Archive for April 2022
Die leichtfüßige passive Aggression der Revolution
Update zu Charakter ist nur Eigensinn. Es lebe die Zigeunerin!
und Ich lese jedes Wort von Dir. Die Andern liefern nur Geschmier. (Also sprach der kleine Mops):
Dergleichen wächst ja heute viel zu selten: Verspielte Phantasten, die den Ehrgeiz ihrer schreibfreien Zeiten unter anderem in Glasarchitektur und das Perpetuum mobile setzen. In diesen heil’gen Hallen haben wir Paul Scheerbart schon mit seiner vollständigen Katerpoesie 1909 und der ähnlich gearteten Mopsiade 1920 erlebt, aus welchen uns erhellt: Man liest ein Gedicht, eine Geschichte, ja eine ganze Sammlung von beidem gerne zu Ende, wenn sie sich übermütig genug gebärdet. In Kunst egal welcher Ausrichtung sollte es immer was zu lachen geben, sonst ist sie auf staatstragende Miesnickel und zu ihrer Rezeption verdonnerte Zöglinge als Publikum angewiesen.
Natürlich kann ich da von nichts anderem als meiner eigenen Erfahrung ausgehen, aber wenn die Geschichte leichtfüßig daherkommt, begleitet man sie gern bis zu Ende. Wenn sie es dabei schafft, eine Botschaft zu transportieren, nimmt man sie dankbar mit.
Als Beispiel dient uns Paul Scheerbarts Satire Eine Gerichtssitzung im Jahre 1901. 1897 niedergeschrieben, war die nach 1901 vorausverlagerte Handlung tatsächlich Science-Fiction in einer vagen Zukunft des folgenden Jahrhunderts. Das Thema ist im 21. Jahhundert bitter aktuell geblieben, ja eigentlich erst geworden. Und passive Aggression halte ich ohnehin schon viel zu lange für ein probates rhetorisches Mittel, da können Sie jederzeit meine Frau fragen.
Warum dergleichen so selten wächst? Wenn wir Scheerbarts zeitweisen Wegbegegleiter Erich Mühsam befragen, finden wir im Kapitel Scheerbartiana seiner Unpolitischen Erinnerungen 1931: „Während des Krieges ist Paul Scheerbart gestorben; er hat sein Leben lang zuwenig gegessen und zuviel getrunken.“
O ja, das würde einiges erklären.
——— Paul Scheerbart:
Eine Gerichtssitzung im Jahre 1901
Zukunftsnovellette
aus: Ich liebe dich! Ein Eisenbahn-Roman mit 66 Intermezzos, Schuster & Loeffler, Berlin 1897,
in: Das Lachen ist verboten … Grotesken, Erzählungen, Gedichte und Schnurren,
See-Igel-Verlag Fritz Nuernberger, Berlin-Wilmersdorf 1929:
Adolfine, die Tochter des reichen Fabrikanten Beisel, spielt gelassen auf der Mundharmonika. Das junge Mädchen hat bereits zwei Stunden hindurch Musik gemacht und ist noch immer nicht müde.
Plötzlich erschallt ein Hilferuf auf der Straße.
Die Adolfine läßt das Blasen auf der Mundharmonika ein bißchen sein, wendet zur Seite das zierliche Köpfchen und sagt dabei ganz verwundert:
„Ei! Ei! sollt’ ich diese Stimme nicht schon mal gehört haben?“ Schnell eilt die gute Kleine ans Fenster, öffnet’s und — erblickt — erblickt — Friedrich Schumm, einen ehemaligen Buchhalter ihres Herrn Vaters.
Die Fine sinnt — denkt schließlich nach — und erinnert sich allmählich, daß sie Friedrich einst — liebte — liebte!
Das hatte ihn, den Geliebten, so verwirrt gemacht, daß er als Buchhalter sehr bald nicht mehr zu gebrauchen war.
Friedrich ward deshalb vor einigen Monaten entlassen, denn Vater Beisel kannte in Geschäftsangelegenheiten keinen Spaß.
Und jetzt — gerechter Himmel! — jetzt wird der Friedrich am hellen lichten Tage auf offener Straße „verhaftet“.
Das gnädige Fräulein sieht, wie der Schutzmann den geliebten Friedrich an den Ohren herumreißt, ihm die Handschellen anlegt und ihn wütend weiterstuckst.
Das gnädige Fräulein wendet sich unangenehm berührt — fast beleidigt — ab.
Finchen Beisel spielt wieder auf der Mundharmonika, um bloß nicht die häßlichen Straßenszenen zu sehen.
Die Rohheiten sind im vornehmen Beiselschen Hause verpönt.
„Pfui!“ ruft Beisels Töchterlein, „wie ekelhaft sah das aus!“
Die Sonne brennt heiß auf das Straßenpflaster.
Schutzmann und Friedrich verschwinden.
Das vornehme Beiselsche Haus durchhallen die lieblichen Töne der Mundhamonika.
Einige Tage nach diesem peinlichen Auftritt befindet sich Friedrich Schumm auf der Anklagebank.
Die Richter machen ein sehr ärgerliches Gesicht. Der Staatsanwalt schmeißt bereits zum fünften Mal wutschnaubend seinen Federhalter auf den grünen Tisch, denn der Fabrikant Beisel sagt als Zeuge ganz eigentümliche Sachen über den Angeklagten Schumm aus.
Der reiche Beisel schließt seine Rede, in der er den Friedrich Schumm ganz gehörig schlecht gemacht, ihm sein albernes verliebtes Wesen vorgehalten, ihm seinen Größenwahn gehörig aufgemutzt, ihm wegen seiner frechen Gesinnungslosigkeit tüchtig den Kopf gewaschen hatte — mit den folgenden furchtbaren Worten:
„Und verrechnet hat er sich jeden Tag zwei Mal. Gewissenloser Friedrich, kannst Du das leugnen?“
Friedrich weint und schüttelt wehmütig den Kopf.
