Archive for Juli 2016
Da ist alle Herrlichkeit der Erde und des Himmels, die Leiden und die Lust der Liebe (O Ihr Kurzsichtigen, die Ihr das Meer in Bechern erschöpfen wollt, Ihr glaubt die Kunst zu ergründen und ergründet nur Eure Engherzigkeit): Die Bilder in Franz Sternbalds Wanderungen
Update zu Nackt fällt sie ihm an seinen Mund:
Jemand muss es tun: Es folgen alle eingehender behandelten Gemälde aus Ludwig Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen, 1798. Zeichengenau korrigiert wurde nach der Studienausgabe von Alfed Anger bei Reclam. Das ist die Fassung, in der die meisten Gemälde vorkommen – mehr gegenüber der teuren, allerdings schöneren Ausgabe mit frühen Romanen und Erzählungen bei Winkler.
Meine Lieblingsstelle ist die mit dem Straßburger Münster. Weil ich in der Bildauswahl thematisch eingeschränkt war und nicht beliebig etwas herumzeigen, sondern gezielt suchen musste, gibt es ausnahmsweise auch gut proportionierte Männer statt lauter inhaltlich diskutierwürdiger, leicht geschürzter Frauen zu sehen. Und das wirklich sehr schöne Straßburger Münster.
——— Ludwig Tieck:
Franz Sternbalds Wanderungen, eine altdeutsche Geschichte
Johann Friedrich Unger, Berlin 1798:
Albrecht Dürer: Die vier Apostel, 1526, Alte Pinakothek, München.
Erster Teil, Erstes Buch, Erstes Kapitel:
„Wie alles noch so still und feierlich ist“, sagte Franz, „und bald werden sich diese guten Stunden in Saus und Braus, in Getümmel und tausend Abwechselungen verlieren. Unser Meister schläft wohl noch und arbeitet an seinen Träumen, seine Gemälde stehen aber auf der Staffelei und warten schon auf ihn. Es tut mir doch leid, daß ich ihm den Petrus nicht habe können ausmalen helfen.“
„Gefällt er dir?“ fragte Sebastian.
„Über die Maßen“, rief Franz aus, „es sollte mir fast bedünken, als könnte der gute Apostel, der es so ehrlich meinte, der mit seinem Degen so rasch bei der Hand war und nachher doch aus Lebensfurcht das Verleugnen nicht lassen konnte und sich von einem Hahn mußte eine Buß- und Gedächtnispredigt halten lassen, als wenn ein solcher beherzter und furchtsamer, starrer und gutmütiger Apostel nicht anders habe aussehen können, als ihn Meister Dürer so vor uns hingestellt hat. Wenn er dich zu dem Bilde läßt, lieber Sebastian, so wende ja allen deinen Fleiß darauf und denke nicht, daß es für ein schlechtes Gemälde gut genug sei. Willst du mir das versprechen?“
Er nahm, ohne eine Antwort zu erwarten, seines Freundes Hand und drückte sie stark, Sebastian sagte: „Deinen Johannes will ich recht aufheben und ihn behalten, wenn man mir auch viel Geld dafür böte.“
Albrecht Dürer: Tanzendes Bauernpaar, 1514, Graphische Sammlung Albertina, Wien.
Erstes Teil, Erstes Buch, Sechstes Kapitel:
Es war am folgenden Tage, an welchem das Erntefest gefeiert werden sollte. Franz hatte nun keinen Widerwillen mehr gegen das frohe, aufgeregte Menschengetümmel, er suchte die Freude auf, und war darum auch bei dem Feste zugegen. Er erinnerte sich einiger guten Kupferstiche von Albrecht Dürer, auf denen tanzende Bauern dargestellt waren und die ihm sonst überaus gefallen hatten; er suchte nun beim Klange der Flöten diese possierliche Gestalten wieder und fand sie auch wirklich; er hatte hier Gelegenheit zu bemerken, welche Natur Albrecht auch in diese Zeichnungen zu legen gewußt hatte.
Der Tag des Festes war ein schöner, warmer Tag, an dem alle Stürme und unangenehme Winde von freundlichen Engeln zurückgehalten wurden. Die Töne der Flöten und Hörner gingen wie eine liebliche Schar ruhig und ungestört durch die sanfte Luft hin. Die Freude auf der Wiese war allgemein, hier sah man tanzende Paare, dort scherzte und neckte sich ein junger Bauer mit seiner Liebsten, dort schwatzten die Alten und erinnerten sich ihrer Jugend. Die Gebüsche standen still und waren frisch grün und überaus anmutig, in der Ferne lagen krause Hügel mit Obstbäumen bekränzt. „Wie“, sagte Franz zu sich, „sucht ihr Schüler und Meister immer nach Gemälden und wißt niemals recht, wo ihr sie suchen müßt? Warum fällt es keinem ein, sich mit seiner Staffelei unter einen solchen unbefangenen Haufen niederzusetzen und uns auf einmal diese Natur ganz, wie sie ist, darzustellen. Keine abgerissene Fragmente aus der alten Historie und Göttergeschichte, die so oft weder Schmerz noch Freude in uns erregen, keine kalte Figuren aus der Legende, die uns oft gar nicht ansprechen, weil der Maler die heiligen Männer nicht selber vor sich sah und er ohne Begeisterung arbeitete. Diese Gestalten wörtlich so und ohne Abänderung niedergeschrieben, damit wir lernen, welche Schöne, welche Erquickung in der einfachen Natürlichkeit verborgen liegt. Warum schweift ihr immer in der weiten Ferne und in einer staubbedeckten, unkenntlichen Vorzeit herum, uns zu ergötzen? Ist die Erde, wie sie jetzt ist, keiner Darstellung mehr wert; und könnt ihr die Vorwelt malen, wenn ihr gleich noch so sehr wollt? Und wenn ihr größeren Geister nun auch hohe Ehrfurcht in unser Herz hineinbannt; wenn eure Stücke uns mit ernster, feierlicher Stimme anreden; warum sollen nicht auch einmal die Strahlen einer weltlichen Freude aus einem Gemälde herausbrechen? Warum soll ich in einer freien, herzlichen Stunde nicht auch einmal Bäuerlein und ihre Spiele und Ergötzungen lieben? Dort werden wir beim Anblick der Bilder älter und klüger, hier kindischer und fröhlicher.“
Albrecht Dürer: Der heilige Hieronymus im Gehäus, 1514, 24,5 cm x 18,7 cm, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem, Kupferstichkabinett.
Erster Teil, Erstes Buch, Achtes Kapitel:
Ich habe neulich einen neuen Kupferstich von unserm Albert gesehn, den er seit meiner Abwesenheit gemacht hat. Du wirst ihn kennen, es ist der lesende Einsiedler. Wie ich da wieder unter euch war! denn ich kannte die Stube, den Tisch und die runden Scheiben gleich wieder, die Dürer auf diesem Bilde von seiner eigenen Wohnung abgeschrieben hat. Wie oft habe ich die runden Scheiben betrachtet, die der Sonnenschein an der Täfelung oder an der Decke zeichnete; der Eremit sitzt an Dürers Tisch. Es ist schön, daß unser Meister in seiner frommen Vorliebe für das, was ihn so nahe umgibt, der Nachwelt ein Konterfei von seinem Zimmer gegeben hat, wo doch alles so bedeutend ist und jeder Zug Andacht und Einsamkeit ausdrückt.
Ich gehe auf meinem Wege oft in die kleinen Kapellen hinein und verweile mich dabei, die Gemälde und Zeichnungen zu betrachten. Ob es meine Unerfahrenheit oder meine Vorliebe für das Alter macht, ich sehe selten ein ganz schlechtes Bild; ehe ich die Fehler entdecke, sehe ich immer die Vorzüge an jedem. Ich habe gemeiniglich bei jungen Künstlern die entgegengesetzte Gemütsart gefunden, und sie wissen sich immer recht viel mit ihrem Tadel. Ich habe oft eine fromme Ehrfurcht vor unsern treuherzigen Vorfahren, die zuweilen recht schöne und erhabene Gedanken mit so wenigen Umständen ausgedrückt haben.
Lukas van Leyden: Heilige Familie, ca. 1508.
Erster Teil, Zweites Buch, Erstes Kapitel:
Am Morgen erkundigte sich Franz nach der Wohnung des berühmten Lukas von Leyden. Man bezeichnete ihm die Straße und das Haus, und er ging mit hochschlagendem Herzen hin. Er ward in ein ansehnliches Haus geführt, und eine Magd sagte ihm, daß der Herr sich schon in seiner Malerstube befinde und arbeite. Franz bat, daß man ihn hineinführen möchte. Die Tür öffnete sich, und Franz sah einen kleinen, freundlichen, ziemlich jungen Mann vor einem Gemälde sitzen, an dem er fleißig arbeitete, um ihn her standen und hingen vielerlei Schildereien, einige Farbenkasten, Zeichnungen und Anatomien, aber alles in der besten Ordnung. Der Maler stand auf und ging Franzen entgegen, der Schüler war jetzt mit seinen Augen dem Gesicht des berühmten Meisters gegenüber und vermochte in der ersten Verwirrung kein Wort hervorzubringen. Endlich faßte er sich und nannte seinen Namen und den Namen seines Lehrers. Lukas hieß ihn von Herzen willkommen, und beide setzten sich nun in der Werkstatt nieder, und Franz erzählte ganz kurz seine Reise und sprach von einigen merkwürdigen Gemälden, die er unterwegs angetroffen hatte. Er beschaute während dem Sprechen aufmerksam das Bild, an welchem Lukas eben arbeitete; es war eine heilige Familie, er traf darinnen vieles von einigen Dürerschen Arbeiten an, denselben Fleiß, dieselbe Genauigkeit im Ausmalen, nur schien ihm an Lukas Bildern Dürers strenge Zeichnung zu fehlen, ihm dünkte, als wären die Umrisse weniger dreist und sicher gezogen, dagegen hatte Lukas etwas Liebliches und Anmutiges in den Wendungen seiner Gestalten, ja auch in seiner Färbung, das dem Dürer mangelte. Dem Geiste nach, glaubte er, müßten sich diese beiden großen Künstler sehr nahe verwandt sein, er sah hier dieselbe Simplizität in der Zusammensetzung, dieselbe Verschmähung unnützer Nebenwerke, die rührende und echt deutsche Behandlung der Gesichter und Leidenschaften, dasselbe Streben nach Wahrheit.
