Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Archive for the ‘Nahrung & Völlerei’ Category

Tomatensuppe Salomonis

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Update zu Nur die Wurst hat zwei,
Das Beste sind die Kartoffeln
und Goethes Kindergartenfutter:

Um die Clavicula Salomonis des biblischen Königs Salomo(n) lassen sich gleich zwei Schlüsselstellen der Weltliteratur herumwickeln: einmal bei Goethe, wie Mephisto sich seit Faust. Ein Fragment 1788 in Fausti Studierzimmer – „Faust mit dem Pudel hereintretend“ – vom Pudel zum Teufel auswächst, und einmal bei Neil Gaiman im ersten Teil der Sandman-Comics, wie Roderick Burgess den Traum, das ist: der Sandman, statt seiner älteren Schwester, das ist: der Tod, für den größten Teil des 20. Jahrhunderts beschwört und einsperrt.

Amanda Pike hat diese Beziehung entdeckt und erklärt sie für The Sandman Group, 3. November 2022:

If you’re familiar with the medieval grimoire The Key of Solomon (referenced in Goethe’s Faust), it’s the grimoire supposedly written by King Solomon himself. The oldest copy is in the British Museum while English translations can be found in many book stores.

Anyway, I thought this was funny. King Solomon’s Tomato Soup Recipe. 😛

Imagine if Roderick got this spell by mistake.

Das Rezept für Tomatensuppe in Verbindung mit dem König Salomo ist bildlich dargestellt mit der Legende:

About this time last year I made a fake solomon seal, infiltrated some of the edgy appropriative „qabala“ groups, posted this and told people it helps them see through lies.

It says tomato soup. Outside letter say garlic bread. Alchemical symbols mean salt, water, potassium, boil and mix thoroughly. The Latin is just the word for tomato. It went mini-viral.

King Solomon's Tomato Soup Recipe

Amanda Pikes erwähnte „Reference in Goethe’s Faust“ ist in der Tragödie erstem Theil, Vers 1238 bis 1258:

Soll ich mit dir das Zimmer theilen,
Pudel, so laß das Heulen,
So laß das Bellen!
Solch einen störenden Gesellen
Mag ich nicht in der Nähe leiden.
Einer von uns beyden
Muß die Zelle meiden.
Ungern heb ich das Gastrecht auf,
Die Thür‘ ist offen, hast freyen Lauf.
Aber was muß ich sehen!
Kann das natürlich geschehen?
Ist es Schatten? ist’s Wirklichkeit?
Wie wird mein Pudel lang und breit!
Er hebt sich mit Gewalt,
Das ist nicht eines Hundes Gestalt!
Welch ein Gespenst bracht‘ ich ins Haus!
Schon sieht er wie ein Nilpferd aus,
Mit feurigen Augen, schrecklichem Gebiß.
O! du bist mir gewiß!
Für solche halbe Höllenbrut
Ist Salomonis Schlüssel gut.

Was Roderick Burgess mit dem Sandman statt mit Death anstellt und was daraus erwächst, nimmt zahlreiche Comicseiten ein und kann daher nicht hier wiedergegeben werden: Das Copyright-Gefrickel um eine Comicserie, deren 75 Einzelhefte ab 1989 noch für ein paar eingeweihte Nerds gut waren, aber 2022 zur ausgewachsenen Netflix-Serie umgeschmolzen wurden, tu ich mir nicht an. Den Zyklus von neil Gaiman sollte ohnehin jeder (und selbstverständlich jede) mal gelesen haben; wenn Sie statt Neil Gaiman 1989 bis 1996 Wesley Dodd 1939 bis 1953 erwischt haben, erzählen Sie mir, wie’s war, das interessiert mich fast noch mehr als die Clavicula Salomonis, von der man reich werden soll. Und natürlich, was dabei rauskommt, wenn man Tomaten mit Salzwasser und Kaliumcarbonat, vulgo Pottasche zusammenrührt, um sie als Tomatensuppe auszugeben, von der man wenigstens satt werden soll.

Bild: Anonymes Meme in edgy appropriative „qabala“ groups, via Amanda Pike, 3. November 2022.

Soundtrack: John Hinckley: Never Ending Quest, 2021:

Written by Wolf

3. März 2023 at 00:01

Als der Bund Spargel einmal tausend Francs kostete

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Update zu Auf der Suche nach den aufgegebenen Blogs,
So eine Art Käse-Cocktail oder Mehl-Flip
und Goethes Kindergartenfutter:

Zu meiner gutbürgerlichen Ausbildung gehörte noch: Spargel gibt’s bis Fronleichnam, danach allenfalls Schwarzwurzeln aus dem Glas. Zur Ausbildung von Marcel Proust und dem Bildungsblogger Silvae gehörten derlei Bauernregeln bestimmt nicht, dafür bringt uns letzterer in seinem Artikel über Spargel vom 12. Juni 2013 auf allerlei künstlerische Darstellungen des Königsgemüses.

Nach Jahrzehnten des Spargelgebrauchs war mir gar nicht bewusst, dass man beim Pinkeln nach dem Zeug riechen soll – ohne mich in hässliche spekulative Details zu verlieren. Nach dem Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache bedeutet das das griechische ἀσπάραγος einfach einen jungen Keim, das spätlateinische asparagus den fetten Keim einer Pflanze, ehe sich die Blätter entwickeln. Allerdings heißt aspergere auch soviel wie bespritzen oder beschmutzen, was der phallischen Symbolik des Spargels entgegenkäme, ohne die kein Bericht über Spargel auskommt, der über Kochrezepte hinausgeht, und die selbst mir bewusst war. Dagegen wird das Asperges me, Domine in der lateinisch-katholischen Messe zum priesterlichen Besprenkeln der Gemeinde mit Weihwasser gesungen, also einem Ritual der Reinigung zum Nachlass der Sünden, und ist dort nicht mit Spargel, sondern Ysop assoziiert. Der galoppierenden Volksetymolgie muss vor allem im Französischen, wo Spargel bis heute l’asperge heißt, Tür und Tor geöffnet sein.

——— Marcel Proust:

Du côté de chez Swann

éditions Bernard Grasset, Paris 1913, übs. Eva Rechel-Mertens 1953 ff.:

Zu der Stunde, da ich hinunterging, um mich nach dem Küchenzettel zu erkundigen, war das Abendessen schon in der Zubereitung begriffen, und Françoise, den hilfreichen Kräften der Natur gebietend wie in den Märchenspielen, in denen Riesen sich als Köche verdingen, klopfte die Kohle klein, brachte Kartoffeln zum Weichwerden in den Dampf und ließ auf dem Feuer kulinarische Meisterwerke gar werden, die zuvor in irdenen Gefäßen, von großen Bottichen, Schüsseln, Kesseln und Fischbassins bis zu Terrinen für die Wildpastete, Kuchenformen und kleinen Rahmschüsselchen, vorbereitet wurden, wozu noch eine vollständige Sammlung von Kochtöpfen aller Größen kam. Ich blieb an einem Tisch stehen, an welchem das Küchenmädchen grüne Erbsen enthülst und dann in abgezählten Häufchen aufgereiht hatte wie kleine grüne Kugeln für ein Spiel; besonders aber die Spargel hatten es mir angetan, die wie mit Ultramarin und Rosa bemalt aussahen und deren in Violett und Himmelblau getauchte Spitze nach dem anderen Ende zu – das noch Spuren des nährenden Ackerbodens trug – lauter Abstufungen von irisierenden Farben aufwies, die nichts Irdisches hatten. Es schien mir, dass diese himmlischen Tönungen das Geheimnis von köstlichen Geschöpfen enthüllten, die sich aus Neckerei in Gemüse verwandelt hatten und durch ihre aus feinem essbaren Fleisch bestehende Verkleidung hindurch in diesen Farben der zartesten Morgenröte, in diesen hinschwindenden Nuancen von Blau jene kostbare Substanz verrieten, die ich noch die ganze Nacht hindurch, wenn ich am Abend davon gegessen hatte, in den nach Art Shakespearescher Feenkomödien gleichzeitig poetischen und derben Possen wiedererkannte, die sie zum Spaße aufzuführen schienen, wenn sie sogar noch mein Nachtgeschirr in ein Duftgefäß umschufen.

Édouard Manet, Bunch of Asparagus, 1880, Spargelbund

An späterer Stelle in Die Welt der Guermantes, die erst 1920 erschien, mokiert sich der Herzog von Guermantes über den Preis eines bloßen Abbildes von Spargel – wie Silvae weiß: ganz entegegengesetzt wie der Bankier und Kunsthistoriker Charles Ephrussi an den Künstler Édouard Manet, indem er ihm freiwillig zuviel zahlte. – Meinte der von Guermantes:

„Swann hatte tatsächlich die Stirn, uns zum Kauf eines Spargelbundes zu raten. Wir haben das Bild daraufhin sogar ein paar Tage im Haus gehabt. Es war nichts weiter als das darauf, ein Bund Spargel, genau wie die, die Sie gerade schlucken, die Spargel von Herrn Elstir aber habe ich nicht geschluckt. Er verlangte dreihundert Francs dafür. Dreihundert Francs für einen Bund Spargel! Einen Louisd’or höchstens sind sie wert, und auch das nur, solange es noch die ersten sind.“

Dagegen Ephrussi laut Silvae:

Manet wollte achthundert Franc für das Bild haben, aber Ephrussi hat ihm tausend gezahlt. Er wusste, dass Édouard Manet in finanziellen Nöten war. Da hat sich Manet auf seine eigene Art und Weise bedankt. Hat dem Monsieur Ephrussi schnell noch eine Spargelstange gemalt und sie mit der kleinen Notiz Il en manquait une à votre botte versehen an den Kunstsammler geschickt.

Édouard Manet, L'Asperge, 1880, 1 Spargel

Luzius Keller, dem wir überall begegnen, wo wir bei Marcel Proust über den Primärtext hinauslesen wollen, abgekürzt: wo wir Marcel Proust lesen wollen, weiß uns das Wesen des Gemüsestilllebens historisch zu verankern:

——— Luzius Keller:

Proust und der Spargel

in: Neue Zürcher Zeitung, 14. November 2009:

Spargelbund und andere Gemüsemotive haben in der Stilllebenmalerei Tradition. So findet sich beispielsweise im Amsterdamer Rijksmuseum ein Spargelbund von Adriaen Coorte (1660–1707), der jenem von Manet erstaunlich ähnlich sieht. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, insbesondere im Umfeld von Impressionismus und Naturalismus, werden jedoch die Gattungen als solche immer mehr in Frage gestellt: Wozu sollen bestimmte Motive auf bestimmte Gattungen beschränkt bleiben? Weshalb sollte ein bestimmtes Motiv an sich wertvoller sein als ein anderes? Bekannt ist das Diktum Max Liebermanns, der in den 1870er Jahren in Paris lebte: „Eine gut gemalte Möhre ist besser als eine schlecht gemalte Madonna“, und in seinem Roman „L’Œuvre“ (1887) lässt Zola seinen Protagonisten, den Maler Etienne Lantier, fragen, ob ein Möhrenbund nicht mehr wert sei als die ewigen Schinken aus der Ecole des Beaux-Arts. Ein erstes Echo auf diese ästhetische Diskussion findet sich in „Guermantes“ in einem Gespräch zwischen Marcel und Norpois, in dem Proust einen Bund Radieschen von Elstir einer Madonna von Hébert gegenüberstellt.

Dass ich nur eine gutbürgerliche Ausbildung voller Bauernregeln, nun ja: genossen habe, erkennt man spätestens daran, dass ich im Ernst nach einem französischen Bild von einem Bund Radieschen gesucht habe, bevor mir dämmerte, dass ein Maler Elstir von Proust ebenso frei erfunden ist wie sein Erzähler Marcel und der Marquis de Norpois. Erfreuen wir uns stattdessen an einem weiteren runden Kilo Spargel von Philippe Rousseau unsicherer Datierung.

Philippe Rousseau, Nature morte aux asperges, ca. 1880, Spargelstillleben

Und selber will man ja auch nicht leben wie ein veganer Hund, wenn schon nicht wie ein französischer Landadliger: Selber erfreut haben wir uns heuer an einem Kilochen vom Penny am Eck Lindwurm-/Zenettistraße, am 14. Mai 2022 für tagesfrische 5,55 Euro, leider in Erdölprodukte eingeschweißt, dafür aus regionalem Anbau. Der Magen isst ja mit, wie der Gutbürgerliche weiß.

1 kg Spargel, Penny, 13. Mai 2022, 5,55 Euro

Bilder:

Soundtrack: Camille Hardouin: Mille bouches, aus: Mille bouches, 2017,
live in la chapelle St Louis de La Rochelle, Comment je me suis mariée avec mille bouches, Juli 2106:

Written by Wolf

20. Mai 2022 at 00:01

Veröffentlicht in Nahrung & Völlerei, Novecento

Krullsekt (Fürchten Sie die Gesetze!)

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Update zu Ich trinke ein Glas Burgunder!,
Damit du siehst, wie leicht sich’s leben läßt
Saufspiele für Bücher-Geeks
und Wein-Lese:

Ich tränke gern ein Glas, die Freyheit hoch zu ehren,
Wenn eure Weine nur ein Bißchen besser wären.

Mephistopheles, Vers 2245 f.

Dem Vorsatz, nicht immer bloß aus dem ersten Theil, erstes Buch, erstes Capitel zu zitieren, ist schwer Folge zu leisten. Vor allem wenn man wie ich am liebsten mit dem Nachwort anfängt und dann natürlich schon auf den ersten 40 Seiten schwächelt. Und wenn man bei der Charakterisierung der Hauptfiguren über ihr marktwirtschaftliches Produkt seinen oberexquisiten Gummibärchensirup (Kong Strong Wild Power Urban Classic) durch die Nase prustet vor Lachen.

Das so vielversprechend beschriebene Etikett war nicht aufzutreiben — vermutlich weil es nie ausgeführt wurde. Wenn bei Gelegenheit jemand so viele künstlerische mit technischen Fertigkeiten verbinden wollte?

——— Thomas Mann:

Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull

Der Memoiren erster Teil. Erstes Buch, Erstes Kapitel,
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1954, Fischer-Gesamtausgabe Seite 267 f.:

Mein armer Vater war Inhaber der Firma ‚Engelbert Krull‘, welche die untergegangene Sektmarke ‚Lorley extra cuvée‘ erzeugte. Unten am Rhein, nicht weit von der Landungsbrücke, lagen ihre Kellereien, und nicht selten trieb ich mich als Knabe in den kühlen Gewölben umher, schlenderte gedankenvoll die steinernen Pfade entlang, welche in die Kreuz und Quere zwischen den hohen Gestellen hinführten, und betrachtete die Heere von Flaschen, die dort in halbgeneigter Lage übereinandergeschichtet ruhten. Da liegt ihr, dachte ich bei mir selbst (wenn ich auch meine Gedanken natürlich noch nicht in so treffende Worte zu fassen wußte), da liegt ihr in unterirdischem Dämmerlicht, und in euerem Innern klärt und bereitet sich still der prickelnde Goldsaft, der so manchen Herzschlag beleben, so manches Augenpaar zu höherem Glanze erwecken soll! Noch seht ihr kahl und unscheinbar aus, aber prachtvoll geschmückt werdet ihr eines Tages zur Oberwelt aufsteigen, um bei Festen, auf Hochzeiten, in Sonderkabinetten eure Pfropfen mit übermütigem Knall zur Decke zu schleudern und Rausch, Leichtsinn und Lust unter den Menschen zu verbreiten. Ähnlich sprach der Knabe; und so viel wenigstens war richtig, daß die Firma ‚Engelbert Krull‘ auf das Äußere ihrer Flaschen, jene letzte Ausstattung, die man fachmännisch die Coiffure nennt, ein ungemeines Gewicht legte. Die gepreßten Korken waren mit Silberdraht und vergoldetem Bindfaden befestigt und mit purpurrotem Lack übersiegelt, ja, ein feierliches Rundsiegel, wie man es an Bullen und alten Staatsdokumenten sieht, hing an einer Goldschnur noch besonders herab; die Hälse waren, reichlich mit glänzendem Stanniol umkleidet, und auf den Bäuchen prangte ein golden umschnörkeltes Etikett, das mein Pate Schimmelpreester für die Firma entworfen hatte und worauf außer mehreren Wappen und Sternen, dem Namenszuge meines Vaters und der Marke ‚Lorley extra cuvée‘ in Golddruck eine nur mit Spangen und Halsketten bekleidete Frauengestalt zu sehen war, welche, mit übergeschlagenem Beine auf der Spitze eines Felsens sitzend, erhobenen Armes einen Kamm durch ihr wallendes Haar führte. Übrigens scheint es, daß die Beschaffenheit des Weines dieser blendenden Aufmachung nicht vollkommen entsprach. „Krull“, mochte mein Pate Schimmelpreester wohl zu meinem Vater sagen, „Ihre Person in Ehren, aber Ihren Champagner sollte die Polizei verbieten. Vor acht Tagen habe ich mich verleiten lassen, eine halbe Flasche davon zu trinken, und noch heute hat meine Natur sich nicht von diesem Angriff erholt. Was für Krätzer verstechen Sie eigentlich zu diesem Gebräu? Ist es Petroleum oder Fusel, was Sie bei der Dosierung zusetzen? Kurzum, das ist Giftmischerei. Fürchten Sie die Gesetze!“ Hierauf wurde mein armer Vater verlegen, denn er war ein weicher Mensch, der scharfen Reden nicht standhielt. „Sie haben leicht spotten, Schimmelpreester“, versetzte er wohl, indem er nach seiner Gewohnheit mit den Fingerspitzen zart seinen Bauch streichelte, „aber ich muß billig herstellen, weil das Vorurteil gegen die heimischen Fabrikate es so will – kurz, ich gebe dem Publikum, woran es glaubt. Außerdem sitzt die Konkurrenz mir im Nacken, lieber Freund, so daß es kaum noch zum Aushalten ist.“ Soweit mein Vater.

Château Migraine, Grand vin misérable, Domaine Scharlatan, Appellation souterraine pas controlée

Bilder: Château Migraine: Grand vin misérable, Domaine Scharlatan, Appellation souterraine pas controlée, avec Goldmedaille.

Soundtrack: Dschinghis Khan: Loreley, aus: Wir Sitzen Alle Im Selben Boot, 1981.
Teuflischerweise eine nicht ganz reizlose Melodie:

Written by Wolf

1. April 2022 at 00:01

Veröffentlicht in Nahrung & Völlerei, Novecento

Kritik der reinen Unvernunft

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Update zu Der deutsche Sonderweg zur Hochkomik 1–10:

Carl Friedrich Hagemann, Kant rührt Senf an, 1801Das ist nun eine auffrisierte Zweitverwendung aus dem April 2004 fürs dahingegangene jetzt.de. Den kompetentesten Kommentar dazu – von einer aufrechten Kommunistin mit der DDR-Flagge als Profilbild – weiß ich noch auswendig:

Ist das Satire? Dann ist es schlecht. Ist es ernst? Dann ist es dumm, unendlich dumm.

Da sieht man wieder, wie die Rezeption von Immanuel Kant (* 22. April 1724; † 12. Februar 1804, beides in Königsberg) bis in die Postmoderne hinein polarisiert.

Seien wir ehrlich: Nicht einmal Kant hat ab 1802 noch seine eigenen Schriften aus dem 18. Jahrhundert verstanden.

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Der Philosoph und Alleszermalmer Immanuel Kant wurde in Deutschland geboren. Das war in Kaliningrad, das in Russland liegt, aber nur als Exklave. Deswegen müssen die Nachbewohner der Ostpreußen bis heute seine Bücher voll der abseitigsten Fremdwörter übersetzen und verstehen immer noch nicht mehr als jeder akademisch gebildete deutsche Muttersprachler.

In Kaliningrad fängt alles mit K an. Kant sowieso, der alte Name Königsberg, der allenthalben gerne genommene Kartoffelschnaps, die Königsberger Klopse sogar gleich zweimal, und der Kategorische Imperativ mit KI wie die Künstliche Intelligenz, die Kant noch auf natürlichem Wege zu erzeugen verstand.

Carl Friedrich Hagemann, Kant rührt Senf an, 1801Überhaupt von wegen Verstand: Kants Kategorischer Imperativ besagt: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu“, nur mit dem Nachteil, dass er sich nicht reimt. Kant hat es viel schwieriger formuliert, weil er an der Uni war, auf der richtigen Seite des Katheders (mit K!). Von dort aus unterrichtete er Pyrotechnik. Man kann ihn so oft lesen, wie man will, ohne einen Pieps zu verstehen, um am Ende der Vorlesung kleinlaut einzusehen: Besser hätte man es nicht sagen können.

Mit den Frauen hatte er’s nicht, lebte lieber sein Lebelang im Zölibat. Wer mal in Kaliningrad war, das Kant nur selten und unter Protest verließ, versteht gar nicht, warum. In der Fußgängerzone kann man sich alle zehn Meter in eine putinkritische Russin verlieben, wovor eindringlich gewarnt wird, weil die sich hüten wird, sich zurückzuverlieben. Folglich sagte sich Kant: Wozu denn? und handelte so, dass er wollen konnte, seine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden.

Und von wegen Alleszermalmer: Das ist rein geistig gemeint, was zu essen gab es bei Kant allerdings jeden Mittag in aller leiblichen Üppigkeit nicht unter drei Gängen in handverlesener Gesellschaft, am liebsten Kabeljau aus der anliegenden Ostsee, Schweinshaxen oder -braten, und den am liebsten mit Senf. Folgerichtig zeigt ihn eine maßgeblich charakterisierende Handzeichnung beim Anrühren eines Töpfleins mit Senf. Für die Klopse und die Wäsche hatte er eine Haushälterin, denn in Kaliningrad waren sie damals wie heute weit davon entfernt, der EU beizutreten, so dass ein Uniprofessor sich das leisten konnte. Wozu also noch mehr Weiber um sich scharen?

Der Senf war wahrscheinlich mit Knoblauch, wegen russischer Exklave und dem K – was wiederum das mit dem Zölibat erklären würde.

Als Nachspeise gab es Obst, Kuchen oder Pudding. Zu diesem Anlass ist 1995 ein handliches Buch mit seinen drei Hauptwerken in vier Bänden erschienen: Kritik der reinen Vernunft, Kritik der praktischen Vernunft und Kritik der Urteilskraft, und da fehlt sogar noch die kulinarische, aber nur, weil er die gar nicht geschrieben hat. Wer zwei Paar Hosen hat, mache eines zu Geld schaffe sich dieses Buch an; dann braucht er nie wieder ein anderes, bis er endlich versteht, was Kant andauernd gegen Vernunft, Urteilskraft und Essen hat.

In englischsprachigen Ländern wird Kant oft nicht als Philosoph, sondern als zwielichtiger Saubartel anerkannt. Das trauen die sich aber nur, weil sie ihn für einen Russen halten, der sie sowieso nicht versteht, und kommt wegen seiner unorthodoxen Auffassungen über die Bewohner anderer Planeten sowie die Spitzfindigkeit von Syllogismen. Und weil sie seinen Nachnamen so komisch aussprechen.

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Wikipedia ist keine Quelle„, aber das Brauchbarste, was man ohne Kosten und Mühen nicht scheuen muss:

Auf [Carl Friedrich] Hagemanns Frage, ob er ihn „ganz getreu“ nachbilden solle, antwortete Kant: „So alt und häßlich, wie ich nun bin, dürfen Sie mich eben nicht machen!“ Wie alt und gebrechlich Kant 1801 schon war, zeigt Hagemann in seiner berühmten Zeichnung, wie Kant Senfkörner im Mörser zermahlt. Diese 8 cm hohe Federzeichnung gibt Kant in ganzer Figur stehend wieder. Von unbekannter Hand wurde auf dem ca. 9 × 16 cm großen Blatt folgende Beischrift zugefügt:

Die Figur Emanuel Kants, wie er für seine Tischgenossen den Senf zubereitet, gezeichnet von dem Bildhauer Hagemann zur Zeit er dessen Büste modelliert im Jahre 1801.

Die Kleidung: Kniehosen mit Gamaschen, einen Rock, und eine Perücke mit Zopf und Schleife.

In England wurde Senf lange Zeit nicht als fertig gemischte Paste gekauft, sondern zu Hause aus Senfmehl und Wasser eigenständig angerührt. Für eine besonders intensive gelbe Farbe sorgte die Beigabe von Kurkuma. Nach etwa zehn Minuten Wartezeit entfaltet diese nach der so genannten Colman-Methode zubereitete Mischung ihr volles Aroma.

Bilder: Carl Friedrich Hagemann: Immanuel Kant, Senf zubereitend, 1801,
Vollansicht käuflich als Kant mixing mustard, 1801 (Kant mischender Senf).

Soundtrack: Heiðrikur á Heygum: Monster, Kaliningrad 2017,
bestes Video beim Føroysku Tónlistavirðislønirnar 2018:

Written by Wolf

11. Februar 2022 at 00:01

Veröffentlicht in Aufklärung, Nahrung & Völlerei

Wuchtig, in gedrängter Vierzeil‘ singe ich vom Cinnamone

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Update zu Hastig die ärmlichen Verse
und Nach einer guten Mahlzeit:

Wir erleben einen ganz ungewohnt aufgeräumten Arno Schmidt in Kalauerlaune. Aus der Reihe: So sinnenfroh konnte der alte missmutige Zausel, nein: Dichterfürst also auch.

Laut den Anmerkungen der Bargfelder Ausgabe konnte bis zur Auflage von 1992 „über Anlaß und Entstehung des von den Herausgebern so genannten ‹Zimtfragments› […] nichts in Erfahrung gebracht werden.“ Als Textgrundlage konnte nur das Manuskript dienen, das vermutlich mit Schmidts restlichem Nachlass im Stiftungsarchiv zu Bargfeld aufbewahrt wird.

Die Niederschrift „um“ 1949 erklärt sich aus der 29. Strophe mit der Jahresangabe, allerdings ist die Strophenreihung auf keine stringente Abfolge angelegt, sondern als Sammlung von Ideen ohne zwingende Reihenfolge. Niederschrift innerhalb ein und desselben Jahres liegt nahe, weil man solche Bierideen erfahrungsgemäß durchziehen muss, solange sie frisch sind.

Zur biographischen Einordnung war Schmidt 1949 mit seiner Frau Alice wohnhaft im Mühlenhof der Cordinger Mühle in der Lüneburger Heide, wo er seinen Erstling Leviathan armutsbedingt auf Formularpapier für Telegramme kritzeln musste. Im Falle des 35-Jährigen zählt das Gedicht also noch unter apokryphe Juvenilia. Viel mehr wird sich darüber nicht mehr herausfinden lassen, aber der Übermut dieses Nebenwerks ist ein gutes Zeichen für Schmidts Schaffenskraft. Es war weder 1989 in Arno Schmidts Wundertüte, der posthumen Sammlung fiktiver Briefe aus den Jahren 1948/49 bei Haffmans, weil es kein fiktiver Brief ist, noch 2013 in Arno Schmidt zum Vergnügen bei Reclam, weil es zu lang ist, und musste deshalb zur Rarität verwittern.

Das Zimtfragment erscheint unten als Internetpremiere nach der Bargfelder Ausgabe korrigiert, wobei selbst im kostbaren „elektronischen Findmittel“ kleinere Unterschiede zur gedruckten Studienausgabe, vor allem in der Zeichensetzung, aufgefallen sind. Schmidts typische französische Anführungszeichen habe ich belassen, diesmal in einer Schweizer, nicht französischen Anwendung. Die Schreibweise „Cinnamon“ verrutscht nur einmal in die Unregelmäßigkeit „Zinnamon“. Nur was ein geschlagene dreimal vorkommender „tin“ sein soll, ist wohl Gegenstand künftiger Forschung.

Meine Lieblingsstrophe ist die 14., die englische, die hat so schön was von Irish Folk, jedenfalls höre ich da die Pogues raus.

——— Arno Schmidt:

Das ‹Zimtfragment›

Manuskript um 1949, cit. nach Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe I, Band 4, Seite 155 bis 159:

1.)     Bötet ihr im Pantheone
        einen Platz bei Göttern mir,
        und ich sollt vom Cinnamone
        scheiden – lieber bleib ich hier.

2.)     Fürsten, Grafen und Barone,
        Allen sei ihr Gold geschenkt –
        sitz ich nur beim Cinnamone
        leicht mit Zucker untermengt

Nicolas Fourny photographie, Cathel, 12. Februar 20163.)     Elbe, Weser, Maas und Rhone
        rollen stolz zum Meere hin :
        laß mich nur beim Cinnamone,
        nicht hinaus steht dann mein Sinn

4.)     Daß er schnödem Goldstaub frohne
        müht sich Arm und Reich gebückt. –
        Gönnt mir Staub vom Cinnamone
        und ich preise ihn entzückt.

5.)     Bot dem Sänger man zum Lohne
        einst im flutenden Pokal
        roten Wein – vom Cinnamone
        heisch ich einzig mir ein Mahl.

6.)     Mohren, singt im vollen Tone –
        und ihr, Sphären, fallt mit ein –
        mir das Lob vom Cinnamone :
        mög‘ er ewig bei uns sein !

7.)     Hurtig keimt im Beet die Bohne,
        grüne Lauben wölbt der Mai;
        und ich träum‘ vom Cinnamone –
        waldher lockt ein Kuckucksschrei

8.)     Laßt Euch nur der Schöpfung Krone,
        weitgemäulte Toren, schelten;
        nur der Duft vom Cinnamone
        kann mir als vollkommen gelten.

9.)     Formt Euch Götzen nur aus Tone,
        Marmor, Silber, Erz, Platin –
        Vor dem einz’gen Cinnamone
        sollte meine Andacht knien.

10.)    Fragt ihr, was denn würdig wäre
        einer höhren Dimension,
        werd‘ ich stumm zur tin Euch weisen :
        Ruch und Schmack vom Cinnamon !

11.)    Mögen Plinien und Strabone
        melden uns von Fabelküsten –
        ich werd‘ – froh beim Cinnamone –
        nicht zum Periplus mich rüsten

12.)    Bötet ihr mir Reiche, Throne
        unter der Bedingung an,
        daß ich ließ vom Cinnamone –
        sucht Euch einen Dümmren dann.

13.)    Steuerte zur duft’gen Zone
        Weihrauchflotten der Lateiner;
        im Besitz vom Cinnamone
        bringt vom Mühlenhof mich keiner

14.)    Years have passed and kingdoms gone
        Greece and Rome declined and fell –
        give me only cinnamon
        and the globe may go to hell.

15.)    Opfert, tanzet, räuchert, fleht zu
        Fufluns, Zeus, Merkurium –
        wir, in frommem Mohrensinne
        baun ein Cin-Ammonium

16.)    Was dem Landmann Karst und Spaten,
        dem Soldaten die Patron‘,
        was dem Wechsler der Dukaten
        ist dem Mohr der Cinnamon

17.)    Frag des nahen Haines Echo
        ich, geruht am Silberbronn,
        nach dem König der Gewürze
        säuselt’s englisch : Cinnamon

18.)    Frag ich das geschlossne Weltall
        die Myriaden Mond und Sonn‘
        nach dem König der Gewürze
        dröhnt’s betäubend : Cinnamon

19.)    Auf der Kugel der Kanone
        ritt Münchhausen tollkühn weg
        auf der tin vom Cinnamone
        reit‘ ich, trotz‘ ich Allem keck.

20.)    Daß er Punien unerbittlich
        haßte rühmt man an Catonen;
        gleich beharrlich soll mein Lied stets
        preisend schall’n von Cinnamonen.

21.)    August, bester der Cäsaren :
        legtest eine Garnison
        zum Hydreuma des Apollon –
        nur zum Schutz des Cinnamon.

22.)    Rühmt nur Götter, Fraun und Helden,
        schnörkelt Epen und Kanzone;
        wuchtig, in gedrängter Vierzeil‘
        singe ich vom Cinnamone

23.)    Fortunat‘ aus Famagusta,
        glücklich bald, bald Glückes Hohn –
        hättst du weise dich beschieden
        doch wie wir beim Cinnamon

24.)    Länder teilt man in Provinzen
        (nur die Schweiz hat den Kanton)
        Also teil‘ ich die Arom‘ in
        andres Zeug – und : Cinnamon !

Nicolas Fourny photographie, Cathel, 12. Februar 201625.)    Was der Phyllis ist ihr Damis
        was dem Bjerknes die Zyklon‘,
        Eratosthenes die Chlamys,
        ist dem Mohr der Cinnamon

26.)    Shakespeare hat Mac-Beth verherrlicht,
        Hamlet, Cäsar und Sir John
        Falstaff – – wußt er nichts Erhabners ?
        Kannt‘ er nicht den Cinnamon ? !

27.)    Letzthin kam vom Wunderlande
        ein Paket voll von Bacon –
        dennoch forschten meine Augen
        drin bestürzt nach Cinnamon

28.)    Vielfach schätzt man Mus und Printen
        estimiert auch den Bonbon –
        ich hingegen weiß nichts Höhres
        mir als Zuck‘ und Cinnamon

29.)    1796
        stand Fouqué am Ems=Kordon –
        1949
        stehe ich vorm Cinnamon

30.)    Hüte sieht man voll Agraffen,
        rot vom Schuh wippt der Pompon;
        Mohren sieht man rastlos schaffen
        fern – beim Reis – beim Cinnamon

31.)    »Pi-Pi-Pö« ertönt’s aus Linden,
        dort bei Vehlows düngt man schon,
        und auch mich faßt mailich Sehnen –
        träum’risch flüst’r ich : Cinnamon

32.)    Dieser prunkt mit leeren Titeln,
        Jener nennt sich »Graf« und »von« –
        ruft mich »Er« – gebt mir [unleserlich: ’ne Nummer?] :
        aber laßt mir Zinnamon

33.)    Was den Christen ihre Götzen :
        Vater, heilger Geist und Sohn –
        soll uns Mohren voll ersetzen
        diese tin mit Cinnamon

34.)    Ein gewisses Volk im Süden
        schätzt sich, sagt man, Makkaron‘
        und Musik vor allen Dingen
        just wie wir – den Cinnamon.

35.)

        [Fragment]

Nicolas Fourny photographie, Cathel, 3. März 2017

Cinnamon Girl: weder das Lied von Neil Young 1970 noch von Prince 2004
noch von Dunkelbunt 2014 noch von Lana Del Rey 2019 — sondern:
Nicolas Fourny photographie featuring die zimmetrothaarige Cathel:

  1. February 12th, 2016;
  2. noch eins vom February 12th, 2016;
  3. March 3rd, 2017.

It’s so beautiful, but it’s not real: Katzenjammer: Tea With Cinnamon, aus: Le Pop, 2008:

Written by Wolf

11. September 2020 at 00:01

Veröffentlicht in Nahrung & Völlerei, Novecento

So säumet denn, ihr Freunde, nicht, die Würste zu verspeisen

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Update zu Da ist schwäb’scher Dichter Schule, und ihr Meister heißt – Natur!
und Romantische Bieronie (Dei Ironiezeigl konnst sejwa saffa):

Da, wo ich herkomme, wird allenfalls zur Kirchweih so ein Tumult um das Schlachten seiner Mitkreaturen gemacht. Ludwig Uhland war aus Schwaben und zur Zeit seines Metzelsupenlieds 26 Jahre alt. Das ist so jung, da darf man seine siebenzeiligen Strophen sogar noch mit einer ungereimten Waise abschließen (Reimschema ABABCCX).

Laut Uhlands Tagebuch entstand das Lied unter dem Arbeitstitel Verse über die Abschlachtung eines Schweins ab 26. Januar 1814 in Tübingen anlässlich eines musikalischen Abends beim befreundeten Komponisten Friedrich Knapp, tags darauf weitere Verse. Die Uraufführung war eine Lesung im selben Knappschen Kreis am 16. Februar 1814.

Der Text redet dem Fleischverzehr und dem Antisemitismus das Wort — viel gesammelt wird es wohl nicht mehr; die aufwändig belustigende, aber undistanzierte Illustration stammt von 1930. Metzelsuppe in ihrer Bedeutung als Ritual oder als Nahrung findet in den Gegenden, die tradtioneller Weise noch Wert auf dergleichen legen, ganzjährig statt; um sie außerhalb einer dörflichen Feierlichkeit in einem Gedicht zu feiern, an dem man mehr als einen Tag lang sitzt, muss man wohl über einen nicht allein sehr hungrigen, sondern künstlerisch orientierten Freundeskreis verfügen. Immerhin scheint es, der junge Ludwig Uhland war ein glücklicher Mensch.

——— Ludwig Uhland:

Metzelsuppenlied

gesammelt in Gedichte 1815, Seite 72 f.:

Wir haben heut nach altem Brauch
Ein Schweinchen abgeschlachtet;
Der ist ein jüdisch eckler Gauch,
Wer solch ein Fleisch verachtet.
Es lebe zahm und wildes Schwein!
Sie leben alle, groß und klein,
Die blonden und die braunen!

So säumet denn, ihr Freunde, nicht,
Die Würste zu verspeisen,
Und laßt zum würzigen Gericht
Die Becher fleißig kreisen!
Es reimt sich trefflich: Wein und Schwein,
Und paßt sich köstlich: Wurst und Durst,
Bei Würsten gilt’s zu bürsten.

Auch unser edles Sauerkraut,
Wir sollen’s nicht vergessen;
Ein Deutscher hat’s zuerst gebaut,
Drum ist’s ein deutsches Essen.
Wenn solch ein Fleischchen, weiß und mild,
Im Kraute liegt, das ist ein Bild
Wie Venus in den Rosen.

Und wird von schönen Händen dann
Das schöne Fleisch zerleget,
Das ist, was einem deutschen Mann
Gar süß das Herz beweget.
Gott Amor naht und lächelt still,
Und denkt: nur daß, wer küssen will,
Zuvor den Mund sich wische!

Ihr Freunde, tadle Keiner mich,
Daß ich von Schweinen singe!
Es knüpfen Kraftgedanken sich
Oft an geringe Dinge.
Ihr kennet jenes alte Wort,
Ihr wißt: es findet hier und dort
Ein Schwein auch eine Perle.

Ludwig Uhland, Metzelsuppenlied, Die fidele Kommode, 1930, Seite 134

BIld: Ludwig Uhland: Metzelsuppenlied, in: Die fidele Kommode. Siebenhundert Jahre deutscher Humor. Ein kurzweiliges und scherzhaftes Album deutscher Humordichtung mit vielen hundert lustigen Reim-Episteln und launigen Versstücken, Fikentscher Verlag, Leipzig 1930, Seite 134; ex libris MTP, via Michael Studt, 5. Juni 2019.