Der Staatsanwalt erhebt sich und spricht mit donnernder Stimme:
„Angeklagter, Sie sind wegen unmotivierter Mittellosigkeit verhaftet worden, Der Schutzmann Knillke hatte sich am fünfzehnten Juli Ihr Portemonnaie zeigen lassen, wie das seine Pflicht ist bei allen verdächtigen Individuen. Was fand der Schutzmann Knillke in Ihrem Portemonnaie?“
Angeklagter erwidert weinerlich:
„Eine Mark und fünf und fünzig Pfennige.“
Staatsanwalt: „Und davon wollten Sie noch weitere drei Monate leben? Bis in den Oktober hinein? Herr, was fiel Ihnen ein? Sie wissen doch, daß jeder Staatsbürger verpflichtet ist, jederzeit das für die nächsten drei Monate nötige Geld zum Lebensunterhalt bereit zu halten. Angeklagter, wissen Sie das?“
Angeklagter: „Jawohl!“
Staatsanwalt: „Nun also — wovon wollten Sie denn leben? Wovon? Sagen Sie’s nur! Wie dachten Sie sich die Bestreitung des Lebensunterhalts? Werden Sie nun bald antworten? Was?“
Angeklagter: „Ach, Herr Staatsanwalt, ich hoffte ganz bestimmt, ich würde eine neue Stellung bekommen. Ich bin doch Buchhalter.“
Staatsanwalt: „Ob Sie Buchhalter oder Schornsteinfeger sind — das ist vor Gericht ganz egal. Sie sind verpflichtet, Geld zu besitzen, Sie scheinen das Leben noch nicht zu kennen. Sie wissen doch, daß die Zahl der Vakanzen immer kleiner wird. Ich beantrage drei Monate Zuchthaus mit verschärftem Fasten — wegen unmotivierter Mittellosigkeit. Mein Lieber, wir werden Sie schon kleinkriegen. Ich versteh’ es einfach nicht, wie ein ziemlich gebildeter Mensch sich ohne das nötige Kleingeld auf die Straße wagen kann — eine ganz unglaubliche Frechheit!“
Der Staatsanwalt schließt sein Plädoyer und setzt sich auf seinen Stuhl.
Der Gerichtshof verurteilt den Angeklagten dem Antrage des Staatsanwaltes gemäß.
Der Angeklagte bricht laut weinend auf der Anklagebank zusammen, er ruft dabei schluchzend:
„O Gott, was wird meine arme Mutter dazu sagen? Ihr Sohn Friedrich — ein Verbrecher!“
Lautes Heulen durchhallt den Saal.
Der Herr Präsident bemerkt aber sehr streng:
„Angeklagter Schumm! Was weinen und heulen Sie denn? Machen Sie sich doch nicht zum Narren, Sie lächerlicher Mensch! Seien Sie doch froh, daß wir Ihnen für volle drei Monate die Gelegenheit, Diebstähle zu begehen, genommen haben. Sie wissen doch, daß Diebstahl mit täglichem Durchprügeln bestraft wird!“
Angeklagter: „Ja, hoher Herr Gerichtshof, ich dank’ auch schön für die drei Monate, nehmen Sie mir mein Weinen nicht weiter übel. Ich wollte auch nur zeigen, daß ich noch kein,verstockter’ Verbrecher bin! Aber, hoher Herr Gerichtshof, werd’ ich, wenn ich rauskomm’, auch gleich wieder bestraft werden?“
Staatsanwalt: „Sie sind ein naseweiser dummer Junge! Wegen unmotivierten Fragens beantrage ich einen Monat Prügel!“
Angeklagter sieht sich erstaunt um — setzt sich — und sagt langsam, so als wenn plötzlich ein neuer Geist in ihn gefahren wäre:
„Meine Herren, ich glaube, Sie sind sämtlich — wirklich — ganz und gar verrückt geworden.“
Nach diesen Worten des Angeklagten Friedrich Schumm bricht zum Glück für ihn auf der Straße wieder eine Revolution aus.
Der Präsident und alle Richter laufen rasch nach Hause — der Staatsanwalt und die übrigen Beamten desgleichen.
Schumm bleibt auf seiner Anklagebank verdutzt, ganz ruhig sitzen.
Er ist im nu ganz allein im Gerichtssaal — tatsächlich allein — ein Vergessener!
Er weiß gar nicht, wie er sich benehmen soll.
Inzwischen entwickelt sich die Revolution ganz programmgemäß und zielbewußt.
Schumm versteckt sich später unter seiner Anklagebank, da die Kugeln der Revolutionäre den oberen Teil des Gerichtssaales nur so durchsausen.
Adolfine Beisel denkt währenddem recht freundlich an ihren geliebten Friedrich, verzeiht ihm im Stillen und bläst dazu wieder auf der Mundharmonika.
Die August-Revolution kommt der jungen Dame diesmal genau so langweilig vor, wie die letzte April-Revolution.
Bilder: a. a. O., 1897.
Bläst gelassen auf der Mundharmonika: Big Mama Thornton: Rooster Blues, Ball & Chain, Hound Dog,
about 3 months before she died und nachhaltiges Fernseherlebnis in der ZDF-Matinée, 1984:
Wenn 12 Lenze dir entflohn
Update zu Weihnachtsengel 3: Lasst mich scheinen, bis ich werde
(Mit Freuds Worten singt Mignon als Engel ihr Liebeslied der schönen Seele ohne Geschlecht),
Zu Lolitas Verteidigung,
Fruchtstück 0002: Ein Schooß voll den begehr ich nicht
und Liebchen öffne deinen Schoos:
Das genaue Jahr war nicht zu ermitteln, aber die Spannweite ist nicht sehr groß: Ludwig Hölty starb 1776 mit 27 Jahren an der Schwindsucht. An den Änderungen einer verderbten Version in einer Sammlung aus Wien 1803 ist allenfalls die empfundene Gefährlichkeit des Inhalts zu erkennen, die man dem immer Kind gebliebenen Dichter von Üb immer Treu und Redlichkeit so nicht zutrauen wollte.
