Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Archive for Juli 2019

Der arme Stephan mit dem gebackenen Kopf

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Update zu Schlachtens und
Dieses unnötige, ja sinnlose Hin und Her:

Schmerzlich vermisst wird eine brauchbare Gesamtausgabe von Wilhelm Hauff. Brauchbar bedeutet: mit dem gesamten Werk — wobei sie nicht einmal historisch-kritisch ausfallen muss, aber als ernstzunehmende Lese-, besser noch Studienausgabe kompetent durchkommentiert. Eben das, was die Bibliothek Deutscher Klassiker und der Winkler-Verlag machen.

Und da nähern wir uns dem Problem: Bei der ersteren fehlt Wilhelm Hauff ganz, bei Winkler hat Sybille von Steinsdorff die bis heute maßgeblichen drei Bände herausgegeben; das war 1970.

Beweisstück A:
Wilhelm Hauff, Winkler-Ausgabe in 3 Bänden

Das Problem wird vollends zum Problem, wenn wir anschauen, was Frau von Steinsdorff da genau herausgegeben hat: vermutlich das Beste, was dem Angedenken Wilhelm Hauffs je widerfahren ist. Der erste der drei Bände bringt alles von Wilhelm Hauff, was einem Roman ähnlich sieht: den großen — und ersten deutschen — historischen Roman Lichtenstein und die längeren Satiren; der dritte Band versammelt die Phantasien im Bremer Ratskeller, die bis auf ganz wenige Highlights nie sehr verbreiteten Gedichte und allerlei Nebenwerke namens Kleine Schriften.

Das Problem liegt im zweiten Band mit den erstaunlich zahlreichen Novellen und — wir haben sie schon vermisst — den Märchen — und innerhalb derselben speziell im Märchen-Almanach auf das Jahr 1827 für Söhne und Töchter gebildeter Stände. Dessen Rahmenerzählung Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven umrahmt nämlich nicht nur eigene Märchen von Hauff, sondern zusätzlich:

  1. Gustav Adolf Schöll: Der arme Stephan;
  2. James Morier: Der gebackene Kopf, aus: Adventures of Hajji Baba;
  3. Wilhelm Grimm: Das Fest der Unterirdischen;
  4. Wilhelm Grimm: Schneeweißchen und Rosenrot.

Von Hauffs drei Märchenalmanachen ist dieser mittlere der einzige, für den Hauff vier Beiträge — immerhin 50 Prozent — zugekauft hat. Das ist in Ordnung, denn er firmierte nicht als alleiniger Autor, sondern als Herausgeber, und durfte das. Nun bemerkt selbst die objektive Wikipedia so treffend wie leise missbilligend: „Diese Beiträge finden sich deshalb nicht in den Gesamtausgaben von Hauffs Werken und in den darauf basierenden Nachdrucken des Almanachs.“

Und damit hat sie schlagend recht. Mit antiquarischen, meist undatierten, aber noch in Fraktur gesetzten Gesamtausgaben von Hauff kann man die Straße pflastern (und wird es demnächst wahrscheinlich auch tun), richtig schwer und kostspielig erreichbar sind allein die drei Bände von Frau von Steinsdorff — selbst noch als Lizenzausgabe beim Deutschen Bücherbund — die aufgeführten vier Märchen bringt bis hinauf zur wohl letzten maßgeblichen keine Ausgabe.

Das ist ein Verlust. Man kann argumentieren, dass es nicht Aufgabe einer Hauff-Edition sein kann, Märchen von sonstwem zu veröffentlichen, die Almanache bleiben ohne sie so unvollständig, dass es sehr unliebsam auffällt — vor allem, weil an den Fehlstellen in der Rahmenhandlung regelmäßig steht, was an dieser Stelle kommen sollte — aber nicht kommen kann, weil Schöll, Morier und Grimm nun einmal weder Hauff heißen noch sind.

Schmerzhaft ist das besonders in den Fällen von Schölls armem Stephan und Moriers gebackenem Kopf, die nicht etwa verzichtbare Variationen über irgendwelche anderweitig schon ausreichend ausgewalzte Kindermärchenstoffe sind, sondern ausgesprochen geschickt gebaute Novellen entfernt märchenhaften Inhalts — hochstehende Erfindungen, Musterbeispiele der Erzählkunst, ein Heidenspaß. Hauff hat auch als Herausgeber gut gearbeitet und sich keinen Schrott zusammenakquiriert.