Soundtrack: eins der wenigen, zum nachhaltigen Volksgut gewordenen Highlights
von Wilhelm Hauff: Reiters Morgenlied (Alte Soldatenweise),
aus: Kriegs und Volkslieder. Stuttgart, in der Metzlerschen Buchhandlung, 1824, Seite 84,
für fränkische Belange bearbeitet von der Frankenbänd, 2005, live in der Nürnberger Katharinenruine 2012:

Written by Wolf

6. September 2019 at 00:01

Charakter ist nur Eigensinn. Es lebe die Zigeunerin!

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Update zum 1. Katzvent: Im Bewusstsein seines Wertes sitzt der Kater auf dem Dach
und 4. Katzvent: Hier liegt ein Kater der schönsten Art:

Oskar Kokoschka, Paul ScheerbartEs lohnt sich einmal wieder, ein vollständiges — im übrigen gemeinfreies — Buch in einen einzigen Link zu fassen: die Katerpoesie von Paul Scheerbart 1909, weil sie einen Heidenspaß macht. In der Erstauflage hieß die Sammlung noch Kater-Poesie, in der zweiten bis vierten Auflage ohne Trennung. Alle folgenden sind posthume Neuauflagen, die Urfassung bleibt schwer aufzutreiben.

Dabei sollte Scheerbart weiterhin neu aufzulegen eine Bereicherung für den Buchhandel wie für die letzten verbliebenen Lyrik-Konsumenten sein: Im Regal stünde er gleich neben Ringelnatz, macht aber nicht die ewig besinnlichen Trauriger-Clown-Späße wie Morgenstern. Wenn wir mit der Lyrik durch sind, wenden wir uns an die Romane — etliche davon in kenntnisreicher Science-Fiction — und die brillanten Auslassungen über Glasarchitektur. Bislang sind die meisten Fans verstorben, unter ihnen Else Lasker-Schüler, Erich Mühsam und Walter Benjamin, ein überlebender hat ihm eine engagierte, quicklebendig benutzbare Website gebaut. Aufgefordert dürfen sich gerne Verlagsgrößen wie Diogenes, Rowohlt und Verbrecher fühlen. Reclam, der unter Ausschluss der Öffentlichkeit schon angefangen hat, ginge klar.

Als praktischer Hinweis sind wir Postmodernen in der gesegneten Lage, dass „antiquarisch erreichbar“ meistens gerade mal einen einzigen Klick mehr auf Amazon.de bedeutet, der dann als Unterstützung von Kleinhändlern (und Medimops) nur noch halb so böse ist wie aufs amazon-eigene Sortiment. Der persönliche Tipp: booklooker.de. Der Profitipp: übergreifende Suche auf eurobuch.de — die meistens doch wieder bei booklooker.de rauskommt.

Der Aficionado-Tipp: Das Katerpoem Die großen Flammen ist siebenzeilig.

——— Paul Scheerbart:

Katerpoesie

Rowohlt, Paris/Leipzig 1909,
Fassung der 2.–4. Auflage, Rowohlt, Berlin ab 1920:

Morgentöne

Cover Paul Scheerbart, Kater-Poesie, 1909Guten Morgen! schreit das Menschentier;
Und mancher Schuft trinkt jetzt noch Bier.

Guten Morgen! schreit auch der Tyrann;
Früh fängt Er zu regieren an.

An den Weltrand will ich heute gahn;
Dort will ich einmal Fliegen fahn.

Guten Morgen! schreit der Kriegersmann;
Ach, der ist immerzu im Tran.

Guten Morgen! schreit man dort und hier;
Und meine Uhr schlägt schon halb vier.

Und mancher Schuft trinkt jetzt noch Bier;
Guten Morgen! schreit das Menschentier.

Paul-Scheerbart-Vignette

Hopp! Hopp! Hopp!

Hopp! Hopp! Hopp! Mein süßes Pferdchen!
Hopp! Hopp! Hopp! Wo willst du hin?

Über jene hohe Mauer?
Ach, was kam dir in den Sinn?

Hopp! Hopp! Hopp! Mein süßes Pferdchen!
Hopp! Hopp! Hopp! Wo willst – Du – hin?

Paul-Scheerbart-Vignette

Ich hab ein Auge …

Ich hab ein Auge, das ist blau.
Mir gestern Abend geschlagen.

Ich schrie fünfhundertmal „Au! Au!“
Was wollt ich damit sagen?

Ich weiß es heute selber nicht;
Ich hab ein Heldenangesicht.

Paul-Scheerbart-Vignette

Delirium! Delirium!

Ein Décadencebild

Alte Knaben sitzen auf den leersten Tonnen,
Und die Nächte siegen über alle Sonnen.
Hinten nagen unsichtbare weiße Mäuse
An dem bös zerbeulten großen Hirngehäuse.
Hör doch, wie die ganze Schädelhöhle quarrt!
Ist die alte Rinde »wirklich« noch so hart?
Alles geht zu Ende – auch der dickste Kopf!
Ach, die weißen Mäuse haben dich am Schopf!
Glaubst du, Läuse sitzen bloß in deinem Puder?
Nein, du bist ein unverschämtes dummes Luder,
Und die Frechheit kommt in erster Reihe ran.

Paul-Scheerbart-Vignette

Die große Sehnsucht

Wenn die große Sehnsucht wieder kommt,
Wird mein ganzes Wesen wieder weich.
Und ich möchte weinend niedersinken –
Und dann möcht ich wieder maßlos trinken.

Paul-Scheerbart-Vignette

Rixráx, der Sonnenbruder

Rixráx, was willst du?
Ich stopfe den Mond
In meine Riesenkanone.
Rixráx, was willst du?
Ich schieße den Mond
Wie eine Riesensaubohne
Hinaus in die ewige Nacht;
Das hat noch keiner gemacht.
Rixráx, was willst du?
Was? Du willst eine Sonnenkanone
Und eine Milchstraßenkrone?
Brüderchen, geh doch nach Haus!
Sei friedlich und schlaf dich aus!
Alter Sonnenbruder!

Paul-Scheerbart-Vignette

Vernünftige Devise

Trinke, wenn du trinken willst,
Nie mit deinen Kameraden –
Sonst wird dir der schönste Suff
Leider überall nur schaden.

Paul-Scheerbart-Vignette

Dicker roter Mond

Ach, ich kann ja gar nicht schlafen!
Über dem dunkelgrünen Myrtentor
Thront ein dicker roter Mond. –
Ob es später wohl noch lohnt,
Wenn man auf dem Monde wohnt?
Über dem dunkelgrünen Myrtentor?
Wär’s nicht möglich, daß uns drüben
„Längre“ Seligkeiten küßten?
Wenn wir das genauer wüßten!
Hier ist alles zu schnell aus.
Jeder lebt in Saus und Braus.
Wem das schließlich nicht gefällt,
Hält die ganze große Welt
Auch bloß für ein Narrenhaus!
Ach, ich kann ja gar nicht schlafen!
Alter Mond, ich lach dich aus!
Doch du machst dir nichts daraus!

Paul-Scheerbart-Vignette

Frage

Meine ganze Welt ist kantig,
Und die Bäume sind verrückt.
Sage, Wilhelm, sage, Sauhirt,
Warum gehst du so gebückt?

Paul-Scheerbart-Vignette

Die Welt ist laut …

Die Welt ist laut,
Und ich bin still!
Erloschen sind die Flammen.

Ich kann nicht mehr,
So wie ich will!
Den Rausch muß ich verdammen.

Die Welt ist laut,
Ich möcht so viel!
Doch bring ich’s nicht zusammen.

Paul-Scheerbart-Vignette

Grausamkeit

Der König saß auf seinem Thron
Und sagte: „Lieber guter Sohn,
Hast du das Gift genossen?
Genieß es schleunigst unverdrossen!“

Paul-Scheerbart-Vignette

Indianerlied

Murx den Europäer!
Murx ihn!
Murx ihn! Murx ihn!
Murx ihn ab!

Paul-Scheerbart-Vignette

Sei sanft und höhnisch!

Charakter-Cyklus

Charakter ist nur Eigensinn;
Ich bin mit mir zufrieden.
Ich geh nach allen Seiten hin;
Wir sind ja so verschieden.

Geht mir mit der Quälerei!
Sie macht wirklich kein Vergnügen;
Mir kann nur die Wurschtigkeit
Toll und voll und ganz genügen.
Was wie ein Schienenpaar zerfahren ist,
Das ist noch härter als der Antichrist.

Ich möcht am liebsten meine Tinte
Dem Menschenvolk ins Blutgeäder spritzen.
Ich will mich bloß nicht so erhitzen.

Glaube mir:
Ich streichle dir
Die zarten vollen Wangen.
Glaube mir:
Ich hab nach dir
Wahrhaftig kein Verlangen.
Ich will dir immer gut sein!
Bleibe mir nur ewig fern
Wie der stille Abendstern.

Ich hab die ganze Nacht gelacht –
Natürlich – nur im Traume!
Jetzt bin ich endlich aufgewacht –
Natürlich – noch im Raume!
Ich kann nun nicht mehr lachen!
Was soll ich also machen?
Weiterwachen?

Sei klein – dann ist die Welt so groß!
Sei schwach – dann ist die Welt so stark!
Sei dumm – dann ist die Welt so klug!
Sei stumm – dann ist die Welt so laut!
Sei arm – dann ist die Welt so reich!

Reimerei und Schweinerei!
Mir ist alles einerlei!
Alte Katzen sind nicht blöde.
Aber jene Untermenschen,
Die ich täglich braten möchte,
Machen mir die Welt so öde.
Mir ist alles einerlei!

Mensch, sei frei!

Ach, nur im Dunkeln
Funkeln die Sterne.

Freche Fratze,
Deine Glatze
Ist nicht alt,
Auch nicht jung,
Bloß voll Dung,
Hast du bald
Dung genung?

Die Eitelheit, die Eitelkeit –
Die steckt ja wohl im Narrenkleid.
Doch bei den steifen ernsten Leuten –
Da steckt sie unter allen Häuten.

Der Nebel meiner Lebensqual
Ist dunkel, trüb und fett.
Ich liege still zu Bett.

Fahrig, lax, frivol und wischig
Ist die große Alterskunst –
Gräßlich ist der ganze Dunst.

Doch die stillen Flaggenstöcke –
Freunde, die laßt stehen,
Wenn auch die Spektakelfeste
Lichterloh vergehen.

Die Flaggenstöcke gingen tief
In unsre alte Erde ‚rein.
Wir aber gingen immer schief –
Im Sonnen- wie im Mondenschein.

Alte böse Menschen schimpfen
Über meine Lustigkeit.
Und das ist doch weiter nichts als
Alter, dunkelgelber Neid.

Du kindische Kröte,
Dich quetsch ich zu Brei.
Ich mag doch nicht hören
Die Mopslitanei,
Die sich lustig macht
Über den, der lacht.

Ich schmiß einen Menschen zum Fenster hinaus –
Natürlich – nur im Traume!
Ich fragte höflich die Mama:
Wozu ist das Männchen da?

Was denkt sich denn der junge Fant?
Ich liebte nie mein Vaterland.
Das tun ja schon so viel Soldaten!
So selbstgefällig bin ich nicht!

Lieber süßer Kannibale,
Liebst du meine Tante Male?
Friß sie auf – sie ist gesund –
Ihre Welt wird ihr zu bunt.

Klarheit wollt ihr?
Dicke Klarheit?
Seid ihr echte Untermenschen?
Wollt ihr nicht den kummervollen
Rausch der Ewigkeit umhalsen?
Wollt ihr nicht den götterhaften
Allempfindungsdünkel kosten?
Aber nein: ihr seid gescheidter;
Eure Sehnsucht will ins Bettchen,
Denn der liebe Sandmann kam.

Ich weiß, was ich begehrte;
Nie klar wird das Verklärte.

Mit den Ketten will ich rasseln,
Daß das Trommelfell euch platze!
Es erblüh in euern Dasseln
Alles Glück in einem Satze.

Ach, nur im Dunkeln
Funkeln die Sterne.
Breite Nachtkapuzen,
Ich will euch nur uzen!
Keiner sticht euch tot!
Alles ist im Lot!

Überwinden, überwinden
Wollen wir die letzten Trümpfe.
Und wenn wir das Letzte finden,
Machen wir uns auf die Strümpfe.

Charakter ist nur Eigensinn.
Es lebe die Zigeunerin!

Schluß!!

Paul-Scheerbart-Vignette

Ruhmeslied

Meine Welt ist nicht von Pappe!
Dieses sag ich dir im Traum!
Trägst du eine Narrenkappe,
Trag sie unterm Lorbeerbaum!

Paul-Scheerbart-Vignette

Wanderlied

Wie weit der Weg!
Im tiefen Tale glänzt
Der Tau der letzten Sommernacht.
Wie weit der Weg!
Im hohen Weltall glüht
Der großen Sonnen Glück so heiß.
Wie weit der Weg!
In tollen Köpfen kreist
Die Schöpferkraft des ganzen Alls.

O still! Zum Ziel!
Es wird zu viel!

Paul-Scheerbart-Vignette

Fliegenlied

Fliege, fliege, kleine Fliege!
Fliege, fliege in die Wiege!

Siege! Siege!

Paul-Scheerbart-Vignette

Donnerkarl, der Schreckliche

Ein Heldengedicht

Reich mir meine Platzpatronen,
Denn mich packt die Raserei!
Keinen Menschen will ich schonen,
Alles schlag ich jetzt entzwei.
Hunderttausend Köpfe reiß ich
Heute noch von ihrem Rumpf!
Hei! Das wilde Morden preis ich,
Denn das ist der letzte Trumpf!

Welt, verschrumpf!

Paul-Scheerbart-Vignette

Ein Säufertraum

Ich war im Traume betrunken
Und sah ein altes Kamel,
Das war zu Boden gesunken –
Es lachte – bei meiner Seel!

Und bald lag mein ganzes Genie
Neben dem lachenden Vieh.
Der Himmel lachte über mir,
Und ich trank immer noch für Vier.

Mein Kamel kam nicht zu kurz dabei;
Ich ließ es trinken fast für Drei.
Dies war meine schönste Zecherei;
Ich fühlte mich so groß und frei.

Ich trinke – bei meiner ewigen Seele! –
Nur noch mit einem alten Kamele.
Mit Menschen trinken ist der größte Kohl –
Kamele nur verstehn den Alkohol.

Paul-Scheerbart-Vignette

Gemeinplatz

Ich lobe mir die Freiheit auf den Gassen,
Jedoch das Weib soll man zu Hause lassen.

Paul-Scheerbart-Vignette

Abschiedslied

Fahr wohl, du alte Schraube!
Mir warst du sehr egal.
Mir schmeckt die Lebenstraube,
Und dir ist alles Qual!
Tu immer, was du wolltest;
Ich stör dich nicht dabei.
Ich weiß nicht, was du solltest;
Ich laß dich gerne frei.
Und wenn du wieder grolltest,
So wär’s mir einerlei.
Schrei nur, mein Liebchen, schrei!

Paul-Scheerbart-Vignette

Ermitage

Die Maske der Betrunkenheit hab ich nun abgelegt!
Ich bin allein – und tue, was ich wollte.
Wer jemals über Albernes sich kindlich aufgeregt,
Der weiß nun endlich, daß ich stets ihm grollte.
Ich lächle nur und lächle immer wieder – wieder!
Mir hängt die Luft voll kreischend-toller Jubellieder!

Paul-Scheerbart-Vignette

Notturno

Ich liege ganz still.
Der Nachtwind rauscht leise vorbei.
Eine große Sehnsucht zieht mich noch tiefer.
Diese Sehnsucht – nach – ich weiß nicht was!
Das macht so traurig.
Ich möchte – ich weiß nicht was!
Ich denke an ferne, ferne Zeiten …

Paul-Scheerbart-Vignette

Das gute Schaf

Ein erschöpfendes Gedicht

Du bist mein Schaf;
Ich bin dir niemals böse.
Und er ist baff;
Er schaut ins Weltgekröse.

Du bist mein Schaf,
Erlöse ihn, erlöse
Auch mich von dem Getöse
Der auferstandnen Jugendzeit;
Sie steht vor mir im Leichenkleid.

Paul-Scheerbart-Vignette

Säulenlied

Ich steh auf meiner Säule
Und schau ins weite Meer.
Ich höre dein Geheule
Und wundre mich nicht mehr.
Ich steh auf meiner Säule
Mir wird mein Herz nicht schwer.

Paul-Scheerbart-Vignette

Schlußweisheit

Wer sich mit Anderen verbindet,
Auf Erden niemals Ruhe findet.

Paul-Scheerbart-Vignette

Moderner Gassenhauer

Der Eremit ist dick und groß;
Er haßt die Nebenmenschen bloß.
Er liebt nur seine Klause
Und bleibt daher zu Hause.
Die ganze Welt ist ihm Pomade.
Die Nebenmenschen sagen: schade!
Das aber rührt den Teufel nicht.
Hat er nur stets sein Leibgericht,
So ist ihm alles piepe –
Der Haß und auch die Liepe.

Paul-Scheerbart-Vignette

Groglied

In meinen Adern brennt der stramme Grog;
Pompöser Kohl durchrast mein Eingeweide.
Die kalte Nase steckt im Weltgehirn;
Die heißen Hengste führ ich auf die Weide.
Jetzt, Erdenbürger: Leide! Leide! Leide!

Paul-Scheerbart-Vignette

Hobelphantasie

Mir klappern alle Zähne;
Der alte Brei der Welt ist dick.
Doch lange Wunderspäne
Umringeln all mein Mißgeschick.

Paul-Scheerbart-Vignette

Abendtöne

Wozu mich mein Schuh drückt?
Das willst du wissen?
Leg dich nur ruhig
Auf dein Ruhekissen;
Es wird zum Luftballon.
Mit dem gehst du davon.
Und deine Locken –
Die werden klingen;
Du sollst mit ihnen,
Da sie rot sind,
Die gelben Sterne umschlingen!
Ach ja, dein verfluchter,
Alter, dammlicher Luftballon
Wird dich weit bringen.
Durch die alte Türe,
Die so herrisch knarrt,
Kommt der Ofenmann
Mit vielen schwarzen Bechern,
Die so traurig sind wie schwarze Briefe.
Na – was will denn der Ofenmann?
Will er den alten Zechern
Die letzten Tropfen schenken?
Der Ofenmann hat kurze Beinchen;
Sein Leib ist ein großes viereckiges Steinchen.
Und auf dem Steinchen sitzt ein Wachskopf –
Der geht natürlich ganz entzwei,
Denn der Ofen ist ja warm.
Und die schwarzen Becher fallen
Diesem alten Ofenmann
Aus den schwarzen alten Händen
Auf die stillen weißen Dielen.
Und der Wein macht die Dielen naß.
Das macht den Zechern Spaß.
Die Beinchen des Ofenmanns
Brechen entzwei.
Und der schwarze Ofen
Steht an der Wand – wie einst.

Paul-Scheerbart-Vignette

Die großen Flammen

So nehm ich denn die Finsternis
Und balle sie zusammen
Und werfe sie, so weit ich kann,
Bis in die großen Flammen,
Die ich noch nicht gesehen habe
Und die doch da sind – irgendwo
Lichterloh …

Paul-Scheerbart-Vignette

Eine Lichthetäre

Wie ein Lichtstrahl war ich einst,
Zuckte hin und her
Durch die Weltenpracht
In dem Äthermeere.
Quintillionen Wettersterne
Hab ich prickelnd angeblickt.
Oh, ich war geschickt –
Eine Lichthetäre.

Paul-Scheerbart-Vignette

Alter Spaß

Ja – meine Sonnenkälber
Sind mit Öl begossen,
Sind naß wie Badelaken
Und erweichte Schrippen.
Ich weiß mit diesen feuchten
Märchenweltschleimtieren
Nichts anzufangen – nichts.
Solche alten Späße
Sind doch eigentlich abscheulich.

Paul-Scheerbart-Vignette

Hafentraum

Ich hab in dieser ganzen Nacht
Still wie ein Stall geschlafen.
Ich hab in dieser ganzen Nacht
Geträumt von tausend Schafen.

Sie waren alle dick und rund,
Ich aber war nicht ganz gesund,
Ich kam allmählich auf den Hund;
Es war in einem Hafen.

In diesem Hafen trank ich viel
Mit großen Welt-Matrosen,
Die spielten Handharmonika
Und mit den tausend Schafen.

Paul-Scheerbart-Vignette

Ingrimm

Eine wilde Fratze
Muß ich schneiden,
Denn dies Leben
Macht mir keinen Spaß.
Oh, ich möchte nur
Ein altes Rabenaas
Mit verrückter Wollust
In zehntausend Stücke reißen,
Und dann möcht ich
Hübsche Mädchenköpfe
Balsamieren mit verfaultem Tran
Oder andrer ekler Flüssigkeit.
Und dann möcht ich
In den Himmel springen
Und die Sterne fressen
Und zuletzt:
Den ganzen Lebensunsinn
Ohne weiteres vergessen
Und als Ätherwolke
Traumlos weiterschweben.
Dieses, glaub ich, wird mir
Noch einmal gelingen.

Paul-Scheerbart-Vignette

Der lachende Engel

Wie war’s doch nur?
Im Himmel schwebten
Große blanke Diskusscheiben –
Auf denen drehten sich blutrote Nüsse.
Doch alles schlug ein böser Geist entzwei.
Ein Engel lacht dazu
Und spritzt mit Vitriol.
Jawohl! Jawohl!

Paul-Scheerbart-Vignette

Die Zappelpappeljöhre

Mal ist mir alles astral
Und mal so ganz egal.
Ich kenne den längsten Strahl
Und auch das Jammertal,
Wo ich beinah nicht hingehöre.
O du Zappelpappeljöhre!

Paul-Scheerbart-Vignette

Die alte Laube

Ich habe so viel vergessen.
Ich weiß nicht mehr
Woher ich komme.
Ich saß in einer Laube
Von großen grünen Smaragden;
Sie schimmerten wie Glühwurmlicht.
Mehr aber weiß ich nicht.
Es war ganz hinten im Raume
Und fast wie in dem Traume,
Der uns der allerliebste ist.

Paul-Scheerbart-Vignette

Ach ja!

Ach ja! Jetzt weiß ich’s ganz genau!
Von Max und Moritz kam ich her!
Die lagen in einem Syrupmeer
Und waren blöde wie der große Stier.
Es kam ein Strahl durch das Revier
Und hüpfte mit uns Dreien.
Das sollte uns bald entzweien.
Nach jenem Trubel durft ich endlich
So selig ruhen auf dem Zuckersterne,
Der mir aus allen seinen Kratern
Ein glückliches Vergessen dampfte.

Paul-Scheerbart-Vignette

Singende Schlangen

Ich war schon wo,
Da ging es wüste zu;
Ich hatte weder Hemd noch Schuh,
Nur grüne Schlangen
In beiden Händen.
Ich konnte mich nicht drehen
Und nicht wenden.
Doch viele Beutelsterne
Drehten sich um meine Arme
Und sahen aus
Wie schlaffe Luftballons.
Die Schlangen aber sangen.

Paul-Scheerbart-Vignette

Der Frack-Komet

Ich lebte vor langer langer Zeit
In einem Raume,
Der ganz voll Licht war;
Es leuchteten wohl sämtliche Atome.
Und da kam plötzlich
Eine schwarze Sonne an,
Die schwarze Strahlen
Durch das Lichtreich sandte.
Die schwarzen Strahlen waren kühl
Und kühlten auch meinen heißen Leib,
Der selbstverständlich nicht
Aus dicken Stoffen sich zusammensetzte.
Nun brach sich jenes schwarze Licht,
Das ganz besondre Qualitäten zeigte,
In meinem heißen Leibe so,
Daß ich einen –
Schwarzen Schweif bekam;
Und spalten tat sich dieser Schweif
Und sah beinah so aus
Wie jene langen Streifen,
Die sich an Menschenfräcken
Unter den Händen
Fleißiger Schneider bilden.
Ich ward in jener alten alten Zeit
Ein Frack-Komet.
Ob sich für unsre Erde
Noch mal Kometen
Sichtbar machen könnten –
In Frackform?

Von Berliner Stammtischen. Die Modernen an ihrem Stammtisch in einem Café des Westens, v. l. n. r.: Anna Scheerbart, Samuel Lubkinski, Salomo Friedlaender, P. S., Else Lasker-Schüler, Herwarth Walden, via Markus Fognin Feuerstack

Bilder: Cover der Erstausgabe Kater-Poesie, Rowohlt 1909, via Wikimedia Commons;
Vignette: Otto Kokoschka: Portrait Paul Scheerbart; Von Berliner Stammtischen: via Markus „Fognin“ Feuerstack: Fotos Paul Scheerbart, alle ohne Jahr:

Die „Modernen“ an ihrem Stammtisch in einem Café des Westens. Scheerbart und Freunde im „Café des Westens“, v. l. n. r.: Anna Scheerbart, Samuel Lubkinski, Salomo Friedlaender, P. S., Else Lasker-Schüler, Herwarth Walden

Ideales Katerlied: Cerys Matthews: Chardonnay, aus: Cockahoop, 2003:

Written by Wolf

30. August 2019 at 00:01

Goethes Kindergartenfutter

with one comment

Update zu Das Beste sind die Kartoffeln, lieber nicht zum
1. Katzvent: I should be stronger than weeping alone (und mit pragmatischen Messingdrähten zum Skelett zusammengeworfelt):

——— Goethe:

Eins wie’s andre

kein Anhaltspunkt zur Datierung, Erstdruck in der Ausgabe letzter Hand, Band 47, Cotta 1833,
in: Frankfurter Ausgabe, Gedichte Band 2, Seite 859:

Die Welt ist ein Sardellen-Salat;
Er schmeckt uns früh, er schmeckt uns spat:
Zitronen-Scheibchen rings umher,
Dann Fischlein. Würstlein, und was noch mehr
In Essig und Öl zusammenrinnt,
Kapern, so künftige Blumen sind —
Man schluckt sie zusammen wie Ein Gesind.

Cover Renate Hücking, Mit Goethe im Garten. Inspiration und grünes Wissen aus den Gärten der Goethezeit, Callwey 2013Wie schön, mit so einem prächtigen, rohen Findling von siebenzeiligem Gedicht einsteigen zu können. Vor langer Zeit hatte ich mal Urlaub. Das war die Gelegenheit, zwei aus der Goethezeit überlieferte Rezepte auszuprobieren, damit Sie es nicht müssen.

Überliefert sind beide Rezepte von Renate Hücking, auf den Seiten 21 und 22 ihrer Veröffentlichung Mit Goethe im Garten. Inspiration und grünes Wissen aus den Gärten der Goethezeit, Callwey 2013. Die zwei Seiten mit den Rezepten waren zufällig die ersten, die ich aufgeblättert hab, was auf eine größere Fülle schließen ließ, aber es bleibt bei den zweien. Das ist in Ordnung so: Auf diese Weise hat man eine überschaubare Auswahl sehr praktikabler und wahrscheinlich halbwegs gesunder Rezepte mit literarischem Bezug und regional beschaffbaren Ingredienzen.

——— Renate Hücking:

Frau Ajas Eierkuchen

aus: Mit Goethe im Garten: Inspiration und grünes Wissen aus den Gärten der Goethezeit,
Verlag Georg D. W. Callwey GmbH & Co. KR, München 2013, Seite 21:

Zutaten
4 alte Brötchen,
2 Esslöffel Schnittlauch,
1 Zwiebel,
40 g Butter,
7 Eier,
¼ l Milch,
1 Esslöffel Mehl,
100 g Speck,
Salz und Muskat

Die Brötchen würfeln, die Zwiebel schälen und fein hacken, den Schnittlauch fein schneiden. Alles zusammen in der Butter leicht rösten.

Eier, Milch und Mehl verquirlen und anschließend mit Salz und Muskat abschmecken. Die gerösteten Zutaten unterziehen. Den Speck in der Pfanne auslassen, die Teigmasse portionsweise dazu geben und auf beiden Seiten langsam ausbacken.

Kindheitsfutter ist sowieso immer das beste. Als Welpe musste man mir die Krautwickel immer aus dem Kraut auswickeln, was das Rätsel darum noch geheimnisvoller machte, warum man einwandfreie Hackfleischbatzen überhaupt erst in derlei grünliche Putzlumpenfetzen einwickeln musste. Im Franken meiner angeborenen dialektalen Ausrichtung heißt das Hackfleisch ohne Grünzeug drumrum Fleischküchle, mit Weißkraut, Mangold und bei den Honoratioren Spinat drumrum Krautwickel — die korrekte oberostfränkische Aussprache erspare ich uns. Aber nicht einmal im allzeit bratwursthaltigen Franken wäre jemand darauf verfallen, zu Hackfleischprodukten auch noch Bratwürste zu „reichen“. Im bis 1763 französisch besetzten Frankfurt am Main anscheinend schon.

An der Formulierung stört mich allein der unmotivierte Wechsel zwischen Imperativen und imperativ gemeinten Indikativen im Aktiv und Passiv, aber angesichsts der fertigen Laubfrösche ist das schon germanistische Zickerei.

——— Renate Hücking:

Laubfrösche — ein Gericht aus Kindertagen

ebenda, Seite 22:

Zutaten
12 Mangoldblätter,
2 (altbackene) Brötchen,
1 Zwiebel,
2 Knoblauchzehen,
2 EL Butter,
1 Bund Petersilie,
2 Eier,
2 Zweige Liebstöckel,
300 g Hackfleisch,
Salz,
Pfeffer,
Pimentkörner,
½ l Gemüsebrühe

Die Mangoldblätter werden entstielt, gewaschen und mit kochendem Wasser überbrüht. Danach solten sie in eiskaltem Wasser abgeschreckt werden und gut abtropfen.

Für die Füllung wird die fein gewürfelte Zwiebel mit dem Knoblauch in Butter weich gedünstet — ohne sie zu bräunen. Die Brötchen in Wasser oder Milch einweichen und ausdrücken. Dazu gibt man die Eier, die gehackten Kräuter und das Fleisch. Alles sollte gut gewürzt und gründlich miteinander vermengt werden. Etwa ein Löffel dieser Masse wird auf ein Mangoldblatt gegeben und darin eingewickelt. Jetzt werden die „Laubfrösche“ mit Mehl bestäubt, in der Pfanne kurz angebraten und dabei vorsichtig gewendet. Zum Schluss mit Brühe auffüllen und die Wickel etwa 20 Minuten darin garen lassen.

Eine Variante: Die Blätter mit einer Masse aus 2 Eiern, Semmelmehl und frischen Gartenkräutern füllen, mit Mehl bestäuben und anbraten. Dazu werden Bratwürste gereicht.

Der vegetarische Praxistipp: Statt des schön bunten, aber etwas geradeheraus schmeckenden Mangolds je nach Saison lieber Spinatblätter hernehmen.

Der vegane Praxistipp: Champignons, an Feiertagen auch gern Austernpilze ergeben in gehäckseltem Zustand einen täuschend echten, sogar wohlschmeckenden Ersatz für Hackfleisch. Der örtliche Türke verkauft eine undurchschaubare, aber hochraffinierte Köfte-Gewürzmischung in allen Haushaltsgrößen, mit der kein Mensch mehr die Pflanzen- von den Kuh- und Schweineteilen unterscheiden kann. Pilze häckseln ist etwas aufwändiger als eine Packung Hackfleisch in die Pfanne fallen lassen, also kurz das große Messer nachschleifen und die Muffs auf die Ohren, das beflügelt. Nach meiner Erfahrung ist die Entsprechung für ein Pfund Hackfleisch innerhalb einmal Alert Today, Alive Tomorrow (1999) fertig. Für das ganze Festessen: Der Freischütz. Aber unter Carlos Kleiber, gell?

Marion Nickig, Baum im Herbst, via Helena Pivovar, Dichterfürst -- Gartenfürst, Callwey Blog 7. Oktober 2013

Bilder: Weil ich mich nie an die postmoderne Unsitte gewöhnen konnte, mein eigenes Essen abzulichten, wegen der arbeitsam eingefetteten Finger schon gar nicht während des Kochvorgangs, gibt’s nur das Buchcover und ein Beispiel für die schönen Illustrationen aus dem beschriebenen Buch, die beizubringen in der verregneten ersten Jahreshälfte 2013, wie in den Danksagungen beklagt, gar nicht so einfach war: Marion Nickig, via Helena Pivovar: Dichterfürst — Gartenfürst, Callwey Blog , 7. Oktober 2013.

Soundtrack: Theodor Shitstorm im Garten von Pogel und Marion (nicht Marion Nickel, nehme ich an):
Ratgeberlied aus: Sie werden dich lieben, 2018, mit der einzig richtigen Anweisung für Kochrezepte:

So weit meine Ratschläge, merk sie dir gut:
Es ist wichtig, dass man das exakte Gegenteil tut.

Der Text ist raffiniert genug für die volle Lautstärke und das Video für den Vollbildmodus:

Written by Wolf

19. April 2019 at 00:01

Weil er bei den Mahlzeiten so entsetzlich isset

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Update zu Der Widersacher. Ästhetischer Gaukler vs. unnahbarer Eispalast: Braucht die Welt noch Dichterfürsten im Krähwinkel? Alles ist erlaubt und willkommen. Keine 30 Prozent der Quellen,
vor allem aber Das Beste sind die Kartoffeln und entfernt
Wunder im Gehirn. Vier Bier und ein Buch de cerevisiis:

Das Leben des Quintus Fixlein, aus funfzehn Zettelkästen gezogen, nebst einem Mustheil und einigen Jus de tablette, von Jean Paul, Verfasser der Mumien und Hundsposttage von 1794 bis 1795 ist ein Jean-Paul-typisch wildes Stückwerk, dafür dankenswert genau aufgeteilt: Das übliche Gestrüpp — „Blumenstrauß“ wäre für diesen Gebrauch auch nicht viel wohlwollender — aus Vorworten und Vor- und Nachworten zu Vor- und Nachworten hat diesmal besonders phantasievolle Überschriften — und so viele verschiedene.

Zu vermuten steht, dass Jean Paul (* 21. März 1763) zwischen seinem — wieder typisch: gleich zweiten — Erstling, der zwar nicht sein erstes Buch, dafür ein Bestseller war, Hesperus und dem Siebenkäs einiges angesammelte Material wegverwenden wollte, um das es dem immer noch aufstrebenden Schreibhandwerker sonst schade gewesen wäre.

Um einen Eindruck zu vermitteln, fächere ich die Bestandteile des Quintus Fixlein nachstehend auf, vollständig wiedergegeben ist darunter mein Lieblingsteil Des Amts-Vogts Josuah Freudel Klaglibell — wie ja überhaupt unser Vorteil bei diesem einnehmenden Konvolut darin besteht, dass es wesentlich unter Jean Pauls üblichen achthundert Seiten bleibt.

Lilli Hill via The Art of Obesity

——— Jean Paul:

Leben des Quintus Fixlein,
aus funfzehn Zettelkästen gezogen,
nebst einem Mußteil
und einigen Jus de tablette

[Billett an meine Freunde, anstatt der Vorrede;
Geschichte meiner Vorrede zur zweiten Auflage des Quintus Fixlein;
Die Mondfinsternis]

[I. Mußteil für Mädchen:
1. Der Tod eines Engels;
2. Der Mond]

[II. Des Quintus Fixlein Leben bis auf unsere Zeiten.
(Die ersten 14 Kapitel heißen „Zettelkasten“, das letzte Kapitel heißt „Letztes Kapitel“.)]

III. Einige Jus de tablette für Mannspersonen

[1. Über die natürliche Magie der EInbildungskraft]

2. Des Amts-Vogts Josuah Freudel Klaglibell
gegen seinen verfluchten Dämon

Dieses zierliche Klaglibell, worin ein zerstreueter Gelehrter ohne sein Wissen seine Zerstreuung schildert, kam durch die Güte des Herrn Pfarrers Fixlein in meine Hände, der in der Kirchenagende seiner Sakristei gefunden hatte. Ich glaube, ich kann das Libell ohne Diebstahl zu meinen Aufsätzen und Effekten schlagen, da Freudel hinten eine Arbeit von mir in seine einfügt; denn ich mache, da commixtio und confusio ein modus adquirendi ist, aus rechtlichen Gründen aufs Ganze Anspruch. Wenigstens gehören, da er das Papier dazu aus der Sakristei erhob, meinem Gevatter als Herrn des Prinzipale die darauf gesetzten Gedanken des Vogts als accessorium. Der Konzipient hatte sich aus Versehen am Bußtage in die Hukelumer Kirche sperren lassen; – um nun die Langweile sich so lange vom Leibe zu halten, bis ihn beim Gebetläuten jemand hinausließ, verschrieb er die Zeit bis dahin in diesen Klagen:

*

Lilli Hill via The Art of ObesityGewisser ist wohl nichts, als daß manchen Menschen ein tückischer Dämon verfolgt und ihm lange Sperrhaken ins Getriebe seines Lebens steckt, wenn es gerade am besten umläuft und eben ausschlagen will. Jeder muß Menschen kennen, die lauter Unglück im Spielen – Kriegen – Heiraten – in allem haben, so wie andere wieder lauter Glück. Bei mir wird gar Glück und Unglück mutschierungsweise neben und auf einander verpackt in eine Tonne, anstatt daß es Jupiter in zwei verfüllte. Ist vollends das Vergnügen, die Ehrenbezeugung, die rührende Empfindung, die ich habe, groß, sehr groß: so verlass‘ ich mich darauf, daß es nun der Dämon gewahr werden und mir alles hinterdrein gesegnen werde. So versalzet er mir gern schöne Lustfahrten durch einen häuslichen Hader; und ein Ehrenbogen ist für mich ein Regenbogen, der drei elende Tage ankündigt. So hat er mir heute in diese Kirche nachgesetzt, weil er voraussah, die blühende Predigt werde mir einiges Vergnügen reichen; und nun seh‘ ich mich seit der Vesperpredigt in das Gotteshaus inhaftiert, und das Schicksal weiß, wenn ich hinausgelassen werde. Denn ich kann weder Tür noch Fenster ausbrechen, und das größte Unglück ist, daß gerade heute Bußtag ist, wo keine Magd auf den Gottesacker geht; unter allen meinen dummen Schreibern hat ohnehin keiner so viel Verstand, daß er mich in der Sakristei aufsuchte. Diese Kirche ist mir überhaupt aufsätzig; ich habe darin schon ein Unglück gehabt, und es war heute nichts als der Widerschein eines alten, daß ich unter der Hand der ganzen Gemeinde abgefangen wurde, indem ich still und vergnügt in meinem Kirchenstuhle saß und meine ungedruckte Anweisung zu einem gerichtlich-blühenden Stil in Gedanken prüfte. Denn ich bin leider in viele Sättel gerecht, eben weil mich der Dämon immer aus jedem hebt.