Zur Erinnerung: Die historische Florence Sally Horner (* 1937, † 1952) sowie ihr literarisch aufgearbeitetes Abbild „Lolita“ bei Nabokov (1955 ff.) waren anfangs elf Jahre alt.
——— Ludwig Hölty:
Wiegenlied, an ein Mädchen
vor 1803:
Noch schlinget dich die süße Ruh
In ihren Arm. Vergnügt,
Mein kleines Püppchen, schlummerst du,
Wenn dich die Amme wiegt.Auf deinen Wangen keimet schon
Ein sanftes Morgenroth,
Das, wenn 12 Lenze dir entflohn,
Mit schönen Feßeln droht.Um deine jungen Blicke schwebt
Ein Lächeln, welches bald
Dem Stutzer goldne Netze webt,
Der dir entgegenwallt.Dann öfnen hundert Fenster sich,
Wenn du am Fenster stehst,
Und Blick auf Blick verfolget dich,
Wenn du zur Kirche gehst.Man lobt, von warmer Lieb entbrannt,
Bald deinen kleinen Fuß,
Bald dein Gesicht, bald deine Hand,
Und wünscht sich deinen Kuß.Du aber, holder als der May,
Der sich in Blüthen hüllt,
Mein Püppchen, bleib der Unschuld treu,
Die jetzt dein Herz erfüllt.Es wimmre der Insektenchor
Des Stutzervolks sich heisch!
Leih nie dein jungfräuliches Ohr
Dem summenden Geräusch.Die Tugend, die der Himmel minnt,
Schätz über Gold und Rang.
Dann sing ich dir, mein schönes Kind,
Noch einst den Brautgesang.
Bilder: Sue Lyon (* 1946, † 2019), die Lolita 1962 unter Stanley Kubrick,
in: Tony Rome, 1967, via Don’t touch me, I’ll die if you touch me, 2022,
auf dem Filmplakat mit Frank Sinatra (* 1915, † 1998), via FamousFix.
Soundtrack: Hugh Laurie: LIttle Girl, aus: A Bit of Fry & Laurie, Folge #4.3, 26. Februar 1995::
Filetstück 0006: Gelehrsamkeit war Hinnerk sein Fall nicht
Update zu Und vierzehn Gräser formen ein Sonett,
Filetstück 0004: Lieber ein bissel zu gut gegessen, als wie zu erbärmlich getrunken (Eduard schnarche nicht so!)
und Filetstück 0005: Was erst verdrießlich schien, war schließlich gut für ihn:
Die Welt vermisst schnurrige Geschichten, in denen zwölfjährige Bengel mit aller gebotenen Selbstverständlichkeit Pfeife rauchen.
Wenden wir uns zu seinem 190. Geburtstag an Wilhelm Busch (* 15. April 1832, Wiedensahl). Die ersten beiden seiner Prosawerke – wir haben auf Eduards Traum 1891 und den Schmetterling 1895 aufmerksam gemacht – sind immerhin noch in der gut zugänglichen zweibändigen „Gesamt“-Ausgabe von Rolf Hochhuth 1960 vorhanden, nach seinem letzten Prosastück Meiers Hinnerk 1905 sucht man selbst dort vergebens.
Begründet oder auch nur begründbar ist das nicht, aber dafür gibt es ja uns. Es ist offenbar eins der Werke, die Busch nicht selbst illustriert hat, was uns den Spielraum verschafft, modernes Bildmaterial dazu in Beziehung zu stellen. Es stammt deshalb nicht aus dem Wilhelm-Busch-Museum in Buschs Geburtsort Wiedensahl, sondern aus seinem Sterbeort Mechtshausen mit dem Wilhelm-Busch-Haus, weil anzunehmen ist, dass er bei der Niederschrift die Landschaft mit Blick auf den Heber vor Augen hatte: nicht mehr ganz in der Heimat seiner Kindheit bis in die mittleren Jahre, noch nicht ganz im Harz. Großstädter war er trotz Lebensstationen in Düsseldorf, Frankfurt und München nie: Mechtshausen, das Busch sich wissend und gerne als Alterssitz ausgesucht hat, zählte auf dem Stand von 2018 satte 371 Einwohner und anno 1898 bestimmt nicht viel mehr; die Landschaft müsste ihm also entsprochen haben.
Man braucht etwa eine Viertelstunde zum Vorlesen, wie es nicht zuletzt Andreas Muthesius auf Spotify – als Rausschmeißer aus dem Hörbuch Wilhelm Busch: Poesie & Prosa 2012, und das in sehr angemessenem Tonfall – vormacht. Die o. g. „Gesamt“-Ausgabe, an der mir nach all den Jahrzehnten erst 2022 dieser eine Fehlbestand aufgefallen ist, gehört trotzdem in jeden Haushalt.
——— Wilhelm Busch:
Meiers Hinnerk
Manuskript datiert als „Mechthausen December 1905“,
Niedersächsisches Kalenderbuch Der Heidjer, 1907,
in: Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bde. I–IV, Band 4, Hamburg 1959, Seite 332 bis 336:
Grad ausgestreckt in der Ebene und Hof an Hof lag das alte friedliche Dorf, die Häuser mit Stroh gedeckt. Und jedes Haus hatte rückwärts sein Gärtchen und hinter jedem Gärtchen sein Ackerfeld, und durch jedes Feld ging ein Grasweg, ein breiter, nach der heckenumgrenzten Wiese, und hinter sämtlichen Wiesen stand der hohe schattige Wald.
