Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Archive for Dezember 2019

Nachtstück 0025: Die Thurmuhr brummte Zwölf

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Update zu Ausblick und
Ist das wieder ein Silvester!:

Carl Christian Kehrer: Anna Louisa Karsch, 1791, Gleimhaus HalberstadtDie Muse will, daß ich mit einer Dichterin beschließen soll, die sich oft, und manchmal am unrechten Ort den Namen Sappho giebt. Ich würde diesen Frauenzimmereinfall nicht zur männlichen Wahrheit machen: wenn nicht die Bestimmtheit, mit der sie auf sich zeigt, es verriethe; einige ihrer Verehrer haben vielleicht ihre Bescheidenheit in diesen süßen Traum gewieget.

Wenn man die Gedichte der Mad. Karschin auch nur als Gemählde der Einbildungskraft betrachtet: so haben sie wegen ihrer vielen originalen Züge mehr Verdienst um die Erweckung Deutscher Genies, als viele Oden nach regelmäßigem Schnitt; ich will ihr auch so gar mehr einräumen, als ihr die Literaturbriefe gestatten; dem ohngeachtet aber kann ich doch fragen: ist sie Sappho?

Johann Gottfried Herder: Sappho und Karschin, aus: Ueber die neuere deutsche Litteratur: Zwote Sammlung von Fragmenten.
Beilage zu den Briefen, die neueste Litteratur betreffend, 1767.

Nowazembla ist die nordwestrussische Nowaja Semlja über der Oblast Archangelsk im Nördlichen Eismeer; die Fußnote zu Kocyt und Acheron geht:

Kocytos, der Fluß des Wehklagens, mit dem Acheron Flüsse der Unterwelt.

Flüsse des Wehklagens. Wir sehen uns am anderen Ufer.

——— Anna Louisa Karsch, „A. L. Karschin, geb. Dürbach“:

Das Abentheuer einer Winternacht.

vor 1792, in: Karl Heinrich Jördens, Hrsg.: Denkwürdigkeiten, Charakterzüge und Anekdoten aus dem Leben der vorzüglichsten deutschen Dichter und Prosaisten, Erster Band, bei Paul Gotthelf Kummer, Leipzig 1812:

Anna Louisa Karsch, Das Abentheuer einer Winternacht

Anna Louisa Karsch, Das Abentheuer einer Winternacht

Anna Louisa Karsch, Das Abentheuer einer Winternacht

Bild: Carl Christian Kehrer: Anna Louisa Karsch, 1791, Gleimhaus Halberstadt.

Soundtrack: The McCalmans: New Year’s Eve Song, aus: Honest Poverty, 1993,
Text zum Mitschmettern auf Ein neues Stiefelpaar for what you really are:

Written by Wolf

31. Dezember 2019 at 00:01

Ukraihnachtsgewinnspiel: Die Lichter brennen, Geigen klingen

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Веселого Різдва для всіх nochmal. Die mir bekannten Ukrainer, in der Mehrzahl Ukrainerinnen, die sich in diesen Tagen gerne für zusätzliche Schichten einteilen lassen, weil sie in einem eher zufällig sich ergebenden lückenlosen Anschluss erst nach unseren zwölf Raunächten das orthodoxe Weihnachtsfest zu begehen gedenken, die mir bekannten Ukrainer also, sagte ich, werden mir was dafür husten, dass ich auf Basis einer ukrainischen Weihnachtsserie was zu verschenken hab. Die gute Nachricht ist: Die sind Schlimmeres gewohnt.

Mykola Kornylovych Pymonenko, Різдвяні ворожіння, 1888Zu verschenken gibt es einmal Frank T. Zumbach: Galgenblüten, Haffmans 1996, ungelesen, altersbedingt angestaubt, als Mängelexemplar gekennzeichnet, aber einwandfrei benutzbar — oder wahlweise die Verwendung eines Vornamens Ihrer Wahl in meinem nächsten Liedtext. Ich hab nämlich einen drei- bis vierstrophigen Text plus Refrain für einen Blues im Ofen, in den ich noch einen menschlichen Eigennamen eintauschen kann. Voraussichtlich wird es ein ganz ordentliches Lied, und Sie dürfen sich wünschen, darin unsterblich zu werden. Für mich wäre es hilfreich, wenn Sie sich einen weiblichen Vornamen wünschen, das Buch kriegt jeder, der es haben will, weil mir das sagt, dass es dann schon in gute Hände kommen wird.