Ich habe mich sonst mit Versen abgegeben – welches jetzt wenigstens meinem Stile zuschlägt – und nachher umgesattelt: denn ich wollte ein Pfarrer werden, und kein Amtsvogt. Die Geschichte ist im Grunde unterhaltend, obwohl auf meine Kosten. Ich wollte nämlich als Student in meinem Geburts-Dorfe (eben hier in der Kirche) mit einer Gastpredigt ausstehen und hatte deshalb eine große Perücke mit einem hohen Toupet-Gemäuer meiner Mutter zuliebe aufgesetzt. Gleich im Exordio stieß ich auf ein Abenteuer, indem ich die Nutzanwendung, die sich auch wie jenes mit: „teuerste etc. Zuhörer“ anhebt, unglücklich mit dem Eingange verwechselte; aber ich hielt – leicht und mit zweckmäßigen Veränderungen – den Zuhörern den Schwanz so in meiner Hand hin wie ein Endchen Kopf. Tausend andere hätten von der Kanzel gemußt; ich hingegen kam wohlbehalten vor dem Kanzelliede an und sagte: „Nun wollen wir ein andächtiges Lied miteinander singen“ und das war mein Unglück. Denn da ich mich – wie es auf den meisten Kanzeln Sitte ist – so mit dem Kopfe aufs Pult hinlegte und niederkrempte, daß ich nichts mehr sehen konnte als den Kanzel-Frack – so wie von mir auch nichts zu sehen war als mein Knauf, die Perücke mit dem Wall –: so mußt‘ ich (wollt‘ ich nicht dumm sein und ins Kanzeltuch hineinsingen) aus Mangel an Gesichtsempfindungen während dem Singen denken. – Ich suchte also auf dem Pulte den Eingang, womit ich schließen wollte, zur Nutzanwendung umzufärben – ich wurde von einer Subdivision auf die andere verschlagen – ich hatte mich wie ein Nachtwandler unter meine Gedanken verstiegen, als ich plötzlich mit Erstarren vermerkte, daß schon längst nichts mehr sänge und daß ich nachdächte, während die sämtliche Kirche auflauerte. Je länger ich erstaunte in meiner Perücke, desto mehr Zeit verlief, und ich überlegte, ob es noch schicklich sei, so spät das Toupet-Fallgatter aufzuheben und darunter den Kirchleuten wieder zu erscheinen. Jetzt war – denn der Kanzel-Uhrsand lief in einem fort – noch mehr Zeit verstrichen; die außerordentliche Windstille der Gemeinde lag ganz schwül auf meiner Brust, und ich konnte, so lächerlich mir zuletzt der ganze, Ohr und Fuß spitzende Kirchenhaufe vorkam und so sicher ich hinter meinem Haar-Stechhelm lag, doch leicht einsehen, daß ich weder ewig niedergestülpet bleiben noch mit Ehren in die Höhe kommen könnte. Ich hielts also für das Anständigste, mich zu hären und mit dem Kopfe langsam aus der Perücke wie aus einem Ei auszukriechen und mich heimlich mit bloßem Haupte in die an die Kanzeltreppe stoßende Sakristei hinunterzumachen. Ich tats und ließ die ausgekernte ausgeblasene Perücke droben vikarieren. Ich verhalt‘ es nicht: indes ich in der Sakristei mit dem unbefiederten Kopfe auf- und abging: so passete jetzt (denn mein brachliegender Adjunktus und Geschäftsträger schauete in einem fort schweigend auf die Seelen herunter als Anfang eines Seelenhirten), so passete, gesteh‘ ich, jetzt Groß und Klein, Mann und Weib darauf, daß der Kopf-Socken anfinge sich aufzurichten und ihnen vorzulesen und jeden so zu erbauen, wie ja homiletische Kollegien uns alle, hoff‘ ich, abrichten. Ich brauche den Lesern nicht zu sagen, daß die erledigte Perücke nicht aufstand, beraubt aller Inlage und ihres Einsatzes. Zum Glück stellte sich der Kantor auf die Fußzehen und sah in die Kanzel herein – er stieg sans façon herab und hinauf und zog meine Kapuze beim Schwanze in die Höhe und zeigte der Parochie, daß wenig oder nichts drinnen wäre, was erbauen könnte, kein Seelensorger – „die Fülle ist schon aus der Pastete heraus“, bemerkt‘ er öffentlich bei diesem Kopf-Hiatus und steckte meinen Vikarius zu sich. – Und seitdem hab‘ ich diese Kanzel nicht mehr gesehen, geschweige betreten …

Wahrlich ich schreib‘ ihr jetzt gerade gegenüber, und ich sah heute hinauf; ich wollt‘ aber, ich könnte hinaus, und ich muß schon lange geschrieben haben. Beiläufig! gerade diese Historie, die ich ausschweifungsweise beigebracht, dient mehr als eine, das Dasein eines Dämons, der den mit den besten Projekten schwangern Menschen in Ratten-Form unter die Füße schießet, zu beglaubigen – aber Muttermale sind die Nachwehen davon.

Ich schwamm wohl niemals mehr im Wonnemeer als einmal, da der hiesige regierende Bürgermeister zur Erde bestattet wurde – dennoch wußte mir mein Dämon Unrat in meine Leichensuppe zu schmeißen. Ich würde abkommen von dem Leichenbegängnis, wenn ich weitläuftig berichten wollte, wie wenig dieser Hausteufel darnach fragt, wenn er mich um eine Hinrichtung – um eine Krönung – um eine Sonnenfinsternis zu bringen vermag. Da diese Dinge leider keine Palingenesie, kein Ancora und keinen Refrain verstatten: so hab‘ ich dieses Trio von Dingen, das sonst wohl wenig Ähnlichkeit miteinander hat, niemals beschauen können – es war vorbei, eh‘ ich daran dachte, daß es komme.

Ich sollte Leichenmarschall beim Begräbnis sein und fing es auch an: der Bürgermeister, dem der Tod die Sanduhr in die Augen geschüttet hatte, war ein Mann, der verdiente, einen guten Leichenmarschall zu haben, einen gestabten Leichen-Turnier-Vogt; denn er war in der ganzen Gegend selber bei allen Leichen von Stand der allgemeine Undertaker, der Großkreuz des memento mori-Ordens gewesen, der maitre de plaisirs des Totentanzes. Er hätte – so gut fand er sich in die Charge – Leichen – Obermarschall in London bei der Beerdigung der magna charta sein können, wäre sie kein bloßer Spaß gewesen; und falls man den alten Publizisten Reichsherkommen in den Residenzstädten einmal im Ernste begrübe, so könnte der Bürgermeister den Sarg unterstützen, läg‘ er nicht selber darin.

Lilli Hill via The Art of ObesityIch muß noch vorher erzählen, daß ich abends vor der Bestattung, weil ich mit dem Bürgermeister einerlei Natur hatte, mir an ihm ein Beispiel nahm und meine Frühlingskur, nämlich 1½ Löffel echte Rhabarber gebrauchte. Ich wollte, ich hätte etwas von jenen Gelehrten an mir, die aus Zerstreuung eines über das andere vergessen: eine kleine Zerstreuung, worin ich über die Leiche die Kur vergessen hätte, würde mir den andern Tag zupasse gekommen sein. Ich sollte fast mich schämen, etwas so viele lesen zu lassen, was ich ohnehin so viele sehen ließ. Im Grunde wars wohl unvermeidlich und wahres splanchnologisches Fatum: denn ich trank im Trauerhause viel nach – mußte langsam neben der schleichenden Bahre waten und noch dazu einem lüftenden Wind entgegen, der den ehrwürdigsten Männern den Leichenmantel zu einem Fettschwanz aufflocht (den faltigen Bettzopf und Troddel steckt‘ er ihnen dann wie ein Stichblatt an die rechte Seite), und ich führte noch dazu die satanische Frühlingspurganz im Magen bei mir. – – Inzwischen mußte einer, der mir nachsah, wenn er nicht horndumm war, sogleich bemerken, daß ich lange genug meine physiologischen Verhältnisse zum Besten meiner Pflicht verbiß und verwand und hinter dem schwarzen fliegenden Sommer und Flor-Labarum des Huts und mit dem eingewindelten hohen Marschalls-Taktstock das sämtliche Leichenkondukt gut genug kommandierte und begleitete, obwohl ich im Wasser der Tränen und der Laxanz als ein gebrochener Stab erschien. – Denn mir tat es wehe, so viel (am Bürgermeister) verloren und so viel eingenommen zu haben. – – Meinetwegen! Unser Land kommt doch darhinter: kurz der mitsingende Wind mochte uns kaum bis an zehn Schritte vor die Kirchtüre geschoben haben, als ich wirklich und ohne freien Willen, gleich dem Kaiser Vespasian – und auch am nämlichen Orte –, meinen verbitterten Zepter fallen ließ ….

Viele lachten wohl.

In andern Fällen weiß ich mir gegen Arzneien zu helfen. Da ich z.B. einmal dem vorigen Obristforstmeister, mit dem ichs nicht verderben durfte, auf seinem Jagdhause am Martinitag zu essen brieflich versprochen hatte: so traf sichs zum Glück, daß ich an dem nämlichen Tage beim hiesigen Pfarrer zu speisen mündlich zugesagt hatte. Nun war ich vor Nachteil verwahret, da es am Martinitag nicht bloß in der Pfarre drunter und drüber ging, sondern auch in meinem Magen; bloß weil ich mich mit einem hübschen Brechmittel ausbürstete. – Denn als mir um zwölf Uhr der Pfarrer sagen ließ, „es würde alles kalt“: so wußt‘ ich recht gut, wie viel Uhr es geschlagen hatte, und nahm in der Stadt, in die ich in einer Viertelstunde lief, auf der Post ein Kurierpferd und kam beim Forstmeister gerade angesprengt, als die Suppe noch heißer rauchte wie mein Gaul.

Ich weiß gewiß, ich wollte dem Leser noch einen recht frappanten Kasus auftischen; aber er will mir jetzt durchaus nicht beifallen. – Andern Leuten muß es noch öfter so gehen: denn ich habe eine ganze ausgewählte Bibliothek durch Diebstahl gewonnen und eine verloren, weil die einen, die mir jene liehen, und die andern, die mir diese abborgten, vergessen hatten, mit wem sie zu tun gehabt – und dann kamen mir die Leute auch aus dem Kopfe.

Jetzt fället mir alles bei: es war so. Fatalien waren mir, da ich noch Advokat war, in jedem Prozesse Mißpickel und Rattenpulver, und meine Appellationen wollten (wie alle lang lebende Gewächse) nie schon in zehn Tagen zeitigen; dennoch erwiderte ich einen gut ausgedachten Streich des bösen Dämons mit einem bessern. Überhaupt sollten die Kollegien so gut Fatalien zu fürchten haben wie die Advokaten: ist nicht oft das Beste, was die Parteien verlieren können, Zeit? Und warum soll diese der schuldige und der unschuldige Teil zugleich verlieren? – Was helfen alle Läuferschuhe der Advokaten (und die Hetzpeitschen der Prozeßordnung dazu), wenn die höhern Kollegien, an die alle Akten indossieret werden, in Hemmschuhen und Hemmketten einherwaten? – Kurz die Advokaten und die höhern Instanzen (denn uns niedrigen zügelt man schon, und ich darf kaum mehr sprechen, so verlangen die Leute die Apostel) siechen an demselben Marasmus der Dilation, an derselben Frakturschrift der Schreiber, an derselben Geld- und Gesichterschneiderei … Ich schweife hier vielleicht ab; aber ich bekenne, ich fass‘ es niemals, wie ich im Schreiben von einem aufs andre komme, da ichs doch im Denken nicht tue.

Lilli Hill via The Art of ObesityAber wie gesagt, es war an meinem Hochzeittag; – er war schon ganz vorbei bis auf eine Viertelstunde. – Die finstere Hochzeitnacht war hereingebrochen – ich hatte meine Repetieruhr und mein Zopfband schon unter den Spiegel gehangen und das vor letzte Licht ausgetan und beim letzten drei Viertel auf zwölf Uhr gelesen und so feurig als wenige an meine liebe Braut, als Tür- und Wandnachbarin meiner Seele, gedacht, als ich im sogenannten Ehekalender, der neuerer Zeiten das Kirchenbuch und den Geburtsschein um dreiviertel Jahr antizipieret, nachschauete, um das heutige Datum zu unterlinieren: nun kam ich im Kalender, worin zugleich meine juristischen Fatalien und Termine stehen, zum Glücke mit darhinter, daß ich innerhalb zwei Tagen appellieren müßte, und daß der letzte Viertelhammer der zwölften Stunde den achten gar erschlüge. Ich raffte mich zusammen, beschnitt Papier (in Baiern wär’s unnötig) und legte stehendes Fußes die Appellation ein, die einzulegen war, und petschierte sie zusammen. „Ich habe nur“ – meldete ich ausgefroren der Braut „vom Judex a quo zum Judex ad quem appelliert; und du kannst dir denken, ob man es appellatischerseits werde erwartet haben.“ –

Da der Teufel eine eigne Liebhaberei für Zwiespalt hat: so sucht er mir gerade, wenn ich durch einen Ehrenbogen gehe, den Grimm meiner Freunde zuzuwenden. Ich erinnere mich, daß ich oft vermischten Gesellschaften mit der größten Deutlichkeit Lavaters Tierstücke aus seinem physiognomischen Schwabenspiegel repetierte und ihnen die Anwendung der Vieh- und Insektenköpfe auf die menschlichen so leicht machte, als ohne Kupferstiche möglich ist, ich erinnere mich, sag‘ ich, daß ich mich, wenn ich mich dann nach einiger Beistimmung umschauete, in einem Zirkel oder Trapezium von fatalen verdrüßlichen Gesichtern mit gekräuselten Nasen, faltigen Lippen, gestirnten überschriebnen Stirnen stehen sah – und wer mir aus der Gesellschaft die nächsten Wochen darauf ein Bein unterstellen konnte, der tats. Wenn ich nicht zuweilen in Gesellschaft einschliefe, so könnten alle nichts aufbringen, womit ich ihnen zu nahe träte: alles, was ich darin wage, ist, daß ich vor ihnen im Kopfe einige juristische Opuscula ausarbeite, anstatt daß Zimmermann ihnen im Kopfe gar seine philosophischen vorlieset. Newton sah den Finger einer Dame für einen Zwerghirschchen-Fuß an, den man zum Pfeifenstopfer nimmt; ich aber habe nichts auf mir, als daß ich einmal, da ich meine Pfeife ausklopfte, aus Höflichkeit einigemal rief: herein! weil ich dachte, man klopfe draußen an.

So werf‘ ichs mehr einem bösen Dämon als mir selber vor, daß ich in einem Jahre meinen Gevatter und meinen Beichtvater zugleich geärgert. Ich war sehr krank und ließ auf drei Sonntage eine Kirchenvorbitte für meine Genesung bestellen. Am dritten Sonntag saß ich während der Vorbitte selber mit unter den Leuten und schauete – während der Pfarrer oben an meiner Rekonvaleszenz arbeitete – unten aus meinem Gitterstuhl mit einem närrischen Gesichte genesen heraus. Ich wußt‘ aber am besten, warum ich mich als Rekonvaleszent öffentlich vorstelle: die Gemeinde sollte sehen, wie ihre Vorbitte angeschlagen, und zweitens sollte sie ermuntert werden zu Vorbitten gegen das Rezidiv.

Was meinen Gevatter, den Marschkommissar, anlangt, so ritt ich zu ihm bei der ersten Niederkunft meiner Frau und wollt‘ ihn, da er mein alter Universitäts-Jonathan und Orest ist und in der Nähe wohnt, zu Gevatter bitten, als er gerade reisefertig im Stalle auf den Durchmarsch der Ungarn paßte. Da sein erstes Wort war, ich möchte auf dem Pferde mit ihm reden und mitreiten: so verritt ich einen halben Tag, und erst vier Meilen vom Täufling macht‘ ich ihn bei einem Setzteiche zu meinem Gevatter in Beisein der Kompagnie. Den andern Tag erreichten ich und er mit zwei solchen Jagdpferden, wie wir reiten, leicht den Taufstein beizeiten.

Ich kann nicht erzählen, wie ich meinen Gevatter grimmig und zwieträchtig gemacht, wenn man mich nicht vorher über die Tücke meines Dämons abhört, der mir, solang‘ ich Geburtstage in meinem Leben antraf, noch keinen einzigen zu begehen erlaubte. Kurz vor, kurz nach den Geburtstagen veranstalt‘ ich viel und schaffe Vorreiter und Voressen an; ist aber einer von den Geburtstagen da, so merk‘ ich nichts von ihm, und ich kann ihn also nicht durchfeiern. Endlich dacht‘ ich, es würde zu etwas führen und gescheut sein, wenn ich satteln ließe und schon vier Wochen vorher meinen Gevatter auf Barnabas-Tag – da fiel meine Geburt – samt den sieben lieben Kleinen invitierte, mit mir vorlieb zu nehmen. Ich saß auf und überraschte und überredete den Marschkommissär, ohne ihm jedoch etwas vom Geburtsfeste zu entdecken: ich setzte nicht eher einen Fuß in den Steigbügel, als bis er – weil er kaum aus den Reisekleidern wegen der Durchmärsche kam, die halb-frankieret waren und nicht viel anderes Geld gaben als Fersengeld – doch in meinem Beisein ein viersitziges Fuhrwerk auf Barnabas bestanden hatte. Nun hatt‘ ich alles abgetan und brauchte nicht weiter daran zu denken: ich wußte, der Kommissär vergesse nichts. – Unter dieser Zeit ließ ich das schöne Bau-Wetter nicht wieder verstreichen, sondern machte mich einmal im Ernste über die Hauptreparatur und Reproduktion meines brüchigen Hauses her. Als nun am Barnabastermin bei früher Tageszeit der alte Marschkommissar samt seiner jungen Frau und sieben lebendigen, meinetwegen in Putz gesetzten, vergnügten Kindern wirklich unten vor meinem Hause gleich ihrem Fähr- und Fuhrmann, der schon vom Bocke war, freudig auszusteigen gesonnen waren: wars eine platte Unmöglichkeit, weil um das Haus mehrere Schutt-Kettengebirge umhersaßen und weil besonders die Beine und Pfahlwerke des Gerüstes die ganze Anfurt verschränkten. – Ich selber spazierte oben auf letzterem mit einem abgekürzten strangulierten gummierten Schlafrock herum, reine Luft zu schöpfen, und guckte staunend auf den großen Kutschkasten herunter, ungemein neugierig, was wohl aus dem Kasten springe. Aber der Fuhrmann schwang sich wieder über das Rad hinauf und fuhr die Familie vor einen wohlfeilen Gasthof, an dem ich erst, weil er meinem Gerüste gegenüber stand, beim Aussteigen und Hineinziehen meinen guten Gevatter und seine geputzte Familie leicht wie Dokumente rekognoszierte. Ich ließ sie erst drüben allein essen, weil ich nicht gern schmarutziere, und dann kam ich schleunig nach. Ich trat mit dem Scherze vor ihr Tischtuch, ich könne sie heute nicht in meinen vier Pfählen, sondern in meinen zwanzig Pfählen – aufs Gerüste wird angespielet – empfangen; „aber bei uns zu Hause“, setzt‘ ich hinzu, „kann sich kaum der Mauermeister mit dem Borstpinsel umkehren.“ – Ich bekenne mit Dank – so sehr mich jetzt mein Gevatter anfeindet –, dieser letzte Nachmittag, den ich bei ihm versaß, war einer meiner heitersten. Ich nötigte ihn, die Nacht dazubleiben; und ich hielt mich beim Kommissar von Vormitternacht bis ein wenig gegen den Morgen auf, weil er, ob er gleich so schläfrig war wie seine von der Apoplexie des Schlafes um ihn hingestreckten Kinder, doch aus Zerstreuung nicht merken mußte, welche Zeit es sei: denn der Mann hat einen außerordentlich zerstreueten Kopf, und seine Gehirnkammern sind bis an die Decke mit Marschreglements vollgeschlichtet … Ich hätte an so einem vergnügten Tage noch gar wissen sollen, daß es der meiner Geburt ist.

Lilli Hill via The Art of ObesityÜberhaupt aber war ich nie für ordentliche Freß-Gelage und erschien ungern darauf. Ich war ein einziges Mal bei einer Ratsmahlzeit, die ich als Amtsvogt mitessen mußte nach der Ratswahl: denn ich habe ja schon erzählt, daß der Vorfahrer des neuen Bürgermeisters begraben worden, als ich Leichenmarschall war. Ich würde mich von allem ausgeschlossen haben, wäre nicht in einem Marktflecken wie unserem, der Stadtgerechtigkeit begehrt, Bürgermeister und Rat viel: in Rom vertauschte der Diktator den Pflug gegen das Staatsruder; – hier bei uns hält man beide leicht in einer Hand, und wir besitzen Ratsherren, denen es einerlei ist, ob sie votieren oder gerben, mähen oder strafen, an- oder unterschreiben und also die Kreide oder die Feder führen.

Bloß der närrische Ratsherr und Lohgerber Ranz bringt dem Kollegio Nachteil, weil er bei den Mahlzeiten solcher Parlamentswahlen so entsetzlich isset. Es zirkuliert über die ganze Ratsmahlzeit, zu der ich mich ex officio mit setzen mußte, und besonders über diesen Lohgerber eine hübsche Satire, die ein Unbekannter im Manuskript herumschickt und die ich hier unkastriert einrücken kann:

„Zuerst muß die Phantasie des Lesers die konsularische Tischgenossenschaft nehmen und ihr alle menschliche Glieder abschneiden, abbeißen und wegstreifen, nur Schlund und Magen ausgenommen, die wir bei der Sache keine Minute entraten können. Hierauf müssen wir, ich und der Leser, die Mägen samt ihren angeschraubten Stechhebern von Schlünden um den Tisch, auf dem die Ratsmahlzeit raucht, die der jüngste zum Ratsherrn erwählte Magen kochen lassen, titularisch auf den Stühlen herumlegen und dann zuschauen und aufschreiben, wie diese einsaugende Gefäße sich einbeißen – wie sie eintunken – wie sie austrinken – wie sie schneiden – wie sie stechen – und was sie forttragen im Magen, Darmkanal und auf dem Teller. – Aber der Gerber-Meister Ranz wirft einen langen Schatten über die ganze Tafel und übermannt und überfrisset jeden, sich ausgenommen. Eh‘ ich protokolliere: so will ich vorher sechs Bierhähne wie Quellen gegen diesen Streckteich richten und den Weiher voll lassen und die Hechte unter – Bier setzen. Nun schwimmt! –

Was uns äußerst frappieret und äußerst interessieret, ist bloß der Ratsherr und Lohgerber Ranz, der gleich der Natur voll Wunder ist und sie nun anfängt zu tun … Er bringt, als Widerspiel eines Wasserscheuen, nichts Festes in seinen Leib, aber nicht weil sein Leib selber fest ist, und genießet, als Widerspiel eines Katholiken, dieses Abendmahl unter einerlei Gestalt, nämlich unter der flüssigen, aber nicht weil er glaubt, die feste stecke schon mit darin – er schöpfet mit dem Pumpenstiefel seiner Hand alles Feuchte auf und ziehet mit den Punschlöffeln seines Wasserrades alle Suppenschüsseln in seine Schlund-Gosse und ins Magenbassin ab, nicht weil er ein Abführungsmittel damit abführen will, womit er erst morgen das heutige abzuführen gedenkt – er wischet mit seinem Brotschwamm alle Brühen weg und hält seinen Gabel-Saugstachel über jede Senf- und Meerrettich-Lache, nicht um seine Magenhaut mit dieser Gerberslohe erst gar zu machen – er setzt sich wie Schimmel auf Brot und schlägt darauf mit seinem Gebisse Wurzel, nicht weil er ein Franzos oder sein Pferd ist und Brot liebt – er macht seinen inkommensurablen Magen zum zweiten Einmachglas eines jeden Eingemachten, zur Grummetpanse eines jeden Gemüses, zum Treibscherben eines jeden Salats, nicht weil er einen Bissen Fleisch dazu absägt – er mauert das Zorngefäß und den Schmelztiegel seines Magens mit Breien aus, aber nicht weil dieser Sprünge hat und die Velutierung braucht – –

Sondern er vollführt diese schöpferische Scheidung der Wasser vom Festen, er befestiget diese Kluft zwischen seinem Teller und seinem Magen, bloß um in beiden eine gleiche Masse aufzuschütten und wegzubringen, bloß um auf dem Zimmerplatz des Tellers mit dem Eßhandwerkszeug ein Fruchtmagazin und Speisegewölbe aus Fleisch-Quadern aufzuführen für sich und seine Kinder … Beim Himmel! er sollte noch sitzen und mauern hinter seinem Viktualien-Verhau aus Beinen, Gräten und Rinden, er sollte noch schweben wie ein dürres Jahr über der Tafel und jede nasse Stelle austrocknen: so wären wir imstande, mit ihm nach Hause zu gehen, wo sich das Messer dieses Schwertfisches gerade umgekehrt nur ans Fleischige ansetzt, sobald das aus den verlaufnen Wassern abgesetzte Viktualien-Flözgebirge nur anlangt. Der Meister – und der Gesell – und die Gerberin und die Gerbersbuben – und der Dachshund bohren sich jetzt in den gebrachten Berg bis an die Fersen hinein, und wir können sie nagen hören. Fresset zu! – Hat sich euer armer Ranz, dieses ätzende fressende Mittel, nicht genug gequält, um nicht wie Knochenfraß alles anzugreifen? Hat er nicht mit allen peristaltischen Bewegungen seines Schlundes den Magen-Luftballon bloß mit Windsbräuten aufgefüllet und gehoben und mit einer Wasserhose die Blase? – Aber sollt‘ ich einmal eines außerordentlichen Typus vonnöten haben, um damit ein außerordentliches Chaos zu erläutern und anzuleuchten, das Chaos und den Zank eines Nonnenklosters oder einer Theatertruppe oder eines heiligen deutschen römischen Reichs – so bring‘ ich bloß deinen aufgesteiften gespannten Magenglobus mit seinen Brühen und Luftarten getragen als Typus, Ranz!“ …

– Ei, ganz herrlich – lieblich – und recht erwünscht und verdammt! – Ich will mir aber den Schreib-Arm absägen lassen, wenn ich hier noch einen Buchstaben schreibe. Wahrlich der Kirchner ist dagewesen, und ich hab‘ ihn über den entsetzlichen Vielfraß verpasset …

Concep. z. Amtsvogt Freudel.

[3. Es gibt weder eine eigennützige Liebe noch eine Selbstliebe, sondern nur eigennützige Handlungen]

[4. Des Rektors Florian Fälbels und seiner Primaner Reise nach dem Fichtelberg]

[5. Postskript]

Lilli Hill via The Art of Obesity

Bilder: Lilli Hill via The Art of Obesity.

Klagelied: Soggy Bottom Boys: I Am a Man of Constant Sorrow, Dick Burnett 1913,
in: O Brother, Where Art Thou?, 2000.

Written by Wolf

22. März 2019 at 00:01

Veröffentlicht in Klassik, Nahrung & Völlerei

Zwetschgenzeit (zu spät)

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Update zu Willkomm und dervoo:

Es ist nötig geworden, der Zwetschgenzeit vom Oktober 2013 ein knallhart inhaltliches Update zu verpassen. Inzwischen ist mir nämlich eine weitere Übersetzung des ganz und gar nicht einzigen Gedichts von William Carlos Williams aufgefallen, die zwingend in die Reihe gehört: noch eine oberostfränkische — das sind jene weithin als bäuerlich schwerfällig wahrgenommenen, dabei höchst leistungsfähigen Mundarten, die man als „Fränkisch“ zusammenfasst — von Fitzgerald Kusz, glatte elf Jahre vor Helmut Haberkamm.

Vor dem Vorwurf des Plagiats rettet ihn, dass es bei ihm statt Zwetschgen Käsekuchen gibt, der ebenfalls frisch aus einem Kühlschrank am besten groovt. — Hans Magnus Enzensberger ist übrigens aus Kaufbeuren gebürtiger bayerischer Schwabe.

——— William Carlos Williams:

This Is Just To Say

1962:

I have eaten
the plums
that were in
the icebox

and which
you were probably
saving
for breakfast

Forgive me
they were delicious
so sweet
and so cold

 

                ——— Hans Magnus Enzensberger:

Nur damit du Bescheid weißt

1991:

Ich habe die Pflaumen
gegessen
die im Eisschrank
waren

du wolltest
sie sicher
fürs Frühstück
aufheben

Verzeih mir
sie waren herrlich
so süß
und so kalt

 

——— Fitzgerald Kusz:

blouß daßders waßd

(nach william carlos williams)

aus: kehrichdhaffn, in: wennsdn sixd dann saxdersn.
der gesammelten gedichte erster teil,
verlag klaus g. renner, München 1981:

iich hou däi zwedschgä
gessn
wou im kiehlschrank
woän

däi wousd
aufghuum hasd
fiä dei fräihschdick

sei mä ned bäis
däi woän su goud
su säiß
und so kolld

                ——— Helmut Haberkamm:

Bloß daßders waßd

aus: Frankn lichd nedd am Meer,
ars vivendi verlag, Cadolzburg,
September 1992:

Iech hobb fei
denn Keeskuung
oogessn aufm Blech
drauß in der Speis

denn wusd
fiern Sunndooch
baggn un aufkoom
kadd hasd

Seimer nedd bees obber
der woor so saumäßi
guud nu warm so äsi
so safdi so waach

Wiliiam Carlos Williams, Please Read.

Bild: Married to Theresa via The Bibliophile Files, 8. Oktober 2013.

Soundtrack, um die oberdeutschen Dialekte zu vervollständigen:
Frauendreigsang Pomp-A-Dur: Zwetschgendatschi,
aus: Trachtler- und Musikantentreffen, 2020:

Written by Wolf

5. Oktober 2018 at 00:01

Veröffentlicht in Nahrung & Völlerei, Novecento

Sommergewinnspiel: Meine Frau, die Kinder, die Katze und ich (und die Soleier!)

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Update zu Der Weise aus dem Mörchenland und
Aber nun sangen die Gäste „Stille Nacht, Heilige Nacht“:

Berlin (das bei Polen mein ich) kann durchaus Kultur aufweisen. Glaubt man oft gar nicht. Peter Frankenfeld war da her und ließ seine Katze frei mausen, und in den Kneipen zur Zeit von Heinrich Zille standen Hungertürme.

——— Peter Frankenfeld:

Meine Katze

praktisch nicht nachweisbar:

Hier ist mein Geständnis in einem Satze:
Ich habe zu Haus eine kleine Katze!
Sie schnurrt und schmeichelt zu allen Zeiten
und wartet ergeben auf Zärtlichkeiten.

Nur geht sie leider auf eig’ne Faust
zu Nachbarsleuten und stiehlt und maust.
Die Wurst, das Fleisch — und darin ist sie eigen —
schleppt sie ins Haus, um stolz es zu zeigen.

Ob Brötchen, Gemüse, Sardinen, Salat,
ob Hering, Zitronen, Geflügel, Spinat,
ob Soleier, Fische, ob Käse, ob Speck,
das maust sie den Nachbarn vom Küchentisch weg.

Ich bete, daß nie ein Bestohl’ner aus Wut
dem Kätzchen etwas zuleide tut.
Denn davon leben wir königlich:
meine Frau, die Kinder, die Katze — und ich.

Heinrich Zille, Hungerturm, 1911, via Margit Kunzke, Soleier. Ein Klassiker vom Kneipentresen, in Kochbuch für Max und Moritz, 15. April 2015

Soleier! Die gibt’s ja auch noch:

Suchbild: Wo ist der Hungerturm mit den Soleiern?:
Heinrich Zille: Hungerturm, 1911, via Margit Kunzke: Soleier: Ein Klassiker vom Kneipentresen,
in: Kochbuch für Max und Moritz, 15. April 2015.

Und dann noch das Gewinnspiel: Wer auf dem Bild die Soleier findet, gewinnt ein einwandfreies Buch von eime zugezogenen Berliner: Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band, Erstausgabe, Suhrkamp 1981! Das ist ein ausnehmend einnehmender Knuffel von knapp 1400 Seiten, den ich seit 1985 fleißig nutze, der aber neuerdings um über 140 Seiten erweitert ist, weswegen ich einen neuen brauche. Doch, wirklich, brauch ich unbedingt. Der alte sieht benutzt aus, aber nach Patina, nicht wie ein überjähriges Solei oder so.

Aus der finanziellen Situation meiner dahingegangenen 17-jährigen Existenz heraus kann ich leider nur einen einzigen Gewinn austeilen — und weil diese überschaubare Menge aus einem einzigen wunderschönen Exemplar besteht, sollte es in gute Hände gelangen. Solange der Vorrat reicht, sollten Sie also das Zille-Bild aufmerksam betrachten und etwas antworten, das mich geneigt macht, meine Jugenderinnerung dranzugeben. Brillanz, Freundlichkeit und zwingende Begründungen sind Vorteile. An wen das feine Stück dann geht oder ob es gar bei mir bleibt, unterliegt meiner selbstherrlichen Willkür.

Lösungsversuche bitte in den Kommentarteil unten. Das Angebot gilt, sagen wir, zwei Wochen: bis 3. August 2018 um Mitternacht, ist das okay? Das mach ich rein gaudihalber, Rechtsweg schließen wir aus.

Soundtrack: Natürlich Middle of the Road: Soley Soley, aus: Acceleration, 1972, was denn sonst?

Written by Wolf

20. Juli 2018 at 00:01

Veröffentlicht in Nahrung & Völlerei, Novecento

Vor der Götter Nase

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Update zu Zeilenzähler:

Jules Laforgue fiel mehrmals durchs Abitur, endete als Vorleser der deutschen Kaiserin und starb vier Tage nach seinem 27. Geburtstag an Schwindsucht. Das Sonett über eine Zigarette schrieb er vermutlich in seiner verqualmten möblierten Künstlerbude in der rue Monsieur-le-Prince im Pariser Sechsten, im Alter von 20 Jahren, in dem man noch vor jedem Sonett ankündigen muss, dass jetzt ein Sonett kommt.

——— Jules Laforgue:

La cigarette

(Sonnet)

1880, en: Le Sanglot de la terre, posthume 1901,
I. Poésies, Mercure de France, 1922.

Oui, ce monde est bien plat : quant à l’autre, sornettes.
Moi, je vais résigné, sans espoir à mon sort,
Et pour tuer le temps, en attendant la mort,
Je fume au nez des dieux de fines cigarettes.

Allez, vivants, luttez, pauvres futurs squelettes.
Moi, le méandre bleu qui vers le ciel se tord
Me plonge en une extase infinie et m’endort
Comme aux parfums mourants de mille cassolettes.

Et j’entre au paradis, fleuri de rêves clairs
Où l’on voit se mêler en valses fantastiques
Des éléphants en rut à des chœurs de moustiques.

Et puis, quand je m’éveille en songeant à mes vers,
Je contemple, le cœur plein d’une douce joie,
Mon cher pouce rôti comme une cuisse d’oie.

——— Jules Laforgue:

Die Zigarette

(Sonett)

1880, Übersetzung: Karl Krolow:

Fad ists auf dieser Welt; dazu verrückt, ich wette!
Und ohne Hoffnung trag ichs, mein Geschick.
Zum Zeitvertreib drum, und den Tod im Blick,
Rauch vor der Götter Nase ich die Zigarette.

Auf, Lebende, und müht euch, arme, künftige Skelette!
Als blauen Dunst ich mich gen Himmel schick,
Versenk mich in Ekstase. Und ich nick
Ein wie im leisen Duft der tausend Räucherfette.

Und komm ins Paradies, im Traum aus Licht,
In dem sich unter Walzerklängen paaren
Die Elefanten geil mit Mückenscharen.

Wach ich dann auf und denk an mein Gedicht,
Seh ich den Daumen – Herz im Freudenbann! –,
Den ich versengt, als Gänsekeule an.

Vincent van Gogh, Schädel mit brennender Zigarette, 1886

Fachliteratur:

… was mich auf einem verschlungenen Gedankenpfad daran erinnert, dass wir wieder mal um die Wette und mit Ansage wildfremde Menschen portraitieren könnten. Sagt – mag jemand mitmachen?

Gegenwärtiges Skelett: Vincent van Gogh: Schädel mit brennender Zigarette,
Antwerpen, Winter 1885/1886, Öl auf Leinwand, 32 cm x 24,5 cm, Van Gogh Museum, Amsterdam;
Walzerklänge: Mélanie Pain: La cigarette, en: My Name, 2009:

Written by Wolf

1. Juli 2018 at 00:01

Veröffentlicht in Nahrung & Völlerei, Realismus

Wunder im Gehirn. Vier Bier und ein Buch de cerevisiis

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Update zu Das Beste sind die Kartoffeln und
Damit du siehst, wie leicht sich’s leben läßt:

Das Elend mit der Hanserschen Jean-Paul-Gesamtausgabe von Norbert Miller mit den Kommentaren von Walter Höllerer ist ja, dass die Herren die Nahrungsmittel nicht erklären. Nun war es am 21. März auch schon wieder fünf Jahre her, dass Jean Paul 250 Jahre alt wurde. Der Mann ist also jetzt 255 und kann gewiss einige Hilfe gebrauchen, auch beim Feiern. Selber werd ich bald zarte 50 und vertrag schon nix mehr.

——— Jean Paul:

Die unsichtbare Loge.
Eine Lebensbeschreibung.
Mumien

Karl Matzdorffs Buchhandlung, Berlin 1793,
aus: Zweiter Sektor oder Ausschnitt: Ahnen-Preiskurant des Ahnen-Grossierers – der Beschäler und Adelbrief:

Darauf fußte der Urgroßvater, der ihm sein Adeldiplom abzufluchen und abzubetteln suchte, um es für sein eignes auszugeben: „Denn wer Teufel weiß es,“ sagte er, „dir hilft es nichts, und ich heft‘ es an meines.“ Ja der Ahnen-Kompilator, der Urgroßvater, wollte christlich handeln und bot dem Roß- und Ahnentäuscher für den Brief einen unnatürlich schönen Beschäler an, einen solchen Großsultan und Ehevogt eines benachbarten Roß-Harems, wie man noch wenige gesehen. Aber der Stammhalter drehte langsam den Kopf hin und her und sagte kalt „ich mag nicht“ und trank Zerbster Flaschenbier. Da er ein paar Gläser von Quedlinburger Gose bloß versucht hatte, fing er schon an, über das Ansinnen zu fluchen und zu wettern; was schon etwas versprach. Da er etwas Königslutterischen Duckstein, denk‘ ich, daraufgesetzt hatte (denn Falkenberg hatte einen ganzen Meibomium de cerevisiis, nämlich seine Biere, auf dem Lager): so ging er gar mit einigen Gründen seines Abschlagens hervor, und die Hoffnung wuchs sehr.