Es war ein heiterer Tag zu Anfang des Herbstes, wenn durch die Luft schon die silbernen Mettken schweben. Aus allen Gehöften, wie nachmittags gewöhnlich, kamen die kleinen Hirten und Hirtinnen mit ihren Kühen.
Auch Meiers Hinnerk hatte zwei, eine schwarze und eine braune, am Strick, um sie, zunächst den Grasweg beweidend, allmählich der Wiese entgegenzuführen. Zwölf Jahre war er alt, flachshaarig und wohlgenährt. Längst war ihm die verblaßte leinene Hose zu eng und zu kurz geworden. Hinten drauf, einander gegenüber, gleich einer blauen Brille, saßen sogar schon, zu seinem Verdruß, zwei zirkelrunde dunklere Flicken; ein Werk der nehrigen Mutter, die immer behaupten wollte, in alten Hosen sähen Jungens am strammsten und gesundesten aus.
Gelehrsamkeit war Hinnerk sein Fall nicht. Dennoch, während die beschränkten Tiere am Boden ihr Futter suchten, zog er sofort seinen Katechismus aus der zugeknöpften Jacke hervor. Mit helltönender Stimme, in steter Wiederholung, prägte er die Aufgabe für den folgenden Schultag in den widerspenstigen Schädel. Seine Kollegen im Felde, weithin vernehmlich, übten dieselbe Lektion. Sie wußten warum. Küster Bokelmann, der Meister der Schule, besaß einen kniffigen Rohrstock, der die schlummernden Seelenkräfte, selbst im voraus, vorzüglich zu ermuntern verstand.
Nachdem das dringende Geschäft der Bildung des Geistes somit glücklich erledigt war, widmete sich unser Hinnerk einer mehr freien gemütvollen Tätigkeit.
Auf dem Rücken der schwarzen Muhkuh, an geeigneter Stelle, begann er Haare zu zupfen und bildete so auf der entblößten Haut ein großes lateinisches L. Hierbei, sinnig vertieft, sang er leise den Namen Lina vor sich hin, indem er auf dem i besonders lange quinquillierend verweilte.
Mittlerweile hatte er die Wiese erreicht, schloß das Tor, nahm den Kühen den Strick ab und ließ sie grasen nach Belieben.
Wo ein Kuhjunge hütet, muß natürlich ein Feuer sein. An sich schon dem Auge ergötzlich, bei kühlem Wetter auch willkommen der Wärme wegen, ist es geradezu unentbehrlich für das Braten der Kartoffeln.
Demnach vor allen Dingen sammelte Hinnerk feine Spricker und brach dünne Knüppel aus der Hecke. Da es zur Zeit noch keine Reibhölzchen gab, mußte er erst emsig pinken, bis an den Zunder der richtige Funken sprang. Einen Topp Hede hatte er mitgebracht. In ihn ward der glimmende Schwamm gehüllt, durch Weifen und Pusten die Flamme entfacht, zunächst dünnes, dann dickes Holz regelrecht drüber geschichtet, und hochauf loderte bald ein erfreulicher Scheiterhaufen.
Beiseit, schon früher aus Zweigen und Plaggen erbaut, stand Hinnerks zwar enge, doch trauliche Hütte. Aus dieser entnahm er das von ihm selber geflochtene Weidenkörbchen, begab sich ins Feld hinaus und kehrte zurück mit zwei Dutzend der dicksten Kartoffeln und fünf jungen Mäusen, die er beizu im Neste erwischt und getötet hatte. „Dat sind fief fette Happen vär use Kättkens terhus“, dachte er schmunzelnd.
Noch waren zum Einlegen der rötlichen Knollen nicht Kohlen genug reif. Infolgedessen kriegte Hinnerk sein Messer heraus, ein wertvolles Werkzeug, für drei Mariengroschen hat’s ihm der gute Vater gekauft auf dem Markt in der Stadt. Das kleine Öhr am Heft, um’s mit einer Schnur an der Hosentasche zu befestigen, war übrigens eine Sicherheitsvorrichtung, die Hinnerk verschmähte. Er flötete, prüfte am Daumen die Schneide, fällte eine stattliche Doldenpflanze und verfertigte aus ihren hohlen Stengeln ein niedliches Schmökepfeifchen; denn sich täglich ein wenig im Rauchen zu üben, hielt er für nötig, und was den Tabak betrifft, so schien ihm recht trockenes Haselnußlaub für den Anfang nicht übel.
Sein gestopftes Pfeifchen zu entzünden, näherte sich Hinnerk der Feuerstätte.
„Hutt bäh!“ rief eine Mädchenstimme, und Nachbars Gretliesche, ein munteres hübsches rothaariges Kind von elf Jahren, kroch durch ein Loch in der Hecke.
„Wat wutt du denn hier?“ fragte Hinnerk sehr kühl.
„Helpen!“ erwiderte sie kurz und keck. Ohne weiteres legte sie die Kartoffeln ins Feuer, hielt dem Hinnerk einen glühenden Span auf die Pfeife, setzte sich aufs Rasenbänkchen in der Hütte und lud ihn ein, zu ihren Füßen sich niederzulassen, wozu er sich nach einigem Zögern auch wirklich entschloß.
Liebkosend nahm sie ihn beim Kopf und unterzog denselben alsbald einer genauen Besichtigung.
„Eck finne jo nix!“ rief sie enttäuscht.
„Dat löw eck woll“, meinte er, „hat gistern use Grotmeuhme all’e knicket.“
Aber Gretliesche, ganz leise leise, krabbelte weiter im Haar. Ein wonniges Rieseln lief ihm den Rücken hinunter. Die Pfeife entsank seiner Hand, die Augen schlossen sich halb. In solch einem dämmerigen Zustand sagt der Mensch manches, was er sonst wohl verschwiegen hätte.