Wieso ich das weiß? — Weil ich zu dem Problem die Lösung in Händen halte. Die Lösung heißt: Wilhelm Hauff: Die Karawane. Märchen. Vollständige Ausgabe, 1. Auflage 2002 im Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin, auf der Grundlage von: Wilhelm Hauff’s Märchen. Vollständige Ausgabe, Insel-Verlag Leipzig 1911, mit 6 Illustrationen von Max Reach und einem Nachwort von Tilman Spreckelsen und unter Unterstützung von Oliver Freiherr von Beaulieu Marconnay, ISBN 3746613582 — ein unspekatuläres Taschenbuch von stattlichen 520 Seiten, verlagsneu für schmale 10 Euro, allerdings seit 2002 schon wieder vergriffen, dafür antiquarisch umso günstiger aufzutreiben (eine Abfrage am 30. Mai 2019 ergab: 9 Cent + 3 Euro Porto).

Beweisstück B:
Wilhelm Hauff, Die Karawane, Aufbau 2002, Doppelseite mit Inhaltsverzeichnis

Eine quasi noch vollständigere Gesamtausgabe von Wilhelm Hauff, als es je gab, erhält man deshalb, wenn man die von Steinsdorffs dreibändige Winkler-Ausgabe oder deren Bücherbund-Lizenz hat — was schwer ist — und deren Lücken durch Die Karawane bei Aufbau schließt — was leicht ist. Dann hat man die meisten Hauff-Märchen doppelt, was ich allerdings für einen weit geringeren Schaden halte als Schöll, Morier und Grimm zu vermissen.

Außerdem kann man vor allem das geniale kalte Herz gar nicht oft genug lesen. Das stammt von 1827 und ist 1828 in einem der Almanache erschienen, die eigentlich in den meisten Ausgaben mit Hauffs Märchen von selbst vollständig erscheinen. Übermäßig viele sind es nämlich von Natur aus nicht. Zur Erinnerung ist Wilhelm Hauff mit zarten 24 Jahren an Typhus verstorben. Ein so umfangreiches, so haltbares, so objektiv handwerklich gelungenes und so nachhaltig im Volksgut verankertes Gesamtwerk muss einer in dem Alter erst mal zustandebringen.

Beweisstück C:
Wilhelm Hauff, Winkler-Ausgabe und Die Karawane

Bilder: eigener Besitz, Mai 2019.

Soundtrack: Leo Leandros: Mustafa, 1960.
Wegen der herbeigezerrten Begegnung mit dem Orient natürlich:

Written by Wolf

26. Juli 2019 at 00:01

Veröffentlicht in Handel & Wandel, Romantik

Ui. (Shut Up’N Play Yer Guitar)

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Update zu Dass ich ihm doch das Leben schenken möchte,
weil die Magie noch in den Menschen lebt:

Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntniß essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen?

Allerdings, antwortete er; das ist das letzte Capitel von der Geschichte der Welt.

Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater, 1810, Schluss.

Wissen ist keine Schande. Es nützt halt nur nichts.

Sven Regener, 2009.

Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun.

Kaiser Wilhelm II.

It’s fucking great to be alive.

Frank Zappa, 1940–1993.

Vielleicht hat schon einmal jemand das Radfahren verlernt. Aber niemand kann vor sich selbst so tun, als wüsste er nicht, von Fällen der Demenz abgesehen, dass er es einst konnte. Die Unschuld ist weg.

Es war eine Zeit, als die Jungs Gitarre lernten, um unbeholfene Orgienversuche mit House of the Rising Sun zu untermalen: a / C / D / F // a / C / E7. Die Schwierigkeit war das F, vor dem Barré hatte jeder einen Heidenrespekt. So lange, bis er ihn zum ersten Mal raushatte. Zehn Sekunden danach schüttelten sie die Köpfe über ihre einstige Angst, so wie über ihre Kindheit, als sie allen Ernstes glaubten, im Radio wohne ein kleinwüchsiges Symphonieorchester.