Albrecht Dürer: Der heilige Eustachius, ca. 1501, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem, Kupferstichkabinett.
Erster Teil, Zweites Buch, Erstes Kapitel:
„Ihr seid jung“, sagte Lukas, „und Euer Wesen ist mir ungemein lieb, es gibt wenige solcher Menschen, die meisten betrachten die Kunst nur als ein Spielwerk und uns als große Kinder, die albern genug bleiben, um sich mit derlei Possen zu beschäftigen. – Aber laßt uns auf etwas anderes kommen, ich bin jetzt überdies müde, zu malen. Ich habe einen Kupferstich von Eurem Albert erhalten, der mir bisher noch unbekannt war. Es ist der heilige Hubertus, der auf der Jagd einem Hirsche mit einem Kruzifixe zwischen dem Geweih begegnet und sich bei diesem Anblicke bekehrt und seine Lebensweise ändert. Seht hieher, es ist für mich ein merkwürdiges Blatt, nicht bloß der schönen Ausführung, sondern vorzüglich der Gedanken halber, die für mich darin liegen. Die Gegend ist Wald, und Dürer hat einen hohen Standpunkt angenommen, weshalb ihn nur ein Unverständiger tadeln könnte, denn wenn auch ein dichter Wald, wo wir nur wenige große Bäume wahrnähmen, etwas natürlicher beim ersten Anblicke in die Augen fallen dürfte, so könnte das doch nimmermehr das Gefühl der völligen Einsamkeit so ausdrücken und darstellen wie es hier geschieht, wo das Auge weit und breit alles übersieht, einzelne Hügel und lichte Waldgegenden [gestrichen: und oben in der Ferne die sonderbare Burg, mit ihrer auffallenden Bauart. Es ist, als wenn die tote Natur hier das ganze menschliche Leben überschaute]. Ich glaube auch, daß manche Leute, die mehr guten Willen, vernünftig zu sein, als Verstand haben, den gewählten Gegenstand selbst als etwas Albernes tadeln dürften, ein Rittersmann, der vor einer unvernünftigen Bestie kniet. Aber das ist es gerade, wenn ich meine aufrichtige Meinung sagen soll, was mir so sehr daran gefällt und zu großem Vergnügen gereicht. Es ist etwas so Unschuldiges, Frommes und Liebliches darin, wie der Jagdmann hier kniet und das Hirschlein mit seiner kindischen Physiognomie so unbefangen dreinsieht, im Kontrast mit der heiligen Ehrfurcht des Mannes; dies erweckt ganz eigene Gedanken von Gottes Barmherzigkeit, von dem grausamen Vergnügen der Jagd und dergleichen mehr. Nun beobachtet einmal die Art, wie der Ritter niederkniet; es ist die wahrste, frömmste und rührendste, mancher hätte hier wohl seine Zierlichkeit gezeigt, wie er Beine und Arme verschiedentlich zu stellen wüßte, so daß er durch Annehmlichkeit der Figur sich gleichsam vor jedem entschuldigt hätte, daß er ein so närrisches Bild zu seinem Gegenstande gemacht. Denn manche zierliche Maler sind mir so vorgekommen, daß sie nicht sowohl verschiedentliche Bilder malen als vielmehr nur die Gegenstände brauchen, um immer wieder ihre Verschränkungen und Niedlichkeiten zu zeigen; diese putzen sich mit der edlen Malerkunst, statt daß sie ihr freies Spiel und eine eigne Bahn gönnen sollten. So ist es nicht mit diesem Hubertus beschaffen. Seine zusammengelegten Beine, auf denen er so ganz natürlich hinkniet, seine gleichförmig aufgehobenen Hände sind das Wahrste, was man sehen kann; aber sie haben nicht die spielende Anmut, die manche der heutigen Welt über alles schätzen.“
Lukas sprach noch mancherlei; dann besuchten ihn einige Freunde aus der Stadt, mit denen er und Franz sich zu Tische setzten. Man lachte und erzählte viel; von der Malerei ward nur wenig gesprochen.
Lukas van Leyden: Eulenspiegel, 1520.
Erster Teil Zweites Buch, Zweites Kapitel:
Lukas dankte ihm und sprang wieder durch die Stube, voller Freude, den großen Maler Dürer bei sich zu haben. Dann zeigte er ihm einige seiner neuesten Bilder, und Albert lobte sie sehr verständig. Dieser hatte einige neue Kupferstiche bei sich, die er dem Niederländer schenkte, und Lukas suchte zur Vergeltung auch ein Blatt hervor, das er dem Albrecht in die Hände gab. „Seht“, sagte er, „dies Blatt, es wird von einigen für meinen besten Kupferstich erklärt, es ist das Konterfei des Tillen Eulenspiegel, wie ich mir diesen seltsamen Mann in den Gedanken vorgestellt habe [gestrichen: , es hat sich schon auch selten gemacht, es ist nämlich die Familie des Till Eulenspiegel, er als Knabe, die Eltern mit ihm, reitend und gehend: ich habe das Werk mit besonderem Fleiße und Genauigkeit zu arbeiten gesucht]. Es wollen einige jetzt, die sich mit der Gelehrsamkeit befassen, sein Buch verachtenund es als den Sitten und der Zucht zuwider verdammen, es möchte vielleicht einiges besser darin mangeln können, aber ich muß gestehn, daß es mich im ganzen immer sehr ergötzt hat. Die Schalkheit des Knechtes Eulenspiegel ist so eigen, viele seiner Streiche geben zu so manchen kuriosen Gedanken Veranlassung, daß ich mich ordentlich dazu angetrieben fühlte, sein seltsames Konterfei in Kupfer zu bringen.“
„Ihr habt es auch wacker ausgerichtet“, sagte Albert Dürer [gestrichen: lachend], „und ich danke Euch höchlich für Euer Geschenk. Ihr habt den berühmten Schalksknecht da erschaffen, wie er gewißlich ausgesehn haben muß, die schielenden Augen und die verdrehte Nase drücken sein seltsames Gemüt vortrefflich aus, in diesen Lippen habt Ihr seinen Witz, der oft beißend genug war, herrlich angedeutet, und es ist mir sehr erwünscht, daß Ihr das häßliche Gesicht doch nicht so verzerrt habt, daß es uns zuwider ist, sondern mit vieler Kunst habt ihr es so auszurichten gewußt, daß man es gerne beschaut und den possigen Kerl ordentlich liebgewinnt.“
„Es ist eine Art von Dankbarkeit“, sagte Meister Lukas, „daß ich ihn so mühsam in Kupfer gebracht habe, da ich über seine Schwänke oft so herzlich habe lachen müssen. Wie schon gesagt, es verstehen wenig Menschen die Kunst, sich an Tills Narrenstreichen so zu freuen als ich, weil sie es sogar mit dem Lachen ernsthaft nehmen; andern gefällt sein Buch wohl, aber es kommt ihnen als etwas Unedles vor, dies Bekenntnis abzulegen; andern fehlt es wieder an Übung, das Possierliche zu verstehen und zu fassen, weil man sich vielleicht ebenso daran gewöhnen muß, wie man viele Gemälde sieht, ehe man über eins ein richtiges Urteil faßt.“
„Ihr mögt sehr recht haben, Meister“, antwortete Dürer, „die meisten Leute sind wahrlich mit dem Ernsthaften und Lächerlichen gleich fremd. Sie glauben immer, das Verständnis von beiden müsse ihnen von selbst ohne ihr weiteres Zutun kommen; und doch ist das bei den allerwenigsten der Fall. Sie überlassen sich daher mit Roheit dem Augenblicke und ihrem damaligen Gefühl, und so tadeln und loben sie alles unbesehn. Ja, sie gehn mit der Malerkunst ebenso um, sie kosten davon, wie man wohl ein Gemüse oder eine Suppe zu kosten pflegt, ob die Magd zu viel oder zu wenig Salz daran getan habe, und dann sprechen sie das Urteil, ohne um die Einsicht und die Kenntnisse, die dazu gehören, besorgt zu sein. Ich muß immer noch lachen, sooft ich daran denke, daß es mir doch auch einmal so ging. Ohne etwas davon zu verstehn und ohne die Anlagen von der Natur zu haben, fiel ich einmal darauf, ein Poet zu sein. Ich dachte in meinem einfältigen Sinne, Verse müsse ja wohl jedermann machen können, und ich wunderte mich über mich selber, daß ich nicht schon weit früher auf die Dichtkunst verfallen sei. Ich machte also ein zierlich großes Kupferblatt und stach mühsam rundherum meine Verse mit zierlichen Buchstaben ein: es sollte ein moralisches Gedicht vorstellen, und ich unterstund mich, der ganzen Welt darin gute Lehren zu geben. Wie nun aber alles fertig war, siehe da, so war es erbärmlich geraten. Was ich da für Leiden von dem gelehrten Pirkheimer habe ausstehn müssen, der mir lange nicht meine Verwegenheit vergeben konnte! Er sagte immer zu mir: Schuster, bleib bei deinem Leisten! Albert, wenn du den Pinsel in der Hand hast, so kömmst du mir als ein verständiger Mann vor, aber mit der Feder gebärdest du dich als ein Tor. – So sollte man auch zu manchen sagen, die sich auf Künste legen, die ihnen nicht besser anstehen als dem Esel das Lautenschlagen.“
Raffael: Venus zeigt dem Amor das Volk, 1517–1518, Detail der Decke in der Villa Farnesina, Rom
und Der Rat der Götter im Olymp, 1517–1518, Mittelstück der Decke in der Villa Farnesina.