Eins von beiden dürfen Sie sich wünschen, wenn Sie mir den Originaltext zu einem Gedicht von Taras Schewtschenko beschaffen, das ich in deutscher Übersetzung von Alfred Kurella in der zweibändigen Auswahlausgabe Der Kobsar, Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau 1951 gefunden hab. Weder mein bildschönes und blitzgescheites ukrainisches Gewährsmädchen noch Volltextsuchen konnten mir sagen, woraus das übersetzt ist.

Das ukraihnachtliche Gewinnspiel ist zeitlich nicht begrenzt, weil ich die Lösung auch in hundert Jahren noch wissen will. Sollten die Preise bis dahin nicht mehr zur Verfügung stehen, finden wir einen Ersatz, versprochen. Das ist eine private Veranstaltung rein zur Gaudi mit ausgeschlossenem Rechtsweg.

Die erwartbare Reaktion auf das Gedicht wäre anno 2019 ein trockenes „OK Boomer“ gewesen, im Russischen Kaiserreich des Jahres 1850 war die Klage um die verlorene Jugend eines 36-Jährigen berechtigt. — Шукаю оригінал:

——— Taras Schewtschenko zu Orenburg, 1. Halbjahr 1850, übs. Alfred Kurella:

Die Lichter brennen, Geigen klingen,
Zum Himmel klingt ein schluchzend Singen!
In heißer Diamantenglut
Erglänzen junge Augenpaare,
Und Freude nur und Hoffnung strahlen
Im frohen Blick. Du hast es gut,
Du sündenloses, junges Blut!
Und alle plaudern, lachen, drehn sich;
Nur ich allein seh freudlos zu;
Wie ein Verdammter abseits steh ich
Und weine, weine immerzu.
Was wein ich? Mir will scheinen heute,
Daß voller Leid und ohne Freude
Die Jugend mir verflog im Nu.

A scene from a traditional Ukrainian Christmas vertep, via Internet Encyclopedia of Ukraine

Soundtrack ist das in der ukrainischen Volksseele zutiefst verankerte Schtschedryk von Mykola Leontowytsch 1916. Aus einer langen Список українських колядок і щедрівок, das ist: Liste genuin ukrainischer Weihnachtslieder, ragt der Schtschedryk, das ist: abgeleitet von „Щедрий вечiр“ der reichhaltige Abend, in Beliebtheit und die Generationen verbindender Bedeutung heraus — was man vor allem daran erkennt, dass es, von Leontowytsch eigentlich gar nicht als Weihnachtslied geplant, ein Lieblingslied meines bildschönen und blitzgescheiten ukrainischen Gewährsmädchens ist.

In diesem Sinne ein großmächtiges Dankeschön an Olha für Insiderwissen und Geduld: Du darfst immer noch mitmachen!

Bilder: Mykola Kornylovych Pymonenko: Різдвяні ворожіння (Weihnachtliche Weissagung), 1888,
Russisches Museum Sankt Petersburg;
A scene from a traditional Ukrainian Christmas vertep, via Internet Encyclopedia of Ukraine.

Bonus Track: Tom Waits: Silent Night, aus: SOS United, 1989 – nur als Stiftung für die SOS-Kinderdörfer.
Im Video: Correggio: Anbetung der Hirten, 1530 (Detail); Tintoretto, 1545 oder 1578; Gerrit van Honthorst, 1622 oder 1646.

Written by Wolf

27. Dezember 2019 at 00:01

Veröffentlicht in Romantik, Vier letzte Dinge: Tod

Адвент 4: Dinnertime mit Saufspielen

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Update zu Ein Nichts, ein Zwischenraum (Jedenfalls sie hattens nicht),
Einigen wir uns auf Unentschieden und
Seht ihr, seht ihr die Tscherkessen (Schöne Menschen, schöne Glieder):

Wladimir Wasiljewitsch Satschkow, Filmplakat Ironie des Schicksals, 1975Mich freut’s, daß ich Sie liebe ohne Qual,
Daß Sie sich wegen mir nicht quälen müssen
Und daß der große, schwere Erdenball
Nie wird entschwinden unter unsern Füßen.
Mich freut’s, daß ich darf manchmal komisch sein,
Gelockert sein und nicht mit Worten spielen,
Und nicht erröte, nicht erstick vor Pein,
Kaum die Berührung unsrer Ärmel fühlend.