Meine eigene Not hatte ich im gedankenschnellen Umrechnen von Flageoletten, dafür kriegte ich bald spitz, was Powerakkorde sind, und grinste deshalb milde über Barrés. Was mir niemand sagte: dass man mit Gitarrespielen Mädchen beeindrucken kann, ich war immer nur auf „ein Bier für die Musik!“ aus. Das verschaffte mir einen unschlagbaren Sympathievorsprung, weil ich’s nicht drauf anlegte, und bei der gleichzeitig anhaltenden Arbeit mit Kopf und beiden Händen wurde man sowieso bis in den nächsten Vormittag hinein nie besoffen.

Als ich nach meiner Lagerfeuerkarriere erfuhr, dass ich statt den Freigetränken die Mädchen hätte haben können, war meine Jugend verspielt. Aber ich konnte nie wieder so tun, als ob ich nicht wüsste, was ich verpasst hatte.

Gitarrespielen ist wie Weihnachten: Es hilft nichts, das Ritual einzuhalten — du musst es gerne tun.

Gitarrespielen, um Mädchen zu gefallen, ist wie Weihnachten seine Eltern zu besuchen: Es hilft nichts, das Ritual einzuhalten — du kannst nur Fehler machen.

Gitarrespielen mit diesem Wissen ist wie die Erinnerung an Weihnachten in der Kindheit: Es hilft nichts, das Ritual einzuhalten — Kind warst du nur einmal.

Als ich mit Gitarre anfing, nahm ich mir vor aufzuhören, sobald ich den Karten Dippler Blues von Peter Horton oder Make Me a Pallet on Your Floor von Mississippi John Hurt konnte, je nachdem, was zuerst kam. Ein paar trainierte Wochen lang konnte ich sogar Tears in Heaven, aber das war sogar mir selber egal. Ich verstieg mich dazu, meine Bob-Dylan-Lieder selbst zu schreiben, und trieb es zu so viel Perfektion, dass kein Mensch mehr den Dylan heraushörte. Die von Mädchen und bezahltem Bier Trunkenen, denen ich meine Lieder stolz herzeigte, fanden es schade um die Zeit: Entweder war es Mist, dann gab es keine Entschuldigung, oder es war gut, dann wäre ja alles andere auch noch schöner.

Mädchen beeindrucken heißt eine Sache um ihrer selbst willen tun — genau das muss Kaiser Wilhelm gemeint haben — und Gitarrespielen zur Unzeit — nach 22 Uhr oder über 22 Lebensjahren — ist wie karfreitags Weihnachten feiern, und Schluss ist mit Sympathievorschuss. Deshalb bedeutet einen Teil seines Lebens nicht ausgelebt zu haben Depression und liegt erschütternd nahe am Tod.

Gitarrespielen ist wie Weihnachten: Es hilft nichts, Fehler zu machen — du musst das Ritual einhalten. Und du kriegst nie ein Zauberpony, sondern immer einen Rollkragenpullover.

Gitarrespielen ist wie Weihnachten: unter Zwang ein Ärgernis, um seiner selbst willen dann doch zu selten. Der Sympathievorsprung ist kein Licht mehr, das man erwarten darf, wenn man den Lichtschalter bedient, sondern eine Kerze, die dir freundlicherweise hingestellt wird.

Wenn ein wohlwollendes Mädchen die Kerze bringt, hast du das größte Glück, das dir noch widerfahren kann. Sie ist eine in Jeans und Karohemd, die früher als schwiegermuttertauglich durchgegangen wäre. Und sie ist dir zugetan genug, um die Kerze über eine kurze nachtfinstere Strecke herbeizutragen. Barfuß tapst sie Schritt für Schritt heran, um auf keine Tannenzapfen zu treten, und schützt die Flamme mit der Hand vor dem sachten Wind. Das Kerzenlicht bewegt Schatten auf ihrem ernsten Gesicht. Das tut sie, um dich nicht beim Gitarreklimpern zu unterbrechen.