Zweiter Teil, Erstes Buch, Erstes Kapitel:
Nachdem Franz eine Weile geschwiegen hatte, fuhr er fort: „Oh, mein Florestan, was ich mir wünsche, in meinem eigentümlichen Handwerke das auszudrücken, was mir jetzt Geist und Herz bewegt, diese Fülle der Anmut, diese ruhige, scherzende Heiterkeit, die mich umgibt. Malen möchte ich es, wie in dem Luftraume sich edle Geister bewegen und durch den Frühling schreiten, so daß aus dem Bilde ein ewiger Frühling mit unverwelklichen Blüten prangte, der jedem Auge auch nach meinem Tode neu aufginge und den freundlichen Willkommen entgegenbrächte. Meinst du nicht, daß es dem großen Künstler möglich sei, in einem Historiengemälde oder auch auf andere Weise einem fremden Herzen das deutlich hinzugeben, was wir jetzt empfinden?“
„Ich glaube es wohl“, antwortete Florestan, „und vielleicht gelingt es manchem, ohne daß er es sich gerade vorsetzt. Geh nach Rom, mein Freund, und dieser ewige Frühling, nach dem du dich sehnst, blüht dort im Gartensaale [gestrichen: meines Beschützers und Freundes,] des reichen Agostins Ghigi. Der göttliche Raffael hat ihn dort hingezaubert, und man nennt diese Bilder gewöhnlich die Geschichte des Amor und der Psyche. Diese Luftgestalten schweben dort, vom blauen Äther umgeben und bedeutungsvoll von großen frischen Blumenkränzen statt der der Rahmen eingeschränkt und abgesondert. – Wenn du diese Bildungen mit dem Auge durchwanderst, so wird es dir vielleicht so sein, wie mir immer bei ihrer Betrachtung gewesen ist. Die Geschichte selbst ist so lieblich und zart, ein Bild der ewigen Jugend, von dem Jünglingsgeiste, dem prophetischen Sanzius, in seiner schönen Entzückung hingemalt, die Verkündigung der Liebe und der Blumenschönheit, des erhabenen Reizes, Alles ist, um mich so auszudrücken, eine poetische Offenbarung über die Natur der Lieblichkeit, und sie ist dem Menschenherzen vertraulich nahegerückt. Wie wenn der Frühling in seiner höchsten Blüte steht, so schließt die Geschichte in diesen Bildern mit der hohen Pracht der Götterversammlung, wo im schönsten Leben alle einzelnen Gestalten vereinigt sind und die Seligkeit des Olympus den sterblichen Augen enthüllen. Gedulde dich, mein Franz, bis du in Rom bist.“
[Geändert aus: Da ist alle Herrlichkeit der Erde und des Himmels, die Leiden und die Lust der Liebe, und scherzend und wandelnd durch die Ätherbläue Amor und seine Geliebte, trauernd und froh, alle Götter im hohen Rat, und aller Ernst in milder Lieblichkeit und alle Lieblichkeit groß und göttlich, ja die ewige Jugend, der nie verblühende Frühling, das paradiesische Entzücken ist von dem Jünglingsgeiste, dem prophetischen Raffael, in seiner schönsten Begeisterung hingezaubert, die Verkündigung der Liebe und der Blumenschönheit, daß alle Herzen der Liebe und der Sehnsucht dienen sollen: das Göttlichste, der Zauber, der den Himmel umflicht, und die Erde mit ewiger Jugend umgürtet, ist dem Menschenherzen vertraulich nahe gerückt, und den sterblichen Augen enthüllen sich die Seligkeiten des Olympus. Und dann im Nebenzimmer der verkörperte Traum süßester Wollust, Galatea im Meere, auf ihrem Muschelwagen fahrend! O mein Franz, gedulde dich, bis du in Rom bist, dann tu Augen und Herz auf, und du darfst nachher sterben.“]
„Ach, Raffael!“ sagte Franz Sternbald, „wie viel hab ich nun schon von dir reden hören; wenn ich dich nur noch im Leben anträfe!“
Raffael: Die Verklärung Christi, 1520.
Zweiter Teil, Erstes Buch, Zweites Kapitel:
„So ist denn dieser Raffael gestorben!“ fing Franz von neuem an, indem sie wieder friedlich über das Feld gingen. „Wie alt ist er denn geworden?“
„Gerade neununddreißig Jahre“, sagte der Mönch. „Am Karfreitage, an diesem heiligen Tage ist er geboren, und an diesem merkwürdigen Geburtstage ist er auch wieder von der Erde hinweggegangen. Er war und blieb sein lebelang ein Jüngling, und aus allen seinen Werken spricht ein milder, kindlicher Geist. Sein letztes großes Gemälde war die Transfiguration, Christi Verklärung, worin er sich seine eigne Apotheose gemalt hat. Oben die Herrlichkeit des Erlösers, allgemeine Liebe in seinen Blicken, unter ihm der Glaube der Apostel, umgeben von dem übrigen Menschenleben, mit allem Elende, das darin einheimisch ist, Unglückliche, die dem Erlöser zur Heilung gebracht werden, und Zweifel, Hoffnung und Zutrauen in den Umstehenden [gestrichen: denn vielleicht ist dieses Werk das Höchste und Vollkommenste, das seine Hand nur hervorbringen konnte. Oben schwebt der Erlöser in himmlischer Glorie, neben ihm Elias und Moses, vom Boden erhoben, er in verklärter Gestalt, vom Glanz sind seine Lieblinge geblendet zu Boden gesunken, und unten am Berge sieht man die Apostel, in ihnen den Glauben und die Kraft, welche die Erde noch verwandeln und erleuchten sollen, aber noch ist um sie das Menschenleben dunkel, und sie können der entsetzlichen Not nicht abhelfen, die in Gestalt eines besessenen Knaben, der ihnen zur Heilung herbeigeführt wird, wild und gräßlich vor sie tritt. In diesem Bilde ist auf die wundersamste Weise alles vereinigt, was heilig, menschlich und furchtbar ist, die Wonne der Seligen mit dem Jammer der Welt, und Schatten und Licht, Körper und Geist, Glaube, Hoffnung und Verzweiflung bildet auf tiefsinnige, rührende und erhabene Weise die schönste und vollendetste Dichtung.]. Raffaels Sarg stand in der Malerstube, und sein letztes vollendetes Gemälde daneben, seine eigne Verklärung. Der Finger ruhte nun auf immer, der diese Bilder in Leben und Bewegung gezaubert hat; die bunte freundliche Welt, die aus ihm hervorgegangen war, stand nun neben der blassen Leiche. Ganz Rom war in Bewegung, und keiner von denen, die es sahen, konnte sich der Tränen enthalten.“
Isaak Brunn: Straßburger Münster, 1615, Kupferstich aus Goethes Besitz, Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar.
Zweiter Teil, Erstes Buch, Zweites Kapitel:
Sie waren einen Berg hinangestiegen und standen nun ermüdet still. Indem sie sich an der Aussicht ergötzten, rief Franz aus: „Mich dünkt, ich sehe noch ganz in der Ferne den Münster!“
Sie sahen alle hin, und ein jeglicher glaubte, ihn zu entdecken. „Der Münster“, sagte Bolz, „ist noch ein Werk, das den Deutschen Ehre macht!“
„Das aber doch gar nicht zu Euren Begriffen vom Idealischen und Erhabenen paßt“, antwortete Franz.
„Was gehen mich meine Begriffe an?“ sagte der Bildhauer; „ich knie in Gedanken vor dem Geiste nieder, der diesen allmächtigen Bau entwarf und ausführte. Wahrlich! es war ein ungemeiner Geist, der es wagte, diesen Baum mit Ästen, Zweigen und Blättern so hinzustellen, immer höher den Wolken mit seinen Felsmassen entgegenzugehn und ein Werk hinzuzaubern, das gleichsam ein Bild der Unendlichkeit ist.“
Sternbald sagte: „Ich ärgere mich jetzt nicht mehr, wenn ich von diesem Riesengebäude verächtlich sprechen höre, wie es mir ehemals wohl begegnete, da ich es nur aus Zeichnungen kannte. Führt jeden Tadler, jeden, der von griechischer und römischer Baukunst spricht, nach Straßburg. Da steht er in voller Herrlichkeit, ist fertig, ist da und bedarf keiner Verteidigung in Worten und auf dem Papiere; er verschmäht das Zeichnen mit Linien und Bögen und all dem Wirrwarr von Geschmack und edler Einfachheit. Das Erhabene dieser Größe kann keine andre Erhabenheit darstellen; die Vollendung der Symmetrie, die kühnste allegorische Dichtung des menschlichen Geistes, diese Ausdehnung nach allen Seiten und über sich in den Himmel hinein; das Endlose und doch in sich selbst Geordnete; die Notwendigkeit des Gegenüberstehenden, welches die andre Hälfte erläutert und fertigmacht, so daß eins immer um des andern willen und alles, um die gotische Größe und Herrlichkeit auszudrücken, da ist. Es ist kein Baum, kein Wald; nein, diese allmächtigen, unendlich wiederholten Steinmassen drücken etwas Erhabeneres, ungleich Idealischeres aus. Es ist der Geist des Menschen selbst, seine Mannigfaltigkeit zur sichtbaren Einheit verbunden, sein kühnes Riesenstreben nach dem Himmel, seine kolossale Dauer und Unbegreiflichkeit; den Geist Erwins selbst seh ich in einer furchtbar sinnlichen Anschauung vor mir stehen. Es ist zum Entsetzen, daß der Mensch aus den Felsen und Abgründen sich einzeln die Steine hervorholt und nicht rastet und ruht, bis er diesen ungeheuren Springbrunnen von lauter Felsenmassen hingestellt hat, der sich ewig, ewig ergießt und wie mit der Stimme des Donners Anbetung vor Erwin, vor uns selbst in unsre sterblichen Gebeine hineinpredigt. Und nun klimmt unbemerkt und unkenntlich ein Wesen, gleich dem Baumeister, oben wie ein Wurm an den Zinnen umher und immer höher und höher, bis ihn der letzte Schwindel wieder zur flachen, sichern Erde hinunternötigt – wer da noch demonstrieren und Erwin und das barbarische Zeitalter bedauern kann – o wahrhaftig, der begeht, ein armer Sünder, die Verleugnung Petri an der Herrlichkeit des göttlichen Ebenbildes.“
Hier gab der Bildhauer dem Maler die Hand und sage: „So hör ich Euch gern.“
Francesco Traini: Die Freuden der Welt
und Die Parabel von den drei Lebenden und den drei Toten,
Details aus Der Triumph des Todes, Campo Santo, Pisa, ca. 1345.