Als er endlich den Breslauer Scheps im Glase oder in seinem Kopfe so schön milchen fand: so befahl er, das Luder von einem elenden Beschäler in den Hof zu führen – – und da er ihn etwa zwei- oder dreimal mochte haben springen sehen: so gab er dem Urgroßvater die Hand und zugleich die 128 Ahnen darin.

Auf so engem Raum so viel zu trinken. Man merkt, dass Jean Paul fränkische Kneipen gewohnt war, und sein bevorzugtes „bitteres, braunes [Bayreuther] Bier“ (brieflich) ist noch nicht einmal dabei (historisch möglich wäre Becher-Bräu). Für die tiefreichende Tradition des Brauereigewerbes spricht, dass so zufällig wie beiläufig erwähnte Biersorten in einer fiktiven Biographie aus dem 18. Jahrhundert noch anno 2018 florieren.

  1. Zerbster Flaschenbier:

    ——— Alt-Zerbst: Das Zerbster Bier:

    Den Hunger stillt die Brägenwurst;
    Das Bitterbier, es löscht den Durst.

    In den Zerbster Bitterbierstuben, welche meist Fleischerei und Gastwirtschaft miteinander vereinten, konnte man einem nur schwer wiederstehen:

    die nach Zwiebeln riechende köstliche und ziemlich fette Zerbster Brägenwurst!

    Das Zerbster Bitterbier war wohl der bekannteste Exportschlager seit dem Mittelalter den Zerbst zu bieten hatte.

    Bereits 1375 hatten sich schon die Brauer zu einer Innung zusammen geschlossen.

    Der letzte bekannte Brauort des beliebten Bieres war die Ratsbrauerei (später Friedrichs) auf der Schleibank.

    Zerbster Scherzfrage

    Nenne ein ehemaliges Zerbster Erzeugnis, in dem jeder in dem Wort enthaltene Buchstabe zweimal vertreten ist???

    „Bitterbier“

    Prosit aus Zerbst

    ~~~\~~~~~~~/~~~

  2. Quedlinburger Gose:

    ——— Gose: Geschichte der Gose:

    Unbestätigten Überlieferungen zufolge soll der römisch-deutsche König und spätere Kaiser Otto III. bereits um das Jahr 1000 ein Liebhaber der Gose gewesen sein, die er bei Besuchen seiner Schwester Adelheid im Stift Quedlinburg trank.

    ~~~\~~~~~~~/~~~

  3. Königslutterisches Duckstein:

    Duckstein Bier Beschreibung 1723Duckstein Bier ist mir persönlich bekannt, weil das die Donaldisten gern auf ihren Zusammenkünften — Kongresse, Zwischenzeremonien, Mairennen und, wenn’s geht, den Stammtischen — verwenden. Natürlich wegen des Namens, aber der Stoff ist auch sonst uneingeschränkt zu empfehlen. Er schmeckt, sagen wir, diamanten. Glauben Sie mir, die Jungs — es sind eher wenige Mädels — verstehen zu leben. Auf der Bierseite erfahren wir von den Brauern und Mälzern selbst:

    ——— Duckstein Bier: Markenwelt. Tradition:

    Die Geschichte von Duckstein beginnt in der Domstadt Königslutter am Elm. Das hier gebraute Bier wurde zunächst „Luttersches Bier“ genannt, aber nach und nach setzte sich der Name „Duckstein“ durch, der sich von „Tuffstein“ ableitet, der mächtigen Kalksinterschicht, auf der die Stadt erbaut ist.

    Urkundliche Erwähnung fand Duckstein erstmalig in einem Gildebrief aus dem Jahre 1640. Innerhalb kürzester Zeit schaffte es die Bierspezialität in die besten Kreise: 1713 galt es als das Lieblingsbier des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm I. und fand im berühmten Tabakkollegium zahlreiche Liebhaber.

    Bald darauf erfreute sich das rotblonde Bier auch überregional immer größerer Beliebtheit. Kein Wunder! Denn früher wie heute wird ein Duckstein nur mit erlesenen Zutaten gebraut und besitzt einen unvergleichbaren Geschmack.

    ——— Duckstein (Bier): Geschichte des Duckstein-Biers:

    Duckstein-Bier wurde seit dem 17. Jahrhundert in Königslutter am Elm von bis zu 73 berechtigten Brauhäusern in der Stadt als obergäriges Weizenbier gebraut. Das Bier war von gelblicher Farbe, schmeckte süßlich und soll gegen vielerlei Krankheiten gut gewesen sein. Zutaten waren Weizen, etwas Hopfen und das Wasser des Baches Lutter, der mitten durch Königslutter fließt. Das harte Wasser der naheliegenden Lutter-Quelle am Elm eignete sich zum Brauen dieses Bieres besonders wegen seines hohen Mineralstoffgehaltes (Calcium- und Hydrogencarbonat). Der Bach entspringt dem größtenteils aus Kalkgestein aufgebauten Höhenzug Elm und schied im Bachbett in jüngeren geologischen Zeiten Kalktuff (Travertin) ab. Das gesteinsähnliche Material wird auch als „Duckstein“ bezeichnet und gab der Biermarke den Namen. […]

    Das heute unter der Marke Duckstein angebotene Bier wird nicht mehr in Königslutter gebraut.

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  4. Breslauer Scheps:

    ———- Kölner Bierhistoriker e. V.:
    … auf den Spuren (fast) vergessener Bierrezepturen und Brautraditionen …:

    Breslauer Scheps

    Einleitung

    Das Breslauer (weiße) „Scheps“ oder vielfach auch „Schöps“ geschrieben, war vermutlich ein nicht-saurer Weizenbock. Der Name bedeutet vermutlich „kastriertes Hausschaf“, also Hammel, vom slawischen Lehnwort „skopez“ stammend. Es wurde auch „toller Wrangel“ oder lateinisch „Cerevisia Uratislaviensis“ genannt. Von Julius Ludwig Gumbinnen (1846) wird es zu den böhmischen und obersächsischen Bieren gezählt.

    Gedichte

    Scheps steiget ins Gesicht,
    braucht keine Leiter nicht;
    Er sitzet in der Stirn,
    wirkt Wunder im Gehirn.

    Sie brauchen keinen welschen Wein,
    nichts von Bacharach am Rhein,
    Ihren Hals zu netzen,
    auch nichts vom Kretenser Saft,
    Schöps kann schon mit seiner Kraft
    sie genug ergötzen.
    Hier zu Bressel in der Stadt
    dieser Trunk den Ursprung hat.
    Von drei guten Sachen:
    Hopfensamen, Weizengetreid,
    wohl Wasser abgebräut,
    solch Getränke machen.

    Rezepte

    >>> Die Seite wird aktuell überarbeitet <<<

    Literatur

    Annemüller, Gerolf; Manger, Hans J.; Lietz, Peter: Die Berliner Weiße. Ein Stück Berliner Geschichte. 1. Aufl. Berlin: VLB Berlin, 2008

    Gumbinnen, Julius Ludwig: Handbuch der praktischen Bierbrauerei. 2. Band, Stuhr’sche Buchhandlung Berlin, 1846, unveränderter Nachdruck

    ——— Die Breslauer Bier-Legende: Über die Schöps-Biere:

    Was ist über den „Breslauer Schöps“ im Wesentlichen zu sagen?

    Eindeutig belegt sind zwei obergärige Varianten.

    Das ist einmal der „Schwarze Schöps“, welcher den sogenannte „Ur-Schöps“ darstellt, also die Variante die zuerst gebraut wurde und die auch für die Namensgebung verantwortlich ist.

    In allen Beschreibungen und Überlieferungen wird deutlich, daß es sich hierbei um ein dunkles, starkes, sowie nahrhaftes und sehr süffiges Weizenbier handelte, das aufgrund seiner Eigenschaften sehr beliebt war und wegen dieser Tatsachen von den damaligen Ärzten auch gerne als unterstützende Maßnahme beim Heilungsprozess mitverordnet wurde. Schon aus den verschiedenen Beschreibungen ist zu erkennen, daß es wohl vom Stammwürzegehalt höher, dehalb alkoholhaltiger und somit auch restzuckerhaltiger (deswegen süßer) und somit auch süffiger war, als andere Biere. Und süffigere Biere hatten schon immer den Vorteil, daß sie von der Mehrheit des Publikums bevozugt wurden. Deshalb wohl auch der große Erfolg des „Schwarzen Schöps“ über Jahrhunderte hinweg. All dieses und natürlich die Braukunst der Breslauer Brauer haben letztlich zur Erfolgsgeschichte des „Schöps“ beigetragen.

    Später, im 18. Jahrhundert, kam dann auch der „Weiße Schöps“ (ein helles Hefeweizen mit ähnlichen Eigenschaften wie der „Schwarze Schöps“) auf, der alsbald aber dem „Schwarzen Schöps“ den Rang ablief. Das lag wohl an der damaligen Zeit und dem sich damals geänderten Geschmack des Publikums, welches, wie anderswo auch, halt immer mehr zum „Weissbier“ tendierte. Und auch diese helle Schöps-Variante war überaus erfolgreich und wurde von den Breslauer Kretschmern (Hausbrauern) bis ins 19. Jahrhundert hinein gebraut und geschänkt, während sich die normalen Brauereien schon früher vom Schöps lossagten und immer mehr untergäriges Braunbier nach „Münchner Art“ herstellten.

    Und auch dieses wurde noch lange Zeit „Schöps“ genannt, woraus zu schließen ist, daß der Name „Schöps“ irgendwann schlechthin als Synonym für gute Schlesische Biere, insbesondere für solche aus Breslau benutzt wurde.

    Bevor der „Schöps“ aufkam dominierte das „Schweidnitzer Bier“ in Breslau und in Schlesien, wurde aber dann vom „Breslauer Schöps“ verdrängt. Manchmal wird auch vom „Schweidnitzer Schöps“ gesprochen, was aber so nicht richtig ist. In diesem Fall steht „Schöps“ lediglich für „gut und beliebt“. Die Schweidnitzer wollten trotzdem noch einmal an die Hoch-Zeit ihrer Biere anknüpfen und nannten ihr Gebräu zeitweise wohl auch „Schöps“. Weil es aber nie die Qualität und Beliebtheit des „Breslauer Schöps“ erlangte, wurde es von der Bevölkerung spottenderweise nur „Stähr“ (Widder) genannt. […]

    ~~~\~~~~~~~/~~~

Fatal Women, 7. Oktober 2017Soweit war ich, als ich bemerkte, wie viel mehr Spaß es macht, über Bier zu reden, als nach Bildern davon zu suchen: Bier als — siehe oben — traditionsreiche Einrichtung entspringt sozialen und kommunikativen Bedürfnissen. Daher begreift es als seinen Job, von echten Leuten getrunken, nicht abgebildet zu werden. In den Geschichten der echten Leute fortzuleben, scheint ihm in Ordnung. Jean Paul kannte mehr als die vier gerade abgehandelten Biersorten, hat von allen gern erzählt und mehr als einmal seinen Wohnort nach seinen liebsten ausgesucht. Nicht auszudenken, was er von den heute üblichen zu Tode ausgeleuchteten Bildern von Bier gehalten hätte. Ebenso beiläufig wie das Bier erwähnt er das Fachbuch dazu:

Falkenbergs Meibomium de cerevisiis ist Johann Heinrich Meibom (1590 bis 1655): laut Kommentar der Gesamtausgabe von Walter Höllerer: Librum de vino et cerevisiis, posthum erschienen; anderweitig nachweisbar — in Pierer’s Universal-Lexikon und Johann Traugott Leberecht Danz: Versuch einer allgemeinen Geschichte der menschlichen Nahrungsmittel, Band 1 — als: De Cerevisiis poibusque et inebriaminibus extra vinum aliis, Helmstedt 1668.

Ein 125 Jahre altes Buch über Wein und Bier, das noch gilt. Ein lateinisches. Nein, da muss man sich heute auch nicht verschroben dabei vorkommen, einen 255. Geburtstag zu feiern. Falls gerade kein Becher-Bräu zur Hand ist, wäre wohl extrabitteres Pils passend oder alles aus Franken. Damit kann man nichts falsch machen.

Bilder: Das Zerbster Bier; Duckstein Bier; Fatal Women, 7. Oktober 2017.

Soundtrack, weil mir bei der bloßen Erwähnung der Stadt Zerbst unweigerlich Insterburg & Co. einfallen, und von denen ihr unsterbliches Meisterwerk Ich liebte ein Mädchen, aus: Laßt uns unsern Apfelbaum und andere brandneue Ladenhüter, 1970, als Single erst 1974 ein Hit, das ich mal zur Klampfe auswendig hersingen konnte:

Ich liebte ein Mädchen in Meißen,
die tat mir die Hose zerreißen,
ich liebte ein Mädchen im schönen Zerbst,
da hielt die Hose bis zum Herbst.

Wie schön, nach so vielen Jahren mal wieder das Lied aufzusuchen, um zu erfahren, dass es einen Extended Remix von 1995 gibt. In dem Zerbst gar nicht mehr vorkommt. Irgendwas ist ja immer:

Written by Wolf

23. März 2018 at 00:01

Veröffentlicht in Klassik, Nahrung & Völlerei

Gute Vorsätze 1650–2018

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Update zu Cit. Schmidt, A., Faust IV, 1960
und Historische Post vom Verleger:

——— Friedrich von Logau:

Das neue Jahr.

1650, aus: Salomons von Golaw deutscher Sinn-Getichte andres Tausend.
Desz andren Tausend andres Hundert:

Son verschwommenen Lyriker-Typ, Will lieber nicht kritisiert werden, dafür aber Radioaufträge. Großmeister Schmidt, in Bargfeld residierend, ca. 1972Abermals ein neues Jahr! immer noch die alte Noth! —
O das Alte kümmt von uns, und das Neue kümmt von Gott.
Gottes Güt ist immer neu; immer alt ist unsre Schuld;
Neue Reu verleih‘ uns Herr und beweis‘ uns alte Huld!

——— Arno Schmidt:

Aus dem Leben eines Fauns

1953, Bargfelder Studienausgabe Band 1, Seite 335:

Müssen gute Vorsätze gehalten werden, oder ist es ausreichend, daß man sie faßt ? !

~~~\~~~~~~~/~~~

Bild: So’n verschwommenen Lyriker-Typ: Will lieber nicht kritisiert werden, dafür aber Radioaufträge: Großmeister Schmidt, in Bargfeld residierend, ca. 1972,
via Tilman Spreckelsen: Der erste Leser. Martin Walser und Arno Schmidt,
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. März 2017.

Alte Schuld und neue Reu: Anti Cornettos: Korsakov Syndrom, aus: Dohuggandedeoiweidohuggan, 2014:

Written by Wolf

1. Januar 2018 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Nahrung & Völlerei

Romantische Bieronie (Dei Ironiezeigl konnst sejwa saffa)

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Update zu Isarathen ist die nördlichste Stadt Italiens und
Große Zusammenkünfte, die mehr einer Feierlichkeit als einem geselligen Vergnügen gleichen:

Zur Eröffnung des Oktoberfestes 2017 kann man sich nur mehr ironisch im nicht-aristotelischen Sinne äußern. Der letzte Teil ab „und ein mitleidig ledernes Lächeln“ erscheint nur im Manuskript und einigen Drucken in Heines Werkausgaben, von Heine autorisierter Text ist er nicht.

——— Heinrich Heine:

Reise von München nach Genua

Kapitel III, aus: Reisebilder. Dritter Teil, 1830:

Daß man aber die ganze Stadt ein neues Athen nennt, ist, unter uns gesagt, etwas ridikül, und es kostet mich viele Mühe, wenn ich sie in solcher Qualität vertreten soll. Dieses empfand ich aufs tiefste in dem Zweigespräch mit dem Berliner Philister, der, obgleich er schon eine Weile mit mir gesprochen hatte, unhöflich genug war, alles attische Salz im neuen Athen zu vermissen.

„Des“, rief er ziemlich laut, „gibt es nur in Berlin. Da nur ist Witz und Ironie. Hier gibt es gutes Weißbier, aber wahrhaftig keine Ironie.“

„Ironie haben wir nicht“, rief Nannerl, die schlanke Kellnerin, die in diesem Augenblick vorbeisprang, „aber jedes andre Bier können Sie doch haben.“

Marie-Geneviève Bouliar, Selbstportrait als Aspasia, 1794Daß Nannerl die Ironie für eine Sorte Bier gehalten, vielleicht für das beste Stettiner, war mir sehr leid, und damit sie sich in der Folge wenigstens keine solche Blöße mehr gebe, begann ich folgendermaßen zu dozieren: „Schönes Nannerl, die Ironie is ka Bier, sondern eine Erfindung der Berliner, der klügsten Leute von der Welt, die sich sehr ärgerten, daß sie zu spät auf die Welt gekommen sind, um das Pulver erfinden zu können, und die deshalb eine Erfindung zu machen suchten, die ebenso wichtig und eben denjenigen, die das Pulver nicht erfunden haben, sehr nützlich ist. Ehemals, liebes Kind, wenn jemand eine Dummheit beging, was war da zu tun? Das Geschehene konnte nicht ungeschehen gemacht werden, und die Leute sagten: ‚Der Kerl war ein Rindvieh.‘ Das war unangenehm. In Berlin, wo man am klügsten ist und die meisten Dummheiten begeht, fühlte man am tiefsten diese Unannehmlichkeit. Das Ministerium suchte dagegen ernsthafte Maßregeln zu ergreifen: bloß die größeren Dummheiten durften noch gedruckt werden, die kleineren erlaubte man nur in Gesprächen, solche Erlaubnis erstreckte sich nur auf Professoren und hohe Staatsbeamte, geringere Leute durften ihre Dummheiten bloß im verborgenen laut werden lassen; – aber alle diese Vorkehrungen halfen nichts, die unterdrückten Dummheiten traten bei außerordentlichen Anlässen desto gewaltiger hervor, sie wurden sogar heimlich von oben herab protegiert, sie stiegen öffentlich von unten hinauf, die Not war groß, bis endlich ein rückwirkendes Mittel erfunden ward, wodurch man jede Dummheit gleichsam ungeschehen machen und sogar in Weisheit umgestalten kann. Dieses Mittel ist ganz einfach und besteht darin, daß man erklärt, man habe jene Dummheit bloß aus Ironie begangen oder gesprochen. So, liebes Kind, avanciert alles in dieser Welt, die Dummheit wird Ironie, verfehlte Speichelleckerei wird Satire, natürliche Plumpheit wird kunstreiche Persiflage, wirklicher Wahnsinn wird Humor, Unwissenheit wird brillanter Witz, und du wirst am Ende noch die Aspasia des neuen Athens.“

Ich hätte noch mehr gesagt, aber das schöne Nannerl, das ich unterdessen am Schürzenzipfel festhielt, riß sich gewaltsam los, als man von allen Seiten „A Bier! A Bier!“ gar zu stürmisch forderte. Der Berliner aber sah aus wie die Ironie selbst, als er bemerkte, mit welchem Enthusiasmus die hohen schäumenden Gläser in Empfang genommen wurden; und indem er auf eine Gruppe Biertrinker hindeutete, die sich den Hopfennektar von Herzen schmecken ließen und über dessen Vortrefflichkeit disputierten, sprach er lächelnd: „Das wollen Athenienser sind?“ und ein mitleidig ledernes Lächeln zog sich um die hölzernen Lippen des Mannes, als er auf eine Gruppe Biertrinker hinzeigte, die sich das holde Getränk von Herzen schmecken ließen, und über die Vorzüglichkeit des diesjährigen Bockes disputierten. „Das wollen Athenienser sind? — — —“

Zeit und Ort der Handlung sind die Bockbierzeit 1830, das ist etwa ein Vierteljahr vor dem 20. Oktoberfest, und wie man erst im darauffolgen Kapitel IV und über das Literaturportal Bayern erfährt, weitab vom Oktoberfestgelände der Ludwigsvorstädter Theresienwiese, in Bogenhausen:

das längst verschwundene Schlößchen des Grafen von Törring-Jettenbach am Hochufer der Isar gegenüber dem St. Georgs-Kirchlein von Johann Michael Fischer; die Neuberghauserstraße erinnert seit 1897 daran. In diesem Edelsitz wohnte kurzfristig der bayerische Finanzminister Johann Wilhelm von Hompesch bis zu seinem Tod 1809. Mit dem „Montgelasgarten“ des nahe gelegenen Edelsitzes Stepperg des Freiherrn von Montgelas hat Neuberghausen allerdings nichts zu tun. In dem einstigen Schlösschen wurde stattdessen Anfang 1828 eine Ausflugsgaststätte eröffnet, die bald gut florierte. Hier saß Heinrich Heine als einer der ersten Gäste und hatte noch den freien Blick auf die Alpenkette, und eben hier wurde ihm ein besonders schönes Denkmal gesetzt, das alle Widrigkeiten der Zeit überdauert hat.

Und eben nicht der unsäglich nichtssagende Gusseisenkäfig von 1962 im Dichtergarten, mit dem die Stadt München wehrlose, weil verstorbene Schreibarbeiter verunglimpfen zu müssen glaubt und der — typisch für München — ein abgelegener Teil des Finanzgartens ist. Übrigens, Kapitel IV, a. a. O.:

Das Bier ist an besagtem Orte wirklich sehr gut, selbst im Prytaneum, vulgo Bockkeller, ist es nicht besser, es schmeckt ganz vortrefflich, besonders auf jener Treppenterrasse, wo man die Tiroler Alpen vor Augen hat. Ich saß dort oft vorigen Winter und betrachtete die schneebedeckten Berge, die, glänzend in der Sonnenbeleuchtung, aus eitel Silber gegossen zu sein schienen.

Und unsereins soll auf einem „Volksfest“ 2017 für rund 0,8 Liter Bier knapp elf Euro zahlen und bloß nicht glauben, die Bedienung gäbe sich übertrieben lange mit dem Kramen nach Wechselgeld ab, wenn sie erst einen Zwanziger in der Hand hat. Das ist nicht-aristotelische Ironie.

Neuberghausen, Lithorgraphie 1830 via Literaturportal Bayern

Buidln: Marie-Geneviève Bouliar: Selbstportrait als Aspasia, 1794,
Öl auf Leinwand, 123 cm auf 127 cm, Musée des beaux-arts d’Arras;
„Neuberghausen“, Lithographie mit Tondruck, ca. 1830. „Im Hintergrund das ehem. Törring- und nachher Hompesch-Schlößchen, spätere Gasthaus Neuberghausen. Dasselbe bildete Mitte des vorigen Jahrhunderts Winter wie Sommer einen Vereinigungspunkt der vornehmen Welt zu den Kaffee-Nachmittagsstunden; große Tanzunterhaltungen zeichneten sich durch einen sehr heiteren Ton aus.“ Abb. 233 in: Alt-Münchner Bilderbuch. Ansichten aus dem alten München aus der Monacensia-Sammlung Zettler. München 1918. Legende ebd., S. 26,
via Dr. Dirk Heißerer: Ironie haben wir nicht. München, Bogenhausen: Neuberghauserstraße,
Literaturportal Bayern.

Soundtrack: LaBrassBanda featuring Stephan Remmler: Keine Sterne in Athen,
aus: Kiah Royal, unplugged im Kuhstall, Höllthal bei Seeon 2014:

Written by Wolf

15. September 2017 at 00:01

Weinfassreiten an der Küste der Nacht (oder geschah es bei Tage)

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Update zu Ich trinke ein Glas Burgunder!
und Wein-Lese:

Ich hab‘ ihn selbst hinaus zur Kellerthüre –
Auf einem Fasse reiten sehn – –
Es liegt mir bleyschwer in den Füßen.

Sich nach dem Tische wendend.

Mein! Sollte wohl der Wein noch fließen?

Altmayer in Auerbachs Keller, Vers 2329 ff.

Angelika Fischer, Berlin, in Bamberg für Tilman Spreckelsen, Der goldene Kopf. Wer auf den Spuren E. T. A. Hoffmanns durch Bamberg geht, reist in die Ferne des frühen 19. Jahrhunderts, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, Freitag, 21. April 2017, aus Jürgen Hultenreich, Text, und Angelika Fischer, Fotos, Das Bamberg des E. T. A. Hoffmann. Wegmarken. Lebenswege und geistige Landschaften, Edition A. B. Fischer, Berlin 2016

Dem rezenten Literatur- und Weinverbraucher auf nimmermüder Suche nach seinen Konsumgütern muss nicht automatisch klar sein, was dieser viel und gerne besungene Burgunder genau ist, und ob es überhaupt noch welchen gibt, und wenn ja, welchen davon E. T. A. Hoffmann sich in den Gastwirtschaften seines Vertrauens an (und unter) den Tisch reichen ließ — was nicht einmal zwingend der Einfalt besagten Verbrauchers geschuldet sein muss: Hoffmanns Bamberger Stammkneipe ist ohne Google Maps kaum zu eruieren, und für seine favorisierte Burgundersorte muss man ganz schön in obskuren Insel-Taschenbüchern gründeln. Die Bamberger Altstadt ist seit 1993 UNESCO-Weltkulturerbe; was also gedenkt das dasige Tourismus-Marketing, das schon zugelassen hat, dass jemand oder etwas in eine einwandfreie Kneipe ein Steak- und Fischrestaurant am Rande der Eventgastronomie hineinstellen darf, gegen sotane Missstände zu unternehmen?

Natürlich so wenig wie möglich; den Leuten, die für einen „Fischteller Hoffmanns“ aus verschiedenen Fischfilets, Garnele (im Singular), Ratatouille und Kartoffeln 19 Euro blättern (Stand Ende Juli 2017), taugt’s. Wir müssen also wieder alleine schauen, wo wir bleiben, und finden in der FAZ, was sie offenbar aus einem knapp zehnminütigen Youtübchen von „Kulturkäffchen“ recherchiert hat:

Angelika Fischer, Berlin, in Bamberg für Tilman Spreckelsen, Der goldene Kopf. Wer auf den Spuren E. T. A. Hoffmanns durch Bamberg geht, reist in die Ferne des frühen 19. Jahrhunderts, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, Freitag, 21. April 2017, aus Jürgen Hultenreich, Text, und Angelika Fischer, Fotos, Das Bamberg des E. T. A. Hoffmann. Wegmarken. Lebenswege und geistige Landschaften, Edition A. B. Fischer, Berlin 2016

——— Tilman Spreckelsen:

Der goldene Kopf.
Wer auf den Spuren E. T. A. Hoffmanns durch Bamberg geht,
reist in die Ferne des frühen 19. Jahrhunderts

aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Freitag, 21. April 2017:

Der Weinhändler Kunz berichtet von Besuchen seines Freundes im Gewölbekeller seines Hauses am Grünen Markt im Zentrum der Stadt. Das prächtige Gebäude steht noch, der Keller, heute wie leergefegt, ist auch noch da, und dort, schreibt Kunz, hätten die Freunde regelmäßig einen bestimmten Burgunder aus dem Anbaugebiet Côte de Nuits getrunken – und zwar so, „dass wir beide unsern Platz auf dem Fasse selbst nahmen und auf den entgegengesetzten Enden desselben, Gesicht gegen Gesicht gekehrt, triumphierend ritten. Jeder hielt das gefüllte Glas in der Hand, der offene Spund blieb in der Mitte“.

Den ganzen FAZ-Artikel wert ist allerdings das verwendete Bildmaterial, das er sinnigerweise von der Berliner Fotografin Andrea Fischer bezieht und das ich hier dankbar weiterverwende. Schwarzweiß mit durchgehender Tiefenschärfe, das ist sowieso die Feenkönigin unter den Fototechniken.

So dünn der Artikel auch sonst daherkommt — mit wie viel dickeren Brettern könnten wir denn mehr anfangen? Ein ganz und gar erfreulicher und tragfähiger Lerninhalt ist doch die genaue Weinsorte, die Hoffmann in einer wichtigen Lebensphase bevorzugte — und dass es die sogar noch zu kaufen gibt, woran wir Postmodernen ja in den Fällen des Burgunders im allgemeinen und Karl Simrocks Menzenberger Eckenblut im besonderen schnell scheitern. „Das Stöffchen, das einst E.T.A. Hoffmann befeuert hat, aber nicht namentlich überliefert ist“, das ich noch in der Weinlesezeit 2016 in Wein-Lese vorschnell der Verschollenheit überantworten musste, ist damit als Côte de Nuits benannt.

Nicht nachzuweisen war dagegen der Weinhändler Cagiorgi, den seinerseits der Bamberger Weinhändler Kunz eingangs erwähnt, den wir wiederum in dem oben erwähnten obskuren Insel-Taschenbuch vernehmen: Julius Eduard Hitzig: E. T. A. Hoffmanns Leben und Nachlaß, zuerst erschienen 1823. Des Händlers Erinnerung ist darin als Fußnote versteckt. Noch genauer kriegen wir’s in diesem Leben nicht mehr:

Angelika Fischer, Berlin, in Bamberg für Tilman Spreckelsen, Der goldene Kopf. Wer auf den Spuren E. T. A. Hoffmanns durch Bamberg geht, reist in die Ferne des frühen 19. Jahrhunderts, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, Freitag, 21. April 2017, aus Jürgen Hultenreich, Text, und Angelika Fischer, Fotos, Das Bamberg des E. T. A. Hoffmann. Wegmarken. Lebenswege und geistige Landschaften, Edition A. B. Fischer, Berlin 2016

——— Carl Friedrich Kunz:

Hoffmann bezog, seinem Verlangen gemäß, von dem Weinhändler Cagiorgi, gegen eine von mir ausgestellte Anweisung, auf meine Rechnung 24 Bouteillen Burgunder. Der genannte Nuits ist bekanntlich eine vorzügliche Gattung dieses Weines, den Hoffmann während seines Bamberger Aufenthaltes besonders verehrte und sich mit mir in meinem Keller trefflich schmecken ließ. Was werden aber die profanen Leute und Philister dazu sagen, wenn ich versichere, daß dieser Nuits aus Ehrfurcht vor seiner geheimnißvollen Kraft und seinem gewürzreichen Bouquet nur in seinem Elemente, der Nacht, oder geschah es bei Tage, doch nur in der zauberisch dunkeln Umhüllung des Kellers von uns genossen ward?! Zuweilen pflegte es sogar zu geschehen, daß wir beide unsern Platz auf dem Fasse selbst (einer sogenannten Piece) nahmen, und auf den entgegengesetzten Enden desselben, Gesicht gegen Gesicht gekehrt, triumphirend ritten. Jeder hielt das gefüllte Glas in der Hand, der offene Spund blieb in der Mitte, in welchem die blecherne Pumpe, als stets bereitwillige Hebe, bis die Gläser geleert waren, nachlässig ruhte. — Daß aber hier nicht auf gemeine Weise gezecht, sondern auf die geistreichste und gemüthlichste Art sich des heitern Lebens gefreut warb, darf ich ebenfalls versichern. — Die allerdings höchst komische Attitude gab Hoffmann Veranlassung zu einer trefflich kolorirten Zeichnung, die ich leider, wie so viele, ungestümen Bitten nachgebend, nicht mehr besitze. — Dies ächt Tenier’sche Genrebild bezeichnete den Moment, wo, als wir eben beide ganz gemüthlich auf dem Fasse gegenüber sitzen, und im Begriffe stehen, unsere Gläser an einander zu klingen, ein mit einem heftigem Donnerschlage verbundener Blitz durch die Kelleröffnungen zuckt, und unsere von Schrecken grimassirten Gesichter hell erleuchtet darstellt. — Das Bild war kein Phantasiestück, sondern einer wirklich erlebten Scene entnommen, Honny soit qui mal y pense!

Mit dem Weinhändler höchstselbst Saufspiele veranstalten. Will man wirklich wissen, unter Einsatz welcher inneren Organe ein Mensch es so weit im Leben bringt? Und ist das wirklich wahr, dass ich gerade den Job der Bamberger Tourist-Information verrichte?

Angelika Fischer, Berlin, in Bamberg für Tilman Spreckelsen, Der goldene Kopf. Wer auf den Spuren E. T. A. Hoffmanns durch Bamberg geht, reist in die Ferne des frühen 19. Jahrhunderts, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, Freitag, 21. April 2017, aus Jürgen Hultenreich, Text, und Angelika Fischer, Fotos, Das Bamberg des E. T. A. Hoffmann. Wegmarken. Lebenswege und geistige Landschaften, Edition A. B. Fischer, Berlin 2016

Bilder: Angelika Fischer, Berlin, in Bamberg für Tilman Spreckelsen: Der goldene Kopf. Wer auf den Spuren E. T. A. Hoffmanns durch Bamberg geht, reist in die Ferne des frühen 19. Jahrhunderts, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Freitag, 21. April 2017, aus: Jürgen Hultenreich (Text) und Angelika Fischer (Fotos): Das Bamberg des E. T. A. Hoffmann (Wegmarken. Lebenswege und geistige Landschaften), Edition A. B. Fischer, Berlin 2016:

  1. „Am 1. September 1808 kam das Ehepaar Ernst Theodor Amadeus und Marianna, genannt Mischa, in Bamberg an – allein, die gemeinsame Tochter Cäcilia war kurz zuvor zweijährig verstorben. Der zweiunddreißigjährige Hoffmann, der Jura studiert hatte und mit dem Zusammenbruch Preußens arbeitslos geworden war, hatte nun eine Stelle als Musikdirektor am Bamberger Theater bekommen. Das Ehepaar wohnte anfangs in einem Haus direkt am Regnitzkanal. Allerdings gab es von Anfang an Ärger mit der Vermieterin, die dem Musiker das Klavierspielen verbieten wollte. Die Hoffmanns zogen ein paar Häuser weiter.“;
  2. „In dem schmalen Wohnhaus in der Bildmitte bewohnte das Ehepaar Hoffmann die beiden obersten Etagen.“;
  3. „Blick auf die Stephanskirche“;
  4. „Im Weinkeller seines Freundes Kunz am Grünen Markt pflegte Hoffmann auf einem Fass zu reiten.“

Soundtrack zum Getränkemissbrauch: die angenehm durchgeschmorte Feenkönigin
Camille: Fontaine de lait, aus: OUÏ, 2017:

Written by Wolf

11. August 2017 at 00:01

Veröffentlicht in Nahrung & Völlerei, Romantik

Das Beste sind die Kartoffeln

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Update zu Erdäpfelgulasch,
Schwarze Butter
und Jean Paul, sein erster Kuss, meine Bedienung und ich
— und wegen erhöhter Wichtigkeit noch zu
Moral, das ist wenn man moralisch ist, versteht Er. (Kartoffeln schmälzen):

Aus der Liebe will ich wie aus den Kartoffeln verschiedene Gerichte zubereiten.

Jean Paul: Titan, Zweiter Band, Dreizehnte Jobelperiode, 61. Zykel, 1801.

Das sind im Direktvergleich Jean Paul, 35-jährig im Gleimhaus zu Halberstadt 1798 von Heinrich Pfenninger gemalt, und noch einmal Jean Paul, 47-jährig 1810 von Friedrich Meier gemalt:

Heinrich Pfenninger, Jean Paul, 1798Friedrich Meier, Jean Paul, 1810

Carl Christian Vogel von Vogelstein, Jean Paul, 1822In den zwölf Jahren zwischen beiden Dichterportraits scheint also einiges vorgefallen. Weniger als in den zwölf Jahren darauf, denn das Jean-Paul-Portrait mit Bleistift, weiß gehöht, von Carl Christian Vogel von Vogelstein 1822 weist bei dem 59-Jährigen schon weit weniger zusätzliche Lebensspuren auf.

Die Wunsiedeler Diplom- und Food-Designerin Beate Roth hat eher spät in ihrem Leseleben Jean Paul kennen gelernt (das alte Lied: Warum ist der Mann kein Schulstoff?), sich aber umso spontaner in ihn verliebt. Vielleicht berufsbedingt hat sie alsbald bemerkt, dass es in seinen Büchern gerne was zu essen gibt, und veranstaltet seit 2011 Kochkurse nach seinen rekonstruierten Rezepten.

Wie beides zusammenhängt? — Am deutlichsten dadurch, dass es überhaupt möglich ist, Rezepte von Jean Paul zu rekonstruieren, und dass dabei doch eine ganze Fülle recht unterschiedlicher Ernährungsweisen herauskommt. Nach moderner Gebietsaufteilung wäre Jean Paul Franke — ja Oberfranke –, entstammt also einer kargen Gegend. Wunsiedel kenne ich: Da gibt’s nicht viel außer guter Luft und dem Grab von Rudolf Heß, da war Jean Paul mit seinen zahlreichen Umzügen innerhalb Deutschlands schon fast Jetset. Man mag mir ruhig glauben, dass dergleichen nicht gerade „typisch fränkisch“ ist. Nun kann es sein, dass so einer nach schmerzlich bewusst erlebten Hungerjahren erhöhten Wert auf gutes Essen legt; das ist einer von mehreren möglichen psychologischen Mechanismen.

Und siehe da, das Portrait von 1798 fällt in die Zeit nach seinem literarischen Durchbruch mit dem Hesperus 1795, die auffallende Veränderung also in die Zeit seiner Verfestigung als Erfolgsautor. Ausführlich nachweisen lässt sich auch, dass Jean Paul bei der häufig fälligen Wahl seiner Wohnorte immer auf die Qualität des lokal erhältlichen Biers geschaut hat: Stark und bitter sollte es sein, seine Briefwechsel sind voll davon, und an seinem letzten und ausdauerndsten Wohnort Bayreuth hat er sehr viel mehr Zeit in der Kneipe als zu Hause verbracht, siehe weiter unten. Seinen immer ehrwürdigeren Schwollkopf kann man deshalb auch der Sauferei zuschreiben. Ihn als langsam aufquellenden Schweralkoholiker anzusehen wäre demnach boshaft, aber korrekt. Und eine höchst plausible Erklärung.

Das Rezept für einen Humpen Bier beherrscht jeder, weil die Hauptarbeit schon von der Brauerei geleistet wurde. Den großen Rest, den Beate Roth aus Jean Pauls Ernährungsvorschlägen zusammengeklaubt hat, wurde 2013 zum 250. Geburtstag (nicht dem von Frau Roth) über den Bayerischen Rundfunk bekannt, als alle Medien „was mit Schangpaul machen“ mussten: Hoppelpoppel und Schnepfendreck, Bayerischer Rundfunk, Kultur Franken, 15. März 2013. Ich bringe im Anschluss alles, was bei Frau Roth selbst und im überlebenden Archivmaterial des Bayerischen Rundfunks aufzufinden war — und darunter noch einen Bonus, wie Sie’s von mir gewohnt sind. Persönlich nachgekocht hab ich noch nichts außer dem allerletzten Rezept, also viel Glück. Erfahrungsberichte sind im Kommentarteil natürlich gern gesehen.

Die Reihenfolge der Rezepte ist alphaetisch umgebaut wie ein Kochbuch, nicht chronologisch nach den fiktionalen Werken. Von Illustrationen der Gerichte sehe ich absichtsvoll ab, weil sogar die Food-Designerin Roth auf ihrer eigenen Präsenz nur die Rezepttexte anführt; wer gucken will, kann gerne beim Rundfunk reinblättern: Zum Nachkochen: Rezepte aus Jean Pauls Werken. Am wichtigsten ist aber: Die brauchbarsten Kochbücher sind immer die ohne Bilder.

  1. Als-ob-EssenJean Paul regt sich in der Vorschule der Ästhetik über die Kleriker auf, die in der Fastenzeit allerlei Tricks finden um die fleischlose Zeit zu umgehen. Die reichen Kirchenleute haben einfach alles was im Wasser lebt als Fisch bezeichnet, was mit Biber anfing und zuletzt mit Gansbraten gänzlich ausgeufert ist. Die Mönche mit weniger Geld und mehr Skrupel „konstruierten“ sich ihr von Jean Paul Als-ob-Essen genannt. Das war Fisch der irgendwie so verarbeitet wurde, dass er wie Fleisch aussah. (Fischwürste, Fischpressack, …)

    ——— Vorschule der Ästhetik, nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit, 1804:

    Leute, welche weder Begeisterung noch Kräfte, nicht einmal Sprache besitzen, ringen der letzten ein ausländisches Qualgedicht ab und legen uns diese Form, als sei sie poetisch gefüllt, auf den Tisch; so suchen die armen Kartäuser, denen Fleisch verboten ist, folglich auch Würste, sich damit etwas weiszumachen, daß sie Fische in Schweindärme füllen und dann laut von Würsten reden und speisen.

    Zutaten:

    • 250 g Lachsfilet
    • 150 g Rauchforelle
    • 250 g weißes Fischfilets
    • 150 g Räucherlachs
    • 10 Pfefferkörner
    • 2 Lorbeerblätter
    • Rosmarin, Thymian
    • 1 EL Sojasoße
    • 1 geröstete Zwiebel
    • 1 kleine Knoblauchzehe, zerdrückt
    • 1 Spritzer Balsamico
    • 600 ml Fischfond
    • 4 Blatt Gelatine (oder entsprechend Aspik)
    • 100 g knackig blanchierte Gemüsewürfel
    • 3 g Sepiafarbe

    Zubereitung:

    500 ml Fischfond mit allen Kräutern, Gewürzen, Sojasoße und Balsamico aufkochen und ca. 30 Minuten simmern lassen. Fischfilet und Lachs im restlichen Fond gar dünsten und zusammen mit der Forelle in Würfel schneiden oder reißen.

    Die eingeweichte Gelatine in 3 EL Fond auflösen, dann mit dem restlichen Fond vermischen. Würzig mit Salz und Balsamico abschmecken. Die Hälfte des Fonds mit Sepia schwarz färben. Kurz vor dem Gelieren die Gemüsewürfel und die Fischwürfel untermengen und in Gläschen oder Darm abfüllen. Über Nacht kalt stellen. Mit Sahne-Meerrettich und Feldsalat (Frühling an der Gabel) garnieren.

  2. Bergsuppe———Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf, 1799:

    Nicht ohne Angst, Neid zu entzünden, sah ich, wie ich gern bekenne, unser Suppen-Paar auftragen; der Hospitalprediger reichte eine Kerbelsuppe, ich hingegen als ein ziemlich berühmter Schriftsteller glaubte nicht zu viel zu tun, wenn ich mit einer Bergsuppe erschiene. Sie muß dir erinnerlich sein durch den Kegel von schwarzem Brot, mit Zimt und Zucker beschneiet, wovon sie den Namen führt. Die Weiber waren (vielleicht vom Geschlecht bestochen) nachsichtiger gegen uns, und unsere Suppen entkamen dem Neid; aber was half das mir?

    Zutaten:

    • 200 g Schwarzbrot, altbacken
    • 50 g Butter
    • 3 Eier, getrennt
    • 30 g Zucker
    • 1 Packung Vanillezucker
    • ½ TL Salz
    • 1 TL Thymian, getrocknet
    • 2 Zitronen, Schalenabrieb
    • 50 ml Milch
    • 1 TL Zimt oder Lebkuchengewürz
    • 4 grüne Äpfel
    • 650 ml Wasser
    • 4 cl Zitronensaft
    • 300 ml Holundersirup
    • 25 g Stärke, nach Belieben

    Zubereitung:

    Butter schaumig schlagen, geriebenes Schwarzbrot unterrühren. Eigelb, Zucker, Salz, Thymian, Milch, Zimt und abgeriebene Schale einer Zitrone schaumig schlagen, unter Schwarzbrotmasse mengen. Eiweiß sehr steif schlagen, vorsichtig unter die Masse heben. Teig in kegel- oder kuppelförmige Pralinenformen füllen. Im vorgeheizten Backofen bei 175° Celsius etwa 15 Minuten backen.

    Für die Suppe Äpfel nach Belieben schälen, Kerngehäuse entfernen, grob schneiden. Mit Hollersirup, Wasser und Zitronensaft in einen Kochtopf geben, zum Kochen bringen. Nach etwa fünf Minuten fein pürieren. Stärke mit etwas Wasser verrühren, in die kochende Apfelsuppe rühren.

    Die Kegel in die Suppe setzen und mit Puderzucker bestäuben.

  3. Einträgliche Gemüsgärtchen——— Der Komet, 1822:

    Alte und neue Staaten: Die neuen Staaten, weniger auf einem ethischen Wurzelgeflechte als Ganzes ruhend, verlangen tägliche Nachhülfen und Erinnerungen zum Gedeihen und sind einträgliche Gemüsgärten, die in jedem Jahre neu gepflanzt werden; aber die alten Staaten sind Obstgärten, die, einmal angelegt, von Jahr zu Jahr ohne neue Ansaat reichere Früchte geben und höchstens das Beschneiden bedürfen.

    Zutaten:

    • 1. Erde: 180g Mehl
    • 80 g Kathreiner Kaffee
    • 50 g gemahlene Haselnüsse
    • 25 g brauner Zucker
    • 80 g Zuckerrübensirup
    • 2.Erde: 50 g Mehl

    • 25 g Kathreiner Kaffee
    • 50 g gemahlene Haselnüsse
    • 70 g zerlaufenes Butterschmalz
    • Salz
    • Creme: 35 g Kräuter, fein gehackt (Estragon, Basilikum, …)
    • 150 g Joghurt
    • 100 g Creme fraîche
    • 5 g Instant-Gelatine
    • Salz, Pfeffer, Cayennepfeffer
    • 20 Stück Radieschen, Mini-Möhren, Mini-Rettich, … gewaschen, geputzt und mit Grün

    Zubereitung:

    Für die 1. Erde alle trockenen Zutaten in der Küchenmaschine fein schroten. Esslöffelweise den Sirup zugeben. Alles im Ofen bei 100° ca. 1,5 Std. trocknen und über Nacht am besten auf der Heizung nach trocknen lassen. Danach für die 2. Erde genauso verfahren, ebenfalls im Ofen ca. 1,5 Std. trocknen und danach mit der 1. Erde vermischen. Klumpen zwischen den Fingern zerbröseln.

    Alle Zutaten für die Creme gründlich vermischen. Die Hälfte in kleine Gläschen oder Blumentöpfe füllen.

    Das Gemüse in die restliche Creme tauchen und in die vorbereiteten Blumentöpfe „pflanzen“.

  4. Gebackener Katzendreck——— Der Komet, 1822:

    Es hätte wohl besser ausfallen können, ja zehntausendmal besser, und gern hätt‘ ich (ich darf es sagen) Bayonner Schinken aufgetischt und Straßburger Pasteten samt polnischem Salat, desgleichen gefüllte Zungen von Troyes und Kälber von Rouen und Hähne von Caux und Kapaunen von la Fleche und Rotkehlchen von Metz; mit Freuden, wie gesagt, hätt‘ ich damit bewirtet; aber die Sachen waren nicht zu haben: konnt‘ ich doch kaum in der Stadt Wien gebacknen Katzendreck auftreiben und sächsische Christscheit und abgetriebene Wespennester und boeuf à la mode und pommersche Gans. Indes war doch das Essen (dies beruhigt mich) gesund und leicht.

    Zutaten:

    • 2–3 rote Zwiebeln
    • 1 EL Butter
    • 30 g Zucker oder Honig
    • 50 ml Weißwein oder Wasser
    • 75 g geschälte und gut ausgekühlte Mandeln
    • 100 g Zucker
    • [weitere] 50 ml Wasser oder Weißwein
    • 50 g Mehl
    • 50 g Speisestärke
    • 10 g Backpulver
    • Schmalz
    • Puderzucker
    • Fruchtsoße (Erdbeere, Himbeere)

    Zubereitung:

    Die Zwiebel schälen und in kleine Stücke schneiden. Das Fett zerlassen, den Zucker darin auflösen und die Zwiebelstücke zugeben. Kurz anbraten, den Wein angießen und zugedeckt bei schwacher Hitze ca. 15–20 Minuten ziehen lassen. Auskühlen.

    Mandeln und Zwiebeln auf eine Schnur fädeln.

    Für den Tempurateig Mehl, Stärke und Backpulver in eine Schüssel sieben und mit soviel kaltem Wasser verrühren, dass ein grob flüssiger Backteig entsteht. Die Mandel/Zwiebelschnüre eintauchen und sofort im heißen Fett frittieren.

    Die Soße auf kleine Schälchen verteilen. Den Katzendreck vorsichtig über der Soße von den Schnüren ziehen und mit Puderzucker bestäuben.

  5. Hoppelpoppel——— Flegeljahre, 1805:

    Vult schlug „Flegeljahre“ vor; der Notar sagte offen heraus, wie ihm ein Titel widerstehe, der teils so auffallend sei, teils so wild. „Gut, so mag denn die Duplizität der Arbeit schon auf dem ersten Blatte bezeichnet werden, wie es auch ein neuerer beliebter Autor tut, etwan: Hoppelpoppel oder das Herz.“ Bei diesem Titel mußte es bleiben.

    Zutaten:

    • 375 ml Milch
    • 70 g Zucker
    • 2 Vanilleschoten
    • 2 Eigelb
    • 50 ml Rum
    • 5–6 Blatt Gelatine
    • 600 ml Sahne
    • 20 Mini-Schokobiskuitböden
    • Kakao mit Zimt
    • Pistazien
    • 125 ml Rum zum Tränken
    • 30 g Puderzucker
    • 250 ml frischer Orangensaft
    • [weitere] 3 Blatt Gelatine
    • Schokoladen-Dekoration

    Zubereitung:

    Eigelb und Zucker mit einer Prise Salz schaumig schlagen. Milch mit den Vanilleschoten aufkochen, Vanille auskratzen. Die Milch zur Eigelbmischung geben und über einem heißem Wasserbad abrühren, bis die Creme bindet. Eingeweichte Gelatine in die noch warme Eiermasse einrühren. Abkühlen lassen, dabei manchmal umrühren. Mit dem Rum kräftig abschmecken. Die geschlagene Sahne unterheben.

    Den Rum mit 2 EL Wasser und dem Puderzucker zum Kochen bringen und die Biskuitböden damit tränken. In Gläschen legen.

    Die Creme darauf geben und glatt streichen. Völlig auskühlen lassen.

    Die Gelatine im Orangensaft auflösen und ca. 2-3 mm dick auf die erkaltete Creme füllen. Je nach Geschmack können einige getränkte Löffelbiskuits in der Creme versenkt werden und/oder Orangenfilets auf der Creme verteilt und mit der Saft-Gelatine-Mischung übergossen werden.

    Mit Kakao bestäuben und mit Schoko-Ornamenten dekorieren.

  6. Kerbelsuppe———Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf, 1799:

    Die weiblichen Magenfieber vom Pickenick waren anfangs noch gelinde Schauer. Mit Vergnügen sah ich, wie schon gesagt, daß man Stiefels Kerbelsuppe und meine Bergsuppe ohne Neid aufnahm – Hedasch schlug sich mit seinen Hechtwürsten samt Hopfen von armen Rittern wohlbehalten durch – die dressierte Rinds-Pastete der Spezialin war schon schwerer zu verfechten – aber jetzt trat der farschierte Puter des Sechsers mit seinen Kartoffeln auf. Die Männer nicht, aber die Weiber spreizten und spannten alles, was sie von Puterfittichen und Schwanzrädern am innern Menschen hatten, jetzt auseinander und klappten auf und zu und wetzten und rauschten! – Gar aber nicht des farschierten Hahnes wegen, sondern weil Kartoffeln kamen.

    Zutaten:

    • 400 g Petersilienwurzel, geschält und gewürfelt
    • 3 Schalotten, gewürfelt
    • 1 EL Butter
    • 50 ml Noily Prat
    • 50 ml Sherry medium
    • 100 ml Weißwein
    • 500 ml Brühe
    • 400 ml Sahne
    • 1 TL Zitronensaft
    • 1 Prise Nelken
    • Salz
    • 1 Bund Kerbel
    • 100 ml Brühe

    Zubereitung:

    Die Schalotten in der Butter anschwitzen. Petersilienwurzeln zugeben und mit anschwitzen. Mit Weißwein, Noily Prat und Sherry aufgießen. Etwa 10 Minuten köcheln lassen. Die Brühe zugeben und nochmals aufkochen. Alles fein pürieren und mit der Sahne aufgießen. Mit Zitronensaft, Salz und Nelken abschmecken.

    Den Kerbel mit der Brühe fein pürieren und durch ein Sieb streichen. Zur heißen Suppe geben. Nicht mehr kochen!

    Der Kerbelsud kann mit 1 Blatt Gelatine angerührt und in Strohhalme gefüllt werden. Nach etwa 6 Stunden Kühlung als Infusion reichen.

  7. Sardellensuppe mit Himmelsbrot——— Der Komet, 1822:

    Jetzo ließ er eine köstliche Sardellensuppe auftragen und leerte zwei Teller davon mit solchem Wohlbehagen ab, daß die Professoren und die Schulmänner einstimmig versicherten, sie hätten zum ersten Male eine so feine Suppe geschmeckt, als er sie darüber fragte und ihnen die trocknen Suppenteller weggenommen wurden und andere vorgesetzt.

    Zutaten:

    • 2 Schalotten, gewürfelt
    • 40 g Butter
    • 350 g Kartoffeln, geschält und gewürfelt
    • 150 ml Weißwein
    • 40 ml Noilly Prat
    • 1 Limette, Saft und Schale (Zeste)
    • 4–8 Sardellen
    • 500 ml Gemüsebrühe
    • 300 ml Schlagsahne
    • 100 ml Sauerrahm
    • 30 g Butter
    • 100 g Soßenkuchen

    Zubereitung:

    Die Schalotten in der Butter anschwitzen, Kartoffeln zugeben, kurz mit anbraten. Mit Weißwein und Noily Prat abschrecken und aufkochen. Die Brühe, die Limettenschale und die Sardellen zugeben. 20 min köcheln lassen (Kartoffeln müssen weich sein).

    Kartoffeln mit der Brühe pürieren. Die Sahne zugeben und nochmals aufmixen. Kurz vor dem Servieren den Sauerrahm und die Butter unterrühren. Mit Limettensaft, Salz und Pfeffer (evtl. Muskatnuss) abschmecken.

    Den Soßenkuchen in dünne Scheiben schneiden, fein würfeln und in reichlich Butter rösten. Über die Suppe streuen.

  8. Schnepfendreck——— Dr. Katzenbergers Badereise, 1809:

    Da ich nun meinen Gästen gern Ausgesuchtes vorsetze: so bot ich einigen Leckermäulern darunter Schnepfendreck, wie gewöhnlich mit Butter auf Semmelscheiben geröstet, an, und zwar so wie ihn täglich meine beiden Schnepfen unmittelbar lieferten. Aber ich darf Sie als ehrlicher Mann versichern, meine Gnädige, auch kein einziger bezeigte statt einiger Lust etwas anderes als ordentlichen Abscheu vor dem vorgesetzten Dreck; und weshalb eigentlich? – Bloß deshalb – nun komm‘ ich auf unsern Punkt –, weil das Schnepfengedärm nicht mit auf die Semmelscheiben gestrichen war und die Gourmands nur bloßen Netto- und keinen Bruttodreck vor sich erblickten. Ich bitte aber hier jeden vernünftigen Mann zu urteilen, ob ich meine Sumpfvögel – da sie ganz die Kost erhielten (Regenwürmer, Schnecken und Kräuter), aus der Schnepfen von jeher den Liebhabern wieder eine Kost auf den ersten Wegen zugeführt – ob ich, sag‘ ich, solche etwan abschlachten sollte (wie jener seine Henne, die ihm täglich goldne Eier legte), um gleichsam die Legdärme aufzutischen.

    Zutaten:

    • 2 Auberginen
    • 100 ml Olivenöl
    • je 2 Zweige Rosmarin, Thymian, Estragon fein gehackt
    • 2 Knoblauchzehen, gepresst
    • 1 EL Orangenzesten, fein gehackt
    • 2 EL Tomatenmark
    • 125 g Sauerrahm
    • Balsamico, Cayennepfeffer
    • 1 Blatt Gelatine
    • 10 Scheiben Mehrkorn-Toast

    Zubereitung:

    Aubergine schälen und 0,5 x 0,5 cm groß würfeln. Mit Öl anschwitzen, salzen.

    Kräuter, Knoblauch und Orangenzesten zugeben, durch schwenken und mit Tomatenmark binden. Mit Balsamico abschmecken und abkühlen lassen.

    Sauerrahm mit Essig, Salz, Pfeffer und Gelatine glatt rühren.

    Toast mit Olivenöl bräunen und mit dem Sauerrahm bestreichen.

    Auberginen auf dem Toast platzieren, mit Thymian und Orangenzesten dekorieren

  9. Schweizer Bäckerei——— Palingenesien, 1798:

    Die kategorischen Imperatoren werden mit mir darüber reden und Händel suchen, daß ich in der blauen Glocke ein wahres Fürsten-Pickenick – Dinte und Wein waren nur die erste Foderung – von der Sagosuppe an bis zur Schweizerbäckerei für mich und den Meister aufsetzen ließ, bloß um der Universität zu zeigen, was wir verzehret hätten bei längerem Bleiben. Stuß mußte Petitknaster rauchen und Fidibus fodern und den Span wegwerfen. Ach die passabelsten Menschen – das beweiset mein Zorn-, nicht Liebes-Mahl – gleichen den breitesten reinsten Parisergassen: die dunkelsten häßlichsten Quergäßchen durchschneiden sie oft. Menschen und Bücher müssen in mehr als eine Korrektur gelangen, um die Errata zu verlieren.

    Zutaten:

    • Teig: 300 g Butter • 150 g Puderzucker • Salz • 400 g Mehl • 40 g Kakao • 2 cl Rum
    • Füllung dunkel: 100 ml Sahne • 150 g dunkle Kuvertüre, fein geschnitten • Johannisbeergelee, mit Creme de Cassis verrührt
    • Füllung hell: 75 ml Sahne • 150 g weiße Kuvertüre, fein geschnitten • Marzipan, abgezogene Mandeln in Zuckerguss und Zucker gewälzt

    Zubereitung:

    Für den Teig alle Zutaten außer Kakao und Rum zu einem glatten Teig verkneten. Den Teig halbieren. In ein Hälfte Kakao und Rum einarbeiten. Bei Teile in Folie packen und mindestens 1 Stunde kühl stellen, dünn ausrollen, Kreis ausstechen und in Tarteletteförmchen füllen. Mit Hülsenfrüchten blind backen.

    Für beide Füllungen die Sahne aufkochen und die Kuvertüre unterrühren. Mit dem Pürierstab homogenisieren.

    Die hellen Tartelettes mit einem Klecks Johannisbeergelee füllen. Die dunkle Creme einspritzen. Mit heller Kuvertüre garnieren. In die dunklen Tartelettes etwas Marzipan geben und die helle Creme einspritzen. Die abgezogenen Mandeln mit einem Klecks schwarzer Kuvertüre auf das Gebäck setzen.

  10. Virtuelle Rumfordsche SuppeDie überfettete Erbswurstsuppe erfand General Rumford für seine Soldaten. Bei Jean Paul kommt sie als Symbol für Sparsamkeit, ja Knausrigkeit vor. „Virtuell“ wurden die Bestandteile hier aufgespalten und verfeinert.

    ——— Vorschule der Ästhetik, nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit, 1804:

    Die beste Probe und Kontrolle (Widerrechnung) des Witzes ist eben sein Überfluß; ein Einfall, welcher allein geschimmert hätte, erblasset in glänzender Gesellschaft; folglich wird der Vorwurf matter und gesuchter Einfälle gerade den Witz-Verschwender treffen. Wenn ökonomische Schreiber den Leser lange durch nötige Hungerkuren und Fastenzeiten durchgezogen, und sie ihn eben nun, da er fürchtet, in einen Ugolinos-Hungerturm hinabzusteigen, plötzlich vor eine Suppenanstalt bringen: Himmel, wer beschreibt das Entzücken und den Genuß! – Wollte jemand hingegen dieselbe Rumfordsche Suppe an andern Orten mit unter dem Nachtisch und feinen Weinen herumgeben: so fiele der Effekt schwächer aus.

    Zutaten:

    • 200 g Erbsen
    • 50 ml Sahne
    • 50 ml Gemüsefonds
    • 3 Blatt Gelatine
    • 20 ml Martini dry
    • Zitronensaft
    • 50 g geschlagene Sahne
    • 50 g Perlgraupen
    • frische Minze
    • 1 EL Salatdressing
    • schwarze Oliven oder getrocknete Blutwurst zum Dekorieren

    Zubereitung:

    Erbsen blanchieren, circa 30 Gramm für die Dekoration nach dem ersten Aufkochen herausnehmen. Restliche Erbsen mit Sahne und Gemüsebrühe gründlich pürieren. Gelatine auflösen und unterrühren. Alles erkalten lassen. Danach mit dem Martini nochmals aufschlagen. Mit Zitronensaft und Salz abschmecken. Die geschlagene Sahne unterhegen. Masse auf ein Blech circa zwei Zentimeter dick aufstreichen, erkalten lassen.

    Graupen in 150 Milliliter Wasser aufkochen, leise köcheln lassen bis das Wasser eingezogen ist. Abkühlen. Danach mit gehackter Minze, Salz, Pfeffer und Salatdressing anmachen.

    Aus dem Erbsenmousse kleine Kreise ausstechen und auf dem Graupensalat platzieren. Mit Erbsen, Oliven etc. dekorieren.

  11. Wespennester [Jean-Paul-Zitat siehe oben, unter Gebackener Katzendreck]Zutaten:
    • 250 g Butterschmalz
    • 20 g zerlassene Butter zum Bestreichen
    • 4 Eier
    • 4 Eigelb
    • 150 g lauwarme Sahne
    • 1 Packung Hefe
    • 500 g Mehl
    • Zibeben (Jumbo-Rosinen)
    • Korinthen (auch Schokoladenstückchen, Zimt, Kakao)

    Zubereitung:

    Das Butterschmalz schaumig schlagen (altdeutsch abtreiben) und Eier und Eidotter einzeln dazurühren.Die Hefe in der lauwarmen Sahne auflösen und nach und nach zugeben. Zuletzt das Mehl zugeben und den Teig gut abschlagen. An einem warmen Ort gehen lassen. Teig auf einer bemehlten Fläche ca. 5 mm dick ausrollen. In 3 cm x 20 cm lange Streifen schneiden. Mit den Rosinen belegen und einrollen. In Backpapierstreifen einschlagen und nochmal gehen lassen.

    Bei mittlerer Hitze ca. 20 Minuten langsam backen.

  12. Zichorien-Mousse——— Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch, 1801:

    „Anlangend das Geld,“ (fuhr ich fort) „dieses Herz des innern Menschen, so bedaur‘ ich seit Jahren die Staaten, die es verfressen und versaufen. Die besten schneiden ihren Festungs-Sassen nur das Kaffeewasser ab; aber warum lassen sie zu, daß der Kaffee seine Repräsentanten ins Unterhaus schickt, Zichorien, Eicheln, Rüben und den Satan? Warum stopft man – dieselben Gründe schreien – der Glückseligkeitslehre nur eine Quelle zu? Warum wird Tee, Wein, Fleisch, Bier, Gebacknes so frei zugelassen? Desgleichen Obst, Gemüse und alles nur Leckerhafte, da gesundes Brot seinen Mann ernährt? – Mit alle diesem könnte ja gehandelt werden nach auswärts und ein hübscher Pfennig Geld ins Inland gespielt – alle Waren würden, wenn mans täte, wie bei den edeln Holländern die französischen Bücher, nur spediert und verlegt, ohne das geringste Konsumo – Ulrichsschlager! würde dann nicht das Staatsgebäude ein großer, blanker Silberschrank und alle Untertanen Preziosa für den Fürsten, die er angreifen könnte in der Not?“

    Zutaten:

    • 1 Ei
    • 1 Orange, Saft und Schale
    • 150 g dunkle Kuvertüre
    • 4 cl Creme de Cacao
    • 400 g geschlagene Sahne
    • 200 ml Milch
    • 30 g Kaffeebohnen
    • 10 g getrocknete Wegwartenwurzel (Apotheke)
    • 3 Eigelb
    • 4 cl Amaretto
    • 3 Blatt Gelatine
    • [weitere] 250 g geschlagene Sahne

    Zubereitung:

    Milch mit Kaffeebohnen und Wegwartenwurzeln aufkochen und 1 Stunde ziehen lassen. Durch ein Sieb streichen und erhitzen. Die Eigelb mit dem Zucker weiß schaumig schlagen. Kaffeemilch und Amaretto langsam einrühren. Im Wasserbad rühren, bis die Masse bindet. Ei, Orangensaft und -schale über dem Wasserbad schaumig schlagen. Mit dem Alkohol abschmecken. Die Kuvertüre verflüssigen und in die Eigelbmasse rühren. Sahne unterheben. In Gläschen füllen und abkühlen lassen. Die Blüten und die eingeweichte Gelatine einrühren und abkühlen lassen. Zuletzt vorsichtig die Sahne unterheben. Auf die Schokomousse füllen und auskühlen lassen. Vor dem Servieren mit frischen oder getrockneten Blüten garnieren.

Auf ihrer eigenen Präsenz bringt Beate Roth noch: Der Geschmack der Heimat. Jean Paul und die Kartoffel. Nicht vollends unpassend vergleicht sie darin Jean Paul — siehe weiter oben die Ausführungen zu seinen Portraits — mit der schwellenden Knolle, allerdings verwenden bezeichnenderweise nur 50 % der angeführten zwei Rezepte Kartoffeln.

  • Hesperus-Erdäpfelkäse——— Hesperus, Erstes Heftlein, 7. Hundposttag, 1795:

    Man setzte sich zum Gastmahl im Gartenhaus. Selten sind Schmäuse so wie dieser durch zwei außerordentliche Vorzüge gewürzt, durch Mangel an Essen und Mangel an Platz. Nichts reizt den Appetit so sehr als die Besorgnis, er finde nicht satt. Es war von Sebastian ausgesonnen, daß für jeden Gast nur das Leibgericht besorgt wurde – für den Pfarrer farcierte Krebse und Erdäpfelkäse – für Flamin Schinken – für den Helden das Gemüse vom guten Heinrich. – Jeder wollte jetzo das Leibgericht des andern, und jeder subhastierte seines. Sogar die Damen, die sonst wie die Fische essen und nicht essen, bissen an. Der zweite berauschende Bestandteil, den sie in ihren Freudenbecher geworfen hatten, war der Tisch samt Gartenstube, wovon jener die Kost, diese die Kostgänger nicht faßte.

    Zutaten:

    • 150 g Kartoffeln gekocht und durchgequetscht
    • 120 g Quark
    • 50 g saure Sahne
    • 30 g weiche Butter
    • Salz, Pfeffer
    • 4 EL fein geschnittene Schnittlauchröllchen
    • Rosa Pfeffer

    Zubereitung:

    Den Quark mit Sauerrahm und Butter verrühren. Danach Kartoffelschnee und Kräuter unterheben. Mit Salz und Pfeffer abschmecken und mit dem rosa Pfeffer garnieren.

  • Farcierte KrebseZutaten:
    • 250 g Krebsfleisch oder ausgelöste Garnelen (am besten TK-Ware)
    • 250 g Lachsfilet
    • 100 g Räucherlachs
    • 50 g Schinkenspeck nach Geschmack
    • 2 Eiweiß
    • Salz
    • 200 g Sahne
    • 50 g Crème fraîche
    • 1 Ei
    • 200 g fertig gekochte Krebse
    • 20 g Pistazien

    Zubereitung:

    Krebsfleisch, Lachsfilet, Räucherlachs und Speck am besten noch leicht gefroren im Mixer fein pürieren und das Eiweiß einarbeiten. Für 10 Minuten ins Gefrierfach stellen. Wenn die Masse nach dem Pürieren noch etwas grob ist, durch ein Sieb streichen.

    Sahne, Crème fraîche und das Ei kräftig unter die Krebsfarce rühren, salzen und pfeffern. Die Flusskrebse und die Pistazien vorsichtig unterkneten. Nochmals 10 Minuten kühlen.

    Eine Terrinenform mit Butter einfetten und die Farce einfüllen. Die geschlossene Form (Kuchenformen mit Alufolie abdecken) in eine mit heißem Wasser gefüllte Reine stellen und im vorgeheizten Ofen bei 150 Grad circa 50 Minuten garen. Gut auskühlen lassen.

  • Man ersieht eher aus dem Sekundärartikel von Frau Roth als aus ihren Rezepten nach dem Primärmaterial, wie grundlegend die Kartoffel für den Schreiber und Esser und Trinker Jean Paul war. Am eindeutigsten äußert er sich über die nahrhafte Hackfrucht noch in dem als „Kartoffel-Gastmahl“ bekannt gewordenen Abschnitt in Architektonik und Bauholz für die Vorrede zur zweiten Auflage des Hesperus 1798:

    Unser literarisches Küchenpersonale weiß uns dasselbe goutée unter dem Scheine sechs verschiedner Schüsseln auf das Tischtuch und in den Mund zu spielen, und belustigt uns zweimal im Jahr mit einer Nachahmung des berühmten Kartoffel-Gastmahls in Paris: anfangs kam blos eine Kartoffelsuppe – dann schon mit anderer Zubereitung wieder Kartoffeln – das dritte Gericht hingegen bestand aus umgearbeiteten Kartoffeln – auch das vierte – als fünftes konnte man nun wieder Kartoffeln servieren, sobald man nur zum sechsten neu brillantierte Kartoffeln bestimmte – und so ging es durch 14 Gerichte hindurch, wobei man noch von Glück zu sagen hatte, daß wenigstens Brod, Konfekt und Likör den Magen aufrichteten und aus Kartoffeln bestanden. – –

    „Umgearbeitet“ — aus so einer Angabe kann nicht einmal eine Food-Designerin ein Kochrezept destillieren, schon gar keine vierzehne. Das beste davon, das Jean Paul auch wirklich verzehrt hat, wird allerdings von der Wirtin seiner letzten Stammschreibstube zu Bayreuth Anna Dorothea Rollwenzel überliefert: Kartoffeln. — Wie Kartoffeln? — Na, Kartoffeln halt. — Kartoffeln mit was? — Kartoffeln mit zur Not einer Gabel. Einfach Kartoffeln. — Frau Rollwenzel über Jean Paul. Rede, gehalten in der Berliner Mittwochs-Gesellschaft zur Feier des Jean Paulschen Geburtstages, Dienstag am 21. März 1826, nach: Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz, 53stes Blatt, 3. April 1826:

    Sehen Sie, es vergeht fast kein Morgen, daß nicht der einzige Mann, dieser Jean Paul, zu mir heraus kommt mit seiner botanischen Kapsel; er grüßt mich, und dann geht er oben in sein Eckzimmer, das ich den Herren zeigen werde, und schreibt, oder draußen ins Freie. Ach und wie einfach ist sein Leben, das ist Alles nach der Regel! Plötzlich, wenn er schreibt, fällt ihm ein, daß er essen muß; dann verlangt er schnell nach seinem Lieblingsgericht. Und was ist das? — Denken Sie sich — Kartoffeln. Dieser einzige Mann ißt Kartoffeln. Wir kochen sie ihm schnell — wir wissen es ja. Ich bringe sie ihm, er sieht, wie ich sie hinstelle, er starrt mit der Feder in der Hand d’rauf hin, sehen Sie, und wenn ich nach ein Paar Stunden wiederkomme, stehen sie noch unberührt neben ihm. Nun will er essen, aber es ist kalt, das kann ich nicht zugeben und ich koche ihm von Neuem. Das weiß er auch wohl, und dem lieben einzigen Herrn thut es leid, daß ich so viel Mühe hätte — Gott, was thut man nicht für ihn! — und deshalb fordert er schon des Morgens früh sein Mittagbrod, daß wir Beide den Tag über Ruhe haben. Aber, du lieber Himmel, dadurch leidet denn auch sein Körper, wenn das nicht seine Zeit und Ordnung hat.

    Die Zutaten sind: Kartoffeln. Serviert wird zweimal täglich, vor allem wenn der hungernde Schreibende auf der Flucht vor Eheproblemen schon früh um sechs (sommers) bis acht (winters) im vier Kilometer von zu Hause entfernten Wirtshaus erscheint. Dazu muss immer dank der rührigen Rollwenzelin oder einer ihrer Stellvertreterinnen reichlich, vorzugsweise Bayreuther Bier auf dem Tisch stehen — und fakultativ ein Strauß Wiesenblumen, damit der Dichter der Vergänglichkeit dem Tod bei der Arbeit zuschauen kann.

    Das letzte überlieferte Portrait von Jean Paul ist denn auch das vom geringsten technischen Aufwand: Bleistift — und zeigt ihn in unentschiedener Pose, schon nicht mehr recht als er selbst kenntlich. Laut der Jean-Paul-Gesellschaft stammt es von Ernst Förster 1826, dem gleichen Jahr wie der obige Redeausschnitt der Rollwenzelin, und da war Jean Paul schon seit letztem Jahr tot.

    Ernst Förster, Jean Paul, 1826

    Soundtrack: Big Bill Broonzy & Washboard Sam: Diggin‘ My Potatoes,
    aus: Big Bill Broonzy and Washboard Sam, 1953:

    Written by Wolf

    7. Juli 2017 at 00:01

    Veröffentlicht in Klassik, Nahrung & Völlerei

    Bierchen aus alter Zeit

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    Update zu B:

    ——— Bertolt Brecht:

    Liedchen aus alter Zeit

    (nicht mehr zu singen!)

    1950, in: Kinderlieder, 1956:

    Eins. Zwei. Drei. Vier.
    Vater braucht ein Bier.
    Vier. Drei. Zwei. Eins.
    Mutter braucht keins.

    Bertolt Brecht, Brief an Radeberger Brauerei, 5. April 1956

    BierBildBestand: Bertolt Brecht: BettelBrief an Radeberger, 5. April 1956,
    via Sieben Briefe von Bertolt Brecht aus den fünfziger Jahren, Die Zeit, 29. Januar 1998:

    Berlin, den 5. April 1956

    An den
    VEB Radeberg
    Exportbierbrauerei
    RADEBERG

    Sehr geehrte Herren,

    Ich bin Bayer und gewohnt, zum Essen Bier zu trinken. Nun ist das Bier in der Deutschen Demokratischen Republik im Augenblick wirklich nicht mehr gut ausser Ihrem RADEBERGER PILSNER (EXPORT). Können Sie mir vielleicht ausnahmsweise, eine Zeit lang im Monat zwei Kästen über VLK Getränke, Abteilung Import und Spezialbiere, Berlin N 4, Brunnenstr. 188, liefern.

    Mit bestem Dank

    (Bertolt Brecht)

    Bertolt Brecht und Oskar Maria Graf, 1943, New York

    Bertolt Brecht und Oskar Maria Graf beim Stammtisch in New York 1943,
    via Oskar Maria Graf Gesellschaft e. V.: Lebensdaten.

    Soundtrack: Kris Kristofferson: To Beat the Devil, aus: Kristofferson, 1970:

    I ain’t saying I beat the devil,
    But I drank his beer for nothing,
    Then I stole his song.

    Written by Wolf

    16. Juni 2017 at 00:01

    Veröffentlicht in Nahrung & Völlerei, Novecento

    Frankfurter Osterspaziergang

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    Update zu Die besten Saufbrüder sind gestorben:

    Lebenslust und Konsumfreude atmet der Faust nicht erst in Auerbachs Keller. Um Trunk und sonstige Annehmlichkeiten geht es schon kurz vor dem Osterspaziergang, der Faust mit seinem vorläufigen, auf längere Sicht unzureichenden Sidekick und Famulus Wagner unmittelbar Wagners Ablösung zuführen wird: Mephisto.

    Für heute bleiben wir im lebenslustigen, konsumfreudigen Teil. Laut Albrecht Schöne in der bis auf weiteres besten Faust-Ausgabe ist

    Bemerkenswert die für das Drama dieser Zeit ganz ungewöhnliche Reihung ihrer abgerissen unvollständigen Gesprächsfetzen […], die der Zuschauer/Leser wahrnimmt, als zögen diese Spaziergänger an ihm vorüber.

    Das erwähnte „Jägerhaus“, in das die Studenten streben, ist das Forsthaus bei Sachsenhausen, heute geführt als Oberschweinstiege:

    Das Restaurant Oberschweinstiege hat eine sehr lange Tradition. Der Name stammt von zwei Forstbezirken des Frankfurter Stadtwalds. Der zwischen Sachsenhausen und Neu-Isenburg gelegene Abschnitt wurde als „Oberwald“, der zwischen Schwanheim und dem heutigen Flughafen als „Unterwald“ bezeichnet. Vom 14. bis in 19. Jahrhundert wurden die Schweine der Frankfurter Bürger in diese Waldstücke getrieben, damit sie sich noch vor dem nahenden Winter an Eicheln satt fressen konnten. Erstmals erwähnt wurde die Oberschweinstiege im Jahr 1592, seit 1779 gab es ein Forsthaus. Nachdem der Förster eine Schankerlaubnis erhalten hatte, wurde die Oberschweinstiege schnell zum beliebten Frankfurter Ausflugsziel.

    Die „Mühle“ ist die Gerbermühle, die es noch gibt:

    Die Geschichte der Gerbermühle ist lang und ereignisreich. Im 14. Jahrhundert wurde auf dem malerischen Flecken Erde am linken Mainufer ein Lehngut erbaut. Damit wurde der Grundstein für eine lange und bewegte Geschichte gelegt, die die Gerbermühle zu einem historisch bedeutsamen Teil Frankfurts gemacht hat. Im 16 Jahrhundert wurde die Getreidemühle errichtet. Im 17. Jahrhundert wurde das Gebäude als Gerberei genutzt. Diese beiden ehemaligen Funktionen des einstigen Lehnguts gaben ihm den Namen Gerbermühle, der bis heute erhalten geblieben ist.

    Seine historische Bedeutung erhielt das Gebäude jedoch erst durch den Frankfurter Bankier Johann Jakob von Willemer, der die Gerbermühle im Jahre 1785 als privaten Sommersitz gepachtet und umgebaut hat. Willemer, der mit Goethe befreundet war, lud diesen erstmals im Jahre 1814 zu einem Besuch ein, bei dem Goethe die Bekanntschaft mit Marianne, der Ziehtochter Willemers, machte.

    Zwischen den beiden entwickelte sich eine innige Beziehung, die Goethe zu weiteren und ausgiebigeren Besuchen der Gerbermühle animierte. Im Jahre 1815 verweilte er fast einen ganzen Monat in der Gerbermühle, wo er auch seinen 66. Geburtstag feierte.

    Sowohl Marianne, als auch die pittoreske Landschaft inspirierten ihn zu seinem Gedicht „Ginkgo biloba“, dass [sic…] er Marianne, die von ihrem Ziehvater Johann Jakob von Willemer inzwischen geehelicht wurde, mit Ginkgo-Blättern verziert, zukommen ließ.

    Drei Lieder aus Goethes Werk „West-östlicher Diwan“ stammen aus Mariannes Feder, die der Dichter stillschweigend in seine Publikation aufnahm.

    Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Gerbermühle von der Stadt Frankfurt saniert und als Ausflugslokal genutzt. Der 2. Weltkrieg verschonte leider auch die abgelegene Gastwirtschaft nicht. Bis auf die Grundmauern zerstört, wurde die Gerbermühle erst in den 70er Jahren erneut aufgebaut.

    2001 erwarb Werner Kindermann die baufällige Gerbermühle. Damit war der Weg frei für eine gründliche Sanierung und zahlreiche Um- und Ausbaumaßnahmen, deren Ergebnisse sich mehr als sehen lassen können. Die Gerbermühle ist wieder da und um eine Attraktion reicher. Das kleine aber edle Hotel macht aus der ehemaligen Sommerresidenz wieder einen Ort zum Verweilen.

    Außerdem zeigen sie jedem, der Wert auf dergleichen legt, „alle Spiele unserer Eintracht Frankfurt live in der Turmbar.“

    Der „Wasserhof“ stand unmittelbar neben der Gerbermühle und ist leider nur noch durch Wikipedia genauer belegt:

    Die als Wassermühle gebaute Gerbermühle gehörte zum Wasserhof, ein befestigter Gutshof im sumpfigen, von vielen Wasseradern durchzogenen Gelände zwischen dem Fluss Main im Norden und dem Dorf Oberrad im Süden. Die Ausstattung des Hofes mit einer Mühle deutet darauf hin, dass die zum Gutshof gehörenden Felder genügend Erträge erbrachten, um den Betrieb einer eigenen Getreidemühle zu rechtfertigen. Der Wasserhof war Teil eines Lehnguts, das ursprünglich im Jahr 1311 als „curia […] allodium sita in villa Roden prope Frankenvort“ (Hof beziehungsweise Allod, – freies Eigentum – gelegen im Dorf Rad bei Frankfurt) von Philipp von Falkenstein und Philipp von Münzenberg begründet wurde. Diese belehnten im selben Jahr eine Frankfurter Familie von Ovenbach (Offenbach) mit dem Hof. Die Besitzer dehnten das Erbrecht am Lehen auf weibliche Nachkommen der Lehnsnehmer aus („Frauenlehen“); die Erträge des Wasserhofes sicherten den Lebensunterhalt der unverheirateten Töchter der Lehensträger.

    „Burgdorf“ ist das Dorf Bergen, heute Frankfurts östlichster Stadtteil Bergen-Enkheim.

    Schöne bezieht sich bei seinen lokalen Zuordnungen auf Ernst Beutler: Goethe. Faust und Urfaust, erläutert von Ernst Beutler (zuerst 1939), zweite erneuerte Auflage, Leipzig 1940 u. ö. (Sammlung Dieterich, Band 25).

    Der ganze Teil Vor dem Tor samt Osterspaziergang fehlt noch im heute (schon gar nicht mehr) so genannten Urfaust und im Faust-Fragment; man darf also sagen, der alte Goethe hat in der Endfassung Faust. Eine Tragödie seiner — wie gesagt — lebensfrohen und konsumfreudigen Jugend ein Denkmal gesetzt. Unser Ausschnitt bricht dort ab, wo er selbstverständlich als auswendig bekannt vorausgesetzt werden darf. Danach kommt wieder Erdenschwere.

    Peter von Cornelius, Faust und Wagner unter den Spaziergängern vor dem Tore, 1826

    ——— Goethe:

    Faust I

    Vers 808 bis 903:

    Vor dem Thor.

    Spaziergänger aller Art ziehen hinaus.

    Einige Handwerksbursche.
    Warum denn dort hinaus?

    Andre.
    Wir gehn hinaus auf’s Jägerhaus.

    Die Ersten.
    Wir aber wollen nach der Mühle wandern.

    Ein Handwerksbursch.
    Ich rath’ euch nach dem Wasserhof zu gehn.

    Zweyter.
    Der Weg dahin ist gar nicht schön.

    Die Zweyten.
    Was thust denn du?

    Ein Dritter.
    Ich gehe mit den andern.

    Vierter.
    Nach Burgdorf kommt herauf, gewiß dort findet ihr
    Die schönsten Mädchen und das beste Bier,
    Und Händel von der ersten Sorte.

    Fünfter.
    Du überlustiger Gesell,
    Juckt dich zum drittenmal das Fell?
    Ich mag nicht hin, mir graut es vor dem Orte.

    Dienstmädchen.
    Nein, nein! ich gehe nach der Stadt zurück.

    Andre.
    Wir finden ihn gewiß bey jenen Pappeln stehen.

    Erste.
    Das ist für mich kein großes Glück;
    Er wird an deiner Seite gehen,
    Mit dir nur tanzt er auf dem Plan.
    Was gehn mich deine Freuden an!

    Andre.
    Heut ist er sicher nicht allein,
    Der Krauskopf, sagt er, würde bey ihm seyn.

    Schüler.
    Blitz wie die wackern Dirnen schreiten!
    Herr Bruder komm! wir müssen sie begleiten.
    Ein starkes Bier, ein beizender Toback,
    Und eine Magd im Putz das ist nun mein Geschmack.

    Bürgermädchen.
    Da sieh mir nur die schönen Knaben!
    Es ist wahrhaftig eine Schmach,
    Gesellschaft könnten sie die allerbeste haben,
    Und laufen diesen Mägden nach!

    Zweyter Schüler zum ersten.
    Nicht so geschwind! dort hinten kommen zwey,
    Sie sind gar niedlich angezogen,
    ’s ist meine Nachbarin dabey;
    Ich bin dem Mädchen sehr gewogen.
    Sie gehen ihren stillen Schritt
    Und nehmen uns doch auch am Ende mit.

    Erster.
    Herr Bruder nein! Ich bin nicht gern genirt.
    Geschwind! daß wir das Wildpret nicht verlieren.
    Die Hand, die Samstags ihren Besen führt,
    Wird Sontags dich am besten caressiren.

    Bürger.
    Nein, er gefällt mir nicht der neue Burgemeister!
    Nun, da er’s ist, wird er nur täglich dreister.
    Und für die Stadt was thut denn er?
    Wird es nicht alle Tage schlimmer?
    Gehorchen soll man mehr als immer,
    Und zahlen mhr als je vorher.

    Bettler singt.
    Ihr guten Herrn, ihr schönen Frauen,
    So wohlgeputzt und backenroth,
    Belieb’ es euch mich anzuschauen,
    Und seht und mildert meine Noth!
    Laßt hier mich nicht vergebens leyern!
    Nur der ist froh, der geben mag.
    Ein Tag den alle Menschen feyern,
    Er sey für mich ein Aerndetag.

    Spaziergang am Ostersonntag. Holzstich nach dem Gemälde von J. Wichmann. Aus der Gartenlaube 1885. In Goethes Faust mit einer Einleitung von Max von Boehn. Berlin im Askanischen Verlag Carl Albert Kindle, 1924Andrer Bürger.
    Nichts bessers weiß ich mir an Sonn- und Feyertagen,
    Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrey,
    Wenn hinten, weit, in der Türkey,
    Die Völker auf einander schlagen.
    Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus
    Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten;
    Dann kehrt man Abends froh nach Haus,
    Und segnet Fried’ und Friedenszeiten.

    Dritter Bürger.
    Herr Nachbar, ja! so laß ich’s auch geschehn,
    Sie mögen sich die Köpfe spalten,
    Mag alles durch einander gehn;
    Doch nur zu Hause bleib’s beym Alten.

    Alte zu den Bürgermädchen.
    Ey! wie geputzt! das schöne junge Blut!
    Wer soll sich nicht in euch vergaffen? –
    Nur nicht so stolz! es ist schon gut!
    Und was ihr wünscht das wüßt’ ich wohl zu schaffen.

    Bürgermädchen.
    Agathe fort! ich nehme mich in Acht
    Mit solchen Hexen öffentlich zu gehen;
    Sie ließ mich zwar, in Sanct Andreas Nacht,
    Den künftgen Liebsten leiblich sehen.

    Die Andre.
    Mir zeigte sie ihn im Krystall,
    Soldatenhaft, mit mehreren Verwegnen;
    Ich seh’ mich um, ich such’ ihn überall,
    Allein mir will er nicht begegnen.

    Soldaten.
         Burgen mit hohen
         Mauern und Zinnen,
         Mädchen mit stolzen
         Höhnenden Sinnen
         Möcht’ ich gewinnen!
         Kühn ist das Mühen,
         Herrlich der Lohn!

         Und die Trompete
         Lassen wir werben,
         Wie zu der Freude,
         So zum Verderben.
         Das ist ein Stürmen!
         Das ist ein Leben!
         Mädchen und Burgen
         Müssen sich geben.
         Kühn ist das Mühen,
         Herrlich der Lohn!

         Und die Soldaten
         Ziehen davon.

    Faust und Wagner.

    Faust.
    Vom Eise befreyt sind Strom und Bäche, […]

    Breaking News: Helene „Mir doch wurscht, von wem das ist“ Hegemann:
    Wie hypermodern Goethes Osterspaziergang ist,
    in: Die Welt, 15. Apil 2017, Lesedauer: 4 Minuten.

    Franz Simm, Vor dem Thor, ca. 1900

    BIlder:

    1. Peter von Cornelius: Faust und Wagner unter den Spaziergängern vor dem Tore, 1826;
    2. Spaziergang am Ostersonntag. Holzstich nach dem Gemälde von J. Wichmann. Aus der Gartenlaube 1885. In: Goethes Faust mit einer Einleitung von Max von Boehn. Berlin im Askanischen Verlag Carl Albert Kindle, 1924;
    3. Franz Simm: Vor dem Thor, ca. 1900,

    alle via Jutta Assel/Georg Jäger: Illustrationen zu Szenen aus Goethes Faust: Vor dem Tor / Osterspaziergang, April 2011.

    Soundtrack: Irving Berlin as sung by Judy Garland and Fred Astaire:
    It Only Happens When I Dance With You,
    from: Easter Parade (deutsch: Osterspaziergang), 1948:

    Written by Wolf

    17. April 2017 at 01:21

    Veröffentlicht in Klassik, Nahrung & Völlerei

    Löblich wird ein tolles Streben, wenn es kurz ist und mit Sinn

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    Update zu Tumultuantenharanguieren (sed iam satis) und Nur die Wurst hat zwei:

    Ob Seine Exzellenz, der Herr Geheimrat Goethe, wohl von seinen Jahrzehnte alten, wenngleich abschreckenden Erinnerungen an das Römische Karneval zehren musste, um 75-jährig eine spontane Auftragsarbeit für den Kölschen anzunehmen?

    Der Auftraggeber war Goethen schon bekannt und im Unterschied zu den flatterhaft spontanen Südländern als besonders verlässlich und sortiert aufgefallen. Vielleicht sollte man sich als Auftragsschreiber nach vorne in solche Kundschaft flüchten, die sich ausdrücklich der Narretei verschrieben hat.

    ——— Heinrich von Wittgenstein:

    Extrablatt

    bekannt gemacht im Auftrage des Karnevals=Comite’s.

    Köln den 9. Februar 1825.

    in: Kölnische Zeitung, 9. Februar 1825:

    Das festordnende Comite hatte es für seine Pflicht gehalten, dem Altvater der deutschen Dichtkunst Nachricht zu geben von dem, was es zu einer veredelten Feier des dießjährigen Karnevals unternommen, und dabei den Wunsch zu äussern, ihn bei dem Feste in unserer Mitte zu sehen. Wie von Göthe die Botschaft aufgenommen, beweist das den Festordnern am 3. Februar zugesandte Gedicht, welches diese durch Gegenwärtiges kund zu machen sich beeilen. In der beigefügten Erwiederung von Seiten eines vaterländischen Dichters wird jeder muntere Kölner sein eignes Gefühl ausgedrückt finden. —

    ——— Goethe:

    Der Kölner Mummenschanz

    Fastnacht 1825.

    Ebenda:

    Extrablatt Kölner Karneval, Goethe, Fastnacht 9. Februar 1825, VorderseiteDa das Alter, wie wir wissen,
    Nicht für Thorheit helfen kann;
    War es ein gefundner Bissen
    Einem heitern alten Mann,

    Daß am Rhein, dem vielbeschwomnen,
    Mummenschaar sich zum Gefecht
    Rüstet, gegen angekomnen
    Feind, zu sichern altes Recht.

    Auch dem Weisen fügt behäglich
    Sich das Irren wohl zur Hand,
    Und so ist es ganz verträglich
    Wenn man sich mit Euch verband.

    Löblich wird ein tolles Streben
    Wenn es kurz ist und mit Sinn;
    Daß noch Heiterkeit im Leben
    Giebt besonnenem Rausch Gewinn.

    Häufet nur an diesem Tage
    Kluger Thorheit Vollgewicht;
    Daß mit uns die Nachwelt sage:
    Jahre sind der Lieb und Pflicht.

    ——— Wilhelm Smets:

    Lied an Göthe,

    als derselbe durch ein Gedicht dem Kölnischen Karnevals=Comité seinen Beifall über die diesjährige Festanordnung zu erkennen gegeben hatte.

    Ebenda:

    Extrablatt Kölner Karneval, Wilhelm Smets, Fastnacht 9. Februar 1825, RückseiteGriesgram, Neidhard, Störefried,
    Düstere Gesellen,
    Euch zum Trotze soll dies Lied
    Meiner Brust entquellen.

    Steht ein Sänger weiß von Haar
    Auf dem alten Thurme,
    Hehr und männlich wunderbar
    In der Zeiten Sturme.

    Und er schlägt die Saiten frisch,
    Singet Welt und Leben,
    D’rob in gaukelndem Gemisch,
    Gnomen sich erheben.

    Pustend fiel zum Thurme ziehn,
    Werfen gift’ge Kuchen,
    Glower-Ritter gegen ihn
    Ihre Lanz‘ versuchen.

    Tiefen Schweigens bittrer Hohn
    Scheuchet sie von hinnen,
    Götterstark des Ruhmes Sohn
    Raget von den Zinnen.

    Und es naht ein neuer Troß:
    Siechthum, ihn zu äffen,
    Und des Todes herb Geschoß
    Soll den Heros treffen.

    Doch, er lächelt ob der Noth,
    Greift zum Zaubertranke,
    Gluth färbt ihm die Wangen roth
    Von Champagner’s Ranke.

    Und er schweigt zu jedem Drang,
    Läßt kein Lied ertönen;
    Das ist Pein wie Höllenzwang:
    Sängers ernst Verhöhnen.

    Da mit einmal: Tra, ra, ra!
    Kommt ein lustig Schreiben,
    Wie sie’s in Colonia
    Pudelnärrisch treiben,

    Wie die Freude ewig jung
    Sie im Geist bewahren,
    Und im raschen Jubelschwung
    Ernst mit Scherz verpaaren.

    Sieh, bedeutsam nun das Haupt
    Hebt der alte Sänger,
    Und die Harfe, reich umlaubt,
    Schweiget nun nicht länger.

    „Alter schützt vor Thorheit nicht,
    Freude freut noch innig;
    Spielt das lustige Gedicht,
    Spielt es kurz und sinnig!“

    Goethe im Karneval, Karikatur Extrablatt Fastnacht 9. Februar 1825

    Bilder: Scans vom Original in Thomas Stollenwerk: Goethe und der Kölner Karneval.

    Soundtrack: Marco Fornaciari in Niccolò Paganini:
    Il carnevale di „Mein Hut, der hat drei Löcher“ Venezia, Opus 10, 1829:

    Written by Wolf

    11. November 2016 at 00:01

    Veröffentlicht in Klassik, Nahrung & Völlerei

    Ach Kind, wenn du ahntest, wie Kunitzburger Eierkuchen schmeckt!

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    Update zu Touristengeheimtipp mit Gewinnspiel: Meide das Oktoberfest!:

    Zu Cöllen kam ich spät Abends an,
    Da hörte ich rauschen den Rheinfluß,
    Da fächelte mich schon deutsche Luft,
    Da fühlt‘ ich ihren Einfluß –

    Auf meinen Appetit. Ich aß
    Dort Eierkuchen mit Schinken,
    Und da er sehr gesalzen war
    Mußt ich auch Rheinwein trinken.

    Der Rheinwein glänzt noch immer wie Gold
    Im grünen Römerglase,
    Und trinkst du etwelche Schoppen zu viel,
    So steigt er dir in die Nase.

    Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermährchen, Caput IV, Anfang, 1844.

    Zwischen Bergen im Sonnenschein
    liegt am Fluss das Städtchen.

    Hier oben von meinem Meilenstein seh ich über alle Dächer.

    Kerzengrade steigt der Rauch.

    Durch einen blühenden Hollunderbusch
    unterscheide ich deutlich,
    unter der alten Grünspankuppel,
    die Thurmuhr.

    Ein himmelblaues Zifferblatt mit weissen Zahlen.

    Noch drei kleine Striche,
    und die gesammte Bürgerschaft
    setzt sich pünktlich zu Mittag.

    Zwölf!

    Es ist heute Sonnabend, es giebt also überall Eierkuchen.

    Ich köpfe vergnügt eine Distel
    und wandre weiter.

    Arno Holz: Phantasus, Heft 1, 1898.

    Ich bin eine alte Kommode.
    Oft mit Tinte oder Rotwein begossen;
    Manchmal mit Fußtritten geschlossen.
    Der wird kichern, der nach meinem Tode
    Mein Geheimfach entdeckt. –
    Ach Kind, wenn du ahntest, wie Kunitzburger Eierkuchen schmeckt!

    Joachim Ringelnatz: Ansprache eines Fremden an eine Geschminkte vor dem Wilberforcemonument, aus: Kuttel-Daddeldu, 1924.

    Thomasîn von Zerclaere, Der Wälsche Gast, 1215--1216, 6th Book, Verse 7443--7474. Seite aus der Heidelberger Handschrift CPG 389, fol. 116r, Mitte 13. JahrhundertHab ich’s nicht immer geahnt, dass jemand außer mir meine fast wöchentlichen Herzensergießungen lesen muss. Der Beweis ereilt uns nach ziemlich genau einem Monat nach meinem Aufruf, das verflossene Oktoberfest zu meiden und statt dessen lieber die Ausstellung Bilderwelten 2016. Buchmalerei zwischen Mittelalter und Neuzeit in der Bayerischen Staatsbibliothek zu München aufzusuchen:

    Sebastian Keller war dort und kann es beweisen. Wie aufgefordert kommentiert er unter den richtigen Eintrag:

    Laut Plakaten (ich nehme mal an, dass die in diesem Zusammenhang als zitierfähige Quelle dienen können) stammt das aus „Der Welsche Gast“.

    Alles was recht ist, stimmt das natürlich und ist kaum woanders her zu erfahren als im Eingangsbereich der Ausstellung im ersten Stock. Erst wenn man soviel weiß, kann man weiterverfolgen, dass ein gewisser Thomasîn von Zerclaere der Verfasser des ersten monumentalen deutschsprachigen „Lehrgedicht des Mittelalters, Der wälsche Gast ([mittelhochdeutsches] Original: Der welhische Gast)“ (Wikipedia) war, und das Gedicht seinerseits im Handschriftencensus des Marburger Repertoriums und als Volltext in der Bibliotheca Augustana ausschöpfen. Zum Beispiel entstand das Monument anno 1215 bis 1216, ist also durchaus eine Jubiläumsfeier wert.

    Vorerst feiern wir Sebastian Keller, der da gewesen ist.

    Hurra!

    Ich freue mich, dass es mir die noble Zurückhaltung meiner Mitbewerber erlaubt hat, diesen Wettbewerb für mich zu entscheiden.

    Verehrte An- oder Abwesende, hohes Haus, ich nehme die Wahl an und möchte mich bei den Mitgliedern der Akademie, meinem Agenten und meiner Mutter bedanken, ohne deren unermüdliche Hilfe … etc. pp.

    Die Versandadresse (mit der Bitte um Gelegenheit mich auf gleiche Weise erkenntlich zu zeigen) ist [hier folgt seine Adresse].

    Da der Lobgesang auf Leobowitz schon andernorts gesungen wurde, auch Zé do Rock schon Erwähnung fand und ein Hinweis auf Richard Adams leicht zu einem Nachruf werden könnte, bleibt als Gegenstand der Minne nur die unverfängliche Perfektion aus Mehl, Milch und Ei gebacken: der gewöhnliche Pfannkuchen, auch als Eierkuchen oder Pfannafleck’l bekannt. Natürlich unter Berücksichtigung von Crepe, Palatschinken, Bliny und Artgenossen.

    Auch wenn ich bei meiner Ausschreibung an eine eigene Internet-Präsenz für eine nicht vollends verwerfliche Geschäftsidee oder einen auf irgend eine Weise guten Zweck in der Richtung von Amnesty International oder Strahlemännchen dachte, sagt mir die Idee, für Pfannkuchen zu werben, doch sehr zu; außerdem wollte ich schon immer mal mein Lieblingszitat „Ach Kind, wenn du ahntest, wie Kunitzburger Eierkuchen schmeckt!“ sinnvoll als Überschrift verwenden. Dabei gibt seine eigene Internet-Präsenz genug her, das man womöglich sogar mal hier brauchen kann, dass ich sie in die Linkrolle nebenan aufzunehmen nicht anstehe. — Schamlos beworben werden also: Pfannkuchen.

    Leute, esst mehr Pfannkuchen! Gewöhnliche Pfannkuchen, auch als Eierkuchen oder Pfannafleck’l bekannt, Crêpes, Palatschinken, Bliny und Artgenossen! Sie sind die unverfängliche Perfektion aus Mehl, Milch und Ei gebacken! Dazu unbestritten wohlschmeckend, äußerst nahrhaft, leicht und variantenreich herzustellen und bestimmt gesund für irgendwas! A pancake a day keeps McDonald’s away!

    Der Buchpreis ist praktisch unterwegs und wird expediert, sobald mir die Post sagt, ob die Büchersendung 1 oder 1,65 Euro kosten soll. Glückwunsch und danke fürs Mitmachen!

    Bild: Seite aus Der wälsche Gast, Heidelberger Handschrift CPG 389, fol. 116r, Mitte 13. Jahrhundert.

    Soundtrack: I’m a Crêpe (oder so ähnlich …) von Radiohead aus: Pablo Honey, 1993, auf verstimmter Kinderukulele zelebriert von der hinreißenden Amanda Palmer, Red Peters‘ Oddville im Cutler Majestic Theatre in Boston, 7. Juni 2008:

    Zu zurückgenommen? Dann noch das Original, solange es auf YouTube erlaubt ist — aber alle Regler nach rechts, wenn’s geht, damit sich hinterher die Pfannafleckln rentieren.

    Written by Wolf

    16. Oktober 2016 at 01:31

    Veröffentlicht in Hochmittelalter, Nahrung & Völlerei

    Wein-Lese

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    Update zu Einige Reste Wein und
    Ich trinke ein Glas Burgunder!:

    Gut! wenn ich wählen soll, so will ich Rheinwein haben.
    Das Vaterland verleiht die allerbesten Gaben.

    Frosch, Auerbachs Keller, Vers 2264 f.

    Da ist mir dieser Tage ein exquisites Tröpfchen aufgefallen. Und ich sag’s gleich: Es ist nicht erhältlich. Es ist der Rheinwein von Karl Simrock — den er nicht nur fleißig verzehrt, sondern in Eigenanbau und Kelterei hergestellt hat. Der Dichter und Gelehrte war nämlich nebenher Freizeitwinzer und übrigens auch Spargelbauer.

    Heinrich Reifferscheid, Karl Simrocks Studierstube im Haus Parzival, Zeichnung 1905

    Schade drum, das zu verkosten wäre ähnlich interessant wie das Stöffchen, das einst E.T.A. Hoffmann befeuert hat, aber nicht namentlich überliefert ist. Über Simrocks Menzenberger Eckenblut weiß man: Es war wohl eine Fuchs- oder Erdbeerrebe, also von eher geringer Qualität — und aus der Ortsgeschichtsschreibung: „Der Weinanbau in Menzenberg endete Ende der 1950er-Jahre“, und als aktuellste Meldung aus dem Bonner General-Anzeiger vom 29. März 2012: Rebfläche am Weingut Menzenberg soll rekultiviert werden:

    Professor Helmut Arntz rettete es vor 30 Jahren vor dem Untergang und ließ es mit großem Einsatz restaurieren. Nur Wein wird eben nicht mehr am Menzenberg angebaut. Lediglich eine alte Simrock-Rebe wurde entdeckt und seither von der Weinbruderschaft Mittelrhein-Siebengebirge gehegt.

    Ihre Ideen zur Rekultivierung des Weinhanges Menzenberg stellten jetzt Peter Weinmann von der Karl-Simrock-Forschung Bonn und Jan Dirk Schierloh von der Stiftung Rheinische Kulturlandschaft im „Weingut Menzenberg“ vor. „Ziel ist es, einen 4000 bis 5000 Quadratmeter großen Teilabschnitt zu rekultivieren“, sagte Schierloh.

    Die Fläche ist im Eigentum von Hartmut und Helga Möltgen, den Inhabern des Weingutes Menzenberg, das sie restauriert haben und als Gaststätte betreiben. An einen professionellen Weinanbau haben die Initiatoren freilich nicht gedacht, sondern es geht um den kulturgeschichtlichen Aspekt. Bis zur Säkularisation 1803 hatten hier verschiedene Orden Weingüter. Danach verkaufte der Staat das ihm zugefallene Eigentum. So gelangte auch in die Familie des Bonner Musikverlegers und Beethoven-Freundes Nikolaus Simrock ein Weingut.