Wenn sie nichts Dringlicheres zu tun hat, setzt sie sich neben dich, um ein Weilchen zuzuhören. Hemdsärmel und Hosenbein an deine zu lehnen ist okay, das verbindet. Sie stellt die Kerze so zwischen euch, dass du in deinem Leitz-Ordner lesen kannst, und stützt Kinn und Wange in die Hand. Sie behält ihr ernstes Gesicht, lauscht und schweigt.

Wenn ein Lied zu Ende ist, stellt sie eine anteilnehmende Frage. Deiner Antwort hört sie geduldig zu und fragt nach. Sie lacht an der richtigen Stelle. Wenn du ihr eine Frage zurückreichst, gibt sie bereitwillig Auskunft. Ihre Haare kitzeln dich von schräg hinten am Ohr. Wie war es nur möglich zu vergessen, wie ein Mädchen nach dem Wald und nach Sommerwind riecht, wie lebendig ihr Wangenflaum im Gegenlicht aussieht, und wie schön es klingt, wenn man eine Zeitlang einträchtig die Klappe hält? Und wenn das Leben ein Sinn hätte, wäre es dann, einem hübschen Mädchen zuzuhören und ihr einvernehmlich was zu erzählen? Dem interessierten Blick ihrer glänzenden Augen standzuhalten, ihr Feuer für eine ihrer seltenen Zigaretten zu geben? — Nein. Erst, wenn sie eine Mundharmonika in der Hemdtasche hat. Dann versucht ihr mitsammen einen echten, dreckigen, kohlrabenschwarzen Delta-Blues, bis er in eurem eigenen Losprusten erstickt, denn das ist wie Weihnachten: Du kannst es nicht einfach bleiben lassen.

Ihr Lächeln wärmt mehr als die Kerze, und es ist echt. Wenn du dann etwas spielst, das ihr früher einmal gefallen hat, fühlst du sie an deiner Seite leise mitwiegen.

Einmal legt sie im Licht eurer Kerze den Finger auf eine Stelle im Text und sagt:

„Ui.“

Aber der Wind verheißt schon den Winter, die Kerze flackert bedenklich, und wenn sie wieder in die Wärme geht, ihre Kerze wieder einkassiert, darfst du sie nicht zurückhalten.

Was das war? Kein Verdienst, sondern eine Gnade.

Und besonders das ist wie Weihnachten: Dass es gerade das letzte Mal war, willst du gar nicht vorher wissen.

_camomilka_, Sometimes I wonder if I'm still like that girl in the past. I want to smile like that again, Sommer 2011, Instagram 1. Februar 2018

Buidl: K.: Sometimes I wonder if I’m still like that girl in the past (I want to smile like that again),
Sommer 2011/1. Februar 2018. Ich hab noch nie ein so glückliches Mädchen gesehen.

Soundtrack: Mississippi John Hurt: Make Me a Pallet on Your Floor, ca. 1928:

Written by Wolf

19. Juli 2019 at 00:01

Veröffentlicht in Klassik, Schall & Getöse

Gib ihr das grüne Schlauchkleid retour

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Update zu Anaximander’s Revenge:

Für mich isch des alles gar nemmer wichdig. Wenn’s dich amol hundert Meter so des Geröllfeld am Watzmann obebröselt hat, no weisch, dass es gewaldigere Dinge im Läbe gibt als wie die Erodik.

Uli Keuler.

Mir war lange nicht klar, dass ich selber Gedichte mit siebenzeiligen Strophen kann. Es gibt keine Beweise dafür, dass ich das jemals geschrieben hab.

Das grüne Schlauchkleid

Will Hollis Snider, Emily Mae, 11. Januar 2014Sie war dir zu groß. Lass sie los. Lass sie nur.
Sie war 3 D und nicht sie, sondern du warst zu flach.
Sie war dünn wie ein Stück Wäscheschnur
und passte nicht unter dein Schädeldach.
Gib ihr das grüne Schlauchkleid retour:
Die Zeit vergeht rund um die Uhr
und du hängst einem Mädchen nach.

Sie war zu groß, sie war zu lang — kein Aufhebens:
Du kennst vier Dimensionen. Mach
dir jetzt neue des irdischen Strebens.
Als der Leuchtturm von Pharos niederbrach,
war er dir gleich wie die Tore Thebens.
Im Meer schwimmen neunzig Prozent allen Lebens
und du hängst einem Mädchen nach.