Zweiter Teil, Erstes Buch, Sechstes Kapitel:
„Am meisten ist mir das, was ich so oft von der Malerei wünsche, bei allegorischen Gemälden einleuchtend“, sagte Rudolf.
„Gut, daß du mich daran erinnerst!“ rief Franz aus, „hier ist recht der Ort, wo der Maler seine große Imagination, seinen Sinn für die Magie der Kunst offenbaren kann: hier kann er gleichsam über die Grenzen seiner Kunst hinausschreiten und mit dem Dichter wetteifern. Die Begebenheit, die Figuren sind ihm nur Nebensache, und doch machen sie das Bild, es ist Ruhe und Lebendigkeit, Fülle und Leere, und die Kühnheit der Gedanken, der Zusammensetzung findet erst hier ihren rechten Platz. Ich habe es ungern gehört, daß man diesen Gedichten so oft den Mangel an Zierlichkeit vorrückt, daß man hier tätige Bewegung und schnellen Reiz einer Handlung fordert, wenn sie statt eines einzelnen Menschen die Menschheit ausdrücken, statt eines Vorfalls eine erhabene Ruhe. Gerade diese anscheinende Kälte, die Unbiegsamkeit im Stoffe ist das, was mir so oft einen wehmütigen Schauder bei der Betrachtung erregte: daß hier allgemeine Begriffe in sinnlichen Gestalten mit so ernster Bedeutung aufgestellt sind, Kind und Greis in ihren Empfindungen vereinigt, daß das Ganze unzusammenhängend erscheint, wie das menschliche Leben, und doch eins um des andern notwendig ist, wie man auch im Leben nichts aus seiner Verkettung reißen darf, alles dies ist mir immer ungemein erhaben erschienen.“
„Ich erinnere mich“, antwortete Rudolf, „eines alten Bildes in Pisa, das schon über hundert Jahr alt wurde und das dir auch vielleicht gefallen wird; wenn ich nicht irre, ist es von Andrea Orgagna gemalt. Dieser Künstler hat den Dante mit besondrer Vorliebe studiert und in seiner Kunst auch etwas Ähnliches dichten wollen. Auf seinem großen Bilde ist in der Tat das ganze menschliche Leben auf eine recht wehmütige Art abgebildet. Ein Feld prangt mit schönen Blumen von frischen und glänzenden Farben, geschmückte Herren und Damen gehen umher und ergötzen sich an der Pracht. Tanzende Mädchen ziehen mit ihrer muntern Bewegung den Blick auf sich, in den Bäumen, die von Orangen glühn, erblickt man Liebesgötter, die schalkhaft mit ihren Geschossen herunterzielen, über den Mädchen schweben andre Amorinen, die nach den geschmückten Spaziergängern zur Vergeltung zielen. Spielleute blasen auf Instrumenten zum Tanz, eine bedeckte Tafel steht in der Ferne. – Gegenüber sieht man steile Felsen, auf denen Einsiedler Buße tun und in andächtiger Stellung beten, einige lesen, einer melkt eine Ziege. Hier ist die Dürftigkeit des armutseligen Lebens dem üppigen glückseligen recht herzhaft gegenübergestellt. – Unten sieht man drei Könige, die mit ihren Genahlinnen auf die Jagd reiten, denen ein heiliger Mann eröffnete Gräber zeigt, in denen man von Königen verweste Leichname sieht. – Durch die Luft fliegt der Tod, mit schwarzem Gewand, die Sense in der Hand, unter ihm Leichen aus allen Ständen, auf die er hindeutet. – Dieses Bild mit seinen treuherzigen Reimen, die vielen Personen aus dem Munde gehn, hat immer in mir das Bild des großen menschlichen Lebens hervorgebracht, in welchem keiner vom andern weiß und sich alle blind und taub durcheinanderbewegen.“
Correggio: Leda mit dem Schwan, um 1532.
Zweiter Teil, Zweites Buch, Drittes Kapitel:
So ist mein Gemüt aufs heftigste von zwei neuen großen Meistern bewegt, vom venetianischen Tizian und von dem allerlieblichsten Antonio Allegri von Correggio. Ich habe, möcht‘ ich sagen, alle übrige Kunst vergessen, indem diese edlen Künstler mein Gemüt erfüllen, doch hat der letztere auch beinahe den erstern verdrängt. Ich weiß mir in meinen Gedanken nichts Holdseligers vorzustellen, als er uns vor die Augen bringt, die Welt hat keine so liebliche, so vollreizende Gestalten, als er zu malen versteht. Es ist, als hätte der Gott der Liebe selber in seiner Behausung gearbeitet und ihm die Hand geführt. Wenigstens sollte sich nach ihm keiner unterfangen, Liebe und Wollust darzustellen, denn keinem andern Geiste hat sich so das Glorreiche der Sinnenwelt offenbart.
Es ist etwas Köstliches, Unbezahlbares, Göttliches, daß ein Maler, was er in der Natur nur Reizendes findet, was seine Imagination nur veredeln und vollenden kann, uns nicht in Gleichnissen, in Tönen, in Erinnerungen oder Nachahmungen aufbewahrt, sondern es auf die kräftigste und fertigste Weise selber hinstellt und gibt. Darum ist auch in dieser Hinsicht die Malerei die erste und vollendeteste Kunst, das Geheimnis der Farben ist anbetungswürdig. Der Reiche, der Correggios Gemälde, seine Leda, seine badenden schönsten Nymphen besitzt, hat sie wirklich, sie blühen in seinem Palast in ewiger Jugend, der allerhöchste Reiz ist bei ihm einheimisch, wonach andre mit glühender Phantasie suchen, was Stumpfere mit ihren Sinnen sich nicht vorstellen können, lebt und webt bei ihm wirklich, ist seine Göttin, seine Geliebte, sie lächelt ihn an, sie ist gern in seiner Gegenwart.
Wie ist es möglich, wenn man diese Bilder gesehen hat, daß man noch vom Kolorit geringschätzend sprechen kann? Wer würde nicht von der Allmacht der Schönheit besiegt werden, wenn sie sich ihm nackt und unverhüllt, ganz in Liebe hingegeben, zu zeigen wagte? – Das Studium dieser himmlischen Jugendgeister hat die große Zauberei erfunden, dies und noch mehr unsern Augen möglich zu machen.
Was die Gesänge des liebenden Petrarka wie aus der Ferne herüberwehen, Schattenbilder im Wasser, die mit den Wogen wieder wegfließen, was Ariosts feuriger Genius nur lüstern und in der Ferne zeigen kann, wonach wir sehen und es doch nicht entdecken können, im Walde fernab die ungewissesten Spuren, die dunkeln Gebüsche verhüllen es, sosehr wir darnach irren und suchen; alles das steht in der allerholdseligsten Gegenwart dicht vor uns. Es ist mehr, als wenn Venus uns mit ihrem Knaben selber besuchte, der Genuß an diesen Bildern ist die hohe Schule der Liebe, die Einweihung in die höchsten Mysterien, wer diese Gemälde nicht verehrt, versteht und sich an ihnen ergötzt, der kann auch nicht lieben, der muß nur gleich sein Leben an irgendeine unnütze, mühselige Beschäftigung wegwerfen, denn ihm ist es verborgen, was er damit anfangen kann.
Eine Zeichnung mag noch so edel sein, die Farbe bringt erst die Lebenswärme, und ist mehr und inniger, als der körperliche Umfang der Bildsäule.
Auch in seinen geistlichen Kompositionen spiegelt sich eine liebende Seele, der Gürtel der Venus ist auch hier verborgen, und man weiß immer nicht, welche seiner Figuren ihn heimlich trägt. Auge und Herz bleiben gern verweilend zurückgezogen; der Mensch fühlt sich bei ihm in der Heimat der glücklichsten Poesie, er denkt: ja, das war es, was ich suchte, was ich wollte und es immer zu finden verzweifelte. Vulkans künstliches Netz zieht sich unzerreißbar um uns her, und schließt uns eng und enger an Venus, die vollendete Schönheit an.