Ich dank mit Herz und Hand Ihnen dafür,
Daß Sie mich lieben, ohne es zu wissen,
Für meine Ruhe nachts, dafür, daß wir
Uns gar so selten abends treffen müssen,
Daß wir spazierten noch kein einzges Mal,
Gemeinsam Mond- und Sonnenschein genießend,
Daß ich Sie leider liebe ohne Qual
Und Sie sich leider auch nicht quälen müssen.

Marina Zwetaewa a. a. O.,
Übs. Sepp Österreicher.

Ирония судьбы или С лёгким паром! von Eldar Rjasanow 1975 — das heißt: Ironie des Schicksals oder Genießen Sie Ihr Bad!, wird aber übersetzt: Mit leichtem Dampf — ist eine Art Drei Nüsse für Aschenbrödel Russlands und der Ukraine und umfasst zwei Teile mit insgesamt drei Stunden und vier Minuten, die eine Einheit mit einer rituell eingehaltenen Pinkelpause dazwischen bilden.

Von verschiedenen Fernsehsendern ausgestrahlt wird Ironie des Schicksals am 1. Januar und ähnelt insofern näher denn dem Drei Nüsse für Aschenbrödel (Original: 82 Minuten) eher dem russischen Dinner for One (original: 18 Minuten). Das kommt, müßig zu erklären, von der verschobenen orthodoxen Weihnacht aufgrund des weiterhin geltenden julianischen Kalenders.

Olha in Seefeld in Tirol, 20. August 2019Meine ukrainische Gewährsperson versichert entgegen der Darstellung auf Wikipedia glaubwürdig, der Kult um Ironie des Schicksals habe sich inzwischen gelegt; sie kennt den Film durchaus noch und weiß um seine kulturelle Bedeutung, es sei aber eher ein Spaß für ihre Elterngeneration. Ebenso übertrieben findet sie das Bohei, das 2015 um ein drohendes Ausstrahlungsverbot für die Ukraine entstand und pünktlich zum — nicht zum ukrainischen — Heiligabend in die westliche Welt getragen wurde, weil eine der Schauspielerinnen, schlimmer noch: eine der Synchronstimmen, namentlich die russische Walentina Talysina sich allzu putinfreundlich geäußert habe. Nun ist ein Film immer das Werk seines Regisseurs, und der 2015 verstorbene Eldar Ryazov — wobei wir uns in Erinnerung rufen, dass eine Korrelation nicht zwangsläufig eine Kausalität ist — war dagegen ein aufrechter Putin-Kritker und kann nicht dafür verantwortlich gemacht werden, was seinen darstellenden Fachkräften vierzig Jahre nach ihrem Engagement so durchs Hirn schießt.

Was ukrainische Freunde alternativer Christtagsfreuden am gregorianischen Silvesterabend treiben, wenn unsereins Dinner for One guckt, bleibt von einem gewissen Geheimnis umwabert, solange man seine Gewährspersonen so selten zu fassen bekommt, und sollte gern ihre persönliche Angelegenheit bleiben. Kennerhafte Saufspiele anhand Filmszenen, wetten? Wer das auch mal will, kann das — wieder wie bei Dinner for One — heutzutage ganzjährig: YouTube birgt Ironie des Schicksals im Original mit englischen Untertiteln, also recht zugänglich, und praktischerweise in zwei Teilen, also gleich mit der Pinkelpause, die durch die Saufspiele unabdingbar wird. Etwas unpraktischer ist: Man kann beide nicht embedded, sondern nur innerhalb YouTube abspielen. Aber irgendwas ist ja immer, da können Sie jeden Ukrainer fragen.