„Segg eis, Hinnerk“, fragte sie behutsam, „haste denn ok all ’ne Brut?“
„Swarte Haare hat se und glinstertswarte Ogen un“ – er stockte.
„Oh, nu weet eck et all!“ rief Gretliesche, „Kösters Lina is et, de is jo tein Jahre öller ans du.“
„Dat deit nix“, sagte er, „und wenn se ok dusend Jahr öller is.“
„Ja“, meinte Gretliesche dagegen, „wenn man Verwalter Klütke mit sinen langen Snurrbart nich wöre.
„Den Kerl sla eck dot!“ rief er heftig.
„Und denn komet se her un hänget di upp!“ entgegnete sie.
„Erst hebben!“ lachte er. „De längeste Mettwost hal eck un lope weg und vestäke mi baben in der Schüne int Hei.“
„Oh, wat’n Nare!“ Mit diesen Worten gab ihm die Gretliesche einen verächtlichen Schubbs und sprang aus der Hütte.
„Kiek na den Kartuffeln!“ rief Hinnerk ihr nach.
„Do et sülbenst!“ Und weg war sie durch die Hecke.
Er versuchte auszuspucken. Es ging aber nicht recht.
„Van den Smöken werd’n ok so dröge in’n Halse“, murmelte er in sich hinein.
Eben graste die rote Kuh mit dem strotzenden Euter vorüber. Er strich ihr sanft über den Rücken.
„Woha!“ Das gute Tier stand still. Dicht hinter ihr setzte er sich in die Hurke, zog eine Zitze zu sich her und melkte einige Spritzer in den weit geöffneten Mund, daß es strullte.
Im selben Augenblick – so war es vorher bestimmt im Laufe der Dinge – hob die Kuh ihren Schwanz, indem sie ihn, des größeren Nachdruckes wegen, zugleich schraubenförmig verkrümmte; nicht ohne warmen Erfolg.
„Hahaha, dat is di jüst recht!“ lachte und rief wer von seitwärts herüber. Oben in einer hainbuchenen Hucht saß die Gretliesche und sah zu mit Vergnügen.
„‚Ole Ape!“ war alles, was Hinnerk drauf sagte.
Vermittels eines Grasbüschels, ohne sich sehr zu erregen, brachte er die Sache bald wieder, sozusagen, ins reine.
Und nun ging’s an die Kartoffeln. Sie schmeckten ihm trefflich; auch mußte er sich schneuzen mitunter, auf natürliche Art; daher wurde er um Mund und Nase schön schwarz übermusselt.
Jetzt aber fiel ihm was Wichtiges ein. Aus dem Murk, dem heimlichen Versteck unter der Rasenbank, entnahm er ein absonderlich merkwürdiges Schießeding; einen ausgehöhlten Ast, mit Draht umflochten, seitlich mit Zündloch versehen. Eine Tute voll Pulver, das er beim Krämer gegen Eier sich eingetauscht – er wußte die verborgensten Hühnernester – kam gleichfalls zum Vorschein. Kräftig wurde geladen, und mächtig war der Knall.
Das schüchterne Reh, das kurz vorher aus dem Wald in die Wiese getreten, entfloh in Eile. Angelockt durch den Schuß dagegen wurden drei andere Hütejungens: Kord, Krischan und Dierk.
Zum zweiten Male ward das Geschütz geladen, zum zweiten Male ballerte weithin das Echo im Walde entlang.
Hiernach setzten sich die vier behaglich ans Feuer, alle schwarz um die Mäuler.
Krischan besaß einen richtigen Tonpfeifenstummel, gefüllt mit echtem Bauernkanaster, den er direkt, doch unter der Hand, von seinem Alten bezog. Jeder, der Reihe nach, tat einen tüchtigen Zug daraus.
Kord danach gab einen saftigen weinsauren Apfel zum besten. Jeder, der Reihe nach, tat einen tüchtigen Biß hinein.
Dierk aber führte bei sich einen knorrigen Eichenstock, dessen Griff ein menschliches Antlitz vorstellte, von Dierk selber geschnitzt. Der Knittel, zur Besichtigung, ging gleichfalls reihrund. Besonders genau sah Krischan das Bildnis sich an.
„Dönnerslag“, rief er, „dat is jo de Köster. Ehrgistern hat he mi hauet, un vandage deit mi de Lenne noch weih!“
Und ehe Dierk es verhindern konnte, brach Krischan den künstlichen Stock vor dem Knie ab und übergab ihn den Flammen.
„Hurra!“ jubelten die Jungens, tanzten ums Feuer, häuften grüne Ellernzweige darauf und erzeugten so einen großen herrlichen Dampf, der als duftiger Schleier die Gegend umhüllte.
Die Sonne ging unter. Vom Dorfe her tönte die Abendglocke.
„Et is Tiet“, mahnte Hinnerk, „de Bäklocke lutt.“
Jeder eilte zu seinen Kühen, um sie am Strick nach Hause zu geleiten.
Angenehme Gerüche, die Vorboten des Abendessens, wehten ihnen entgegen und erregten die Gemüter zu Jauchzen und Gesang.
Küster Bokelmann, die lange Pfeife im Munde, führte an seiner Gartenpforte mit Verwalter Klütke ein gemütliches Dämmergespräch.
„Es gibt ander Wetter“, sprach er, „die Kuhjungens schreien heut so im Felde.“
„Ganz recht, Herr Kanter; vor der Sonne stand eine verdächtige Wolke“, stimmte Klütke ihm bei.
Indem kam Lina gesprungen.
„Papa“, rief sie schon von weitem, „der Pfannkuchen wartet. Ei sieh da, Herr Verwalter, wollen Sie nicht mitessen bei uns?“
„Wer könnte einer Einladung von solch reizender Seite widerstehen?“ erwiderte Klütke, verbindlich den Schnurrbart streichend.