    Weinkultur MenzenbergDie Inhaber eines Weingutes, die darauf eine Gaststätte betreiben, haben nicht daran gedacht, Wein anzubauen? Boshaft gesagt ist es dann auch kein Wunder, dass Familie Möltgen, ein ausgestiegenes Lehrerehepaar, bis Ende 2013 die letzten Wirtsleute waren — erneut nach Information des Bonner General-Anzeigers am 11. September 2013: Familie Möltgen verkaufen Anwesen am Menzenberg:

    Der gastronomische Betrieb, den das Ehepaar betrieben hat, ruht bereits zum größten Teil. Ende des Jahres [2013] wird er endgültig eingestellt. In Zukunft wird das historische Anwesen ausschließlich als Mehr-Generationen-Wohnhaus genutzt.

    Der aktuelle Stand über Simrocks Anwesen ist laut Adressverwaltung der Stadtinformation Bad Honnef:

    Nach wechselvollen Jahrzehnten mehrerer Eigentümer, Bewohner und baulichem Niedergang, kaufte Prof. Univ. Dr. Helmut Arntz, Fachkollege Simrocks und Bad Honnefer im Jahr 1980 bei einer Zwangsversteigerung das Anwesen. Es erfolgte der Eintrag in die Denkmalliste und der langwierige Wiederaufbau des abbruchreifen „Haus Parzival“ . Die Treppe, Fenster, Türen und Außenläden, die teilweise im Garten herumlagen, sind original, im Keller ist noch das Loch für die Schläuche zum Füllen und Abziehen der Weinfässer zu sehen. Von Simrocks Einrichtung ist im „Haus Parzival“ jedoch nichts mehr vorhanden.

    Der alte Weinberg existiert nicht mehr, dort stehen heute Fichten und alte Obstbäume. Aber auf dem Grundstück des „Haus Parzival“ fand man eine meterlange Amerikaner-Rebe aus der Epoche Karl Simrocks am Menzenberg, die sich zwischen den Ästen eines Apfelbaumes schlängelte. Prof. Arntz ließ eine Pergola bauen, die dem kostbaren Fund seither Schutz und Entfaltungsmöglichkeit bietet.

    Ansprechpartner zu Haus Parzival ist Herr Klaus Weinmann von der Bonner Karl-Simrock-Forschung, keine Besichtigung möglich, nur der Ausgangspunkt für den Literarischen Simrock-Freiligrath-Weg, der kein Rundwanderweg ist.

    Weinkultur MenzenbergMan braucht also derzeit nicht hin, um zu bleiben; weder gibt es den Wein der Sehnsucht noch eine kulturell bedeutsame Einkehr (kein Zweifel besteht hingegen an der allgemeinen Einkehrkultur dieses Landstrichs, gerade auch entlang des Literarischen Simrock-Freiligrath-Weges). Mir hätte das damals noch geöffnete Wirtshaus schon 2007 auffallen sollen, als ich für Moby-Dick™ dem sehr deutschfreundlichen Amerikaner Eric T. Hansen bei seinem Versuch gefolgt bin, das Land der Deutschen mit der Seele zu suchen. Damals hat mir offenbar genügt, seinen anrührenden Abschnitt aus Planet Germany. Eine Expedition in die Heimat des Hawaii-Toasts von 2006 zu verbreiten. Das mach ich glatt noch einmal, diesmal mit Blick auf den Wein. Wir werden ja alle nicht jünger.

    Planet Germany geht über die typisch deutschen Selbstkasteiungen, wie typisch deutsch der typische Deutsche doch sei, weit hinaus; die Qualität rührt nicht daher, dass überraschenderweise doch Amis klug und Deutsche doof sind, sondern von der Distanz schaffenden, jeoch teilnehmenden Sicht von außen. Man stelle sich vor: Amerikanische Jungs wissen sich ihrer Vorliebe zu deutschen Mädchen nur zu erwehren, indem sie welche heiraten. Erwachsen geworden, schreiben sie Bücher mit einer Aufmerksamkeitsspanne von über 15 Sekunden. Und Hawaiianer wohnen freiwillig im verregneten Deutschland, machen ihren Magister in deutscher Mediävistik und passend dazu eine ausführliche Nibelungenreise (und der New Yorker Seemann Herman Melville liest — ich möchte es berücksichtigt haben — nachweislich die Gespräche mit Goethe von Eckermann) — eine Idee, mit der einem Deutschen zu kommen sich einer erst mal trauen muss.

    Weinkultur MenzenbergDas Wohltuende daran ist: Es verhält doch nicht nur so, dass der blindgeschlagene Deutsche an sich dauernd irgendwelchen kulturlosen Besatzern nacheifert. Gerade Karl Simrock hat versucht, das deutsche Nationalepos des Nibelungeliedes durch selbst zusammengesuchtes Sagenmaterial in einem Amelungenlied zu vervollständigen. Meine Ausgabe davon hat etwa 860 Seiten, mehr als das Nibelungenlied. Es war von Anfang an kein Bestseller, meine 860 Seiten sind in Fraktur und ohne Jahreszahl, an eine ISBN war noch lange nicht zu denken, aber wohl von ungefähr anno 1900 — vor allem, falls es die jedenfalls von Gotthold Klee eingeleitete Ausgabe ist. Das Amelungenlied gibt’s also schon länger nicht mehr als den Wein, und für den Sagenkreis um Dietrich von Bern ist man — kein Scherz — am ehesten auf norwegische Literatur angewiesen — weil nämlich ein aufstrebender Komponist in der Tradition von Richard Wagner namens Adolf Hitler seine geplante Dietrich-Oper wegen anderweitiger Bestrebungen nicht zu Ende brachte und man seither nicht weiß, was man daran verpasst oder sich statt dessen eingehandelt hat.

    Karl Simrock wohnte seit 1832 auf dem Weingut und erwarb es 1834 — 32-jährig — für 2367 Taler. Etwa um diese Zeit nahm er die Arbeit am Amelungenlied auf, das ihn allerdings mehrere Jahrzehnte lang beschäftigte. Gedruckt erschein es 1843 bis 1849. Das Etikett zu seinem eigenen Wein ist auf launige Weise antikisierend vom Winzer selbst gedichtet, allerdings wird nirgends klar, ab wann genau; die erhaltenen Vorlagen deuten schon auf frühestens 1840, als Simrock sehr vertieft in die Dietrichepik gedacht und gelebt haben muss. Es bedient sich in Namensgebung und Anpreisung der Dietrichssage.

    ——— Karl Simrock:

    Menzenberger Eckenblut

    Weinetikett, ca. 1840. Unterteilung in mehrere Bildfelder durch knorrige Weinstücke. In der Mitte Ansicht von Simrocks Weingut, darüber weinumrankt die Lagebezeichnung, darunter die nur zur Hälfte vorgedruckte Jahrgangsbezeichnung 18[..], via Karl-Simrock-Forschung:

    Held Dietrich schlug Herrn Ecken
    Zu Tod, den kühnen Mann.
    Nun lassen wir uns schmecken
    Das Blut, das ihm entrann.

    Die Erde hat’s getrunken
    Die Rebe saugt‘ es ein
    Zuletzt in’s Faß gesunken
    Ward es ein edler Wein.

    Und trinken wir des Weines
    So giebt des Helden Blut
    Dem kühnen Sohn des Rheines
    Erst rechten Heldenmuth.

    Wir fürchten keinen Gegner;
    Auf dieser Erde Stern
    Lebt auch kein Ueberlegner,
    Kein Dietrich mehr von Bern.

    Ein jedenfalls größerer Bestseller als alles von Karl Simrock ist Planet Germany von Eric T. Hansen 2006. Ein Stück von geradenwegs zärtlicher Anteilnahme auf der Suche nach dem Inbegriff deutschen Wesens, die sich dem zumal deutschen Leser rückwirkend wiedermitteilt, schafft Hansen in .

    ——— Eric T. Hansen:

    Die Deutschen machen aus ein paar toten Dichtern dermaßen Kult,
    dass man fast meint, sie würden sie auch lesen

    aus: Planet Germany, unter Mitarbeit von Astrid Ule, Fischer Taschenbuch Verlag 2006:

    Weinkultur MenzenbergAm Ende einer steilen, von Bäumen gesäumten Straße hoch über dem Rhein steht ein zweistöckiges Haus, das im spätklassizistischen Stil auf dem Gewölbe einer uralten Kellerei der Minoritenmönche gebaut wurde. Die Villa heißt Haus Parzival. Hier hat der Germanist, Übersetzer, Dichter und Vollblutromantiker Karl Simrock seine Sommer verbracht.

    Simrock hatte bei Schlegel und Arndt studiert, empfing ab und zu Besuch von den Grimms und Ludwig Uhland und verfasste schwärmerische Gedichte über die Schönheit des Rheins. Bekannt wurde er als Übersetzer zahlreicher Werke des Mittelalters und des germanischen Altertums, von der Edda über die Gedichte Walthers von der Vogelweide bis hin zu Wolframs Parzival. Sein größtes Verdienst war, das Nibelungenlied mit einer schwungvollen und lesbaren Übersetzung populär zu machen, ja es gar zu einer Art deutschem Ersatz-Gründungsmythos zu erheben. Er gehörte zum harten Kern der deutschen Identitätsbastler.

    Sein Haus Parzival liegt ein paar Meter ab von der Straße hinter einem schwarzblauen, verschnörkelten Eisenzaun. Das Haus ist gelb, dieses typisch deutsche Buttergelb. Das sanft ansteigende Gelände ist voller Pflanzen – gepflegte Blumenbeete, Wildgräser, selbst das Unkraut ist malerisch. Dazwischen ein Teich, ein Vogelbad, ein hölzerner Tisch mit Stühlen. Ein Ahorn, eine Esche, eine Trauerweide machen den Garten schattig.

    Ich stand eine Weile da und betrachtete den Garten. Er strömte Ruhe aus, und ich bildete mir ein, dass man von hier aus den Rhein riechen konnte. Alles war leicht. Hier war jeden Tag Sommer.

    Ich stellte mir vor, wie Simrock im Garten spazieren geht. Zwischendurch greift er zum Gartenwerkzeug und kümmert sich um seine neuen Spargelbeete. Er hat ein Buch dabei, einen dieser alten Lederbände, die von außen kaum identifizierbar sind, weil der Umschlag keine bunte Abbildung enthält. Es ist sicher der Iwein. Nach einer Weile setzt er sich hin und liest. Wenn der Tag zur Neige geht, nimmt er ein Glas Wein dazu.

    Weinkultur MenzenbergEs war das perfekte deutsche Leben. Das Leben, das die meisten Deutschen heimlich leben wollen – damals wie heute. Ein großes Haus – weder eine Mietwohnung noch eine protzige Villa, eher ein … Anwesen. Genug Geld, um finanziell unabhängig zu sein, aber nicht so viel, dass man als reich beschimpft wird. Im Haus hat man eine Küche mit offenem Kamin. Keine Mikrowelle, kein Plastik. Alles strahlt Ursprünglichkeit aus: Stahl, Stein, Holz. Im Salon ein altes Klavier, ein echter Perser, ein echtes Hausmädchen. Ein Arbeitszimmer – pardon, eine Privatbibliothek natürlich, mit bequemen Stühlen und einem breiten Schreibtisch, denn „arbeiten“ heißt, man befasst sich mit dem Griechischen und mit Latein. Der ideale Deutsche arbeitet mit den Dingen des Geistes. Nicht des Hirns, sondern des Geistes. Er hat Muße. Dass er kein Snob ist, zeigt, dass er nebenbei ein Handwerk ausübt. Er respektiert die Arbeit mit den Händen und verbringt deshalb viel Zeit im Garten, er kocht selbst in der Küche, wenn Gäste kommen, oder, wie Simrock es tat, er legt einen kleinen, edlen Weingarten an und nennt seinen Wein nach einer Figur aus den alten Schriften, mit denen er sich gerade beschäftigt: Eckenblut, nach dem Riesen in der Dietrichssage. Wenn Freunde vorbeikommen, geht man am Rhein spazieren und diskutiert die Arbeit am griechischen Text und die Entwicklungen in Frankreich oder den anderen wichtigen Regionen der Welt.

    So will jeder Deutsche sein, dachte ich mir, als ich da stand. Was vor mir liegt, ist nichts weniger als die deutsche Seele selbst. Meine Chance war gekommen. Ich musste mich nur ein Stündchen an diesen Tisch in den Garten setzen, dann würde sie sich schon blicken lassen. Wenn ich die jetzigen Bewohner nett fragte, würden sie es sicher erlauben.

    Ich klingelte. Aber es machte keiner auf. Niemand war zu Hause.

    Das Weinetikett gibt’s sogar noch zu kaufen: ca. 19 cm x 26 cm (geringfügige Abweichungen im Papierformat möglich) für 90 Euro zzgl. Versandkosten. Wie gesagt, ohne den Wein.

    Menzenberger Eckenblut

    Bilder: Haus Parzival, Menzenberg 9, das Weingut von Karl Simrock in Weinkultur Menzenberg, Januar 2013:

    1. Heinrich Reifferscheid: Karl Simrocks Studierstube im Haus Parzival, Zeichnung 1905;
    2. Heinrich Reifferscheid: Haus Parzival, Gemälde 1895;
    3. Dankward Heinrich: Der alte Weg zu Haus Parzival führte südlich des Baches (heute privat);
    4. Dankward Heinrich: Karl Simrocks Haus, 2013;
    5. Klaus Rick: Haus Parzival, Eingang — über der Haustür die Initialien des Ehepaars Simrock;
    6. Dankward Heinrich: Weinbergsweg oberhalb Haus Parzival (links unterhalb des Zauns);

    Weinetikett Menzenberger Eckenblut: Carl Schlickum via Karl-Simrock-Forschung Bonn.

    Soundtrack: einer der wenigen genießbaren Momente bei Richard Wagner: Orchesterzwischenspiel vor dem I. Aufzug: Siegfrieds Rheinfahrt, aus: Götterdämmerung, 1876, unter Zubin Mehta in Valencia, 2008:

    Written by Wolf

    23. September 2016 at 00:01

    Veröffentlicht in Nahrung & Völlerei, Romantik

    Nach einer guten Mahlzeit

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    Update zu Lessing aktuell,
    Bei Ludwig Tieck geheult vor so viel Schönheit,
    Hastig die ärmlichen Verse,
    Cit. Schmidt, A.: Faust IV, 1960,
    Unter sotanen Umständen und
    (Vorsicht, lang:) Helmstedt-Marienborn (Mitternacht) — Arizona (noon).:

    Periplus, Fahrtenbuch. Gedanken und Beiträge zur Welt der Literatur, November--Dezember 2015

    ——— Arno Schmidt:

    Aus dem Leben eines Fauns

    Niederschrift Dezember 1952 bis Januar 1953,
    Rowohlt Verlag, Hamburg 1953, cit. Bargfelder Ausgabe I/1, Seite 318:

    Also Schluß ! ! : ent-güll-tich Schluß ! Ich ging in meine Stube, O., und legte mich etwas hin. (Nach einer guten Mahlzeit kann man in meinen Jahren nicht mehr denken. Arbeiten allenfalls noch. — Das Verläßlichste sind Naturschönheiten. Dann Bücher; dann Braten mit Sauerkraut. Alles andre wechselt und gaukelt.)

    Periplus, Fahrtenbuch. Gedanken und Beiträge zur Welt der Literatur, November--Dezember 2015

    Fachliteratur und Bilder:

    Soundtrack: Gus Backus: Sauerkraut-Polka, aus: Unsere tollen Tanten, 1961. Ungelogen Udo Jürgens an der Trompete, Bill Ramsey am Bass, auf Gitarre und Klarinette verteilt Georges Dimou und Henning Heers, Trude „Ich will keine Schokolade“ Herr als Edeltraut.

    Written by Wolf

    5. August 2016 at 00:01

    Veröffentlicht in Nahrung & Völlerei, Novecento

    Damit du siehst, wie leicht sich’s leben läßt

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    Update zu Die besten Saufbrüder sind gestorben,
    Wer weis, wie lang ich hier noch bin
    und Ich trinke ein Glas Burgunder!:

    Staub soll er fressen, und mit Lust.

    Mephisto, Prolog im Himmel, Vers 334.

    Ich muß dich nun vor allen Dingen
    In lustige Gesellschaft bringen,
    Damit du siehst, wie leicht sich’s leben läßt.
    Dem Volke hier wird jeder Tag ein Fest.
    Mit wenig Witz und viel Behagen
    Dreht jeder sich im engen Zirkeltanz,
    Wie junge Katzen mit dem Schwanz.
    Wenn sie nicht über Kopfweh klagen,
    So lang‘ der Wirth nur weiter borgt,
    Sind sie vergnügt und unbesorgt.

    Mephisto, Auerbachs Keller in Leipzig. Zeche lustiger Gesellen, Vers 2158 ff.

    Fällt das wieder nur mir auf – oder ist das normal, dass in der Literatur an allen Ecken und Enden von Gaststätten aller Niveaus die Rede ist, aber kaum eins davon existiert? Mit Müh und Not konnte ich die folgenden dingfest machen, die allesamt einen Besuch wert sind.

    Ich bin– ebenso wie die Kommentarfunktion – weit für Hinweise geöffnet und gern bereit für einen zweiten Teil. Wenn also jemandem noch das eine oder andere auffiele? Aber nicht dass mir jetzt einer mit dem Milliways kommt.

    Die Bilder lehren, wenn schon sonst nichts, dass es aus Lipnitz an der Sasau, das sich heute selbst ein böhmisches Dorf namens Lipnice nad Sázavou ist, recht anständige Street-View-Aufnahmen gibt, aber weder aus Bamberg, Leipzig noch – halten Sie sich fest – Wien. Das Bilderformat lehrt, was ich für ein altmodischer Sack bin, der heute noch einen überbreiten Schwertransporter von Notebook benutzt. – Alphabetisch nach Wirtshausnamen:

    1. Albrecht-Dürer-Stube, Nürnberg, Albrecht-Dürer-Straße 6.Es freut mich, alphabetisch und heimatlich mit einer mir persönlich bekannten Kneipe und einer meiner liebsten Künstlerlegenden einsetzen zu dürfen:Wohl gegen 1497, als Albrecht Dürer sich als Maler selbstständig machen konnte, saß er in trauter Runde in eben jener Albrecht-Dürer-Stube, die wohl noch nicht nach ihm benannt war, aber unweit – keine fünf Minuten den Burgberg runter – seines Wohnhauses lag. Wie es mit frischen Start-uppern so geht, zogen ihn die Kollegen in dem Sinne auf, ob er denn überhaupt anständig malen könne. Und dann muss man sich diese künstlerische Chuzpe vorstellen, wie Dürer bei der Saaltochter ein Stück Kreide bestellte, wie sie in sehr alten Wirtshäusern zuverlässig – zum Ankreiden – vorhanden war. Unter den gespannten Augen der Mitzecher setzte Dürer mit der Kreide einen Punkt mitten auf die Tischplatte. Nahm kurz Augenmaß und malte einen perfekten Kreis außen herum. Und gab an: „Messt nur nach.“ Dann musste die Saaltochter auch noch einen Zirkel herbeischaffen, man maß nach – und der Kreis stimmte. Das hat mir immer mehr imponiert als seine drei Meisterstiche. Da hatten sie wohl in der Stube noch keine Tischdecken.

      Albrecht-Dürer-Stube, Nürnberg, Google Street View

    2. Auerbachs Keller, Leipzig, Mädler Passage, Grimmaische Straße 2–4:
      Historisches Restaurant im Herzen der Leipziger Altstadt.

      Dem Doktor Faust hat’s ja dort nicht so gefallen, wie man aus der Schule weiß.

      Leipzig, Auerbachs Keller, Google Maps

    3. Café Hawelka, Wien, Dorotheergasse 6.Die Mutter aller Wiener Kaffeehäuser kommt zweifellos auch in literarischen und musikalischen Texten vor, an denen man ausdrücklich davon wissen muss, um es zu bemerken. Die Öffnungszeiten, die auf der heutigen Website angegeben sind, waren entweder dereinst sehr viel großzügiger – oder werden bis heute nicht besonders penibel eingehalten. Bis Mitternacht, nur donnerstags bis sonntags bis 1 Uhr früh, das sind ländliche Verhältnisse, die noch lange kein Nachtcafé ausmachen, schon gar nicht in der Wiener Innenstadt. Im Gegenteil will hier schon so ziemlich jeder bis in die mittelspäten Morgenstunden durchgemacht haben, der im Entfernstesten mit einem Kulturbetrieb zu tun hat, weil es dort weder eine inakzeptable Schande ist, sich bei ordentlichem Benehmen in die Besinnungslosigkeit zu saufen, noch eine ganze Öffnungszeit lang an einem einzigen Kaffee zu nuckeln. Die Website selbst führt als Honoratioren an: Klaus Maria Brandauer, Elias Canetti, André Heller, Alfred Hrdlicka, Friedensreich Hundertwasser, Udo Jürgens, Hans Moser, Helmut Qualtinger, Peter Ustinov, Andy Warhol, die gesamte Wiener Gruppe einschließlich meines alten Lieblings H. C. Artmann – „u.v.m.“.

      Café Hawelka, Wien, Google Maps

    4. Hoffmanns, Bamberg, Schillerplatz 7:
      steak & fisch.

      Das für Bamberg sehr gehobene Haus hieß zu E.T.A. Hoffmanns Zeiten noch Zur Rose, ist aber im Unterschied zum Bamberger Hotel Wilde Rose und dem Wilde-Rose-Keller mit Bestimmtheit des zugereisten Kapellmeisters, musikalischen Leiters, Dramaturgen, Kartenabreißers, Kulissenmalers und Musiklehrers Laden, weil er am 1. Mai 1809 anlässlich seines Einzugs im heutigen E.T.A.-Hoffmann-Haus am Schillerplatz 26 im Tagebuch vermerkt: „Auch ein Poetenstübchen dabei„, was auf die anderen Häuser nicht zutrifft.

      Wer also mal in Bamberg auf Hoffmanns Spuren wandeln will: unbedingt dorthin. Das betone ich vor allem für mich selber mit solchem Nachdruck; aus persönlicher Neigung würde ich nämlich viel lieber mal wieder ins Schlenkerla, Rauchbier gurgeln.

      Hoffmanns Bamberg, Google Maps

    5. Hotel Elephant, Weimar, Markt 19:
      a Luxury Collection Hotel, Schiller & Goethe auf der Spur; mit Gourmetrestaurant Anna Amalia.

      Gegründet 1696, war das Elephant spätestens 1711 ein eher gehobenes Haus, das von Melissantes in seinem prominenten Reiseführer Das jetzt florirende Thüringen in seinen durchlauchtigsten und ruhmwürdigsten Häuptern / vorgestellt von Johann Gottfried Gregorii empfohlen wurde. Als Poststation erhielt der Laden ab 1741 eine wichtige internationale Funktion, und kurz darauf war er als Stammaufenthalt der Weimarer Klassikrecken stadtbekannt, weil angeblich die Wache am Stadttor alle auf das Elephant verwies, die nach Goethe, Herder oder Wieland fragten. Es scheint demnach, als fürstlich protegierter Literat im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach ließ sich gut leben.

      Bei Thomas Mann ist das Elephant Schauplatz der Rahmenhandlung von Lotte in Weimar von 1939, die 1816 angesetzt ist – 44 Jahre nach Goethes Liebschaft mit Charlotte „Lotte“ Kestner, geb. Buff, die Gegenstand in Die Leiden des jungen Werthers (nur echt mit dem Genitiv-s) war.

      Thomas Mann hat erst 1955 auf eigenen Wunsch im Elephant übernachtet, als er anlässlich der Verleihung des Schiller-Preises in Weimar zu tun hatte. Dabei war das Hotel 1945 bis 1955 als Gaufunkstelle im Hotel zur Außenstelle Weimar des Berliner Rundfunks (später: Landessender Weimar), Militärquartier und Internat umgewidmet, nur das Restaurant während der Schließung 1945 bis 1955 Elephantenkeller in gastronomischem Betrieb. Das Hotel wurde erst wieder ein Hotel, als Thomas Mann, der es in einem weltweit beachteten Roman zu neuem Ruhm geführt hatte, es bestelltermaßen selbst als Hotel nutzen wollte; jedenfalls ist er der erste Gästebucheintrag nach der Neueröffnung. Für seinen Roman hat er also eine fiktionale Version von dem realen Ort aufgebaut.

      Hotel Elephant, Weimar, Google Maps

    6. Lutter & Wegner, Berlin, Charlottenstraße 56, Stammhaus am Gendarmenmarkt.E.T.A. Hoffmann-GesellschaftE.T.A. Hoffmanns eigentliche Stammkneipe, lange nach seiner Bamberger Zeit, die auch noch als solche hochgehalten wird. Haben ja sonst nicht viel an Kultur, da in ihrem märkischen Ballungszentrum.Als Literat lief Hoffmann erst in seiner Berliner Zeit zu Hochform auf. So kommt es, dass sein poetisches Werk ab dem Erstling Fantasiestücke in Callots Manier 1814 bis zu Des Vetters Eckfenster 1822 – also zeitlich dicht gedrängt – mit dem Lutter & Wegner durchsetzt ist.In seiner Spätzeit war der umtriebige, skurrile, charismatische Bestsellerautor Hoffmann eine Attraktion des Restaurants, die unbegrenzt Freibier genoss. Das entsprach nicht nur in Augen des Wirts Hoffmanns Wesen so sehr, dass der Deutsch-Franzose Jacques Offenbach die Rahmenhandlung seiner Oper Les Contes d’Hoffmann (Hoffmanns Erzählungen, 1881) nirgend anders denn in einer Art Lutter & Wegner mit Bamberger Lokalkolorit ansiedeln musste.Die Biergärten und Cafés aus Der goldne Topf in Dresden, das Hoffmann als Einwohner kannte, sind in ähnlicher Weise von Hoffmann idealisierte Handlungsorte und zählen nicht als aufsuchbare Gastronomien.

      Lutter & Wegner, Berlin, Google Street View

    7. Schlappeseppel, Aschaffenburg, Schloßgasse 28:
      Brauereigaststätte seit 1631.

      Die Stammkneipe von Greser & Lenz, wegen der sie eigens nach Aschaffenburg umgezogen sein wollen. Wer die gastronomische Landschaft Hessens und des nördlichen Unterfrankens kennt, kann das nachvollziehen.

      Schlappeseppel, Aschaffenburg, Google Maps

    8. U České koruny , Lipnice nad Sázavou, č.p. 55:
      ubytování Vysočina.

      Zur böhmischen Krone in Lipnitz an der Sasau ist definitiv mein Liebling unter den Fundstücken auf meiner literarischen Kneipensuche. Stundenlang könnte ich sie auswendig lernen und zitieren, jedenfalls die deutsche Version:

      Familiepension mit Gaststätte liegt gerade unter Lipnice Burg in malerischem Bezirk von Böhmisch-mährische Bergländer.

      Lipnice ü./S. ist untrennbar verbunden mit dem Namen des Schriftstellers Jaroslav Hašek, Autors des weltberühmten Werks „Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk„.

      Eben in diesem Gasthaus „Zur Tschechischen Krone“ hat Hašek wesentliche Passage des Werkes während seines Aufenthalts in Lipnice geschrieben. Die Pension ist dank der Rekonstruktion von Hašeks Nachkommen zur Rekreations-Aufenthalten ausgenützt, mit der Erkenntnis dieses Platzes verbundenen und zur angenehmer Verbringung der Freizeit genützt. Weiter ist auch zu verschiedenen Feiern, Hochzeiten, Seminaren und Firmenverhandlungen ausgenützt.

      Der Laden ist keinesfalls zu verwechseln mit dem Prager U kalicha, in dem sich der brave Soldat Schwejk so gern aufhielt, dass er sich für „nach dem Krieg um sechs im Kelch“ als erstes dort verabredet hat – vielmehr steht der – ebenfalls – real existierende Laden in Jaroslav Hašeks letztem, provinziellerem Wohnsitz, in dem er sein opus magnum nicht abgeschlossen hat.

      Was kein Wunder ist, weil seine Hauptbeschäftigung dort das Kartenspiel war; den Schwejk hat er nebenbei einem aufmerksamen Schreiber diktiert, der wohl nicht so viel vom Karteln hielt. Nach mitteleuropäischen Maßstäben muss Hašek als alkoholkrank gelten, das eigentliche Wunder dieser Kneipe ist also, dass 1920 bis 1923 überhaupt ein ziemliches dickes, wenngleich unvollendetes Buch darin entstand. Was in der Böhmischen Krone gezockt wurde und ob Hašek gewonnen hat, werde ich bestimmt vor Ort nachfragen, wenn ich mal vorbeikomme:

      Weiter können sie bestellen und verschmausen an Alt – böhmischen Speisen wie Entenbraten, Rauchfleisch Knie, gebackener Rippenstück. In Sommermonaten werden wir für Sie auf Bestellung einen Ferkel an der Terrasse braten oder das Fleisch grillen.

      Für Firmenfeiern bereiten wir Raut oder mittelalterlichen Festmahl an der Burg Lipnice vor.

      • Braten oder Grillen an der Terrasse
      • Hochzeitsfestmähler
      • Familienfeiern
      • Firmen Parties
      • Rauts an der Burg Lipnice oder im Restaurant

      Wir besorgen die Musik zum Sitzen und auch zum Tanzen.

      Kapazität des Restaurants: 55 Personen
      Sommerterrasse: 40 Personen
      Gotischer Keller: 20 Personen

      Verschmausen. Und Musik zum Sitzen. Ist das nicht hinreißend schnulli? – Ich empfehle zumindest eine virtuelle Ortbegehung.

       Hostinec a penzion U České koruny, Lipnice nad Sázavou, Gasthaus und Pension zur tschechschen Krone, Lipnitz an der Sasau, Google Street View

    9. Zum Jägerheim, Renzenhof, Altdorfer Straße 1, Ecke Hartmann-Schedel-Straße.Die Stammkneipe meiner Kindheit: Dahin haben, solange ich mich nicht wehren konnte, meine Eltern mich immer verschleppt, um Schäuferle für drei Personen („Für mich auch eins!“) zu verdrücken. Was weder meinen Eltern noch mir und mit größter anzunehmender Wahrscheinlichkeit nicht einmal den Wirtsleuten bewusst war: dass vor 1493 im Nachbarhaus Hartmann Schedel vermutlich große Teile der Schedelschen Weltchronik geschrieben hat. Das Nachbarhaus ist ein seit 1362 nachgewiesener Herrensitz, und obwohl der asphaltierte Feldweg zwischen dem Gasthof und dem Herrenhaus Hartmann-Schedel-Straße heißt, ist letzteres im heutigen kollektiven Gedächtnis als „der spinnerte Renzenhofer Turm mit der Sonnenuhr“ verankert und privat bewohnt.Leider haben sich die Wirtsleute Mais anno 1995 aus schlecht verhohlener Trägheit erdreistet, meiner Mutter keinen Tisch für sechs Personen für ihren 50. Geburtstag zu reservieren, obwohl wir ihnen seit Jahren am Rande der Legalität als Endverteiler das Mineralwasser vom Bundesbahn-Sozialwerk für den Gastbetrieb verkauft haben. Seitdem gehen meine Eltern da nicht mehr hin, und ich komm auch nicht grade jeden Tag dran vorbei. Dabei ist die Familie Mais immerhin bis heute entweder so traditionell oder schon wieder so avantgardistisch eingestellt, um auf eine eigene Internetpräsenz zu verzichten.Es gibt also schon wieder eine Kneipe, in der ich vorsprechen muss. Da sieht man wieder, wovon Kultur abhängt.

      Satellitenbild Zum Jägerheim, Renzenhof, Röthenbach an der Pegnitz, Google Maps

    Bilder: Google Street View; Google Maps;
    BamBerger BonusBild bei Berlin: E.T.A.-Hoffmann-Gesellschaft im E.T.A.-Hoffmann-Haus:

    Die Haustür haben bereits Hoffmann und seine Frau geöffnet; damals noch zweigeteilt, konnten nicht nur Kleine und Schlanke den rechten Flügel bequem benützen. Rechts eine Steintafel von 1930 mit der Inschrift: „E.T.A. HOFFMANN WOHNUNG UND MUSEUM“ vom Verkehrs- und Verschönerungsverein Bamberg, der damals die Öffnung gewährleistete. Das Fenster links zeigt das Selbstbildnis Hoffmanns anstelle einer Unterschrift, dazu die Öffnungszeiten. Es bietet in einer Art Peep-Show-Effekt Einblick auf einen fiktiven Arbeitsplatz und macht neugierig auf den Raum dahinter, das Spiegelkabinett. Unser Bild wurde anlässlich einer Inszenierung des Bamberger E.T.A. Hoffmann-Theaters aufgenommen – Sie brauchen natürlich nicht die Schuhe auszuziehen, um hineinzukommen, auch der „Dolch im Gewande“ ist nicht nötig.

    Soundtrack: Laia Costa klavizimbelt virtuos in der Berliner Indie-Kneipe Franz Liszt:
    den 1. Mephisto-Walzer, in: Victoria, 2015, was denn sonst? — Ab Minute 39:30:

    Written by Wolf

    26. Februar 2016 at 00:01

    Veröffentlicht in Klassik, Nahrung & Völlerei

    Inwendig Ochsenfleisch, auswendig Kuhhaut! Und so einer will Kind Gottes sein!

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    Update zu Anständig essen:

    Aus meiner Jugendzeit entsinne ich mich keiner großen emotionalen Reaktionen auf Bücher. Ich hab mich immer — übrigens auch bei Filmen — absichtlich kalt wie Hundeschnauze gehalten, weil ich dergleichen von Anfang an selber können und hinter den Erzählapparatus blicken wollte. Funktioniert hat der Tränenfluss nur einmal bei Peter Rosegger; die archaische Unschuld, die man dem lebenslangen Waldbauernbuben selbstverständlich in jedem Satz abnimmt, macht’s.

    Mehr Argumente für eine vegane Lebensweise braucht’s nicht — oder wenigstens für einen bedachtsamen Umgang mit Sachen, die man aus Mitgeschöpfen herstellt, wie ich ihn seit einigen Jahrzehnten befürworte. Die Geschichte tut weniger weh als eine Fernsehreportage über Massentierhaltung und Viehtransporte; Gemüter, die nur ein Häuchlein zarter sind als mein gestriges Jungbullengulasch, planen trotzdem für die nächsten paar Tage kein Essen, dem man den Tierkadaver noch ansieht.

    ——— Peter Rosegger:

    Das Schläfchen auf dem Semmering

    aus: Waldheimat. Erzählungen aus der Jugendzeit. Band 2: Der Guckinsleben,
    Verlag Gustav Heckenast, Preßburg 1877:

    Das Mittagsmahl war vorüber. Den Rest der Milchsuppe hatte der Kettenhund bekommen, der dankbar mit dem Schweife wedelnd die Schüssel so blank leckte, daß die roten und blauen Blumen, sowie die Zahl des Geburtsjahres der geräumigen Tonschüssel klar zum Vorscheine kam. Der Hund beleckte, gleichsam zum Danke, dann auch noch die Blumen und die Jahreszahl, und gut war’s. Den Rest der Schmalznocken hatte die Bäuerin dem alten Zottentrager (Lumpensammler) verehrt, der auf der Ofenbank saß bei seinem großmächtigen Bündel, in welchem alle alten Fetzen von Alpel beisammen waren und der Papiermühle harrten. Der Zottentrager nahm weder die „Zotten“ umsonst, noch die Schmalznocken, er tat ein Täschlein auseinander und bot der Bäuerin zur Gegengabe drei Ellen blaue Schürzenbänder und ein paar englische Nadeln. Der Großknecht nannte ihn trotzdem einen Lumpenkerl.

    Tina Sosna, Restless Wind, 15. September 2014Als wir vom Tische aufstanden, um wohlgesättigt wieder dem Tagwerke nachzugehen, steckte der Großknecht Rochus einen Ballen Tabak in den Mund. Trotzdem vermochte er noch zu reden und zum Hausvater das Wort zu sagen: „Bauer, brauchst du heute das Bendel?“ Bendel, das ist nämlich der geringschätzige Ausdruck für einen nichtigen kleinen Buben, der den Leuten unter den Beinen umherschlupft, wenn er beim Vieh nichts zu tun hat. Das Wort Bendel mußte auf mich passen, weil der Zieselhofbauer, bei dem ich damals als Schafhirt angestellt war, auf mich herabschaute und die Achseln zuckte. Er brauche mich nicht. Die Schafe seien ja in der eingezäunten Halde.

    „Wenn du ihn nicht brauchst, so brauch‘ ich ihn,“ sagte der Knecht. „Wenn ich morgen ins Österreichische hinaus soll mit dem Leab, so muß das Vieh heut‘ ein paar Stunden umgetrieben werden auf dem Anger.“

    Der Leab, das war durchaus kein „Vieh“, wie der Knecht in seiner Grobmauligkeit sagte, sondern das war unser falbes Öchslein, der Liebling des Hauses. Es mußte besonders brav sein, denn es wurde besser gehalten, als die anderen Rinder, es bekam Heu statt Stroh und Salzrübenbräu statt Spreufutter. Warum die Bevorzugung? Weil der Leab eben ein lieber Kerl war, der auch so schön jodeln konnte. Wenn er satt war und vor dem Stalle stand, so begann er zu lauten, die Töne, die er in kurzen Zwischenräumen ausstieß, waren wie heller Juchschrei, der drüben im Wald klingend widerhallte. Die anderen konnten es bei weitem nicht so. Ich wußte damals noch gar vieles nicht, unter anderem auch, warum der Leab so schön jauchzte. War es, weil es gar so lustig ist auf dieser Welt, wenn man nicht an den Pflug muß und so guten Salzrübenbräu kriegt, oder war es, weil er Genossen und Genossinnen herbeirufen wollte von den Weiden, oder war es, weil der Wald sein Jauchzen so munter beantwortete. Kurz, es machte sich alles so sein und nett mit dem Leab, und das war nicht bloße Höflichkeit, wenn es hieß, daß er sehr gut aussehe. Mit diesem lieben Öchslein nun sollte der Knecht Rochus am nächsten Tage ins Österreicherland reisen, über den Semmering hinüber. Man sprach gar von Wien, wo der Leab, wie es hieß, sein Glück machen sollte.

    „Sodl, jetzt komm einmal, Bendel, nichtiges!“ Also hat der Knecht mich geworben. „Jetzt führ‘ den Leab aus dem Stall auf den Anger und treib‘ ihn ein paar Stündlein langsam herum. Na, hast mich verstanden?“

    Iris Gassenbauer, Semmering, Eselstein, 15. September 2015Nun war das vom Leab eine besondere Gefälligkeit. Wenn ich ein gesunder starker Ochs bin, wie der Leab, so lasse ich mich nicht von einem Jungen, den sie das Bendel heißen, mir nichts dir nichts auf dem Anger umhertreiben. Entweder ich gebe ihm einen Deuter mit dem Hinterbein, daß er mich in Ruh lassen soll, oder ich tauche ihn mit dem gehörnten Kopf zu Boden. Mein Leab aber erkannte mir die Oberhoheit zu, oder es war ihm nicht der Mühe wert, einem winzigen Knirps sich zu widersetzen; er ließ sich gutmütig treiben. Etwas schwerfällig trottete er auf dem Rasen dahin, ich trappelte barfuß hinter ihm drein und wenn er stehenbleiben wollte, um sich zu lecken oder eine Schnauze voll Gras zu sich zu nehmen, so versetzte ich ihm mit der Gerte einen leichten Streich an den Schenkel, daß er weiter ging. So hatte es der Knecht angeordnet. Ich wußte nicht, was das Herumtrotten heute zu bedeuten hatte und mein Leab wußte es wahrscheinlich auch nicht. Der Mensch, wenn er so etwas nicht weiß, macht sich Sorgen darob, der Ochs nicht, trotzdem kam letzterer genau so weit als ich – etwa fünfzigmal um den Anger herum.

    Am Abend, als wir müde und mit steifen Beinen in den Stall gingen, habe ich’s erst erfahren, weshalb die Rundreise verhängt worden war. Der Leab mußte sich für seine bevorstehende Fußpartie ins Österreicherland eingehen, weil er das Marschieren nicht gewohnt war. Bei mir stand die Sache nicht viel anders, denn auch ich war auserlesen, die Reise mitzutun.

    Am nächsten Frühmorgen hatten wir, der große Knecht Rochus und der kleine Bendel, unser Halbfeiertagsgewand angelegt, ich auch mein neues Paar Schuhe, dann aßen wir Sterz und Milch, und der Leab bekam noch einmal seinen Salzrübenbrei. Während er mit Behagen sein Frühstück verzehrte, ahnungslos, daß es das letzte war in der Heimat, striegelte ihm der Ziegelhofbauer noch die Haare glatt und betastete mit Wohlgefallen den rundlichen Leib.

    „Unter hundertsechzig treibst ihn wieder heim,“ sagte er dann zum Knecht. Das war mir nicht ganz verständlich, der Rochus aber nickte seinen Kopf. „Geh‘ nur her, Öchsel!“ sprach er und legte dem Genannten den Strick um die Hörner. Ich stand hinten mit der Gerte. Als wir so zu dreien durch das Hoftor hinaus davonzogen, brüllten die anderen Rinder des Stalles, und der Leab stieß ein paarmal sein helles Jauchzen aus. War ihm wirklich so wohl ums Herz, weil es jetzt in die helle Fremde ging, oder hatte der Arme nur einen einzigen Laut für Freud und Leid? Die Hausleute schauten uns nach, bis der Weg sich verlor im Schachen.

    Tina Sosna, Restless Wind, 15. September 2014Anfangs ging’s etwas rostig, es waren uns die Beine noch steif von der gestrigen Angerwanderung, aber schon über dem Alpsteige wurden wir gelenkiger, und im Mürztale trabten wir zu acht Füßen ganz rüstig fürbaß.

    „Sodl,“ sagte der Knecht, „bis die Sonne abi geht, müssen wir z’Gloggnitz sein. Heimfahren können wir morgen auf dem Dampfwagen, ist sicherer mit dem Geld.“

    Und kam es jetzt auf, was der Rochus im Sinn hatte. Den Leab wollte er verkaufen. Zu Gloggnitz an einen Viehhändler, der ihn dann nach Wien führen würde. – Nein, das konnte dem Knecht nicht ernst sein. Verkaufen, den Leab! Derselbe Knecht hatte früher einmal am Feierabend eine Geschichte erzählt, wie ein Mann seinen Bruder an die Juden verkauft hatte… Und stimmte denn das mit dem, was meine Mutter daheim oftmals gesagt hatte, nämlich, daß auch das liebe Vieh unserem Herrgott gehöre, und daß Ochs und Esel die ersten gewesen, die beim Christkind Wache gehalten? –

    Weil die Straße so breit und glatt vor uns da lag und das Öchslein so willig fürbaß ging, so konnten wir plaudern. Daheim plaudert kein Knecht mit dem Schafbuben, am wenigsten der ruppige Großknecht mit dem Bendel, aber in der Fremde schließen die Menschen sich nahe aneinander, selbst wenn ein Ochs dazwischen ist.

    „Was wird er denn nachher machen, der Leab, z’Wien?“ fragte ich.

    „Der wird totgeschlagen,“ antwortete der Knecht. Ich lachte überlaut, weil ich das grobe Wort für einen seinen Witz hielt.

    „Übermorgen um die Stund hängt er schon an den Hinterbeinen beim Fleischhacker,“ setzte der Knecht bei. Mir ward plötzlich bange, ich schaute dem Leab ins Gesicht, das glotzte harmlos drein; er hatte nichts verstanden, gottlob. – Fleischhacker! Man hatte den Namen übrigens schon gehört. Als daheim die Mutter einmal schwer krank gewesen war, hatte der Arzt ein Pfund Suppenfleisch verordnet, zum Kraftmachen. Das war auch beim Fleischhacker geholt worden.

    „Hi, Leab!“ sagte der Rochus und zog am Strick.

    Dann fuhr er fort, wunderlich zu sprechen: „Das beste Fleisch geht allemal nach Wien. Wenn unsereiner auf der Kirchweih beim Fleischhacker im Dorfe ein Stückel kauft, kriegt man ein wiedenzähes Luder.“ – Was er nur da redet!