1. Teil:

2. Teil:

Plakat: Владимир Васильевич Сачков (1928—2005) für Рекламфильм, 1975;
Gewährsmädchen, ihr Bad genießend: Olha in Seefeld in Tirol, 20. August 2019;
mit leichtem Dampf: Film-Still via Неизвестные факты о фильме „Ирония судьбы, или С легким паром!“,
10. August 2016.

Film-Still via Unbekannte Fakten zum Film Die Ironie des Schicksals oder genießen Sie Ihr Bad, 10. August 2016

Soundtracks: Stille Nacht, heilige Nacht; Silent Night, Holy Night; Тиха ніч, свята ніч:



Веселого Різдва для всіх!

Written by Wolf

20. Dezember 2019 at 00:01

Veröffentlicht in Herrschaft & Revolte, Novecento

Адвент 3: Mit einem stillen, guten Worte mein gedenken

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Update zu Das Angedenken der Zuckerlust:

Die nationale, um nicht zu sagen: emotionale Bedeutung für die ganze stolze Ukraine von Taras Schewtschenkos Gedicht Заповіт kann man gar nicht überschätzen. Allein in der Liste der Übersetzungen wird man gar nicht fertig mit Scrollen — und merkt, was der Google-Translator für ein Segen ist.

Unter den deutschen Übersetzugen werden darin die von der Lemberger, nein: Львова Wortkünstlerin Hedda Zinner aus der noch erreichbarsten Schewtschenko-Auswahl Meine Lieder, meine Träume. Gedichte und Zeichnungen — Verlag der Nation Berlin und Verlag Dnipro Kiew 1987, auf keine Weise identisch mit dem nahezu gleichnamigen USA-Film 1965 — angeführt, sowie die Übersetzung von Iwan Franko.

Was für ein glückliches Land das sein sollte, in dem sich die Nationaldichter gegenseitig in die Sprachen des befreundeten Auslands übersetzen.

——— Тарас Григорович Шевченко:

Заповіт

написанное 25 декабря 1845 года в Переяславе,
перше надрукований в 1859 році в Ляйпциґу в збірці Новыя стихотворѣнія Пушкина и Шевченки:

Як умру, то поховайте
Мене на могилі,
Серед степу широкого
На Вкраїні милій:
Щоб лани широкополі
І Дніпро, і кручі
Було видно, — було чути
Як реве ревучий!

Як понесе з України
У синєє море
Кров ворожу, — отоді я
І лани, і гори —
Все покину і полину
До самого Бога
Молитися. А до того —
Я не знаю Бога!

Поховайте та вставайте,
Кайдани порвіте,
І вражою, злою кровю
Волю окропіте!
І мене в сімьї великій,
В сімьї вольній, новій,
Не забудьте помьянути
Незлим, тихим словом!

1912, Ганна ЧЕРКАСЬКА, Ховали Тараса, як гетьмана-парубка. Сьогодні – 157 роковини перепоховання Шевченка, UAinfo, 22. Mai 2018

——— Taras Hryhorowytsch Schewtschenko:

Das Vermächtnis

übs. Iwan Franko, 1903:

Wenn ich sterbe, so bestattet
Mich auf eines Kurhans Zinne,
Mitten in der breiten Steppe
Der geliebten Ukraine, –
Daß ich grenzenlose Felder
Und den Dnipr und seine Schnellen
Sehen kann und hören möge
Das Gebraus der großen Wellen.

Wenn sie von der Ukraine
Schwemmen fort ins Meer und schleppen
Feindesblut und Feindesleichen,
Dann verlaß‘ ich Berg und Steppen,
Schwinge bis zum Gott empor mich
Von dem Sturme hingerissen
Um zu beten, – doch bis dahin
Will von keinem Gott ich wissen.

Ja, begrabt mich und erhebt euch,
Und zersprenget eure Ketten,
Und mit schlimmem Feindesblute
Möge sich die Freiheit röten!
Und am Tag, der euch die Freiheit
Und Verbrüderung wird schenken,
Möget ihr mit einem stillen,
Guten Worte mein gedenken.