Sie war dir zu groß. Sie hatte nie Angst, sie verlör dich.
Sie war zu lang, und zu kurz reichte das, was sie sprach.
Du klingst nicht aus ihr: Was du sagst, stört nicht.
Du küsst ihr Epigramme in den Schlund, pfeifst beim Bumsen Bach
und vertonst Gorgias und Hawking, drum hör mich:
Die Vergangenheit ist birnenförmig
und du hängst einem Mädchen nach.

Will Hollis Snider, Emily Mae, 11. Januar 2014

Bilder: Will Hollis Snider: Emily Mae 1 und 2, 11. Januar 2014.

Soundtrack im grünen Schlauchkleid: Vilde Frang (die mag ich ja) mit Michail Lifits:
Gabriel Fauré: Sonate für Violine und Klavier Nr. 1 A-Dur, opus 13:

Written by Wolf

12. Juli 2019 at 00:01

Liliensamm(e)t

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Update zu Deine so oft entweihte Frühlingsfeier:

Das mussten wir in der neuten Klasse lesen, als kopiertes Handout, auf das nicht mehr als dieser eine Absatz passte. Später und auf eigene Fachbuchrechnung konnte man in der einzigen halbwegs ernstzunehmenden Gesamtausgabe von Wilhelm Hauff, in denen noch etwas anderes als die angeblich „Sämtlichen“ Märchen steht, in den satirischen Schriften ausführlich lernen, was Heinrich Clauren für ein Schädling am deutschen Literaturschaffen ist.

Der Name Heinrich Claurens hat sich in unseren neuntklassigen Hirnen nicht weiter festgesetzt, vielmehr gehörte eins davon dem Volker. Der Volker hieß Sammet, saß zeitweise neben mir und malte mir immer blitzschnell enorme Pimmel über die ganze Buchseite in die Schulbücher uns auf die Handouts, bestimmt auch auf das vom Clauren. Nachweisen lässt sich das nicht, weil meine Schulunterlagen nach dem Abitur einem durch Weißenoher Klosterbräu befeuerten Autodafé zum Opfer gefallen sind, aber es besteht kein Grund, warum der Volker ausgerechnet den Clauren ausgelassen haben sollte.

Im Gegenteil hatte der Volker gerade in Claurens Fall besonderen Grund, mit seinen einfachen Mitteln Missbilligung auszudrücken. Sein Nachname Sammet erschien nämlich in verballhornender Form in dem Trivialtext aus dem 19. Jahrhundert — so das Thema der Deutschstunde. Alkoholischer Konsum und unter den ganz Verwegenen — darunter dem Volker — kamen bei den Fünfzehnjähirgen gerade in Mode, da ließ der uns unbekannte Clauren nach „Champagner und die Freude“ auch noch den „Liliensammet“ krachen. In einem literarischen Salon von 1819 wäre er auf so einen Lachschlager entweder stolz gewesen oder hätte sich richtiger Literatur zugewandt, und der Volker hieß paar Wochen lang der Liliensammet.

Alles was recht ist: Der Ausschnitt aus Unterirdische Liebe von Heinrich Clauren war von einem nicht mehr ermittelbaren Beauftragten des bayerischen Kultusministeriums geschickt gewählt, um Trivialtexte aus dem 19. Jahrhundert zu repräsentieren. Auf die Adjektivdichte hätte sich Goethe beim Verfertigen des Werther was einbilden können, und dieser Ehrgeiz besteht unter den Schreibern zum Abverkauf gedachter Literatur fort und fort.

Woher ich das weiß? Ach Gott, ich gehe halt einkaufen und lese Romanheftchen. Kurz vor der Kasse im Supermarkt auch Ihres Vertrauens stehen die in reicher Auswahl, und da soll sich niemand rausreden, dass er nie zum Lesen kommt. — Der Volker Liliensammet muss das nicht, der soll nach dem Abi Pilot gelernt haben.