Es herrscht in seinen Bildern nicht halbe Lüsternheit, die sich verstohlen und ungern zu erkennen gibt, die der Maler erraten läßt, der sich gleich darauf gern wieder zurückzöge, um viel zu verantworten zu haben, sich aber auch wirklich zu verantworten; es ist auch nicht gemeine Sinnlichkeit, die sich gegen den edlern Geist empört, um sich nur bloßzustellen, um in frecher Schande zu triumphieren, sondern die reinste und hellste Menschheit, die sich nicht schämt, weil sie sich nicht zu schämen braucht, die in sich selbst durchaus glückselig ist. Es ist, so möcht ich sagen, der Frühling, die Blüte der Menschheit: alles im vollen, schwelgenden Genuß, alle Schönheit emporgehoben in vollster Herrlichkeit, alle Kräfte spielend und sich übend im neuen Leben, im frischen Dasein. Herbst ist weitab, Winter ist vergessen, und unter den Blumen, unter den Düften und grünglänzenden Blättern wie ein Märchen, von Kindern erfunden.
Es ist, als wenn ich mit der weichen, ermattenden und doch erfrischenden Luft Italiens eine andere Seele einzöge, als wenn mein inneres Gemüt auch einen ewigen Frühling hervortriebe, wie er von außen um mich glänzt und schwillt und sich treibend blüht. Der Himmel hier ist fast immer heiter, alle Wolken ziehen nach Norden, so auch die Sorgen, die Unzufriedenheit. Oh, liebster Bruder, Du solltest hiersein, die Harfenstimmen der Geister, die Blumenhände der unsichtbaren Engel würden auch Dich berühren und heilen.
Michelangelo: Das Jüngste Gericht, 1536–1541, Detail: Der richtende Christus,
und Gottvater, Detail aus Die Erschaffung des Menschen, zwischen 1508 und 1512,
Sixtinische Kapelle, Rom.
Zweiter Teil, Zweites Buch, Fünftes Kapitel:
Es ward so eingerichtet, daß sich die Gesellschaft zweimal in der Woche versammelte, und jedesmal wurde über die Kunst disputiert, wobei sich Castellani besonders mit seinen Reden hervortat. Sie waren an einem Nachmittage wieder versammelt, auch Camillo war zugegen, der abseits in einer Ecke stand und kaum hinzuhören schien.
„Ihr weicht“, sagte Sternbald zu seinem Freunde Castellani, „darin von den meisten Eurer Zeitgenossen ab, daß Ihr Buonarottis Jüngstes Gericht nicht für den für den Triumphder Kunst haltet.“
„Die Nachwelt“, sagte Castellani, „wird gewiß meiner Meinung sein, wenn erst mehr Menschen die Frage untersuchen werden: Was soll Kunst sein? was kann sie sein? Ich bin gar nicht in Abrede, und es wäre töricht von mir, dergleichen zu leugnen, daß Michael Angelo ein ausgezeichneter Geist ist, nur ist es wohl Übereilung des Zeitlaters, ihn und Raffael über alle übrigen Sterblichen hinüberzuheben und zu sagen: seht, sie haben die Kunst erfüllt!
[Geändert aus: „Wenn man“, sprach Castellani, „erst mehr die Frage untersuchen wird: Was soll Kunst sein? was kann sie sein? so werden wir auf diesem Wege weiterkommen. Ich bin gar nicht in Abrede, und es wäre töricht von mir, dergleichen zu leugnen, daß Michael Angelo ein ausgezeichneter Geist ist, nur ist es wohl Übereilung des Zeitalters, ihn und Raffael über alle übrigen Sterblichen hinüberzuheben, und zu sagen: seht, sie haben die Kunst erfüllt!]
Jegliche Kunst hat ihr eigentümliches Gebiet, ihre Grenzen, über die sie nicht hinausschreiten darf, ohne sich zu versündigen. So die Poesie, Musik, Skulptur und Malerei. Keiner muß in das Gebiet des andern streifen, jeder Künstler muß seine Heimat kennen. Dann muß jeglicher die Frage genau untersuchen: was er mit seinen Mitteln für vernünftige Menschen zu leisten imstande ist. Er wird seine Historie wählen, er wird den Gegenstand überdenken, um sich keine Unwahrscheinlichkeiten zuschulden kommen zu lassen, um nicht durch Einwürfe des kalten, richtenden Verstandes seinen Zauber der Komposition wieder zu zerstören. Den Gegenstand gut zu wählen ist aber nicht genug, auch den Augenblick seiner Handlung muß er fleißig überdenken, damit er den größten, interessantesten heraushebe, und nicht am Ende male, was sich nicht darstellen läßt. Dazu muß er die Menschen kennen, er muß sein Gemüt und fremde Gesinnungen beobachtet haben, um den Eindruck hervorzubringen, dann wird er mit gereinigtem Geschmacke das Bizarre vermeiden, er wird nur täuschen und hinreißen, rühren, aber nicht erstaunen wollen. Nach meinem wohlüberdachten Urteil hat noch keiner unsrer Maler alle diese Forderungen erfüllt, und wie könnte es irgendeiner, da sich noch keiner der erstgenannten Studien beflissen hat? Diese müssen erst in einem hohen Grade ausgebildet sein, ehe die Künstler nur diese Forderungen anerkennen werden.
Um namentlich von Buonarotti zu sprechen, so glaube ich, daß er durch sein Beispiel die Kunst um viele wichtige Schritte wieder zurückgebracht hat, statt ihr weiterzuhelfen, denn er hat gegen alle Erfordernisse eines guten Kunstwerks gesündigt. Was will die richtige Zeichnung seiner einzelnen Figuren, seine Gelehrsamkeit im Bau des menschlichen Körpers, wenn seine Gemälde selbst so gar nichts sind? Sein Jüngstes Gericht ist eine ungeheure Wand voller Figuren in mannigfaltigen Stellungen, aber ohne alle Verbindung, ohne Wirkung. Der Zweck seiner Darstellung ist ohne Schönheit, eine Handlung, die keine ist, die sich nicht anschauen, nicht darstellen läßt, die sich selbst nicht in der Erzählung vortragen läßt: es sind tausend Begebenheiten, die sich durchaus nicht zu einer einzigen verbinden lassen. Schwebende Gestalten, ruhende Selige und Verdammte, Engel und die Madonna. Das Auge findet keinen Ruhepunkt, es frägt: was soll ich hier sehn? Mythologie der Alten mit christlicher Idee vermischt, Verzerrung der Verzweiflung. Der Augenblick im Gemälde selbst ist unentschieden, die Engel oben mit Zubereitungen beschäftigt, ein allgemeiner Moment des Entsetzens, und unten schon die Verdammung vieler entschieden. Was soll ich aber genießen und fühlen, wenn die Ausführung auch gar keinen Tadel verdiente?“
„Nichts!“ rief Camillo aus, indem er mit dem höchsten Unwillen hervortrat. „Glaubt Ihr, daß der große, der übergroße Buonarotti daran gedacht hat, Euch zu entzücken, als er sein mächtiges Werk entwarf? O Ihr Kurzsichtigen, die Ihr das Meer in Bechern erschöpfen wollt, die Ihr dem Strome der Herrlichkeit seine Ufer macht, welcher unselige Geist ist über Euch gekommen, daß Ihr also verwegen sein dürft? Ihr glaubt die Kunst zu ergründen und ergründet nur eure Engherzigkeit, nach dieser soll sich der Geist Gottes richten, der jene erhabene Ebenbilder des Schöpfers beseelt. Ihr lästert die Kunst, wenn Ihr sie erhebt, sie ist nur ein Spiel Eurer nichtigen Eitelkeit. Wie der Allmächtige den Sünder duldet, so erlaubt auch Angelos Größe, seine unsterblichen Werke, seine Riesengestalten dulden es, daß Ihr so von ihnen sprechen dürft, und beides ist wunderbar.“
Er verließ im Zorne den Saal, und alle erhuben ein lautes Lachen. „Was er nicht versteht“, sagte Sternbalds Nachbar, „hält er für Unsinn.“ Sternbald aber war von den Worten und den Gebärden des Greises tief ergriffen, dieser enthusiastische Unwille hatte ihn mit angefaßt, er verließ schnell die Gesellschaft, ohne sich zu entschuldigen, ohne Abschied zu nehmen.
Das war viel Mittelverständliches über Bilder. Zum endgültigen Beweis, dass schon die gezeichneten Skizzen Spaß machen sollten (okay, fürs Video hatten sie Animationstechnik), gibt es als Belohnungslied („Jegliche Kunst hat ihr eigentümliches Gebiet, ihre Grenzen, über die sie nicht hinausschreiten darf, ohne sich zu versündigen. So die Poesie, Musik, Skulptur und Malerei. Keiner muß in das Gebiet des andern streifen, jeder Künstler muß seine Heimat kennen.“): Barry Louis Polisar: All I Want Is You, aus My Brother Thinks He’s a Banana and Other Provocative Songs for Children, 1977, aber bekannt aus dem nicht warm genug zu empfehlenden Juno, 2007:
Dieses unnötige, ja sinnlose Hin und Her
Update zu Wenn es Ihnen versagt würde to translate,
Nous sommes Voltaire, Muhammad et Charlie und
Und aber nach fünfhundert Jahren (Das eine wächst, wenn das andre dorrt):
Also ich wollte sagen, dass etwa zu dieser Zeit die Verwirrung durch die, ähm … und die Verwirrung wird all jene verwirren, die nicht wissen, und niemand wird wirklich genau wissen, wo diese kleinen Dinge zu finden sind, die verknüpft sind mit einer Art von Handarbeitszeug, das durch die Verknüpfung verknüpft ist. Und zu der Zeit soll ein Freund seines Freundes Hammer verlieren und die Jungen sollen nicht wissen, wo die Dinge, die jene Väter erst um acht Uhr am vorhergehenden Abend dorthin gelegt hatten, kurz vor Glockenschlag. Dies steht geschrieben im Buch von Sel.
Monty Python: Das Leben des Brian, 1979.