——— Taras Hryhorowytsch Schewtschenko:

Vermächtnis

übs. Hedda Zinner, 1951:

Wenn ich sterbe, sollt zum Grab ihr
Den Kurgan mir bereiten
In der lieben Ukraine,
Auf der Steppe, der breiten,
Wo man weite Felder sieht,
Den Dnjepr und seine Hänge,
Wo man hören kann sein Tosen,
Seine wilden Sänge.

Wenn aus unsrer Ukraine
Zum Meer dann, zum blauen,
Treibt der Feinde Blut, verlaß ich
Die Berge und Auen,
Alles laß ich dann und fliege
Empor selbst zum Herrgott,
Und ich bete… Doch bis dahin
Kenn‘ ich keinen Herrgott!

So begrabt mich und erhebt euch!
Die Ketten zerfetzet!
Mit dem Blut der bösen Feinde
Die Freiheit benetzet!
Meiner sollt in der Familie,
In der großen, ihr gedenken,
Und sollt in der freien, neuen
Still ein gutes Wort mir schenken.

Ганна ЧЕРКАСЬКА, Ховали Тараса, як гетьмана-парубка. Сьогодні – 157 роковини перепоховання Шевченка, UAinfo, 22. Mai 2018

Bilder: beide 1912, via Anna Cherkaska: „Ховали Тараса, як гетьмана-парубка“. Сьогодні – 157 роковини перепоховання Шевченка, UAinfo, 22. Mai 2018.

Soundtrack: Отава Ё: Ой, Дуся, ой, Маруся, Juli/August 2016:

Written by Wolf

13. Dezember 2019 at 00:01

Veröffentlicht in Herrschaft & Revolte, Romantik

Адвент 2: Auf den Flügeln der Lieder

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Update zu Noch immer (ja, noch immer):

Die Ukraine, die Kornflasche Europas: Es sind immer die Nachbarinnen und Kolleginnen von dorther, die einen beeindrucken mit allem, was sie sind und tun, ohne es je darauf anzulegen. Kaum volljährig, sind das alles gestandene, beneidenswert lebenstüchtige Russenweiber mit zwei Muttersprachen — und bis man sich umschaut, haben sie alle noch einen echten Magister, die einschüchterndsten unter ihnen einen Dipl.-Kffr. von einer der etwa hundert Kiewer Unis, und in Charkiv stehen schon die nächsten hundert; sie sprechen und schreiben nicht unter drei „Fremd“-Sprachen fließend, die andern, darunter mindestens eine asiatische, zählen sie schon gar nicht mehr, haben Dostojewski, Voltaire, Tschechow und Balzac vollständig gelesen, Tolstoi, Charms, Kusmin, Remisow, Rousseau, Schiller, Heine und Dickens gleich zweimal und ihren Landsmann Gogol immer wieder, können mit einem Taschenmesser den Boiler reparieren, mit einer Büroklammer Feuer machen, ihre Mitmenschen aus dem Kopf mit dem Sparkassenkuli gedankenschnell so skizzieren, dass man sie erkennt, und die Gesamtwerke von Beethoven, Rimski-Korsakow und Skrjabin auswendig auf dem Klavier, sind in ihrer grenzenlosen Model-Schönheit schon mal „ein paar Schauen gelaufen“, kommen in einem Porno und zwei Arthouse-Preziosen vor (bei Weißrussinnen ist es umgekehrt) und schreiben zwischen dem Fitmachen für die Disco und der anstehenden Frühschicht ein paar Gedichte und ein nephrologisches Exzerpt für ihre nächste Veröffentlichung. Angesichts der Lebensauffassung einer Ukrainierin merkt man immer erst, was man die ganze Zeit in seinem eigenen bisschen Existenzversuch verpasst, und dass es doch auch so geht. Wenn man sie fragt, was sie dazu treibt, in einem deutschen Mittelzentrum die Betten für zickige Touristen zu beziehen und fünfsprachig das Klo zu schrubben, zucken sie die Schultern und antworten: „Muss leben.“ Plausibel anzunehmen ist, dass in Donezk einfach immer noch ein paar Panzer zuviel auf der Straße herumkurven. In der Ukraine wohnen über 42 Millionen Leute, also vermutlich um die 21 Millionen Frauen, unter denen es durchaus dumme, hässliche, moralisch fragwürdige geben wird, nur die trifft man die nie. Schon klasse, aber nach keiner Seite fair.

