderte aufgedruckt waren. – Alle Schatten standen um den leeren Altar, und allen zitterte und schlug statt des Herzens die Brust. Nur ein Todter, der erst in die Kirche begraben worden, lag noch auf seinem Kissen ohne eine zitternde Brust, und auf seinem lächelnden Angesicht stand ein glücklicher Traum. Aber da ein lebendiger hinein trat, erwachte er und lächelte nicht mehr, er schlug mühsam ziehend das schwere Augenlied auf, aber innen lag kein Auge und in der schlagenden Brust war statt des Herzens eine Wunde. Er hob die Hände empor und faltete sie zu einem Gebet; aber die Arme verlängerten sich und löseten sich ab, und die Hände fielen gefaltet hinweg. Oben am Kirchengewölbe stand das Zifferblatt der Ewigkeit, auf dem keine Zahl erschien und das sein eigner Zeiger war; aber ein schwarzer Finger zeigte darauf und die Todten wollten die Zeit darauf sehen.
Jetzt sank eine hohe edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz aus der Höhe auf den Altar hernieder und alle Todte riefen: „Christus! ist kein Gott?“
Er antwortete: „es ist keiner.“
Der ganze Schatten eines jeden Todten erbebte, nicht blos die Brust allein, und einer um den andern, wurde durch das Zittern zertrennt.
Christus fuhr fort: „Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, so weit das Seyn seinen Schatten wirft und schauete in den Abgrund und rief: Vater, wo bist du; aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren schwarzen bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos, zernagte es und wiederkäuete sich. – Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten: denn Er ist nicht!“
Die entfärbten Schatten zerflatterten, wie weißer Dunst, den der Frost gestaltet, im warmen Hauch zerrinnt; und alles wurde leer. O da kamen, schrecklich für das Herz, die gestorbenen Kinder, die im Gottesacker erwacht waren, in den Tempel, und warfen sich vor die hohe Gestalt am Altare und sagten: „Jesus! haben wir keinen Vater?“ – Und er antwortete mit strömenden Thränen: „wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.“
Da kreischten die Mißtöne heftiger – die zitternden Tempelmauern rückten auseinander – und der Tempel und die Kinder sanken unter – und die ganze Erde und die Sonne sanken nach – und das ganze Weltgebäude sank mit seiner Unermeßlichkeit vor uns vorbei. – u. s. w.
Bild: Rembrandt van Rijn: Hemelvaart, 1636, Alte Pinakothek München.
Blumenstück 001: Streckvers bei Nacht
Das NDL-Latein zuerst, damit wir’s hinter uns haben:
——— Hermann Meyer: Jean Pauls „Flegeljahre“. Äther der Einbildung und Entzauberung.
Erstdruck in Benno von Wiese (Hg.): Der deutsche Roman vom Barock bis zur Gegenwart, Band 1, 1963, Seite 210 bis 251:
Eine noch barockere Steigerung finden wir in Walts Gesang an Wina, der den Schluß des Kapitels „Träume aus Träumen“ bildet und zu Jean Pauls bekanntesten und am meisten vertonten Polymetern gehört. […] Während die drei ersten schmachtenden Wünsche noch im Bereich der normalen lyrischen Bildlichkeit bleiben, wird in den beiden letzten Wünschen die Bildlichkeit ins völlig Unvorstellbare gesteigert. Als Ausdruck höchster lyrischer Ekstase wird man dies immerhin willig hinnehmen. Der Schlußsatz des Kapitels überbietet dann aber noch diese Unvorstellbarkeit durch Hinzufügung einer neuen Dimension: der Wunsch, Winas Traum zu sein, wird zum möglichen Inhalt von Walts Traum gemacht. […] Auch der willigste Leser wird diese überschwengliche Potenzierung kaum nachvollziehen können und wird sich fragen, ob sie nicht letztlich bloß verbaler Art sei.
O ja: Ob nicht die ganzen Romane vom Barock bis zur Gegenwart samt ihren Interpretationen nicht letztlich bloß verbaler Art sind? Alle Arten von Ekstasen habe ich immer willig hingenommen, deshalb lerne ich als überschwengliche Potenzierung: Holla, die Polymeter von Jen Paul sind vertont, gar mehrfach?
YouTube, das auch sonst seiner Ausrichtung zur Quelle von Ärgernis mehr als von Information täglich näher kommt, gibt natürlich in dieser Richtung wieder nichts her; recht so: Musikhören ist das neue Rauchen. Hören wir also in die drei ersten schmachtenden Wünsche samt völlig unvorstellbaren Bildlichkeiten ins Original rein:
——— Jean Paul: Nro. 36: Kompaßmuschel. Träume aus Träumen
in: Flegeljahre, Drittes Bändchen, Schluss des Kapitels, 1804:
Er ging die Gasse herab, an Zablockis Haus. Alle Lichter waren ausgelöscht. Eine kernschwarze Wolke hing sich über das Dach, er hätte sie gern herabgerissen. Alles war so still, daß er die Wanduhren gehen hörte. Der Mond schüttete seinen fremden Tag in die Fenster des dritten Stockwerks. „O wär‘ ich ein Stern,“ – so sang es in ihm, und er hörte nur zu – „ich wollte ihr leuchten; – wär‘ ich eine Rose, ich wollte ihr blühen; – wär‘ ich ein Ton, ich dräng‘ in ihr Herz; – wär‘ ich die Liebe, die glücklichste, ich bliebe darin; – ja wär‘ ich nur der Traum, ich wollt‘ in ihren Schlummer ziehen und der Stern und die Rose und die Liebe und alles sein und gern verschwinden, wenn sie erwachte.“
Er ging nach Hause zum ernsten Schlaf und hoffte, daß ihm vielleicht träume, er sei der Traum.