Jeder, dem das Denken und Fühlen noch nicht vollends ausgetrieben ist, hätte lieber einen Orient wie aus Tausendundeiner Nacht, wie aus dem West-östlichen Divan, wie bei Friedrich Rückert oder wenigstens wie aus den Almanachen von Wilhelm Hauff. Einen voller üppig gesponnener Märchen, unerschütterlich weltoffener Weisheit, phantasievoller Sachen zum Rauchen und einer Friedfertigkeit, von der sich jeder abendländische Giaur noch was abschneiden kann. Schön wär’s, wirklich wahr.
Fast noch schöner wäre ein Orient voll trotteliger Besatzer, lebensmutiger Ex-Leprakranker und Heilsversprechen an allen Ecken und Enden, die auch nicht surrealer sind als die ohnehin vorgefundene Lebenswirklichkeit. Und wenn man es mal so herzählt, muss einem ein Klamaukfilm wie Das Leben des Brian erschütternd lebensnah vorkommen, auch wenn er 600 Jahre vor der Erfindung des Islams spielt.
Nun ist der islamische Humor leider sehr körperbetont, also meist auf Schadenfreude ausgerichtet. In seinen gesprochenen Manifestationen darf und sollte er geistreich sein, aber keine Unwahrheit aussprechen — was alle Formen der Ironie gesetzlich ausschließt. Natürlich macht ihn das zu einem reinen, nun ja: Minenfeld.
Es scheint, der stets wahrhaftige Hans Mentz von der Titanic ist 2015 auf etwas gestoßen, worauf sich die virulentesten Weltreligionen einigen könnten. Mir war nicht klar, dass der Mann so wichtig ist.
——— Hans Mentz:
Slapstick am Sinai
aus: Humorkritik in: Titanic, September 2015, Seite 49:
Daß es gar nicht so leicht ist, mit Heilsgestalten Komik zu erzeugen, haben auch die Spitzenkräfte von Monty Python erfahren: Wenn jemand ein „gutes Leben“ vorlebt, dann riskieren die, die sich drüber lustigmachen, als inhuman zu gelten. Nicht von ungefähr heißt der Held aus „Life of Brian“ auch Brian und nicht Jesus. Was aber, wenn im heiligsten aller Bücher selbst drollige Sachen passieren? Vor über zwanzig Jahren schrieb Hans Schmoldt seine im Reclam-Verlag erschienene Einführung in das Alte Testament und faßt dort vorbildlich-sachlich zusammen, was sich laut der Überlieferung des Pentateuch am Sinai zugetragen haben soll: „Am Sinai wird Moses mehrfach auf den Berg hinaufkommandiert und steigt mehrfach wieder herab: Er steigt zu Gott hinauf (2. Mose 19,3); in 19,7–8a wird vorausgesetzt, daß er herabgestiegen ist; er steigt vom Berg herab (19,14); er steigt auf den Berg hinauf (19,20); er steigt herab (19,27 [womit 19,24–25 gemeint sein muss]); jetzt (!) verkündet Gott die zehn Gebote (20,1–17); Moses nähert sich Gott, steigt also hinauf (20,21); er soll zu Jahwe hinaufsteigen (24,1); er steigt auf den Berg hinauf (24,13b); er steigt auf den Berg hinauf (24,15a).“ Lakonisch folgert Schmoldt: „Dieses unnötige, ja sinnlose Hin und Her zwingt zu der Annahme, daß hier mehrere Bearbeiter, Ergänzer am Werk waren“. Gut möglich. Mich aber erfreut vielmehr meine eigene Exegese: daß der Jahwist schlicht Gefallen hatte an der Vorstellung, ein wie Charlton Heston aussehender Moses steige wie toll immer wieder auf einen Berg, auf dem er schon längst droben ist, und kriegt die Gesetzestafeln just dann in die Hand gedrückt, wenn er sich eigentlich gerade unten aufhält. Wenn ich, in meinem gleichfalls annähernd biblischen Alter, noch einen Pfarrer empfehlen soll, dann den gelehrten Hans Schmoldt mit seinem makellosen Timing.
Das interessiert mich jetzt, wie sich diese neun Stellen — wenn wir die eigentlichen zehn Gebote ausnehmen — geballt anhören. Die Luther-Übersetzung 1545 letzter eigener Hand, der ich fast soviel glaube wie der monatlichen Humorkritik von Hans Mentz, sagt:
——— Exodus 19,3:
Vnd Mose steig hin auff zu Gott. VND der HERR rieff jm vom Berge / vnd sprach / So soltu sagen zu dem hause Jacob / vnd verkündigen den kindern Jsrael.
——— Exodus 19,7–8a:
MOse kam / vnd foddert die Eltesten im volck / vnd legt jnen alle diese wort fur / die der HERR geboten hatte. Vnd alles volck antwortet zu gleich / vnd sprachen / Alles was der HERR geredt hat / wöllen wir thun / Vnd Mose sagt die rede des Volcks dem HERRN wider.
——— Exodus 19,14:
Mose steig vom Berge zum Volck / vnd heiliget sie / vnd sie wusschen jre Kleider.
——— Exodus 19,20:
ALS nu der HERR ernider komen war auff den berg Sinai / oben auff seine spitzen / foddert er Mose / oben auff die spitze des Bergs / Vnd Mose steig hin auff.
——— Exodus 19,24–25:
Vnd der HERR sprach zu jm / Gehe hin / steige hinab / Du vnd Aaron mit dir / solt herauff steigen / Aber die Priester vnd das Volck sollen nicht her zu brechen / das sie hinauff steigen zu dem HERRN / das er sie nicht zuschmettere. Vnd Mose steig hervnter zum Volck / vnd sagts jnen.
——— Exodus 20,21:
Also trat das volck von ferne / Aber Mose macht sich hinzu ins tunckel / da Gott innen war.
——— Exodus 24,1:
VND zu Mose sprach er / Steig erauff zum HERRN / du vnd Aaron / Nadab vnd Abihu / vnd die siebenzig Eltesten Jsrael / vnd betet an von ferne /
——— Exodus 24,13b:
Da macht sich Mose auff / vnd sein diener Josua / vnd steig auff den berg Gottes / vnd sprach zu den Eltesten / Bleibt hie / bis wir wider zu euch komen / Sihe / Aaron vnd Hur sind bey euch / Hat jemand eine Sache der kome fur die selben.
——— Exodus 24,15a:
DA nu Mose auff den Berg kam / bedeckt eine wolcke den berg / Vnd die Herligckeit des HERRN wonete auff dem berge Sinai / vnd decket jn mit der wolcken sechs tage / vnd rieff Mose am siebenden tage aus der wolcken.
Körpernaher Slapstick, dem man je nach Neigung schadenfroh begegnen kann, dabei nicht geistlos. Da lacht der Großstadthipster mit dem Barte des Propheten um die Wette. Gott ist groß.
Bilder: Yvonne De Carlo, wahrscheinlich 1956 als Zipporah, Moses‘ Frau in Die Zehn Gebote via Evie, 2012;
Pietro Perugino: Zipporah (3. v. l. in Blau) als Detail in Viaggio di Mosè e circoncisione del suo secondo figlio, zwischen 1481 und 1483 (circoncisione heißt Beschneidung).
Filmbeleg: The Ten Commandments, 1956, als Playlist.
Übrigens mit „Lily Dracula-Munster“ als Moses‘ Frau Zippora.
Was heißt das für ein Leben führen, sich und die Jungens ennuyiren?
In München, auch wenn sie das in Berlin immer nie glauben mögen, wohnen ungefähr 1,4 Millionen Leute. Die allermeisten von denen stehen höchstens einmal im Leben in der Zeitung, und da sind sie gestorben.
Manche schaffen es zweimal, ganz unauffällig. Leonhard Schülen hat es das zweite Mal allein durch die Tätigkeit des Wohnens geschafft:
——— Carolina Heberling:
Eine gute Beziehungsbasis.
So lebt es sich in einer Groß-WG
in: Süddeutsche Zeitung, Samstag/Sonntag 15./16. Juli 2016:
Es gibt eigentlich kein Thema, bei dem die Basis-Bewohner einer Meinung sind. Sie necken einander. Machen sich lustig darüber, wie einer der Mitbewohner immer die Klotür offen lässt. Erzählen, wie sie sich mal alle kollektiv die Haare abrasiert haben. Packen die Anekdote aus, wie Leo für zwei Kästen Bier den ganzen Faust auswendig lernte und in der U-Bahn vortrug.
Zwei Kästen Bier? Da war doch was. Und es war 2012, es war innerhalb dieser unheil’gen Hallen, und es hat sogar 14 Kommentare: Mein Lied ertönt der unbekannten Menge, 27. September 2012 innerhalb des Weblogs.
Seinen seltenen Fundstellen im Internet nach zu schließen ist der Leo eher so der technische Typ, und meinem wohlwollenden Stalking nach zu schließen (das sich ab sofort legen wird, versprochen) ein recht einnehmender Bursch. Schon die 14 Kommentare zu Zeiten, als in literarisch orientierten Weblogs noch aktiv diskutiert wurde, äußerten sich recht angetan von ihm, siehe a.a.O., und die paar überlebenden Archivartikel in Zeitungen, die sich nicht genug über jungische Physiker wundern können, die den Faust kennen, lassen eher ein „Weiter so!“ durchblicken als ein „So ein Schmarrn“.
Ein paar Amazon-Rezensionen über mehrere Physikbücher und eine Espressomaschine, die Coverage über den Faust-Event, nichts aus dem Polizeibericht und keine Pegidageschichten. Mehr darf man von einem Persönlichkeits-Googeln über junge Menschen gar nicht erwarten. Und seine WG scheint in Thalkirchen zu hausen, einer angenehm unhippen Gegend in Tierparknähe. Sollte ich den Buben mal im Südstadt treffen, zahl ich ihm den ihm moralisch ja wohl mindestens noch zustehenden dritten Kasten, da kenn ich nix.