„Dat di de Düwel wat backet!“ knurrte Hinnerk, der gerade vorüberzog, mit einem grimmigen Seitenblick.
Als er den elterlichen Hof erreichte, strich schon leise miauend die Katze an ihm hin. Dankbar nahm sie ihre fünf kleinen Mäuse in Empfang.
An der Tür stand die Großmutter, ihren Liebling erwartend.
„Minsche, wo swart sühst e ut!“ rief sie bei seinem Anblick erschrocken.
Eilig führte sie ihn in den Hintergrund des Hauses, wo das Küchengerät stand, rieb ihm Kopf und Gesicht mit dem feuchten, geschmeidig fettigen Schüsseltuch und trocknete ihn ab mit der Schürze.
In der Döntze baumelte bereits der brennende Trankrüsel an dem verstellbaren Haken. Auf der Tischplatte lag ein Haufen dampfender Kartoffeln; daneben, auf rundem Brett, stand das köstliche Pannenstippelse, bereitet aus geglühtem Rüböl und gebratenen Zwiebeln. Vater und Mutter tunkten schon ein. Hinnerk nahm dicht bei der Großmutter Platz. Sie pellte ihm sauber die schönsten Kartoffeln ab. Zwei verzehrte er, nicht eben geschwind. Dann klappte er entschieden sein Messer zu.
„Wo vele hast e denn all bipacket in der Wisch?“ fragte sorglich die Großmutter.
„En stücker twölwe, mehr nich“, erwiderte er gähnend.
Die Großmutter befühlte ihm den Leib.
„No“, meinte sie beruhigt, „denn konnste wol faste liggen düsse Nacht.“
Das tat er denn auch. –
Überhaupt, seine Herzenssorgen waren nicht so bedrückend, daß sie ihm jemals die nächtliche Ruhe störten; selbst dann nicht, als drei Monate nachher Verwalter Klütke, der ein kleines Gütchen gepachtet hatte, sich mit der schönen Lina vermählte.
Und so geht’s zu in dieser neckischen Welt: zehn Jahre später hat die Gretliesche ihren Hinnerk doch noch gekriegt.
Fachfilm: Wilhelm-Busch-Haus Mechtshausen e. V., 2015:
Bilder: Mechtshausens Homepage, Ortsbilder … eines der schönsten Dörfer am Harzrand, ca. 2015;
Wilhelm-Busch-Haus aus harzlife.de, der Online-Reiseführer.
Soundtrack, damit am Geburtstag was aus dem Geburtsort und am Karfreitag was Österliches dabei ist:
Handglockenchor Wiedensahl in Gestalt von Thomas Eickhoff: Dona nobis pacem am 9. April 2020:
Dornenstück 0009: Die Kinder verdarben (Schauderhaft, höchst schauderhaft)
Update zu Nachtstück 0003: Polizistenschatten im Laternenschein,
Wenn andere bluten und
Morgenstern über Greifswald (und keiner schaut hin):
Ne prêtez pas vos livres : personne ne les rend jamais. Les seuls livres que j’ai dans ma bibliothèque sont des livres qu’on m’a prêtés.
Anatole France zugeschrieben.
Die Moral ist offenkundig: Du sollst keine Bücher verleihen. Ebenso offenkundig war es bei Hermann Harry Schmitz nicht die Familienbibel, das Buch wurde nur so benutzt. Außerdem konnte es erst durch seine Abwesenheit solches Unheil anrichten. Und wer trug die Schuld: das Buch oder Herr Mehlenzell?
——— Hermann Harry Schmitz:
Das verliehene Buch.
aus: Der Säugling und andere Tragikomödien, Abschnitt Was so in der Familie vor sich geht,
Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig 1911, Seite 80–84:
Es war ein prächtiges Buch mit Goldschnitt und Damasteinband, das in der guten Stube auf dem Tisch lag.
Es war ein sehr langweiliges Buch mit schlechten, sehr schlechten Illustrationen.
Es war der Stolz der ganzen Familie.
Nur der Vater durfte das Buch in die Hand nehmen. An Festtagen setzte sich der Vater sonntagsangezogen in die gute Stube und las der Mutter und den Kindern mit sonorer Stimme und falscher Betonung aus dem feinen Buch vor. Würdevoll und prätentiös wusch er sich vorher die Hände. Häufig unterbrach er das Vorlesen und erklärte die Abbildungen. Die Kinder machten verständige Gesichter und große, kluge Augen; sie kniffen sich heimlich gegenseitig in die Beine. –
Herr Mehlenzell war ein Bekannter des Vaters; er hatte einen Kolonialwarenladen und schrieb an.
Man brauchte viel im Haushalt, und das Gehalt des Vaters war klein.
Herr Mehlenzell bat eines Tages den Vater, er möchte ihm das prächtige Buch leihen. Der Vater erbleichte; er konnte nicht gut „nein“ sagen.
„Auf ein paar Tage. – Bestimmt, selbstverständlich haben Sie es nächsten Sonntag zurück,“ hatte Herr Mehlenzell gesagt.
Man sprach in der Familie nur über das Buch. Die Mutter meinte, man hätte es ihm nicht geben sollen. Der Vater war sehr ernst. „Bestimmt haben Sie es Sonntag zurück, hat Herr Mehlenzell gesagt,“ verteidigte sich der Vater. „Wir wollen sehen,“ brummte die Mutter.
Wo das Buch in der guten Stube gelegen hatte, war ein viereckiger Fleck auf der Tischdecke; der Plüsch war da nicht so verschossen.