Und dann immerhin noch ein Frühwerk — opus 2 — von Robert Schumann, das immerhin an die Flegeljahre — von Jean Paul, nicht Schumanns eigene — angelehnt ist: Papillons zum Mitlesen. Da sollten also auch alle Polymeter drin aufgegangen sein:
Schon klasse. Wenn ich Stanka nicht hätte, hinge das heute noch in meinem alten Skizzenheft fest.
Bild: Die bezaubernde Stanka featuring die respektgebietende Anne van der B.,
Nijmegen 2009/München 27. März 2013.
Jug
——— E.T.A. Hoffmann: Das Gelübde, das siebte von acht Nachtstücken, 1817, stark gekürzt:
In vollem Juchzen und Blasen jug der Postillion durch die Gassen zum Tore hinaus. […] Hermenegilda fing an auf eigne Weise zu kränkeln, sie klagte oft über eine seltsame Empfindung, die sie eben nicht Krankheit nennen könne, die aber ihr ganzes Wesen auf seltame Art durchbebe. Um diese Zeit kam Fürst Z. mit seiner Gemahlin. […] — „Wein! — Wein!“ schrie er, stürzte einige Gläser hinunter, warf sich dann erkräftigt aufs Pferd und jug davon.
——— Hartmut Steinecke/Gerhard Allroggen (Hg.): Nachtstücke,
Deutscher Klassiker Verlag Frankfurt am Main 1985:
Entstehung
Über die Entstehung dieser Erzählung liegen keine Zeugnisse vor; es läßt sich also nur sagen, daß sie zwischen Ende 1816 und Sommer 1817 geschrieben wurde.
Nach Hitzigs Hoffmann-Biographie hat der Dichter die Anregung zu Das Gelübde durch einen Bericht seiner Frau Michalina über eine ähnliche Geschichte aus ihrer Vaterstadt Posen erhalten. Das Motiv läßt sich jedoch auch in der Literatur der Zeit öfter nachweisen; am bekanntesten ist Kleists Erzählung Die Marquise von O…
Wirkung
Die überlieferten Rezeptionszeugnisse zeigen nur ein geringes Echo der Erzählung. Für Schwenck ist sie „unter allen magnetischen Geschichten die widerlichste und abstoßendste“ (S. 113). Auch sonst findet sich kaum einmal ein positives Wort über diese Erzählung, die oft als eine schlechte Weiterführung des Kleistschen Motivs gilt. Die Geringschätzung setzt sich auch in der wissenschaftlichen Literatur fort, bis heute fand Das Gelübde kaum Beachtung in der Hoffmann-Forschung.
Struktur und Bedeutung
Die Erzählung gleicht im Bau vielen anderen Hoffmanns: Ein geheimnisvolles Geschehen wird im ersten Teil geschildert (eine unbekannte Frau trägt unter merkwürdigen Umständen ein Kind aus) und im zweiten Teil, der die Vorgeschichte aufdeckt, erklärt. […]
Die Fürstin, die als einzige Person der Umwelt Hermenegildas Zustand zu verstehen versucht, weiß, daß Xaver „wie der hämischte Geist der Hölle, den höchsten Moment ihres Lebens mit dem ungeheuersten Frevel vergiftete“ […]; als ein Engel ist der Heldin nicht Xaver, sondern Stanislaus erschienen und Xaver nur insofern, als er Stanislaus‘ Rolle übernommen hatte. So erklärt sich die Möglichkeit einer Verständigung und Versöhnung bei Kleist, ihre Unmöglichkeit bei Hoffmann.
Plakat: Verfilmung von Dominik Graf 2008 via Das Gelübde auf DVD günstig kaufen.
Nachtstück 0001
Die Ausrede, dass doch Wochenende ist, zieht nicht als Weigerungsgrund. Dass doch Wochenende ist, zieht als Grund. Du hast kein Wochenende, um arbeiten zu können, du arbeitest, um irgendwann Wochenende zu haben.
Die Arbeitswoche war lang genug: Die Serapionsbrüder wolltest du zuerst mit 12 am Stück lesen; wie lange das her ist, kann um diese Uhrzeit kein Mensch im Kopf. Reicht das als Arbeitswoche?
Licht an, noch so eine Arbeitswoche hältst du nicht durch. Noch so eine, dann bist du Mitte siebzig, da kannst du dir eine eigene Krankenschwester zum Vorlesen einstellen. Wenn du kannst. Hörbücher sind nämlich gern gekürzt. Oder schlimmer: Hörspiele.
Nachtstück: E.T.A. Hoffmann: Harfenquintett für Harfe, 2 Violinen, Viola und Violoncello c-Moll, AV 24, ca. 1807.