Carl Friedrich Wilhelm Trautschold, Die Kunstlektion, Aquarell mit Weiß, 1870

——— Heinrich Clauren:

Unterirdische Liebe

in: W. G. Beckers Taschenbuch zum geselligen Vergnügen,
hg. W. G. Becker und Johann Friedrich Kind, Verlag Roch, Leipzig 1819,
Seite 165 bis 292, hier Seite 204 bis 207:

Adolphine streckte ihre zarten Glieder auf das weiche Moos; das heilige Rauschen in den Wipfeln der uralten Bäume, das Plätschern des zum Vater Rhein hinabeilenden Baches, lullten die Schlummermüde ein. Der Champagner und die Freude hatten den Liliensammt ihrer Wange geröthet; das Köpfchen lag in der rechten Schwanenhand; die linke ruhte auf dem schwellenden Moose. Freundlich lächelten die Purpurlippen, als schwebe ihr der Scherz des Tages vor der Freudetrunkenen Seele, der kleine Mund war halb geöffnet, wie eine eben sich entfaltende Rosenknospe; der Lilien=Busen wogte ruhig, und das niedlichste aller Füßchen im ganzen Rheingau war nur bis zur Zwickelspitze des blüthenweißen Strümpfchens sichtbar. Leise Lüfte vom fluthenden Rhein herauf, küßten ihr kühlend die brennende Stirn und das geschlossene Auge, und spielten heimlich mit dem lockigen Haar und den flatternden Bändern, und der lose Gott der Träume, der ihr auf des Champagners leichtem Schaume ein ganzes, mit mancherlei Gaukelwerk der Phantasie befrachtetes, bunt geflaggtes Schiffchen in des Herzens stillen Hafen gesandt, umfing sie jetzt mit seinen Blumenarmen.

Wohl mochte sie Dreiviertelstunden geschlafen haben, da rauschte es stärker im Gebüsch; sie ward nur halbwach, und gewahrte einen der kleinen hier heimischen Zwerghirsche, der sich durch das Gesträuch Bahn machte, und ihrem Lager sich näherte. Das niedliche Thier stutzte, als es Adolphinen in das Auge faßte; als sie aber mit leisen Schmeichelworten es kirrte, ganz still liegen blieb, und ihm kosend die Flaumenhand entgegen streckte, kam es, zahm und des Fütterns gewohnt, vertraulich heran, und leckte an den rosenen Fingern.

Ein zufälliges Geräusch in der Nähe verscheuchte den kleinen hübschen Hirsch; mit einem behenden Satz flog er seitwärts in das Gebüsch, und Adolphine entschlummerte bald wieder, doch währte es nicht lange, als sie wieder etwas rascheln hörte; Sie schlug die Augen, noch voll tiefen Schlafs, halb auf, und blinzelte durch die langen Wimpern, und wähnte, das dreuste Thierchen zurückkommen zu sehen; aber statt dessen lag der vermeintliche junge Graf Waldohna zu ihren Füßen, die Hände, in süßem Entzücken der Uiberraschung, vor der kühnen Brust gefaltet und im stummen Anschauen selig verloren.

War es des Champagner=Schaumes sanft brausender Rausch, oder die Feengewalt des seligen Augenblicks, oder die Macht des Schrecks, oder das Zauberspiel irgend eines wohlthätigen Liebesgottes, oder ein wundersamer Zug von natürlicher Frauen=List, — Adolphine gewann augenblicklich so viel Besinnung, sich den elektrischen Schlag, der sie mit dieser unvermutheten Erscheinung duchbebte, nicht im mindesten merken zu lassen; sie that, als ob sie fortschliefe, und lugte durch die Wimpern. Immer wacher und wacher wurden ihre Sinne; des brüselnden Schaumes bedrückende Nebel verflogen, sie sah und hörte alles deutlich, sie war sich ihrer selbst vollkommen bewußt, aber keiner ihrer Züge verrieth, was sich in ihrem Innern entfaltete; der Fremde glaubte, sie schliefe ruhig und fest.