Der Sonntag kam. Man war schon sehr früh aufgestanden. Es wurde Mittag; Herr Mehlenzell hatte das Buch nicht gebracht. Der Vater saß mit der Mutter in der guten Stube und war sehr ernst. Keinem hatte das Essen so recht geschmeckt. Um die Kinder kümmerte sich niemand. Man ließ sie im Garten über die Bleiche tollen und ungestört die unreifen Stachelbeeren essen. – Der Vater trank eine halbe Flasche Rum. Die Mutter hatte verweinte Augen. Die gute Stube wurde abgeschlossen.
Der Vater mußte Montag und Dienstag im Bett liegen. Die Mutter vernachlässigte den Haushalt. Die Kinder verwilderten.
Hundertundvierzig Mark bekam Herr Mehlenzell noch. Man durfte nicht wagen, ihn an das Buch zu erinnern.
Es war unheimlich im Hause, wie wenn jemand gestorben wäre. Den Vater sah man viel mit der Rumflasche hantieren. Die Familie ging zurück. –
Der dritte Sonntag kam und das Buch war noch immer nicht da.
Es konnte so nicht mehr weiter gehen.
Nach dem Mittagessen schrie der Vater nach seinem schwarzen Rock und den Manschetten, rasierte sich und ging zu Mehlenzells.
Frau Mehlenzell öffnete selbst.
Er fragte nach Herrn Mehlenzell.
Frau Mehlenzell war mürrisch und fragte, was es sei. Ihr Mann wolle nach dem Essen nicht gestört sein; was es sei.
Es sei sehr dringend, er müsse mit Herrn Mehlenzell sprechen, beharrte der Vater.
Frau Mehlenzell ging brummend in ein Zimmer und ließ den Vater auf dem Korridor stehen.
Frau Mehlenzell hatte die Tür nicht fest hinter sich zugemacht. Herr Mehlenzell schimpfte, man solle ihn ungeschoren lassen. Was denn der Hungerleider wolle? Dann wurde von innen wütend die Tür zugeschlagen.
Nach einer Weile kam Frau Mehlenzell zurück; ihr Mann hätte nicht viel Zeit, er möge sich kurz fassen. –
Herr Mehlenzell lag auf dem Sofa und rauchte eine Zigarre. Er stöhnte den Vater an und blieb ruhig liegen.
Er wolle ihm auf die Rechnung etwas abbezahlen, fing der Vater schüchtern an.
Herr Mehlenzell richtete sich auf und bat den Vater, doch Platz zu nehmen; er schob ihm auch das Zigarrenetui hin.
„Über wieviel darf ich quittieren, bitte?“
„Über zwanzig Mark.“
Herr Mehlenzell nahm das Zigarrenetui wieder an sich.
Im Nebenzimmer übte jemand sehr auf dem Klavier.
„… und dann, was ich sagen wollte,“ quetschte der Vater hervor, „ich möchte mal nach dem Buch fragen, ob es Ihnen gefallen hat und ob Sie es vielleicht aushaben?“
„Welches Buch?“
„Sie wissen doch – das Buch von mir, das schöne Buch, was ich Ihnen vor drei Wochen geliehen habe.“
„Ach so, ja. Jetzt fällt es mir ein. – Ja, wo habe ich das?“
Dem Vater standen dicke Angstperlen auf der Stirn.
„Warten Sie einmal, da muß ich meine Frau fragen. Haben Sie denn das Buch so nötig?“
Herr Mehlenzell verließ murmelnd das Zimmer.
Im Nebenzimmer spielte man zum siebenten Male „Mädchen, warum weinest Du„.
Der Vater ging an die halb geöffnete Tür und schaute hinein. Lenchen Mehlenzell saß am Klavier.
Man hatte auf einen Stuhl Bücher gelegt, damit Lenchen hoch genug saß.
Der Vater war einer Ohnmacht nahe; Lenchen saß auf dem prächtigen Buch!
Der Vater war sonst nicht roh. Er stürzte aus dem Hinterhalt auf das nichtsahnende Kind und warf es von seinem Sitz, ergriff das Buch und floh.
Zu Hause. – Das Buch wurde geprüft, es hatte gelitten. Man hatte auf dem Deckel etwas geschnitten, etwas Fettiges, scheinbar Wurst. Es mußte häufig gefallen sein, die Ecken waren verbogen und die Seiten saßen teilweise lose im Rücken.
Mit zitternder Hand blätterte der Vater in dem Buch.
Seite 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 40 – der Vater wurde stutzig … 41, 42, 43, 44, 13, 14, 15, 58, 59, 60, 61, 16 – der Vater wurde grün im Gesicht … 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 105, 106, 107, 108 – dem Vater fiel sein Glasauge aus dem Kopf … 109, 110 – jetzt wurden die Seiten kleiner, sehr seltsam … 111, 112. Seite 110 schloß „Wanderburschen, wandert zu in die weite Welt hinaus“, und es ging weiter aus Seite 111 „mit der weißen, aristokratischen Hand durch das gewellte Haar und ging erregt auf Leonie zu.“ In Vaters Buch kam keine Leonie vor. Der Vater bekam einen eiförmigen Kopf.
Der Vater erschlug die Mutter.
Aus dem Buch fiel eine Ansichtskarte an Frau Mehlenzell aus Saarbrücken und ein Zettel mit den denkwürdigen Worten: „2 Paar Socken, 3 Kragen, 1 Taschentuch, 1 Vorhemdchen, 1 Paar Manschetten.“
Der Vater sprang am Fenster hinaus und brach das Genick.
Die Kinder verdarben. –
Bilder: Svato Zapletal: Hermann Harry Schmitz: Das verliehene Buch • Die vorzügliche Kaffeemaschine,
Svato Verlag, Hamburg 2008;
Cover Hermann Harry Schmitz: Buch der Katastrophen, Diogenes 1978.