Vor dieser Erfahrung muss es ehrgeizig erscheinen, einer Ukrainerin imponieren zu wollen; wer aber auf Russisch bis fünf zählen kann, eine Mundharmonika einstecken hat, deren Tonart er benennen und charakterisieren kann, und ihnen zur Frühschicht keine unbearbeiteten Hotelreservierungen liegen lässt, sollte aber schon den richtigen Weg eingeschlagen haben. Bescheiden sind sie also auch noch. Einfach widerlich. Und im Film reden sie immer bloß von Transsylvanien.

Cover Auf den Flügeln der Lieder, Lemberg 1893, Lesja Ukrajinka. Enzyklopädie des Lebens und der KreativitätHilfreich scheint mir, das eine oder andere Gedicht von Lesja Ukrajinka zu kennen, in einer Sprache, die man gar nicht kann; die scheint eins von diesen Wunderwesen. Offenbar wird Frau Kossatsch — die korrekte Anrede für sie war: Laryssa Petriwna — bis heute geschätzt und verstanden, jedenfalls umfasst ihr ukrainischer Wiki-Artikel Леся Українка den Gegenwert einer Rowohlt-Monographie.

Ihr unverhohlen national gestimmtes Pseudonym verwendete die Petriwna ab ihrer ersten Veröffentlichung im Alter von 13 Jahren. Ihr Gedicht Contra Spem Spero (etwa: Gegen alle Hoffnung hoffe ich) von 1890 — da war sie 19 — ist innerhalb ihres Gesamtwerks aus folkloristischer, traditioneller Lyrik, später impressionistischer Naturlyrik bis hin zu historischer Dichtung ein Fremdkörper: viel zu subjektiv. Die Ukraine respektiert Taras Schewtschenko und Iwan Franko als Nationaldichter, aufrichtig gerührt sind sie bei der Ukrajinka.

Das war ein Tipp, Jungs. Eure Fachliteratur ist vorerst: Леся Українка. Енциклопедія життя і творчості (Lesja Ukrajinka. Enzyklopädie des Lebens und der Kreativität). Contra spem spero! wurde leider nie für die Öffentlichkeit deutsch übersetzt, also übt vorsichtshalber ein bissel Mundharmonika. Viel Glück.

——— Леся Українка:

Contra spem spero!

2. Mai 1890, in: На крилах пісень (Auf den Flügeln der Lieder), Lemberg 1893:

Гетьте, думи, ви, хмари осінні!
То ж тепера весна золота!
Чи то так у жалю, в голосінні
Проминуть молодії літа?

S. Caraff-Corbu, Lesja Ukrajinka, Farblinolschnitt, 1962, Enzyklopädie des Lebens und der KreativitätНі, я хочу крізь сльози сміятись,
Серед лиха співати пісні,
Без надії таки сподіватись,
Жити хочу! Геть думи сумні!

Я на вбогім сумнім перелозі
Буду сіять барвисті квітки,
Буду сіять квітки на морозі,
Буду лить на них сльози гіркі.

І від сліз тих гарячих розтане
Та кора льодовая, міцна,
Може, квіти зійдуть – і настане
Ще й для мене весела весна.

Я на гору круту крем’яную
Буду камінь важкий підіймать
І, несучи вагу ту страшную,
Буду пісню веселу співать.

В довгу, темную нічку невидну
Не стулю ні на хвильку очей,
Все шукатиму зірку провідну,
Ясну владарку темних ночей.

Так! я буду крізь сльози сміятись,
Серед лиха співати пісні,
Без надії таки сподіватись,
Буду жити! Геть думи сумні!

Bilder: Cover На крилах пісень (Auf den Flügeln der Lieder), Lemberg 1893;
S. Caraff-Corbu: Contra spem spero!, Farblinolschnitt, 1962.

Soundtrack: Леся Українка: Вечірня година (Abendstunde), ca. 1889, aus: На крилах пісень, 1893,
aufgeführt vom wolhynischen, daher momentan ukrainischen Дитячий ансамбль Дударик, 2015:

Written by Wolf

6. Dezember 2019 at 00:01