Beide Bilder sind von Florian Peljak für den zitierten Artikel von Carolina Heberling: Eine gute Beziehungsbasis. So lebt es sich in einer Groß-WG in der Süddeutschen Zeitung, Samstag/Sonntag 15./16. Juli 2016, und heißen Seit gut vier Jahren gibt es die WG, seitdem verwildert auch der Garten. und Dienstag ist Putztag, und zum Abschluss schaut die ganze Runde dann „Game of Thrones“. Das erstere ist das schönste, und auf dem letzteren wird der Leo mit nachgewachsenen Haaren und zwei aus dem Hirn geschlafenen Kästen Bier (Physiker vertragen erfahrungsgemäß einiges) schon mit drauf sein, gell. Prost, Herr Schwager.
Und weil — gerade auch thematisch — noch Platz ist, gibt’s eins meiner mittelalten Lieblingslieder, das ich seinerzeit zum ersten Mal im Südstadt gehört hab. Natürlich wurde daraufhin der Abend noch lang, auch wenn am nächsten Tag dringend die CD her musste.
Hair as red as stockings blue
Update zu Invisible Girls:
——— Lord George Gordon (later: Noel), 6th Baron Byron:
The Blues : A Literary Eclogue
„a mere buffoonery, never meant for publication“, written 1820,
published anonymously in: The Liberal 3, 1822:
„Nimium ne crede colori.“ — Virgil.
O trust not, ye beautiful creatures, to hue,
Though your hair were as red as your stockings are blue.
Die vermutlich einzige deutsche Übersetzung hiervon wurde von Adolf Seubert für die Winkler-Ausgabe 1978 angefertigt:
——— Lord Byron:
Blaustrümpfe. Eine literarische Ekloge
„Nimium ne crede colori.“ — Virgil.
O traue doch der Farbe nicht,
Du schön Gebild der Frau,
Und wär dein Haar so rot und licht
Wie deine Strümpfe blau.
Was haben wir also? Eine Ekloge, die nicht für die Öffentlichkeit gedacht war, in der Übersetzung für eine vergriffene Gesamtausgabe, die zwei Verse einführt, die nicht vorhanden sind, begleitet von einem Lied, dessen Existenz von seinem Schreiber abgestritten wird. Zusätzlich interessant erscheint in unserem Zusammenhang, dass Susan „Sue“ Storm Richards, die als Invisible Woman firmiert, in einer blauen Ganzkörperstrumpfhose dargestellt wird, wie unlängst dargestellt.
Hier bleibt uns nun genug geeigneter Platz für einen Werkstattbericht:
Macht sich jemand einen Begriff, was das für ein Aufwand ist, ein Bild von einer Rothaarigen mit blauen Strümpfen aufzutreiben? Eins, das was taugt? — Surftipp für böse Jungs (und wer sonst noch auf ansehnliche junge Frauen steht): Sachen findet man da! Sachen! — Surftipp für brave Mädchen (und wer sonst noch auf keine lieblosen Sonderfetischbildchen steht): Lasst es lieber.
Rote Haare und blaue Strümpfe, hair as red as stockings blue, das scheint eine Kombination, auf die nicht viele Gestalter erotischen Bildmaterials verfallen, und wenn, dann für eine allzu spitze Zielgruppe, die froh ist, wenn sie überhaupt was geboten kriegt. An barfüßigen Lesenden, wie ich sie nromalerweise an dieser Stelle verwende, herrscht kein Mangel: Auf eine kurze Suche „barefoot reading“ oder ähnlich branden sie einem den Bildschirm ein, eine von der Natur begünstigter, hübscher zurechtgemacht, professioneller ausgeleuchtet und trickreicher gemalt als die andere. Dass gerade wörtlich genommene Blaustrümpfe so selten sind, hätte ich nicht erwartet: In der Nähe zur typischen Lesenden halte ich das für ein Genre wie die naughty librarian auch — also eine sophisticated Spielart der Schönheit, keinen abseitigen Fetisch, hat die Blue Stockings Society doch kurz nach 1750 als höchst ehrbare Versammlung noch viel ehrbarerer Frauen — gelegentlich sogar Männer — angefangen.
Meine favorisierte, dabei recht glaubwürdige Etymologie der Bezeichnung „Blaustrumpf“ für ganz leicht ruppige, ganz leicht kerlige und ganz leicht einschüchternd kluge Frauen leitet sich von Benjamin Stillingfleet her, dem ersten der Blaustrümpfe, der sich keine formellen schwarzen Strümpfe leisten konnte, aber als unverzichtbares Mitglied besager Versammlungen auftrat. Was soll denn daran so obszön sein, dass man es nur als pflichtschuldig zusammengeschluderten Porno bebildern mag? — Es ergeht der Aufruf:
Frauen, tragt mit Stolz blaue Strümpfe, Strumpfhosen oder Socken; Männer, folgt ihnen darin (ja, wieso nicht auch in den Strumpfhosen?); gestaltet Bildaussagen mit farblichen, vor allem farbigen Inhalten; erwägt kritisch und wohlwollend, ob blau lackierte Zehennägel schon eine Blaustrümpfin definieren; Zeichner, Maler und Fotografen, richtet euer respektvolles Auge auf sie und dokumentiert sie dabei!
Und lasst mich unbedingt eure Ergebnisse sehen; Lord Byrons vollständige Ekloge und in deren Gefolge das Bluestocking Archive rufen uns nach Verwertung und Verbreitung — und dann ja wohl auch nach erneuter Illustration. Rotschöpfe bevorzugt: Rote Haare sind eine Vorliebe für Gentlemen. Frühling lässt sein blaues Band pp. und die Kommentarfunktion ist offen!
Die Bilder, die ich halbwegs guten Gewissens hier verwenden konnte, stammen von Lacehearts, 13. August 2013, und Pantyhose Faves, 5. September 2015.
Angenehm leicht und lohnend war es dagegen, als Soundtrack einen Lord Byron Blues zu finden. Nach der zermürbenden Bildersuche überraschend genug, gibt es tatsächlich einen genau dieses Namens, er klingt etwas gleich, und er ist eine große Rarität mit Jimmy Page, John McLaughlin, Bobby Graham et al.: von deren damaligen Gelegenheitsprojekt Le London All Star, um Frankreich zu beweisen, dass Briten stereo spielen können: British Percussion, 1965. Jimmy Page hat später die Existenz des ganzen Albums geleugnet: „No such record was made“. So geht eine Rarität, und sie soll in ihrer Gesamtheit richtig gut sein. Einzig schade: No such CD was made.
Wunderblatt 8: Something greater than me
Update for Wunderblatt 7: Die Vegetation ist der negative Lebensprozeß. Vom ursprünglichsten Gegensatz zwischen Pflanze und Tier — und Emily und Emily
and Schmerz, Tod und Graus gar spaßig zu erfassen:
——— John Urso:
Comment
March 2016, on Tom Waits: Take One Last Look,
live on the second last Late Show With David Letterman, May 14th, 2015:
If there is some esoteric poet girl out there who needs an imperfect friend… let me know. I have never found the person who gets the religious experience that Tom and similar artists bring. Today in the woods… I found a mason jar, with the lid off. Inside it was plants, worms, and other stuff that is over my head. A whole world was living in that half ass terrarium provided by a something greater than me… I cant get it out of my head.
Image: of esoteric poet girl with half ass terrarium:
Sophia „Send me adrift.“: Caliginous Hearts, Connecticut, December 3rd, 2012: „7:00 am, top of the hill at the park, humid and foggy, cold. I’m proud of this. I really am.“
Der Frühling liebt das Flötenspiel, doch auch auf der Posaune
Update zu Seht, Ehrenbreitstein mit gesprengter Mauer:
Gerade wiedergelesen: Die Feuerzangenbowle von Heinrich Spoerl, in einem halben Tag und einer ganzen Nacht, mit kurzen Pausen für Stoffwechsel und Katerpflege. „Nicht wegen des Katers; das ist eine Sache für sich“, sondern die zwei vierbeinigen — cit. Spoerl, a.a.O., in der Bertelsmann-Ausgabe von 1962 mit Tusche- und Federillustrationen von einem gewissen, nicht näher nachweisbaren Gottfried Raap auf Seite 14, die ich beim Auszug bei meinen Eltern denselben gestrapst hab. Jetzt dünne ich Bücherregale aus und wollte sie unter Umständen drangeben. Die Umstände lauten aber: Kommt nicht in Frage.
Die bekannten Filmzitate stehen schon in der Buchvorlage, das kollektive Gedächtnis aller Generationen kann Erich Ponto als Schnauz und Paul Henckels als Bömmel bis heute auswendig mitsprechen. Ein neu entdeckter Liebling fügt sich genau in diese Reihe (bei mir auf Seite 132), der war mir glatt auch im Film entgangen:
„Schwäfelwasserstoff est ein onangenehmer Geselle. Er besetzt einen entenseven Geroch nach faulen Eiern und anderen onanständigen Sachen.“
Ist das nicht hinreißend putzig? Ist das nicht von einer kindlich frühlingshaften Harmlosigkeit? — Natürlich nicht, Schwefelwasserstoff ist ein Grundbaustein für die Entstehung des Lebens und der Film ist gar nicht so unschuldig, wie man ihn immer tun lässt. Dafür ist es eine gottgesegnete Erleichterung, dass man das alles nicht mehr persönlich mitmachen muss. — Das Buch ist tatsächlich von 1933; die bekannte Verfilmung mit Heinz Rühmann war schon die zweite, auch wieder mit Rühmann, und wurde 1944 zwischen den Kriegstrümmern von Babelsberg gedreht.
Eine besonders anrührende Sequenz geht im Buch nahezu unter und kommt in beiden nazizeitlichen Verfilmungen gar nicht erst vor:
——— Heinrich Spoerl:
Die Feuerzangenbowle
Ein Lausbüberei in der Kleinstadt. Der erste im Droste Verlag erschienene Roman,
als Vorabdruck in Der Mittag, Düsseldorf 1933:
So waren sie allmählich bei dem alten Schloß angelangt, das ihm Eva zeigen wollte. Dies war natürlich der äußere Vorwand des Ausfluges. Hans hätte das Schloß auch sehr gut allein gefunden, ja, er kannte es bereits in allen Winkeln und hatte dort kulturhistorische Studien angestellt. Aber er tat dumm und ließ sich von Eva führen. Treppauf, treppab, über die alten ausgewaschenen Stufen und leicht glitschigen Steinplatten, durch modrige Gänge und gruselige Gewölbe bis hinab ins Burgverlies, dann hinauf auf die dicken bröckelnden Mauern, schwindelnden Wehrgänge bis in den klobigen verfallenen Turm. Merkwürdig, heute kam ihm alles viel romantischer, viel geheimnisvoller vor. Eva erzählte in einem fort, was sie über das Schloß wußte. Hans hörte nicht zu, sondern berauschte sich an dem Klang ihrer klaren Stimme und sah sie unentwegt von der Seite an.
Als sie in den noch bewohnten Neubau des Schlosses kamen, hörte er von ihr eine besonders hübsche Geschichte, die nicht im amtlichen Burgenführer verzeichnet war: Eine Tages erschien bei der Fürstin ein Bauer und ließ bescheiden fragen, ob er seinem Enkelkinde die Urgroßmutter zeigen dürfe. Die Fürstin wußte auf diese Frage nichts zu entgegnen und bat um nähere Erklärungen. Da fragte der Bauer, ob es gestattet sei, das Schloß zu betreten und sich im Saal umzuschauen. Die Fürstin führte den Bauern mit seinem Enkelkinde in die große Halle. Diese war bis vor wenigen Jahren ein verräucherter und verschmutzter Stall gewesen; da hatte die Fürstin ohne viel Federlesens ihre sämtlichen Mägde zusammengetrommelt und Decken und Wände mit Seife, Sand und Soda abschrubben lassen. Und da kamen die alten allegorischen Gemälde, die ein halbes Jahrhundert lieblos übertüncht gewesen waren, wieder zum Vorschein: An den Wänden und Decken tummelten sich Zeus, Apoll, Hera, Artemis und die übrigen Insassen des Olymps nebst Hunderten von Putten. Der Bauer kniff die Äuglein zusammen und unterzog die mythologischen Gestalten einer eingehenden Musterung. Die Fürstin stand schweigend daneben. Die Putten erwiesen sich bei näherer Betrachtung als Bauernjungen. Alle Körper waren ungeschlacht und klobig. Etwas Robustes ging von der nackten Gesellschaft aus. Der Bauer nahm sein Enkelkind auf den Arm und zeigte mit dem Finger bald an die Decke, bald an die Wand; achtmal entdeckte er die Urgroßmutter, die teils mit Rosen dahinschwebte, teils ihre Füße badete, teils die aufgehende Sonne bewunderte, teils Ambrosia schlürfte. Und die Erklärung? Der Maler der Szenerie hatte seine sämtlichen Modelle aus dem Dorf bezogen. Und die Urgroßmutter, damals eine schmucke Dirn, mußte für sämtliche Göttinnen herhalten und war achtmal vertreten. Einmal als Aphrodite.
Eva drängte heimwärts. Sie durfte nicht zu lange bei ihrer Freundin Lisbeth bleiben.
Einmal als Aphrodite: William-Adolphe Bouguereau: Le Repos (Jeune Fille Couchee), 1880, Öl auf Leinwand, 72 cm x 148 cm, bei Sotheby’s, New York für 458,500 $ verkauft;
La Naissance de Vénus, 1879, Öl auf Leinwand, 300 cm × 215 cm, Musée d’Orsay;
Temptation, 1880, Öl auf Leinwand, 99,06 cm × 132,08 cm, Minneapolis Institute of Art.
Soundtrack: Erich Knauf, 2. Mai 1944 in Brandenburg an der Havel hingerichtet wegen wegen defätistischer Äußerungen (vulgo Witzeerzählens) im Luftschutzkeller: Der Frühling liebt das Flötenspiel, doch auch auf der Posaune, featuring the Feuerzangenbowle Allstars:
Irgendwelche Lümmel oder Gesellschaften von zechenden Strolchen
Update zu The Raven und der Rabe:
Es giebt eine Reihe idealischer Begebenheiten, die der Wirklichkeit parallel läuft. Selten fallen sie zusammen. Menschen und Zufälle modificiren gewöhnlich die idealische Begebenheit, so dass sie unvollkommen erscheint, und ihre Folgen gleichfalls unvollkommen sind. So bei der Reformation; statt des Protestantismus kam das Lutherthum hervor.
There are ideal series of events which run parallel with the real ones. They rarely coincide. Men and circumstances generally modify the ideal train of events, so that it seems imperfect, and its consequences are equally imperfect. Thus with the Reformation; instead of Protestantism came Lutheranism. — Novalis. Moral Ansichten.
Novalis: Religiöse Fragmente, 1799–1800,
verwendet als Motto von Edgar Allan Poe: Das Geheimnis um Marie Rogêt, 1842.
——— Edgar Allan Poe:
Das Geheimnis um Marie Rogêt
Snowden’s Ladies‘ Companion, November und Dezember 1842, Februar 1843;
Übersetzung von Hans Wollschläger für: Poe. Werke I [von IV Bänden], Walter-Verlag AG Olten und Freiburg im Breisgau, 1966:
So etwas wie einen noch unerforschten oder auch nur selten besuchten Winkel inmitten der Wälder und Wäldchen kann man sich ja nicht einen Augenblick lang mehr vorstellen. Lassen Sie och einmal einen, der im Herzen ein Freund der Natur ist, doch aber von seiner Pflicht an den Staub und die Hitze dieser großen Metropole gekettet, — lassen Sie einen solchen doch einmal den Versuch machen, selbst während der Wochentage seinen Durst nach Einsamkeit inmitten der Schauspiele lieblicher Natur zu stillen, welche uns unmittelbar umgeben! Bei jedem zweiten Schritt wird er den aufsprießenden Zauber von der Stimme und dem persönlichen Eindringen irgendeines Lümmels oder einer Gesellschaft von zechenden Strolchen verjagt finden. Noch unter dem dichtesten Blätterdach wird er die Einsamkeit vergeblich suchen. Hier gerade sind die Schlupfwinkel, wo sich das Gesindel am meisten herumtreibt — hier sind die Tempel am meisten entweiht. Mit Ekel im Herzen wird der Wanderer zurückfliehen ins befleckte [Preisfrage: Von welcher Stadt ist eigentlich die Rede?] — als den weniger widerlichen, weil weil weniger widersinnigen Pfuhl der Verderbnis. Doch wenn die Umgegend der Stadt schon während der Arbeitstage der Woche so sehr belagert ist, wieviel mehr dann erst am Sabbat! Denn gerade jetzt sucht der Strolch aus der Stadt, befreit von den Ansprüchen der Arbeit oder beraubt auch der gewöhnlichen Gelegenheiten zum Verbrechen, die Randgebiete auf, nicht aus Liebe zum Ländlichen, denn das verachtet er aus innerstem Herzen, sondern um den Zwängen und Konventionalitäten der Gesellschaft zu entrinnen. Er sehnt sich weniger nach der frischen Luft und den grünen Bäumen als nach der gänzlichen Ungebundeheit des Landes. Hier, in der Schenke an der Landstraße oder unter dem Blätterdach der Wälder, von keinerlei Blicken gehindert, es sei denn denen seiner Zechgenossen, gibt er sich all den wahnsinnigen Ausschweifungen einer verlogenen Fröhlichkeit hin — dem Ergebnis von Freiheit und Branntewein.
——— Originaltext aus der Erstveröffentlichung in Snowden’s Ladies‘ Companion, Teil III: Februar 1843:
Such a thing as an unexplored, or even an unfrequently visited recess, amid its woods or groves, is not for a moment to be imagined. Let any one who, being at heart a lover of nature, is yet chained by duty to the dust and heat of this great metropolis — let any such one attempt, even during the week-days, to slake his thirst for solitude amid the scenes of natural loveliness which immediately surround us. At every second step, he will find the growing charm dispelled by the voice and personal intrusion of some ruffian or party of carousing blackguards. He will seek privacy amid the densest foliage, all in vain. Here are the very nooks where the unwashed most abound — here are the temples most rife with desecration. With deadly sickness of the heart the wanderer will flee back to the polluted Paris as to a less odious because less incongruous sink of pollution. But if the vicinity of the city is so beset during the working days of the week, how much more so on the Sabbath! It is especially that, released from the claims of labor, or deprived of the customary opportunities of crime, the lower order of the town blackguard seeks the precincts of the town, not through love of the rural, which in his heart he despises, but by way of escape from the restraints and conventionalities of society. He desires less the fresh air and the green trees, than the utter license of the country. Here, at the road-side inn, or beneath the foliage of the woods, he indulges, unchecked by any eye except those of his boon companions, in all the mad excess of a counterfeit hilarity — the joint offspring of liberty and rum.
Eine Reihe idealischer Begebenheiten, die der Wirklichkeit parallel läuft: Brombas Berge: Berg-Neuigkeiten: Münchens Isar: Lärm, Dreck und Gestank und kein Ende in Sicht, 25. Juli 2015.
Soundtrack als Lebensgefühl: Spider Murphy Gang: Sommer in der Stadt, aus: Tutti Frutti, 1982.