Es war derselbe schöne junge Mann, den sie als Kind schon lieb gewonnen hatte, derselbe, der vor der Nonne und dem Klostergeschmeide kniete; derselbe, dessen Bild, ohne daß sie es damals ahnete, als das Ideal ihrer Liebe in ihrem jungfräulichen Herzen seit Jahren gewohnt; derselbe, den sie im Herrengarten gesehen hatte. Jetzt war es keine Täuschung mehr, sie sah ihn ja vor sich; sie sah ihm ja in das schmachtende Auge, in das männliche Gesicht voller Ernst und Milde; das waren jene schwärmerischen Züge, die sie so oft so wunderbar ergriffen hatten. Dieß der selbst im Schweigen beredete Mund; dieß die breite hochgewölbte Brust; dieß der nervige feste Arm; dieß die kräftige Gestalt, dieß die sanfte Anmuth im ganzen Wesen. —

„Du holdseliges, angebetetes Mädchen,“ rief er mit gedämpfter Stimme, und verschlang die Liebesfülle ihrer zauberischen Reize mit seinen glühenden Blicken; im Drange der ihn bestürmenden Gefühle bog er sich näher, und berührte mit dem Saume seiner Lippen, die wie frisch aufgeplatzte Granatblüthen zitternd bebten, leise die äußersten Kuppchen der rosigen Finger.

Adolphine schlief.

Kühner drückte er in die kleine Schneetiefe der weichen Flaumenhand, heimlich und verstohlen, einen sanften Kuß.

Adolphine schlief.

Und wenn alle Vierundzwanzigpfünder auf den Wällen der Feste Mainz, dicht neben ihrem Ohr, in einem Nu losgebrannt wären, sie hätte fortgeschlafen. So wohl, so unaussprechlich wohl that der still Verzückten die zarte Huldigung des, aus frühern Kindesträumen her, längst vertrauten heiß Geliebten.

Und so geht das weiter. Zugegeben ist diese ausgewalzte Unhandlung nicht ganz reizlos, dennoch darf man nach 1819 spoilern, dass Adolphine beim Ausschlafen ihren champagnerbedingten Damenspitzes vorerst ihre Unschuld behält.

Flaumenhand. Brüselnder Schaum. Das niedlichste aller Füßchen im ganzen Rheingau. Und — Uiberraschung: Liliensammet.

The Reconstruction of MyFlyAway, Fly Fly Fly, 15. November 2009

Bilder: Carl Friedrich Wilhelm Trautschold: Die Kunstlektion, Aquarell mit Weiß, 1870;
The Reconstruction of MyFlyAway, Fly Fly Fly, 15. November 2009.

Soundtrack: Friedel Hensch und die Cyprys: Die Försterlieserl, Walzerlied mit Instrumental-Begleitung, 1952:

Written by Wolf

5. Juli 2019 at 00:01

Veröffentlicht in Biedermeier, Ehestand & Buhlschaft

Nachtstück 0021: Нет хуже ада

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Update zu Lästu dich zum Freien bitten?:

——— Richard Brautigan:

Phantom Kiss

mid-1950s, from:
I Watched the World Glide Effortlessly Bye
and Other Pieces
,
Burton Weiss &
James Musser, 1996,
in: The Edna Webster Collection of Undiscovered Writings, 1999:

There
is no worse
hell
than
to remember
vividly
a kiss
that
never occurred.

     

——— Richard Brautigan:

Phantomkuß

deutsche Übersetzung:
Günter Ohnemus,
in: Das Geschenk
für Edna Webster —
Stories und Gedichte,
Kartaus Verlag,
Regensburg 2005:

Es gibt
keine schlimmere
Hölle
als die
heftige
Erinnerung
an einen Kuß,
den man
nie bekommen hat.

     

 

Missed Crimes. Pulp Rehash. Resurrection by Lev Tolstoy, L'ombelico di Svesda, 31. März 2012

eronsk.xxx

Images: Illustration zum 1. Kapitel aus Leo N. Tolstoi: Auferstehung:
Missed Crimes. Pulp Rehash. Resurrection by Lev Tolstoy,
L’ombelico di Svesda, 31. März 2012;
eronsk.xxx, 30. November 2014.

Soundtrack: Patricia Kopatchinskaja & Fazıl Say: Beethoven: Kreutzersonate, Opus 47, 1802:

Written by Wolf

1. Juli 2019 at 00:01