Soundtrack: Mädchen, warum weinest Du?, belegt ab 1843;
Einspielung von Dagmar Manzel, aus: MENSCHENsKIND, 2014:
Bonus Track: Bell Book & Candle: Rescue Me, aus: Read My Sign, 1997 f.:
Krullsekt (Fürchten Sie die Gesetze!)
Update zu Ich trinke ein Glas Burgunder!,
Damit du siehst, wie leicht sich’s leben läßt
Saufspiele für Bücher-Geeks
und Wein-Lese:
Ich tränke gern ein Glas, die Freyheit hoch zu ehren,
Wenn eure Weine nur ein Bißchen besser wären.Mephistopheles, Vers 2245 f.
Dem Vorsatz, nicht immer bloß aus dem ersten Theil, erstes Buch, erstes Capitel zu zitieren, ist schwer Folge zu leisten. Vor allem wenn man wie ich am liebsten mit dem Nachwort anfängt und dann natürlich schon auf den ersten 40 Seiten schwächelt. Und wenn man bei der Charakterisierung der Hauptfiguren über ihr marktwirtschaftliches Produkt seinen oberexquisiten Gummibärchensirup (Kong Strong Wild Power Urban Classic) durch die Nase prustet vor Lachen.
Das so vielversprechend beschriebene Etikett war nicht aufzutreiben — vermutlich weil es nie ausgeführt wurde. Wenn bei Gelegenheit jemand so viele künstlerische mit technischen Fertigkeiten verbinden wollte?
——— Thomas Mann:
Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull
Der Memoiren erster Teil. Erstes Buch, Erstes Kapitel,
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1954, Fischer-Gesamtausgabe Seite 267 f.:
Mein armer Vater war Inhaber der Firma ‚Engelbert Krull‘, welche die untergegangene Sektmarke ‚Lorley extra cuvée‘ erzeugte. Unten am Rhein, nicht weit von der Landungsbrücke, lagen ihre Kellereien, und nicht selten trieb ich mich als Knabe in den kühlen Gewölben umher, schlenderte gedankenvoll die steinernen Pfade entlang, welche in die Kreuz und Quere zwischen den hohen Gestellen hinführten, und betrachtete die Heere von Flaschen, die dort in halbgeneigter Lage übereinandergeschichtet ruhten. Da liegt ihr, dachte ich bei mir selbst (wenn ich auch meine Gedanken natürlich noch nicht in so treffende Worte zu fassen wußte), da liegt ihr in unterirdischem Dämmerlicht, und in euerem Innern klärt und bereitet sich still der prickelnde Goldsaft, der so manchen Herzschlag beleben, so manches Augenpaar zu höherem Glanze erwecken soll! Noch seht ihr kahl und unscheinbar aus, aber prachtvoll geschmückt werdet ihr eines Tages zur Oberwelt aufsteigen, um bei Festen, auf Hochzeiten, in Sonderkabinetten eure Pfropfen mit übermütigem Knall zur Decke zu schleudern und Rausch, Leichtsinn und Lust unter den Menschen zu verbreiten. Ähnlich sprach der Knabe; und so viel wenigstens war richtig, daß die Firma ‚Engelbert Krull‘ auf das Äußere ihrer Flaschen, jene letzte Ausstattung, die man fachmännisch die Coiffure nennt, ein ungemeines Gewicht legte. Die gepreßten Korken waren mit Silberdraht und vergoldetem Bindfaden befestigt und mit purpurrotem Lack übersiegelt, ja, ein feierliches Rundsiegel, wie man es an Bullen und alten Staatsdokumenten sieht, hing an einer Goldschnur noch besonders herab; die Hälse waren, reichlich mit glänzendem Stanniol umkleidet, und auf den Bäuchen prangte ein golden umschnörkeltes Etikett, das mein Pate Schimmelpreester für die Firma entworfen hatte und worauf außer mehreren Wappen und Sternen, dem Namenszuge meines Vaters und der Marke ‚Lorley extra cuvée‘ in Golddruck eine nur mit Spangen und Halsketten bekleidete Frauengestalt zu sehen war, welche, mit übergeschlagenem Beine auf der Spitze eines Felsens sitzend, erhobenen Armes einen Kamm durch ihr wallendes Haar führte. Übrigens scheint es, daß die Beschaffenheit des Weines dieser blendenden Aufmachung nicht vollkommen entsprach. „Krull“, mochte mein Pate Schimmelpreester wohl zu meinem Vater sagen, „Ihre Person in Ehren, aber Ihren Champagner sollte die Polizei verbieten. Vor acht Tagen habe ich mich verleiten lassen, eine halbe Flasche davon zu trinken, und noch heute hat meine Natur sich nicht von diesem Angriff erholt. Was für Krätzer verstechen Sie eigentlich zu diesem Gebräu? Ist es Petroleum oder Fusel, was Sie bei der Dosierung zusetzen? Kurzum, das ist Giftmischerei. Fürchten Sie die Gesetze!“ Hierauf wurde mein armer Vater verlegen, denn er war ein weicher Mensch, der scharfen Reden nicht standhielt. „Sie haben leicht spotten, Schimmelpreester“, versetzte er wohl, indem er nach seiner Gewohnheit mit den Fingerspitzen zart seinen Bauch streichelte, „aber ich muß billig herstellen, weil das Vorurteil gegen die heimischen Fabrikate es so will – kurz, ich gebe dem Publikum, woran es glaubt. Außerdem sitzt die Konkurrenz mir im Nacken, lieber Freund, so daß es kaum noch zum Aushalten ist.“ Soweit mein Vater.
Bilder: Château Migraine: Grand vin misérable, Domaine Scharlatan, Appellation souterraine pas controlée, avec Goldmedaille.
Soundtrack: Dschinghis Khan: Loreley, aus: Wir Sitzen Alle Im Selben Boot, 1981.
Teuflischerweise eine nicht ganz reizlose Melodie: