Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

And Rilke says to this guy

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Update zu Schlachtens:

——— Franz Xaver Kappus: Sonett,
cit. nach Meurer, s.u.:

Durch mein Leben zittert ohne Klage
Ohne Seufzer ein tiefdunkles Weh.
Meiner Träume reiner Blütenschnee
Ist die Weihe meiner stillsten Tage.

Öfter aber kreuzt die große Frage
Meinen Pfad. Ich werde klein und geh
Kalt vorüber wie an einem See
Dessen Flut ich nicht zu messen wage.

Und dann sinkt ein Leid auf mich, so trübe
Wie das Grau glanzarmer Sommernächte,
die ein Stern durchflimmert — dann und wann

Meine Hände tasten dann nach Liebe,
weil ich gerne Laute beten möchte,
die mein heißer Mund nicht finden kann.

Die Titanic war schon immer die eine Zeitung, der ich jedes Wort glaube. Gelohnt hat sich mein Kinderglaube im März 2005, als Christian Meurer einen der gerade mal zwei Zeitungsartikel veröffentlichte, die ich als meine bedeutenden Einflüsse einstufe.

Wie alles wahnsinnig Tolle war die Titanic „früher auch schon besser“, jedenfalls könnten sie sich manche Furz- und Pimmelwitzchen und vielerlei gewollt wirkende Häme sparen. Dafür findet sich in den meisten Ausgaben bis heute ein redaktionsintern so genannter „Boehlich“: ein besonders tief recherchierter Beitrag, der dann meistens das ganze Heft wert ist — benannt nach Walter Boehlich, der bis kurz vor seinem allerletzten Federstrich 2006 seinen Blödelheftchenkollegen Monat für Monat vormachte, wie’s geht. Die fulminantesten Stücke — finde ich — liefert seither Christian Meurer, dem allein für seine Themenfindungen jeder Journalistenpreis gehört.

Sein Artikel über den jungen Dichter, an den Rainer Maria Rilke seine gleichnamigen Briefe schrieb, ist ein Parforceritt durch Literatur und Militärwesen des jungen 20. Jahrhhunderts in Deutschland und Österreich-Ungarn, und Hollywood, ein Weihnachtsgassenhauer und ein Happen Zeitgeschichte kommen auch vor. Für einen Weblog-Artikel braucht das einen vergleichsweise langen Atem, langatmig ist es nicht, versprochen.

Der Text ist abgetippt, nicht eingescannt; ich bitte deshalb wie immer meine aufmerksamen Leser, mich auf Tippfehler aufmerksam zu machen, das prodest jedem et delectat alle.

——— Christian Meurer:

Gesetz der Tiefe, Sauerkohl.
Aus dem Leben von Franz Xaver Kappus, dem Mann, der Rilkes „junger Dichter“ war

in: Titanic, März 2005, Seite 54 bis 62:

Cover Titanic März 2005Dresdens „gläserne Manufaktur“, monströser Schneewittchensarg für die VW-Totgeburt Phaeton, sah ihre Transparenz unlängst zur Transzendenz erweitert: Im Schlepptau von weiland Lothar-Günther Buchheims bärbeißigem „Boots“-Kaleu Jürgen Prochnow enterte Nina Hoger samt zwei lyrischen Leichtmatrosen: „Sonnenallee“-Jüngling Robert Stadlober und dem drallen Jodel-Wunder „Zabine“ die Planken des dort seit der Hochwasserkatastrophe installierten Podiums, um zur Kaperfahrt durch Rilkes „Weltinnenraum“ aufzubrechen: „Zwischen Tag und Traum“, so der vor futuristischer Fertigungskulisse angepeilte Navigationskurs. Dieweil die Phaeton-Nachtschicht auf allen Etagen die Schweißfunken stieben ließ, setzten multimedial auf Stoffbahnen projizierte Rilkezitate an Hitler-, Bush- und Mao-Portraits dem „Rilke-Projekt“ die kontrasthellen Positionslaternen.

Die Szene ertrank in Seichtigkeit bzw. Hintergrundgeplätscher des Komponisten-Duos Schönherz/Fleer. das den deutschen CD-Markt schon seit Jahren mit Promi-Breitseiten Rilke bestreicht. Insgesamt 25 Tourneestationen von Kiel bis München lief das trunkne Lyrik-Schiff an, regelmäßig ging Rilkes Silberfracht dabei in Ovationen unter; in denen verrauschte, daß bei den vier von VW gesponserten Schlingerfahrten auch ein blinder Passagier der Literaturgeschichte an Bord war: Franz Xaver Kappus, Adressat von Rilkes „Briefen an einen jungen Dichter“. Im miederartigen Knüllgewand erwies ihm Nina Hoger die Reverenz und rezitierte aus dem Schreiben vom 12. August 1904: Wäre es uns möglich, weiter zu sehen, als unser Wissen reicht, und noch ein wenig über die Vorwerke unseres Ahnens hinaus, vielleicht würden wir unsere Traurigkeiten mit größerem Vertrauen ertragen als unsere Freuden. Denn sie sind die Augenblicke, da etwas Neues in uns eingetreten ist, etwas unbekanntes, unsere Gefühle verstummen in scheuer Befangenheit, alles in uns tritt zurück, es entsteht eine Stille, und das Neue, das niemand kennt, steht mitten darin und schweigt.

Cover Rainer Maria Rilke, Briefe an einen jungen Dichter, Insel-Bücherei Nr. 406Habent sua fata libelli: Während der kleine Insel-Pappband in Deutschland zumeist hinterm Glasschliff knarzender Bücherschranktüren verdämmert, hält sich seine Auflage im angelsächsischen Sprachraum konstant in Millionenhöhe. Lange vor der Dresdener Kitsch-Havarie hatte diese Popularität Odysseen in eigenartigste Zusammenhänge gezeitigt: So verschlägt es in der TV-Horror/Fantasy-Serie „The Beauty and the Beast“ die Staatsanwältin Catherine Chandler („Terminator“-Lady Linda Hamilton) in die Katakomben von New York, wo sie der monströse Löwenmensch und Rilkefreund Vincent (Ron Perlman) fortan beschützt und angelegentlich aus dem achten Brief an den jungen Dichter vom 12.8.1904 zitiert: Vielleicht sind alle Drachen unseres Lebens Prinzessinnen, die nur darauf warten, uns einmal schön und mutig zu sehen. Vielleicht ist alles Schreckliche im tiefsten Grunde das Hilflose, das von uns Hilfe will. Als Teilzeit-Nonne Lenoris zieht auch Whoopi Goldberg in „Sister Act II“ praktische Nutzanwendung aus den „Letters to a Young Poet“: Sie schenkt ein entsprechendes Paperback einer jungen Gospelsängerin, die mit sich hadert, ob sie professionell ins Show-Metier einsteigen soll oder das der Mama zuliebe bleiben läßt, wofür Rilke im ersten Brief diesen Rat hatte: Erforschen Sie den Grund, der Sie schreiben heißt, prüfen Sie, ob er in der tiefsten Stelle Ihres Herzens seine Wurzeln ausstreckt, gestehen Sie sich ein, ob Sie sterben müßten, wenn es Ihnen versagt würde zu schreiben. Dieses vor allem fragen Sie sich in der tiefsten Stunde Ihrer Nacht: muß ich schreiben?

Notorischster Rilke-Fan und „Junger-Dichter“-Enthusiast bleibt allerdings Dustin Hoffman. Schon bei der Verleihung der „Goldenen Kamera“ 2003 hatte er vor versammelter Mannschaft von Loriot bis Bild-Klatschtante Christiane Hoffmann zwei Zettel aus der Tasche gekramt, um aus dem dritten Brief vom 23. April 1903 vorzutragen: Kunstwerke sind von einer unendlichen Einsamkeit und mit nichts so wenig erreichbar als wie mit Kritik. Nur Liebe kann sie erfassen und halten und kann gerecht sein gegen sie. Hoffman vorab zu Journalisin Nina Rehfeld über die „letters“: „It’s my bible. Someone gave it to me when I started acting. I read it over and over again.“

All diese Allotria hätte sich der k.u.k. Militärzögling Franz Xaver Kappus im Herbst 1902 schwerlich träumen lassen, als er auf Parkbänken der Militäranstalt in Wiener Neustadt zu Gedichten Rilkes mißmutig sein Pausenbrot zerkaute. Als ihm der aufsichtführende Geistliche dabei einmal die Lektüre abknöpfte, staunte der nicht schlecht: 15 Jahre zuvor hatte er den jungen René Rilke in der Militär-Unterrealschule St. Pölten ebenfalls unter seinem Traktament gehabt. Die Schicksalsparallele ermutigte Kappus, Rilke einen Brief zu schreiben, in dem er sich so rückhaltlos offenbarte, wie nie zuvor und niemals nachher einem zweiten Menschen. Selbstgefertigte Verse legte er zur Begutachtung bei.

Im Februar 1903 erreichte den Kadetten dann ein dicker Umschlag aus Paris. In einer ausführlichen Replik riet Rilke zu apodiktischer Unbedingtheit: Jeder äußere Einfluß, jede Einflußnahme durch andere sei streng zu meiden, statt dessen vollständige Konzentration auf die Frage geboten, ob Schreiben eine unveräußerliche Existenznotwendigkeit sei. Der verdatterte Kappus antwortete postwendend, und so entspann sich über zwei Jahre ein kleiner Briefwechsel, in dem der unstet aus Rom, Worpswede, Viareggio und Borgeby/Schweden auf seinen angehenden Adepten einschwadronierende Rilke diesen in seraphischen Appellen beschwor, sich zu seiner Lebensproblematik eine neue Perspektive zuzulegen: Sie sind so jung, so vor allem Anfang, und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst lieb zu haben, wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Hinter diesen Fragen eröffne sich ein Weltgetriebe, das sich jeden Daseinszusammenhang unterordne, um so unaufhörlich sein innewohnendes Grundprinzip zu verdeutlichen: In einem Schöpfergedanken leben tausend vergessene Liebesnächte auf und erfüllen ihn mit Hoheit und Höhe. Und die in den Nächten zusammenkommen und verflochten sind in wiegender Wollust, tun eine ernste Arbeit und sammeln Süßigkeiten an. Tiefe und Kraft für das Leid irgendeines kommenden Dichters, der aufstehen wird, um unsägliche Wonnen zu sagen. Und rufen die Zukunft herbei, und wenn Sie auch irren und sich blindlings umfassen, die Zukunft kommt doch, ein neuer Mensch erhebt sich, und aus dem Grunde des Zufalls, der hier vollzogen scheint, erwacht das Gesetz, mit dem ein widerstandsfähiger, kräftiger Samen sich durchdrängt zu der Eizelle, die ihm offen entgegensieht. Lassen Sie sich nicht beirren durch Oberflächen, in der Tiefe wird alles Gesetz. Speziell als junger Dichter habe man sich diesem Totalzusammenhang schutzlos auszuliefern, für seine Anrufungen die Einsamkeit in sich groß werden zu lassen und die eigene Biographie zum schlackenlosen Ornament gelebten Kunstwillens zu präparieren.

Vier Jahre später, um Neujahr 1909, erreichte den inzwischen auf einem Bergfort irgendwo in der kakanischen Levante diensttuenden Kappus ein letzter Brief. Rilkes Valet: Mit der Abgeschiedenheit seines Schützlings sei er sehr zufrieden, so sei er, Kappus, nicht in einen jener halbartistischen Berufe hineingeraten, die die Kunst praktisch leugnen, wie etwa der ganze Journalismus es tut und fast alle Kritik und dreiviertel dessen, was Literatur heißt. Er freue sich, daß Kappus die Gefahr, da hineinzugeraen, überstanden habe und irgendwo in einer rauhen Realität einsam und mutig sei.

Die 1929, drei Jahre nach Rilkes Tod, von Kappus veröffentlichten Briefe avancierten in ihrer wunderlichen Klitterung von Andacht, Gedankenflucht und typisch rilkeschen Einsamkeitsräuschen alsbald zum probaten Seelentonikum für Heranwachsende in der späten Weimarer Republik; als eiserne Ration galten sie später auch unter inneren Emigranten in Nazijahren und Nachkriegszeit. Für den Herausgeber ein beachtlicher Erfolg; der bohrenden Frage, die schließlich C-Autorin und Nichtdichterin Rebecca Casati via „SZ“ zu stellen sich angelegen sein ließ, hat sich die Öffentlichkeit trotzdem bislang verweigert: „Was eigentlich wurde aus Franz Xaver Kappus, der sich den Rat vor 100 Jahren sehr zu Herzen genommen hat? Wer liest heute seine Bücher? Hat er überhaupt welche geschrieben?“

Ein umfängliches Werk hat Kappus zwar hinterlassen; durch das Rilkescher Geist aber nur sehr lau weht. Schon im Vorwort zu den „Briefen“ deutet Kappus an, daß ihn das Leben auf Gebiete abtrieb, vor denen des Dichters warme zarte und rührende Sorge mich eben hatte bewahren wollen. So erhielt sich von seinem lyrischen Schaffen nur ein einziges „Sonett“ (siehe Kasten), das Rilke ihm eigenhändig abgeschrieben zurückschickte. Ansonsten trug Kappus am schweren Rucksack Rilkescher Ambitionsanregungen nicht sonderlich lange: Schon 1903, im Jahr des Briefwechsels, veröffentlichte er unter dem Titel „Im mohrengrauen Rock“ einen Sammelband „Militär-Humoresken“. (Das an Rilke abgegangene Belegexemplar verschlampte die italienische Post.)

Vom Prinzip Kraut und Rüben, das hier, zwischen Jardin des Plantes und Kasernenhof, erstmals aufschien, ließ sich Kappus auch fortan leiten, wie ein „Im Spiegel“ überschriebenes Selbstportrait belegt, das die „Berliner Morgenpost“ im Erscheinungsjahr der „Briefe“ 1929 samt Autor vorstellte. Der Korrespondenz mit dem Großdichter tat der dort keinerlei Erwähnung, statt dessen erfuhr man, daß die Hauptursache seiner Drangsale auf der Milität-Akademie in Wiener Neustadt eine Chordame des Stadttheaters gewesen. Die Abschlußprüfung in den Fächern Geodäsie und Festungskrieg habe er dieser Passion wegen zwar versiebt, sich dafür aber nachhaltig der Poesie verpflichtet (Ihr verdankte der „Mürzzuschlager Bote“ mein tiefempfundenes Gedicht „An Maltschi“, das mit den Worten begann: „Oh du, die du…“). Auch seinem späteren Regiment wollte der nach Wien kommandierte Leutnant nicht zur Zierde gereicht haben: Regelmä0ig patzte die Wache unter seinem Kommando beim Aufmarsch an der Burg, zum Tee der Regimentskommandeuse fehlte er unentschuldigt. Dazu hatte ich zwei Hunde, eine Schreibmaschine, drei Verhältnisse und Schulden. Solcherart belastet, stand ich vor der Wahl, entweder die Kriegsschule zu versuchen oder zu heiraten, ich entschied mich für das zweite. Leider brannte mir meine Braut mit ihrem vorletzten Liebhaber durch und hinterließ mir nichts als einen Topf und die Partitur von „Lohengrin“. Ein Fiasko, das Kappus immerhin mit einer nützlichen Neurasthenie zurückließ, wertvollste Mitgift im militärischen Friedensleben: Meine gesteigerten „Patellarreflexe“, mein „Lidflattern“ und meine Reizbarkeit machten jahrelang die Regimentsärzte beider Reichshälften erbleichen.

Von Intermezzi wie dem auf der Bergfestung bei Erhalt des letzten Briefs von Rilke abgesehen, lag der wg. Lidflatterns dispensierte Leutnant dem Donau-Doppeladler also nutzlos auf der Tasche. Seine Freizeit gehörte weiter literarischer Betätigung, teils weil mein Genius mich dazu drängte, teils um meine Vorgesetzten zu ärgern. So entstanden Gedichte, die niemand drucken wollte, und Militärhumoresken, die wie warme Semmeln abgingen. Kapitelweise in Angriff nahm er dazu den Polizeihund-Roman „Der Weg ins Tal“, den das k.-u.-k. Kriminal-Organ „Der Gendarm“ in Fortsetzungen druckte. Von Bergfestung und Bellestristik erlöste ihn ab 1909 ein Druckposten: Kriegsminister Auffenberg, der Freund der schönen Künste, protegierte ihn als Oberleutnant ins „literarische Bureau“ in der Wiener Stiftskaserne. Dort dichtete er Verse auf patriotische Ansichtskarten; verfaßte den Erlaß über die „Konservierung des Mündungsdeckels Muster 1909/10“ und kutschierte im übrigen seine Mizzis in Automobilen aus dem Fuhrpark seiner Dienststelle herum. Als es Auffenberg 1912 aus dem Ministerfauteuil hob, war es mit der Praterherrlichkeit vorbei: Kappus mußte den Regimentsärzten abermals sein verschlissenes Nervenkostüm präsentieren, um den alt-österreichischen Garnisons-Tran schwänzen zu können. Wasserdichte Atteste in der Tasche, tummelte er sich in der Zeit bis zum Weltkrieg dann in den Metropolen der Mittelmächte: Die folgenden Jahre wohnte ich teils im Café Dobner in Wien, teils im Berliner Café des Westens, nährte mich von Sketches, die ich für das Varieté schrieb, und fiel mit einer Komödie und einer neuen Heiratschance durch. Sein Auskommen dankte der Militär-Bohemien Kalender- und Postkartenverlagen, die er termingerecht mit patriotischen Stanzen versorgte, die der 1916 erschienene Gedichtband „Blut und Eisen“ dann versammelte.

Plakat Der rote Reiter, 1935Im Oktober 1914 rückte Hauptmann Kappus, ein Bataillon hinter sich, vor das estnische Iwangorod, von wo ihn ein Lungenschuß in die Etappe zum k.u.k. Kriegspressequartier beförderte. Dort war er dabei, wie Weltgeschichte in amtlichen Kommuniqués abdestilliert wurde, und war es selbst, der die Feldherren in klirrenden Versen verherrlichte. Daß es zwei Erzherzöge gab, die beide Josef hießen, erleichterte mir die Aufgabe wesentlich. Im Pressequartier lernte ich auch eine Reihe bedeutender Männer kennen: Sven Hedin, Oskar Kokoschka, Franz Molnar, Ludwig Ganghofer und dergleichen. Dafür mußte ich die Bekanntschaft der Generale Böhm-Ermolli, Stöger-Steiner, Pflanzer-Baltin und anderer Doppelfeldherrn mit in Kauf nehmen. — Ich rächte mich, indem ich auf Vortragsreisen des Witzblattes „Die Muskete“ ihren Ruhm über Berge und Täler trug und noch an sie glauben machte, als alles schon verloren war. Um dieselbe Zeit schrieb ich, um meinen Ärger abzureagieren, den Roman „Die lebende Vierzehn“, in dem die ganze Welt unterging. Schauplatz für Österreich-Ungarns Zusammenbruch war für Kappus Belgrad. Persönliche Kriegsbeute: ein Fliegerpfeil, sechs Liter Sliwowitz und zwei Liebesbriefe in kyrillischer Schrift. Mit all dem entkam er nach Wien, wo er die satirische Wochenzeitung „Der Esel“ gründete, von deren Defizit mehrere Offiziere lebten. Die Gerichtsvollzieher umging er via Budapest, wo Bela Khuns Räte-Regiment ihm aber außer Sauerkohl und Hafergrütze nichts zu bieten hatte. Bis zur 23er Inflation überwinterte der gebürtige Rumäniendeutsche in seiner Heimat, dann siedelte er endgültig nach Berlin über. Zu seinen „Blut und Eisen“-Versen und den 1911 und 1914 unter den Titeln „Ha, welche Lust!“ und „Durch’s Monokel“ erschienenen Militärschwänken kam bald eine stattliche Reihe selbstproduzierter Schmöker auf Bücherbord: Sukzessive mutierte der einstige Weltuntergangsromancier und zeitweilige Witzblatt-Redakteur zum Routinier für Unterhaltungsreißer, größtenteils in Illustrierten und Zeitungen vorabgedruckter Romane wie „Der rote Reiter“, „Der Mann mit den zwei Seelen“, „Der Milliardencaesar“. „Das vertauschte Gesicht“, „Ball im Netz“, „Jacht ‚Estrella‘ verschollen!“, „Martina und der Tänzer“, „Eine Nacht vor vielen Jahren“, „Menschen vom Abseits“, „Die Tochter des Fliegers“, „Brautfahrt um Lena“, „Wettlauf ums Leben“, „Sie sind Viotta!“ oder „Die Verzauberung des Lothar Bruck“. Hinzu kamen Krimis wie „Was ist mit Quidam?“ und „Eine Jacht ist gesunken“ sowie das Südseeabenteuer „Flammende Schatten“: Saisonware für die Pressetrusts Scherl und Ullstein. Der „Rote Reiter“ kam im Februar 1935 sogar als „Tobis-Klangfilm“ heraus.

Im übrigen hielt den Fließbandromancier Kappus sein Unterhaltungsgewerbe aus der Nazi-Zeit jedoch so weit heraus, daß ihm die liberale Friedrich-Naumann-Stiftung bis heute ein ehrendes Andenken bewahrt. Wie dort gelagerte Archivalien belegen, trafen sich am 16. Juni 1945 in Berlin auf Geheiß der Sowjetischen Militäradministration beim Schwiegersohn des ehemaligen Weimarer Reichsjustizministers Schiffer ein paar Herren, um die „Liberaldemokratische Partei Deutschlands“ (später DDR-Blockpartei) aus der Taufe zu heben: u.a. der frühere Reichsinnenminister Külz, der alte Reichswehrminister Noske (SPD) — und Franz Xaver Kappus, der sich unverzüglich in den Vorstand wählen ließ. Aber schon ein Vierteljahr später vermerkt das Sitzungsprotokoll des Dichters Ausscheiden aus dem Leitungsgremium „wegen seines Wechsels in die Redaktion der Ullstein-Zeitung“. Kappus schrieb noch einen Roman mit dem Titel „Flucht in die Liebe“, für ein endgültig auskömmliches Dasein aber sorgte eine Vorkriegs-Stippvisite in noch einem Genre: In Zusammenarbeit mit dem Komponisten Oskar Schima hatte er einst auch ein paar Schlagertexte fabriziert, wobei der einzige echte Evergreen Kappus‘ zustande gekommen war: „Mamatschi„. Die Tantiemen der millionenfach abgesetzten Schnulze vom kleinen Jungen und seinen heiß ersehnten Pferdchen versüßten Kappus zusammen mit den Einnahmen aus den „Briefen“ nicht nur den Lebensabend, sie sorgen auch für eine letzte alljährliche Ehrung: Kappus starb zwar 83jährig im Oktober 1966, seine langlebige Witwe blieb den führenden Männern der Berufsgenossenschaft der deutschen Schlagertexter in der Gema, des Deutschen Textdichterverbands, so eng verbunden, daß sie der Zunft die „Mamatschi“-Einnahmen vermachte; die gerade ausreichen, ein alljährliches Sommerfest auszurichten. Als kleine Huldigung ist dabei seit gut zwanzig Jahren Brauch, daß die Schlager-People zum Schluß den „Witwe-Kappus-Song“ anstimmen, ein auf die Melodie von „Mamatschi“ umgedichtetes Danklied. Der Refrain: „Wir danken der Witwe Kappus/ frohen Herzens, tief bewegt/ wir danken ihr für das Pferdchen/ das uns gold’ne Äpfel legt!“ stammt noch von Hans Bradtke, Autor von Klassikern wie „Pack die Badehose ein“, „Pigalle“ oder „Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett“.

Ein nicht unbeträchtlicher Teil der verfeierten Tantiemen dürfte sich seit 1993 Steven Spielberg verdanken, der „Mamatschi“ in den Soundtrack von „Schindlers Liste“ aufnahm und am Drehort Prag sogar einen Eilkurier zum Berliner Vinylisten- und Schellack-Dorado „Platten-Pedro“ in Bewegung setzte, um die Originalpressung der Erstversion mit der Sängerin Mimi Thoma zu beschaffen. Im Film wird die Platte von einem SS-Mann aufgelegt, um sie über sämtliche Lautsprecher durchs Krakauer KZ schallen zu lassen. Mütter und Kinder des Lagers werden auf einem Platz zusammengetrieben, um mit Lastwagen angeblich „verlegt“ zu werden. Zunächst marschieren die Kinder heran, die fröhlich „Mamatschi“ mitsingen und auf die Ladeflächen klettern. Die Mütter hält man im letzten Moment zurück. Als die Lastwagen anfahren, scheppert zur einsetzenden Massenpanik weiterhin „Mamatschi“ aus den Lautsprechern, auch als die Kamera eines der Kinder verfolgt, das verzweifelt ein Versteck sucht: Unter Krematoriumsöfen, Dachsparren und Barackendielen ist schon besetzt, so daß der Junge endlich in eine randvoll mit Fäkalien gefüllte Latrine springt. Wie hatte Kappus doch am 4. Februar 1910 seinem Regimentskameraden, dem Buchgraphiker Rudolf Heßhaimer, ins Stammbuch geschrieben: Dem Leben nachspüren, seine tiefen Zusammenhänge nicht deuten wollen, sondern sie gestalten, so gut er’s vermag: das ist Ziel und Schicksal des Künstlers.

Bilder: Heftcover via Titanic;
Buchcover via Bookstation;
Donauschwaben Banat Biographies: William Totok: From Expressionism to Entertainment, 14. November 2006;
Film: Heintje – Ein Herz geht auf Reisen, 1969.

Written by Wolf

1. April 2013 um 00:01

11 Antworten

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  1. Fein das! Hach, nun weiß ich endlich wieder, warum man abgestaubte und ehrbar gilbende Kopien von Titanic-Artikeln in Ehren bewahrt. Wegen diesem Monument von Recherche fast noch mehr als wegen Herrn Rilke. (Und wegen dem freundlich teilenden Kopien-Macher – der auch noch mit wunderbarer Engelsgeduld der rechten Gelegenheit für zeitverschobene Würdigung zu harren vermag – natürlich am meisten. :o) )
    Wegen dem Kappus, auch wenns wen kratzt, eher weniger. Dessen Weg hat der Rilke sich mit all seinem beredten Mühen wohl auch ein bissel anders vorgestellt. Aber man kann sich ja sein pädagogisches Objekt nicht immer aussuchen, nä.
    —Und ich frag mich grad: ob man pubertierenden jungen, hoffnungsvoll auf- und nach Zuspruch strebenden Talenten solche in Etappenwitze und sonstig Seichtes wabernde Entwicklungsoptionen eines jungen Dichters nicht lieber vorenthalten sollte? Damit sie ihr zerlesenes Insel-Bändchen mit den Rilke-Briefen hinterher nicht desorientiert wegschmeißen. ;o)

    Was mir aufgefallen ist: die schlampige Synchronisation von einschlägigen Rilke-Zitaten mindestens für die Teilzeitnonne Whoopi Goldberg in „Sister Act II“. Menno, gucken die vorher nicht wenigstens mal ins Original?

    P.S. Nur wegen der innigen Ermunterung an aufmerksame Leser: melde zwei Minitippfehler im abgetippten Text, letzter Satz… :o)
    *

    hochhaushex

    6. April 2013 at 12:02

    • Was der Etappenwitzhase Kappus für einen Weg genommen hat, auf dem er dann doch in so einen „halbartistischen Beruf“ hineingeraten ist, kann ich so verkehrt gar nicht finden. Rilke wäre entsetzt gewesen, schon wahr, aber dem hab ich noch nie jedes Wort geglaubt. Vielmehr stelle ich fest, der Mann hat nie aufgehört zu schreiben, und davon ist es ziemlich viel geworden, weil ziemlich viele es lesen wollten. In seinem hauptsächlichen Beruf war eher die Gefahr, ein richtig böser Kriegsknecht zu werden, bei ihm war das aber offenbar mehr so ein Eulenspiegel-Lebenswandel — nahe an einem Militärbegriff, wie er in Operetten vermittelt wird: Vom Krieg ist sich fernzuhalten, Schlawiner sind wir doch alle, und dabei bleiben wir wenigstens am Leben. Und dann noch mit einem Weihnachts-Evergreen überleben und eine Witwe hinterlassen, der in jährlichem Ritual ein Dankeslied auf die eigene Melodie gesungen wird, so weit muss es einer erst mal bringen. Etwas anderes hätte ihm selbst Rilke kaum wünschen können :o)

      Danke fürs Korrekturlesen, ich hab sogar noch einen zusätzlichen Tippfehler gefunden .ò)

      Wolf

      6. April 2013 at 12:21

      • Hab ich mir schon gedacht, dass du billigend für solchen Lebenswandel aufstehst, was Passables und Schalkumwehtes drin findest. :o) Und das kann man ja auch ohne größere Einwände – als vom wahren Leben gebeuteltes und gezeichnetes (wie an Operetten lang aufgewachsenes ;o) ) Mensch, das du bist. Das muss durchaus keinen Rilke nicht idealisieren, ihm schon gar nicht alles glauben. Nur ist soweit wohl manch jugendlicher Schwärmer noch nicht, der von hehrem Dichtertum statt trivialer Massenware träumt und seine ‚Rilke-Bibel‘ verblassen sieht… dacht ich. Nix auch gegen in den Gassenhauer lappende Evergreens – außer vielleicht dem winzlüchen Grübelchen, ob man mit einer schlussendlich Heintje-Schnulze ins Volxgedächtnis eingehen möcht’…?
        Aber ich weiß, was du meinst, glaub ich. Passt scho.

        Kampf allen Tippfehlern! Und Sieg. ;o)

        hochhaushex

        7. April 2013 at 05:48

  2. Was der Rilke sich aber auch vorstellt. Sich in der tiefsten Stunde seiner Nacht fragen, ob man schreiben muss, und die Lebenshaltungskosten übernimmt dann die Muse, gell .ò) Nicht dass man als jugendlicher Schwärmer von Heintje-Schnulzen träumte — Rilke war 1903, als der Briefwechsel anfing, mittelzarte 28. Möglicherweise darf man da noch schwärmen, solange man schon Lebensunterhalt buchstabieren, aber noch nicht bestreiten kann. Mir zum Beispiel ist heute noch ein Rätsel, wie Heintje-Schnulzen (und das, was man heute statt solchen hat) eine Mehrheit finden können und was Gescheites nicht :o)

    Wolf

    7. April 2013 at 11:57

  3. das freut mich ja sehr, das mein alter artikel zumindest im netz noch weiterlebt. eine sehr interessante tatsache war mir damals noch nicht bekannt, darum sei sie hier nachgetragen: lady gaga ist ebenfalls ein kappus-fan, wie vielen artikeln über sie im netz zu entnehmen ist, hat sie sich ein zitat aus den rilke-briefen an ihn auf deutsch auf den linken arm tätowieren lassen, beschrieben beispielsweise hier:

    Her tattoo is a curling German script on her left arm which quotes the poet Rainer Maria Rilke with the lines

    „In the deepest hour of the night, confess to yourself that you would die if you were forbidden to write. And look deep into your heart where it spreads its roots, the answer, and ask yourself, must I write?“

    Gaga described Rilke as her „favorite philosopher,“ commenting that his „philosophy of solitude“ spoke to her. The quote is from the 1st letter written on February 17, 1903.

    „Prüfen Sie, ob er in der tiefsten Stelle Ihres
    Herzens seine Wurzeln ausstreckt, gestehen
    Sie sich ein, ob Sie sterben müßten, wenn es Ihnen
    versagt würde zu schreiben. Muss ich schreiben?“

    besten gruß

    christian meurer

    Christian Meurer

    27. November 2014 at 16:58

    • Oha, danke — für Anerkennung und Update. So kriegt das Internet richtig einen Sinn.

      Ich schau mal zu, ob ich die Lady Gaga irgendwie in den Hauptartikel reinflechten kann. Inzwischen recht sehr schöne Grüße auch!

      Wolf

      27. November 2014 at 17:12

    • Es ist jetzt doch ein ganzer eigener Artikel geworden: Wenn es Ihnen versagt würde to translate.

      Wolf

      3. Dezember 2014 at 15:37

  4. Ja, und ich habe diesen Artikel über einen Link gefunden, angefangen von einem post über Donald Trump, dann hin zu Lady Gaga und , nun ja, zu diesem Artikel, Rilke und Kappus betreffend. Wie schön, dass es solche Artikel gibt und natürlich das Internet. Auch ‚wenn man sterben müsste, was ja durchaus der Fall ist‘; der Kappus ist aus meiner Sicht ein Lebenskünstler, der das Machbare, das realistische Leben verkörpert. Lady Gaga, die sich diesen o.g. Vers auf ihren Oberarm hat tätowieren lassen, ist durch einen der vielen Zufälle, die in dem Leben von ‚Jedermann‘ eine grosse Rolle spielen, nur ’scheinbar‘ erfolgreicher, eben ’sichtbarer‘ geworden. Schön, hier zu finden, was Rilke, Kappus und Lady Gaga miteinander verbunden hat. Danke nochmals für diesen Beitrag.

    Peter Geisler

    4. März 2018 at 16:01

    • Aber immer wieder gerne doch. Wie schön, sich gelegentlich so verstanden zu finden.

      Wolf

      5. März 2018 at 01:28

  5. „das prodest et delectat alle“ – also des goht grammatikalisch so net.
    delectare ist transitiv, okay; prodesse aber verlangt einen Dativ.

    Martin Betz

    19. August 2020 at 09:09

    • Stimmt natürlich. Jetzt hab ich’s nach Kasus unterschieden, worauf es sofort noch viel lauter nach Kalauer klingt. Man steckt nicht drin.

      Danke für den Hinweis, wollt ich sagen!

      Wolf

      19. August 2020 at 16:24


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