    Iris Gassenbauer, Semmering, Eselstein, 15. September 2015Als wir beim jungen Lärchenwald am Anfang des Semmeringberges waren, wußte ich alles. Es war ganz unerhört. – Zurückführen nach Alpel konnte ich den armen, armen Leab nicht, ich hätte mit dem Knecht darum bis auf den Tod raufen müssen. Der Knecht Rochus hatte ja vom Bauern den Auftrag, den Leab in Gloggnitz dem Fleischhacker zu überantworten! Dann sollte das gute Ochsl zur Schlachtbank geführt, dort mit einer großen Hacke niedergeschlagen und hernach mit einem langen Messer erstochen werden. Alsdann sollten ihm die schönen schwarzen Hörnlein vom Haupte geschlagen und die Haut herabgezogen werden. Dann sollten ihm die Eingeweide herausgerissen und das Fleisch in tausend Stücke zerschnitten werden. Und diese Stücke würden gekocht, gebraten, von den Wienern verzehrt, so wie der Wolf das Schaf frißt, und die Katze die Maus! – Mir ward blau vor den Augen, ich taumelte hin an den Rain. Der Rochus steckte mir einen Bissen Brot in den Mund.

    Später, wieder zu mir gekommen, schaute ich den Leab an. Der biß einen Grasschopf ab und kaute ihn mit aller Behaglichkeit hinein. Er weiß von nichts. Er hat’s gehört, aber nicht verstanden. O, argloses Gottesgeschöpf! – Ich hub an, laut zu brüllen.

    Der Rochus lachte und gab mir zu bedenken, daß ich selbst schon Ochsenfleisch gegessen hätte! Ich selbst? Das war noch schöner! – Ja! Am Leihkauftag, wie uns der Bauer beim Wirt Braten mit Salat gezahlt. Das sei so etwas gewesen. – Mir wurde übel. Braten hatte ich freilich gegessen, er war sogar sehr gut gewesen, aber daß das ein Stück Tierleib sollte gewesen sein, der vorher geradeso warm gelebt, und vielleicht so hell gejauchzt hatte, wie der Leab! – Und daß die Menschen so etwas tun!

    Als mir das erstemal die Gewißheit ward, daß alle Menschen sterben müssen, auch ich – da war mir nicht so abscheulich weh ums Herz, als an diesem Tage, wie ich erfahren, daß der Mensch das Tier ißt, mit welchem er vorher so zutraulich beisammen gelebt hat.

    „Was ist denn das?“ fragte der Rochus und stupfte mit dem Stock auf meinen Fuß. „Ist das nicht ein Schuh?“

    „Das ist mein Feiertagsschuh,“ gab ich artig zurück.

    „Gelt, und mit dem gehst du in die Kirche und betest fleißig. Sag‘ mir schön, hast du die Scheckige noch gekannt, die unser Bauer im vorigen Jahr für ein Kalb umgetauscht hat?“

    „Die scheckige Kuh, die mit dem Melkstuhl geschlagen worden ist von der Stallmagd, weil sie keine Milch geben hat wollen?“

    „Richtig. Und geben hat sie keine wollen, weil sie keine mehr im Euter hat gehabt, und deswegen hat sie unser Bauer fortgetauscht. Was meinst, Schafhalterbub, wo wird sie sein jetzt, die scheckige Kuh?“

    Riet ich: „Auf der Fischbacher Alm.“

    Sagte er: „O, Tschapperl, auf der Fischbacher Alm! Wo du jetzt in ihrer Haut steckst!“ Und tippte wieder auf meine Schuhe. – Mich machten diese Offenbarungen ganz verwirrt. Inwendig Ochsenfleisch, auswendig Kuhhaut! Und so einer will Kind Gottes sein?! –

    Tina Sosna, Restless Wind, 15. September 2014Auf der Semmeringhöhe, wo die grünen Matten waren, wollte unser Leab auf einmal nicht weiter, sondern setzte sich nieder.

    „Das ist gar nicht so dumm!“ meinte der Rochus und setzte sich auch in den Schatten einer Lärche, denn es war heiß geworden. Ich hockte ebenfalls hin und lugte heimlich auf das Rind. Das tat gemütlich wiederkauen, der Knecht tat’s auch an seinem Tabak, und dabei kratzte er das Tier zärtlich hinter den Ohren. Der Leab war dessen froh und streckte traulich den großen Kopf so zurecht, daß der Rochus gut krauen konnte. Und jetzt dachte ich: Wie doch der Mensch so falsch sein kann! – Ich meinte damit den Knecht und mich und alle, die ein Haustier so liebhaben, daß sie es endlich zur Schlachtbank führen und aufzehren. Endlich hatte der Leab sein schweres Haupt auf den Rasen hingelegt und machte die großen runden Augen zu. Der Rochus lehnte sich an den Baumstamm und duselte auch ein. Jetzt schliefen sie beide – aber den Schlaf des Gerechten sicherlich nur einer. Der Knecht hatte den Strick noch schlafend um die Hand gewunden, mit dem er das ahnungslose Schlachtopfer hielt. Ich war voller Betrübnis.

    Kam des Weges her, den wir gekommen, ein großes graues Bündel, unter denselben gebückt der alte Zottentrager, der tags zuvor in unserem Hause gewesen. Der stand still, streckte seinen langen braunen Hals nach mir vor und fragte flüsternd: „Was hat’s denn, Bübel?“

    Schluchzend stand ich auf und vertraute dem weltfremden Menschen meinen Schmerz.

    „Das Öchsl tut mir so viel derbarmen, weil es zum Fleischhacker muß.“

    „So, so! zum Fleischhacker!“ flüsterte der Alte und verzog sein runzeliges Gesicht zu einer schrecklich lächerlichen Larve. Aber ich konnte nicht lachen, mußte immer noch heftiger weinen aus Erbarmnis, weil der liebe gute Leab so arglos und unschuldig schlummerte.

    „Ist das nit dem Zieselhofer von Alpel sein Knecht?“ fragte dann leise der Zottentrager, auf den Rochus deutend, „Ist schon gut. Der hat mich gestern mit einem Lumpenkerl angemurmelt. Lumpenkerl, der bin ich, gewiß auch noch, daß ich’s bin. Weil ich ein Kerl bin, der Lumpen tragt. Aber anmurmeln laß ich mich nit so. Gesagt ist’s! Heute wird er die Lumpen nit verachten, wenn sie ihm der Viehhändler als nagelneue Hunderter auf die Hand tut. Aber wart, altes Murmeltier, so gut sollst es nit haben! Gesagt ist’s! Dem kleinen Edelmann da tut eh‘ der Ochs leid. Mir auch. Schlaf süß, du holdseliger Bauernknecht, du kotzengrober! Der Ochs soll in den grünen Wald gehen, und nit zum Fleischhacker. Gesagt ist’s und –“ mit dem Taschenmesser schnitt er den Strick durch – „getan ist’s.“

    Das alles war im Flüsterton herausgestoßen, nun rüttelte er den Ochsen bei den Hörnern: „Steh‘ eilends auf, Herr Ochs, und fliehe!“

    Der Leab glotzte ob solcher Belästigung etwas verblüfft umher, dann stand er schlotterig auf, zuerst mit den Hinter-, dann auch mit den Vorderfüßen und ließ sich vomZottentrager in den Wald führen. Der alte Spitzbube zischelte mir noch zu: „Du schlafst auch, Jüngling, und weißt von nichts.“ Dann rückte er sein Bündel mieder auf und huschte davon.

    Iris Gassenbauer, Semmering, Eselstein, 15. September 2015Ein junger Mensch ist bald verführt, wenn er verführt sein will. Ich streckte mich auf den Rasen, drückte meine Augen zu und wartete, bis der Knecht Rochus die seinen ausmachte. – Das wird ein schreckliches Erwachen merden! Ich bangte davor und war höllisch neugierig drauf. Ich blinzelte zwischen den Augenwimpern wohl doch ein wenig auf ihn hin. Er schlief so arglos, wie früher der Leab. Jetzt tat mir der Knecht leid, wie früher der Ochs. Fest um die Hand gewickelt hielt er den abgeschnittenen Strick. Jetzt zuckte er ein wenig mit derselben Hand, als wollte er das Tier an sich ziehen. Das gab keinen Widerstand. Er riß die Augen auf, warf den Kopf, sprang empor: „Der Ochs!“ Ein wahrhaftes Angstgebrüll: „Bub, wo ist der Ochs!“

    Ich tat, als wäre ich eben auch erst erwacht, streckte die Arme aus, gähnte und sagte mit der ganzen Niederträchtigkeit eines Zottentragers: „Hast du den Leab schon verkauft?“

    „Gestohlen! Geraubt! Weggeraubt!“ schrie der Knecht und schoß umher wie ein scharf losgelassener Kreisel. Die Faust, um welche der Strick noch geschlungen war, streckte er gegen Himmel, und an mir vorüber rasend, schien es einen Augenblick, als wollte er sie auf mich niedersausen lassen. Mir war nicht zum Lachen, und die Freude an dem geretteten Leab löste sich in eine schreckliche Angst vor dem schnaubenden Großknecht. Seine Fäuste lösten sich bald in flache Hände auf, mit denen er sich jammernd den Kopf hielt. Das viele Geld! Auf Jahre hinaus der Dienstlohn weg, auf viele Jahre hinaus! Der Bauer werde ihm nichts schenken. Vielmehr strafen werde er ihn für die Fahrlässigkeit. Auf fremden Straßen einzuschlafen! Es sei auch zu pflichtvergessen! Zu pflichtvergessen! „Mein Bübel,“ rief er mir zu, in seiner Verzweiflung zärtlicher als je, „lauf du zurück auf der Straßen, wo wir hergekommen, vielleicht derwischest du den Dieb! Ich werde auf die Österreicherseiten hinaus. Weit kann er ja noch nicht sein. O, mein liebes Geld, mein liebes Geld!“

    So wollten wir uns ausmachen zur Verfolgung des Wichtes, der uns den Leab gestohlen, da hub es im nächsten Dickicht an in hellen Stößen zu lauten…

    O, Ochs, du jauchzest dich in den Tod hinein! – Drei Stunden später hat zu Gloggnitz der Händler den Leab übernommen und ihn dem großen Mastviehtransport einverleibt, der nach Wien ging.

    Tina Sosna, Restless Wind, 15. September 2014

    Die Bilder: Iris Gassenbauer: Semmering // Eselstein, 15. September 2015 und
    Tina Sosna: Restless Wind, 15. September 2014
    verlinken, weil mir an allen etwas liegt, zu:

    1. Slow Food Deutschland statt Österreich;
    2. Animals‘ Angels Deutschland statt international;
    3. die Datenbank historischer Kochrezepte Allerhandt neue Kocherey des Oberösterreichischen Landesmuseums;
    4. die Tipps zum Einstieg ins vegane Leben von PETA;
    5. Mythologie rund ums Rind der Rindfleischerzeugung in Österreich;
    6. den Volltext Peter Rosegger: Waldheimat und
    7. 205 Ochsenrezepte.

    Written by Wolf

    5. Februar 2016 at 00:01

    Veröffentlicht in Nahrung & Völlerei, Realismus

    Nur die Wurst hat zwei

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    Update zu Tumultuantenharanguieren (sed iam satis) und Murrst
    und neuer Fund für Grillen mit Homer:

    Also wendet der Pflüger am großen brennenden Feuer
    Einen Ziegenmagen, mit Fett und Blute gefüllet,
    Hin und her, und erwartet es kaum, ihn gebraten zu sehen.

    Odyssee, 20. Gesang, ca. 800 v. C.

    ——— Historia vnd Geschicht Doctor Johannis Faustj.

    Wie der Geist dem Fausto mit seltzamen Sprichwörttern Zuesetzt:

    um 1580:

    Auff obgemelte Klag erscheint Doctor Fausto sein Geyst Mephostophiles Tritt zu jm vnd spricht/

    Dieweil Du auss der Heyligen Schrifft wol gewist hasst / Das du Gott allein solt anbetten / jme Diennen vnnd keinen andern Gott neben jm haben weder zur Lincken noch zuer Rechten / vnnd Du es aber nicht gethon / sonnder deinen Gott versuecht jm abgefallen / jn verleugnet / vnnd hieher dich versprochen mit Leib vnnd Seel / So muestu Dise versprechung Laysten/ vnnd merckh Meine Reymen/

    Waistu was So schweig/
    Jst dier wol so bleib.
    Hastu was so behalt/
    Vngluck kompt mit seinem fueß baldt.
    Also nun schweig / Leyd / meyd vnd vertrag/
    Dein Vngluckh niemandt Clag.
    Es ist zu spat an Gott verzag/
    Dann vngluckh Lauft herein alle tag.

    Darumb mein Fauste es jst nicht guet mit grossen herren / vnnd dem Teuffel kurschen Essen / Sie werffen einem die Still jnn das Angesicht / wie du nun sihest / Derhalben werest wol weytt von dannen ganngen / Weitt Dauon ist guett fur die Schuss / Dann Dein Hoferttiges Röslein hat dich geschlagen/

    Du hast die Kunst Die dir Gott geben verachtet / Dich nicht genuegen lassen/ Ladest erst Den Teuffel zu Gast / Vnnd hast die .24. jar her gemeint es were alles gold was da gleyst Da dich der Geyst bericht / Darauff der Teufl Dir wider als der Katzen Die Schellen anhengt /

    Write Like a Pirate, 10. Dezember 2007Syhe Du warest ein Schöne wolgeschaffne Creatur / aber die Rosen so man lang jnn Hennden tregt / vnnd schmeckhet / bleiben nicht / Dess Brott Du geessen hast / des Liedlein muestu singen / Verzeuhe biß auf den Karfreytag es wurdt baldt Ostern werden / Dann was du verhaissen hast ist nicht ohn vrsach / ein brattne wurst hat zwen zipffel / vff dess Teuffels Eyß ist nicht guet geen /

    Syhe Du hast ein boese Arth gehabt / Darumb last Arth nicht von Arth/ Also last die Katz jres Mausens nicht / scharpff Furnemmen macht scherttig/ sihe Fauste ist jme nicht also / weyl der Leffel New ist / so braucht jn der koch / Darnach wann Er Alt wirdt / wirfft Er jn jnns Fewr / ist es nit auch also mit dir / Der Du ein Newer Kochleffel dess Teuffels warest / nun nutzt Er dich nimmer / Dann Der Marckht hat jn Lernen kauffen / neben dem hast dich nicht lassen benuegen mit Wenig Vorrath Den dir Gott beschert hat.

    Noch mehr mein Fauste was der zeit her hastu ein grossen Vbermueth gebraucht jnn allem deinem thuen vnnd Wandel / hast dich genent ein Teuffl Freundt / Gottes / vnnd aller Mentschen Feindt / Derhalben sturtz dich nun / Dann Gott ist herr / Der Teuffel / jst Der Teuffel / Ein Apt der Munchen / Hoffart thett nie guett / Wolttest Hanns jnn allen Gassen sein / so soldt man allen Narren mit dergleichen kolben lausen / Wer zuuil will haben / dem Wirt zu wenig / Vnd Darnach einer kegelt / Darnach mueß er aufsetzen /

    Lass Dier mein Lehr vnnd erJnnerung zu hertzen geen / Die gleichwol schier verlohren ist / Du solltest dem Teuffel nicht souil vertrawt haben / oder weil er Gottes Aff ist / Darumb solstu klueger sein gewesen/ schimpfen bringt schaden / Dann es ist bald vmb ain Menschen geschehen/ vnd Er costet souil auff zuziehen / Den Teuffel zubeherbergen gehört mehr zum Tantz dann ein Rott bar Schuech /

    Hettestu Gott vor Augen gehabt (.Dann er Feyrt on das nicht.) vnnd dich mit Gottes gab genuegen lassen/ Du solttest dem Teuffel nicht so leichtferttig zu willen gewesen sein / vnnd geglaubt haben / Dann wer Leichtlich glaubt wirdt bald betrogen / jetzt wyscht Der Teuffel das maul vnnd geht daruon /

    Du hast dich zum Burgen gesetzt mit deinem Aignen Bluet / so soll man Burgen Wurgen / man hatt Dich zuer Bueß vermanet / Aber Du hast es zu ainem Ohr ein / zum Andern wider ausgehn lassen.

    Als nun der Geyst Dem Fauste den Armen Judas jnn das genuegsam gesungen / jst er gleich darauff verschwunden / Vnnd den Faustum gantz Melancholisch vnnd verwirt gelassen/

    Als Soundtrack wären Alles hat ein Ende nur die Wurst hat zwei (Krause & Ruth) 1986 oder Conchita Wurst offensichtlich: zu offensichtlich. Daher das fleischfressende Lied F.S.K.: Diesel Oktoberfest aus: The Sound of Music, 1993;
    in: Franz Dobler (i.e. der schnauzige Großstadtcowboy mit Tollwut, dem Jahrhundertsampler mit Johnny-Cash-Covers deutscher Kapellen sowie allerhand Country-Fachliteratur und Fressehau-Belletristik):
    Wo Ist Zu Hause Mama, Trikont, 1995.
    Musik: Justin Hoffmann, Thomas Meinecke, Michaela Melián, Carl Oesterhelt, Wilfried Petzi;
    Text: Thomas Meinecke.

    Wurst mit 1 Ende: Nürnberger Stadtwurst herzhaft gewürzt, mild geräuchert, nach fränkischer Rezeptur: Ponnath/Kemmath via Penny, 350 Gramm 1,99 Euro (Serviervorschlag), 10. Dezember 2007.

    Written by Wolf

    11. November 2015 at 11:11

    Veröffentlicht in Klassik, Nahrung & Völlerei

    Das sind die Realitäten und die muss der Mensch vertreten

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    Update zu So eine Art Käse-Cocktail oder Mehl-Flip:

    Was bin ich diesem Gedicht nachgerannt. Ein Radiomoderator beim Bayerischen Rundfunk hat es in meiner Kindheit in einer Faschingssendung verlesen. Von einigem Hin und Her genervt schickte er mir begleitet von einer Photokopie der Pretiose die Bitte, dass ich nächstes Mal gefälligst Rückporto beilegen sollte.

    Es klingt stark nach der Feierabendlyrik unterforderter Studienräte. Weil Studienräte in ihren Fehlleitungen weit weniger Schaden damit anrichten, wenn sie Gedichte verfassen als wenn sie Knaben missbrauchen, wollen wir Zeilen wie „Das sind die Realitäten und die muss der Mensch vertreten“ oder „Gönnt dem Mond doch seine Krater“ das Zeug zum Klassiker zugestehen. Aber hallo.

    Ein Gedicht nach diesem Vorbild trug mir später siebzehnjährig mein erstes Schreiberhonorar von der Mundartseite der Nürnberger Nachrichten ein. 30 Mark. Hölle, war ich stolz. — Noch später spiegelte es meine eigene Lebensweise wider. Darauf war ich noch viel stolzer.

    Es folgt die penible Abschrift der Photokopie des Moderatoren von etwa 1984. An dieser Stelle: Danke nochmal!

    ——— Henry Grocholl:

    Promillomatorische Aphorismen

    vor 1984:

    William-Adolphe Bouguereau, Bacchante, 1894— „Keine Rose ohne Gräten!“ —
    — Dornen trägt jedweder Fisch! —
    Das sind die Realitäten
    und die muß der Mensch vertreten!
    — Prost Herr Ober! Durst hält frisch! —

    Sportlich ist der Zug der Klimme!
    — Heissa Stier, reich mir dein Horn! —
    Eines echten Mannes Stimme
    braucht zur Klarheit keine Kimme
    denn die Wahrheit liegt im Korn!

    Platz ist in der kleinsten Hütte
    für ’nen Kopf und –hicks!– ein Bett!
    — Ich hab Sehnsucht nach Brigitte —
    Ober… noch ein Helles bitte…
    — ohne Senf und nicht so fett —

    Alle Schuld rächt sich auf Erden
    — wehe dem, der falsch geparkt! —
    Doch was helfen die Beschwerden:
    Heute muß die Glocke werden!
    … hat schon Wilhelm Busch gesagt…

    Schämt euch, Freunde, einen Kater
    an die Gasthaus-Wand zu mal’n!
    Wien bleibt Wien, sowohl als Prater!
    — Gönnt dem Mond doch seine Krater! —
    … Prost, Herr Ober!: Bitte zahl’n…

    Bild: William-Adolphe Bouguereau: Bacchante, 1894.

    Solotanz: Salmy Hayek in: From Dusk Till Dawn, 1996,
    zu Tito & Tarantula: After Dark, 1996;
    Paartanz: Uma Thurman und John Travolta in: Pulp Fiction, 1994,
    zu Chuck Berry: You Never Can Tell, aus: St. Louis to Liverpool, 1964.

    Written by Wolf

    21. August 2015 at 00:01

    Veröffentlicht in Nahrung & Völlerei, Novecento

    Grillen mit Homer

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    Update zu So eine Art Käse-Cocktail oder Mehl-Flip und Murrst:

    Höre mich jetzt, Eumaios, und hört, ihr übrigen Hirten!
    Rühmend red‘ ich ein Wort, vom betörenden Weine besieget,
    Welcher den Weisesten oft anreizt zum lauten Gesange,
    Ihn zum herzlichen Lachen und Gaukeltanze verleitet,
    Und manch Wort ihm entlockt, das besser wäre verschwiegen.
    Aber weil das Geschwätz doch anfing, will ich’s vollenden.

    Homer: Odyssee, XIV. Gesang, Zeile 462 bis 467, ca. 800 vor Christus.

    Wer hätte geglaubt, dass selbst die Odyssee erheiternde Momente hat. Für Stellen wie „Gott gibt uns dieses, und jenes versagt er, wie es seinem Herzen gefällt; denn er herrschet mit Allmacht“ wünscht man sich eigene Altgriechischkenntnisse, um sich nicht allein auf die — unzweifelhaft seit über zwei Jahrhunderten maßgebliche und vorbildlich genaue — Übersetzung von Johann Heinrich Voß verlassen zu müssen; das ist nämlich in einer vorarchaischen Geschichte in auffallender Weise die gewinnende Resignation vor der höheren Gewalt, wie man sie eigentlich erst im Christentum erwartet. Der Satz ist dem Schweinehirten Eumaios zugeteilt, der nicht zu besonderer Tapferkeit, gar Heldentum verpflichtet ist. Dann aber erfreut wiederum die fein unterscheidende Charakterzeichnung. So oder so muss erstaunen, wie lange dramaturgische Regeln schon gelten: noch bevor sie formuliert wurden.

    Voß hat erst die Odyssee übersetzt (1781), danach die Ilias (1793). Darum, von wann und von wem seine Vorlagen stammen, ja ob jemand namens Homer überhaupt jemals gelebt hat, tobt eine zähere, sehr viel besser begründete Kontroverse als um Shakespeare. Sollte ein Homer auf Erden gewandelt, gesungen und geschrieben haben, wäre dem Gang der Handlung nach die Ilias sein Jugend-, die Odyssee sein Alterswerk; dazwischen entstanden Homerische Hymnen (die wir uns wegen gesteigerten Interesses beizeiten vornehmen werden).

    Um 800 vor Christus waren die Griechen noch lebensfroh — mit so viel und so wenig Grund wie heute: Dauernd musste in irgendeinen Krieg gezogen werden, der allerdings als Einrichtung noch bis ungefähr 1915 nach Christus in viel besserem Ruf stand als seit 1945. Immerhin gab es offenbar reichlich und handfest zu essen. Homer (oder wer auch immer) überliefert sogar das Rezept für eine Variation der Fünffachen Schale, auch wenn Voß Weinmus dazu sagt. Ansonsten gibt es viel Schweinernes nach einem Verfahren, das man als gegrillt ansprechen muss. Ich bitte wie immer um freundliche Nachricht, wenn noch mehr Stellen zu diesem Thema auffallen!

    Kann man eigentlich aus Schwein Stifado machen?

    wikiHow, Ein ganzes Schwein braten

    ——— Homer: Ilias, VIII. Gesang, Zeile 542 bis 565 (der Schluss):

    Also redete Hektor; und laut herriefen die Troer.
    Sie nun lösten die Rosse, die schäumenden unter dem Joche,
    Banden sie dann mit Riemen, am eigenen Wagen ein jeder.
    Schnell nun führte man Rinder zum Schmaus‘ und gemästete Schafe
    Her aus der Stadt; auch Wein, den herzerfreuenden, trug man
    Reichlich, und Brot aus den Häusern, und Holz auch las man in Menge.
    Und man brachte den Göttern vollkommene Festhekatomben;
    Und dem Gefild‘ entwallte der Opferduft in den Himmel,
    Süßes Geruchs: doch verschmäheten ihn die seligen Götter,
    Abgeneigt; denn verhasst war die heilige Ilios jenen,
    Priamos selbst, und das Volk des lanzenkundigen Königs.

    Sie dort, mutig und stolz, in des Kriegs Abteilung gelagert,
    Saßen die ganze Nacht; und es loderten häufige Feuer.
    Wie wenn hoch am Himmel die Stern‘ um den leuchtenden Mond her
    Scheinen in herrlichem Glanz, wann windlos ruhet der Aither;
    Hell sind rings die Warten der Berg‘, und die zackigen Gipfel,
    Täler auch; aber am Himmel eröffnet sich endlos der Aither;
    Alle nun schaut man die Stern‘, und herzlich freut sich der Hirte.
    So viel, zwischen des Xanthos Gestad‘ und den Schiffen Achaias,
    Loderten, weit erscheinend vor Ilios, Feuer der Troer.
    Tausend Feuer im Feld‘ entflammten sie; aber an jedem
    Saßen fünfzig der Männer, im Glanz des lodernden Feuers.
    Doch die Rosse, mit Spelt und gelblicher Gerste genähret,
    Standen bei ihrem Geschirr, die goldene Früh‘ erwartend.

    wikiHow, Ein ganzes Schwein braten

    ——— Homer: Ilias, XI. Gesang, Zeile 624 bis 643:

    Weinmus mengte nun ihnen die lockige Hekamede,
    Die aus Tenedos brachte der Greis, wie Achilleus sie einnahm,
    Tochter des hochgesinnten Arsinoos, die die Achaier
    Ihm erwählt, dieweil er im Rat vorragte vor allen.
    Diese rückte zuerst die schöne geglättete Tafel
    Mit stahlblauem Gestell vor die Könige; mitten darauf dann
    Stand ein eherner Korb mit trunkeinladenden Zwiebeln,
    Gelblicher Honig dabei, und die heilige Blume des Mehles;
    Auch ein stattlicher Kelch, den der Greis mitbrachte von Pylos:
    Welchen goldene Buckeln umschimmerten; aber der Henkel
    Waren vier, und umher zwei pickende Tauben an jedem,
    Schön aus Golde geformt; zwei waren auch unten der Boden.
    Mühsam hob ein andrer den schweren Kelch von der Tafel,
    War er voll; doch Nestor der Greis erhob ihn nur spielend.
    Hierin mengte das Weib, an Gestalt den Göttinnen ähnlich,
    Ihnen des pramnischen Weins, und rieb mit eherner Raspel
    Ziegenkäse darauf, mit weißem Mehl ihn bestreuend,
    Nötigte dann zu trinken vom wohlbereiteten Weinmus.
    Beide, nachdem sie im Tranke den brennenden Durst sich gelöschet,
    Freueten sich des Gesprächs, und redeten viel miteinander.

    wikiHow, Ein ganzes Schwein braten

    ——— Homer: Odyssee, XIV. Gesang, Zeile 72 bis 82:

    Also sprach er; und schnell umband er den Rock mit dem Gürtel,
    Ging zu den Köfen, worin der Ferkel Menge gesperrt war,
    Und zwei nahm er heraus, und schlachtete beide zur Mahlzeit;
    Sengte sie, haute sie klein, und steckte die Glieder an Spieße,
    Briet sie über der Glut, und setzte sie hin vor Odysseus,
    Brätelnd noch an den Spießen, mit weißem Mehle bestreuet;
    Mischte dann süßen Wein in seinem hölzernen Becher,
    Setzte sich gegen ihm über, und nötigt‘ ihn also zum Essen:
    Iss nun, fremder Mann, so gut wir Hirten es haben,
    Ferkelfleisch; die gemästeten Schweine verzehren die Freier,
    Deren Herz nicht Furcht vor den Göttern kennet, noch Mitleid.

    wikiHow, Ein ganzes Schwein braten

    ——— Homer: Odyssee, XIV. Gesang, Zeile 100 bis 117:

    Rinderherden sind zwölf auf der Feste, der weidenden Schafe
    Eben so viel, auch der Schweine so viel, und der streifenden Ziegen.
    Mietlinge hüten sie teils, und teils leibeigene Hirten.
    Hier in Ithaka gehn elf Herden streifender Ziegen
    Auf entlegenen Weide, von wackern Männern gehütet.
    Jeder von diesen sendet zum täglichen Schmause den Freiern
    Immer die trefflichste Ziege der fettgemästeten Herde.
    Unter meiner Gewalt und Aufsicht weiden die Schweine,
    Und ich sende zum Schmause das auserlesenste Mastschwein.
    Also sprach er; und schnell aß jener des Fleisches, begierig
    Trank er des Weins, und schwieg; er dachte der Freier Verderben.
    Als er jetzo gespeist, und seine Seele gelabet,
    Füllete jener den Becher, woraus er zu trinken gewohnt war,
    Reichte den Wein ihm dar; und er nahm ihn mit herzlicher Freude,
    Redete jenen an, und sprach die geflügelten Worte:
    Lieber, wer kaufte dich denn mit seinem Vermögen? Wie heißt er,
    Jener so mächtige Mann und begüterte, wie du erzählest,
    Und der sein Leben verlor, Agamemnons Ehre zu rächen?

    wikiHow, Ein ganzes Schwein braten

    ——— Homer: Odyssee, XIV. Gesang, Zeile 409 bis 456:

    Also besprachen diese sich jetzo untereinander.
    Und nun kamen die Schwein‘ und ihre Hirten vorn Felde.
    Diese schlossen sie drauf in ihre Ställe zum Schlafen,
    Und laut tönte das Schreien der eingetriebenen Schweine.
    Aber seinen Gehilfen befahl der treffliche Sauhirt:
    Bringt das fetteste Schwein, für den fremden Gast es zu opfern,
    Und uns selber einmal zu erquicken, da wir so lange
    Um weißzahnige Schweine Verdruss und Kummer erduldet,
    Während andre umsonst all‘ unsere Mühe verprassen!
    Also sprach er, und spaltete Holz mit dem grausamen Erze.
    Jene führten ins Haus ein fett fünfjähriges Mastschwein,
    Stellten es drauf an den Herd. Es vergaß der treffliche Sauhirt
    Auch der Unsterblichen nicht, denn fromm war seine Gesinnung!
    Sondern begann das Opfer, und warf in die Flamme das Stirnhaar
    Vom weißzahnigen Schwein, und flehte den Himmlischen allen,
    Dass sie dem weisen Odysseus doch heimzukehren vergönnten;
    Schwung nun die Eichenkluft, die er beim Spalten zurückwarf,
    Schlugs, und sein Leben entfloh; die andern schlachteten, sengten,
    Und zerstückten es schnell. Das Fett bedeckte der Sauhirt
    Mit dem blutigen Fleische, von allen Gliedern geschnitten;
    Dieses warf er ins Feuer, mit feinem Mehle bestreuet.
    Und sie schnitten das übrige klein, und steckten’s an Spieße.
    Brieten’s mit Vorsicht über der Glut, und zogen’s herunter,
    Legten dann alles zusammen auf Küchentische. Der Sauhirt
    Stellte sich hin, es zu teilen; denn Billigkeit lag ihm am Herzen.
    Und in sieben Teile zerlegt‘ er alles Gebratne:
    Einen legt‘ er den Nymphen, und Hermes, dem Sohne der Mäa,
    Betend den andern hin; die übrigen reicht‘ er den Männern.
    Aber Odysseus verehrt‘ er den unzerschnittenen Rücken
    Vom weißzahnigen Schwein, und erfreute die Seele des Königs.
    Fröhlich sagte zu ihm der erfindungsreiche Odysseus:
    Liebe dich Vater Zeus, wie ich dich liebe, Eumaios,
    Da du mir armen Manne so milde Gaben verehrest!
    Drauf antwortetest du, Eumaios, Hüter der Schweine:
    Iss, mein unglückseliger Freund, und freue dich dessen,
    Wie du es hast. Gott gibt uns dieses, und jenes versagt er,
    Wie es seinem Herzen gefällt; denn er herrschet mit Allmacht.
    Sprach’s, und weihte den Göttern die Erstlinge, opferte selber
    Funkelnden Wein, und gab ihn dem Städteverwüster Odysseus
    In die Hand; er saß bei seinem beschiedenen Anteil.
    Ihnen verteilte das Brot Mesaulios, welchen der Sauhirt
    Selber sich angeschafft, indes sein König entfernt war:
    Ohne Penelopeia, und ohne den alten Laertes,
    Hatt‘ er von Taphiern ihn mit eigenem Gute gekaufet.
    Und sie erhoben die Hände zum leckerbereiteten Mahle.
    Und nachdem die Begierde des Tranks und der Speise gestillt war,
    Trug Mesaulios wieder das Brot von dannen; und alle,
    Von dem Brot und dem Fleische gesättigt, eilten zur Ruhe.

    wikiHow, Ein ganzes Schwein braten

    Bilder: wikiHow: Ein ganzes Schwein braten („Es gibt keine festgelegten Anleitungen“), gemeinfrei.

    Written by Wolf

    2. August 2015 at 00:01

    So eine Art Käse-Cocktail oder Mehl-Flip

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    Update zu Anständig essen und Tumultuantenharanguieren (sed iam satis):

    Entwarnung: Es besteht kein Grund mehr, sich über altbackenen Studienratshumor zu mokieren. Die ihm ernsthaft obliegen, haben sich im Lauf der Jahrzehnte biologisch selbst erledigt, ihre literarischen Hinterlassenschaften können jetzt getrost dorthin eingehen, wo sie immer hingehört haben: in den Zustand einer liebenswert schrulligen Folklore.

    Henrietta Rae, A Bacchante, 1885Mittlerweile konnte ich es sogar moralisch vertreten, von meinen Eltern im Mittelfränkischen — lang sollen sie leben — meine Kindheitserinnerung in Gestalt von Einfach köstlich als eine Art vorgezogenes Erbteil zu bestellen; materieller Wert auf Amazon.de: 1 Cent plus 3 Euro Porto.

    Geschichten über Versorgerehen, in denen ein Patriarch aus der Mittelschicht, der über eine Sekretärin verfügt, mit seiner Frau ernsthaft über die Zusammenstellung eines Mittagessens aneinandergerät; Anekdoten über gehobene militärische Dienstgrade, deren Witz darin liegt, dass jemand mit ihnen redet wie mit normalen Menschen; behandlungswürdige Alkoholkrankheit als hinzunehmender, wenn nicht gar erheiternder Charakterzug und als sozial förderliche und vor allem „typische“ Verhaltensweise ganzer Völkerschaften, meist der eigenen Region, immer aber der Russen, Franzosen und Iren, gern dargestellt anhand von Männern, die sich auf dem Heimweg an biegsame Laternen klammern und zu Hause von unermüdlich wartenden Ehefrauen mit Nudelhölzern empfangen werden; gutmütige, lebenslustige Mönche, deren Hauptaufgabe in Bierbrauen und deren Seelsorge im Verführen von Frauen aller Altersstufen besteht; gereimte Kochrezepte in abenteuerlicher Umschrift deutscher Dialekte.

    Die lyrischen Formen und die Zeichnungen sind technisch einwandfrei gebaut: Bei allem, was recht ist, geraten in so eine studienrätliche Anthologie keine Pfuscher, eher schon gelernte Reklametexter, Schildermaler und richtige Schriftsteller — zur Würze und zur Rechtfertigung des lukullischen Wohllebens, das immer mit einem gewissen schlechten Gewissen einhergeht und von ordentlichen Bürgern nur an Sonn- und Feiertagen mit dem gleichen schlechten Gewissen unterlassen würde, durchsetzt mit anerkannten Klassikern von allerhand regional noch nicht ganz verdrängten Mundartverseschmieden, die offenbar die Lateinschule absolviert haben, Roda Roda bis zu Wilhelm Busch aufwärts, weil schließlich „schon Goethe“ einen „guten Tropfen“ zu schätzen wusste.

    Als Kind war mir dergleichen noch genießbar, weil erlaubt, ja unterstützt von einem kulturell nicht übermäßig beflissenen, aber kulturelle Errungenschaften wertschätzenden Eisenbahnerehepaar, und für den kindlich unausgebildeten Geschmack dann doch irgendwie lustig, darin ähnlich den Schwedischen Liebesgeschichten in der Regalreihe dahinter, die keineswegs erlaubt waren —

    — und einen sehr viel höheren Frauenanteil unter den Beitragsstiftern haben als der Sampler über „Tafel- und Gaumenfreuden“. In demselben zuckt man ganz zusammen, wenn wirklich mal eine Frau aufgenommen wurde. Unter den drei Illustratoren sind die Bilder der Trude Richter (nicht verwandt) nicht von den anderen unterschieden, dafür erinnert man sich daran, dass der Herr Hirnbeiß in der Münchner Abendzeitung all die Jahrzehnte von Franziska Bilek getextet wurde; bei dem bald überschauten, weil ständig wiederholten Bildmaterial muss der Hirnbeiß weniger eine Zeichenarbeit denn eine Pointenfabrikation aus tagesaktuellen Schnellschüssen gewesen sein.

    Über das vermittelte Frauenbild der Frau Bilek würde man heute mindestens diskutieren. Gerettet wird sie durch ihre Selbstironie, das funktioniert meistens. Historisch schätzbar wird ihr Textbeitrag für Einfach köstlich durch die selbstverständlich benutzte Bezeichnung „Schwips“ und das Rezept für die meines Wissens exklusiv bei dem Römer Horaz belegte Fünffache Schale der alten Griechen.

    Ferdinand Leeke, Fliehende Nymphen, 1923

    ——— Franziska Bilek:

    Der Festzug des Dionysos

    in: Einfach köstlich. Heitere Geschichten von Tafel- und Gaumenfreuden.
    Herausgegeben von Helmuth Leonhardt.
    Mit über 120 farbigen und einfarbigen Illustratiionen (Trude Richter, Alfred Resch, Willi Wörmann),
    Mosaik Verlag, Hamburg ca. 1960:

    Cover Helmuth Leonhardt, Hg., Einfach köstlich, ca. 1960Dionysos ist der Gott des Weines, ja, er hat sogar den Weinbau erfunden, wohlgemerkt den Weinbau, nicht die Fabrikation des Weines. Für alkoholfreie Getränke ist er nicht zuständig. Er ist ein sehr vergnügter Gott und hat, wo es nur immer ging, Festzüge veranstaltet. Er selbst fuhr dabei auf einem von ersten Künstlern entworfenen Wagen, der von Tigern gezogen wurde. Bei diesen Zügen ging es recht toll zu. Ein dicker Herr, der auf einem Esel ritt und das Festprogramm durch seine unprogrammäßigen Späße fast in Unordnung brachte, wurde als sein Ziehvater Silen bezeichnet.

    Die Frauen, die bei dem Festzuge mitwirkten, stammten aus Thrazien. Diese Mädchen, Mänaden oder Bacchantinnen genannt, eigneten sich ganz besonders dazu, denn sie waren sehr lustig, und die Polizei hatte alle Augen zuzudrücken. Ihre Uniform bestand in zerzausten Haaren, Kränzen aus Efeu und mit Schlangen umwundenen Thyrsusstäben. Dionysos wußte genau, was ein Gläschen Wein bei jungen Mädeln ausrichtet. Als er einmal hinter der Nymphe Nicäa, die nichts von ihm wissen wollte, her war, verwandelte er das Flüßchen, aus dem sie gerade Wasser trinken wollte, in schieren Wein. Die Kleine bekam einen Schwips, und so ging alles viel besser. Man sollte gar nicht meinen, daß Dionysos auch die Mischgetränke erfunden hat. Aber man höre: Beim Dionysosfest in Athen erhielt der Sieger nach einem Wettlauf die sogenannte „Fünffache Schale“. Das Getränk war eine Mischung aus Wein, Honig, Käse, Mehl und Öl. Das muß so eine Art Käse-Cocktail oder Mehl-Flip gewesen sein.

    John Collier: Maenads, 1886

    Bacchantinnen: Henrietta Emma Ratcliffe Rae: A Bacchante, 1885;
    Ferdinand Leeke: Fliehende Nymphen, Öl auf Leinwand, München 1923;
    John Collier: Maenads, 1886, Öl auf Leinwand, Southwark Art Collection;
    Bacchus: Trude Richter, Alfred Resch oder Willi Wörmann für Einfach köstlich,
    Lizenzausgabe Bertelsmann, ca. 1960.

    Written by Wolf

    12. Juni 2015 at 00:01

    Murrst

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    Update zu Jug und Der vortreffliche Kater Murr (Gekatzbuckel!):

    Die erste Filiale der Metzgerei Vinzenzmurr (zusammengeschrieben) heißt Schwabing-West und liegt in der Münchner Maxvorstadt, Schellingstraße 21, erreichbar mit U3/U6 und Bus 100 (Museumslinie) Haltestelle Universität. Sie wurde um 1887 eröffnet und ist heute noch Montag mit Freitag 8 bis 19 Uhr, Samstag 8 bis 16 Uhr geöffnet. Es gibt Fleisch und Wurst vom Hofgut Schwaige (umstritten), Feinkost, Salatbar, Mittagstisch mit Verzehrmöglichkeit, Imbiss, Käsesortiment, einen Dry aged Reifeschrank, was auch immer das ist, und einen Lieferservice. Bekannt überragend sind wie in allen Filialen die Leberkässemmeln. Unbedingt süßen Weißwurstsenf dazunehmen.

    Es erzählt: der Kater Murr. Ponto ist Pudel, kann mit Katzen und gewinnt sogar die Diskussion. Die Wurstmaid ist unbekannt.

    ——— E.T.A. Hoffmann:

    Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern

    2 Bände. Dümmler, Berlin 1820–1822. 1. Band, 2. Abschnitt, 1819:

    Historisches Firmenschild Metzgerei Vinzenzmurr, Schellingstraße 21, Filiale München Schwabing-WestGanz erschöpft, ganz entkräftet, gelangte ich endlich zu einem einsamen Plätzchen, wo ich mich ein wenig niederlassen konnte. Da fing aber der wütendste Hunger an, mich zu peinigen, und ich gedachte nun erst mit tiefem Schmerz des guten Meisters Abraham, von dem mich ein hartes Schicksal getrennt. – Aber wie ihn wiederfinden! – Ich blickte wehmütig umher, und als ich keine Möglichkeit sah, den Weg zur Rückkehr zu erforschen, traten mir die blanken Tränen in die Augen.

    Doch neue Hoffnung ging mir auf, als ich an der Ecke der Straße ein junges freundliches Mädchen wahrnahm, die vor einem kleinen Tische saß, auf dem die appetitlichsten Bröte und Würste lagen. Ich näherte mich langsam, sie lächelte mich an, und um mich ihr gleich als einen Jüngling von guter Erziehung, von galanten Sitten darzustellen, machte ich einen höheren, schöneren Katzenbuckel als jemals. Ihr Lächeln wurde lautes Lachen. „Endlich eine schöne Seele, ein teilnehmendes Herz gefunden! – O Himmel, wie tut das wohl der wunden Brust!“ So dachte ich und langte mir eine von den Würsten herab, aber in demselben Nu schrie auch das Mädchen laut auf, und hätte mich der Schlag, den sie mit einem derben Stück Holz nach mir führte, getroffen, in der Tat, weder die Wurst, die ich mir im Vertrauen auf die Loyalität, auf die menschenfreundliche Tugend des Mädchens herabgelangt, noch irgendeine andere hätte ich jemals mehr genossen. Meine letzte Kraft setzte ich daran, der Unholdin, die mich verfolgte, zu entrinnen. Das gelang mir, und ich erreichte endlich einen Platz, wo ich die Wurst in Ruhe verzehren konnte.

    […]

    Historisches Firmenschild Metzgerei Vinzenzmurr, Schellingstraße 21, Filiale München Schwabing-WestWir gingen langsam nebeneinander her, so daß es uns nicht schwer fiel, wandelnd vernünftige Gespräche zu führen.

    „Ich seh‘ es wohl ein,“ (so begann ich die Unterredung) „daß du, geliebter Ponto, es viel besser verstehst, in der Welt fortzukommen, als ich. Nimmermehr würd‘ es mir gelungen sein, das Herz jener Barbarin zu rühren, welches dir so ungemein leicht wurde. Doch verzeih! – In deinem ganzen Benehmen gegen die Wurstverkäuferin lag doch etwas, wogegen mein innerer mir angeborner Sinn sich auflehnt. Eine gewisse unterwürfige Schmeichelei, ein Verleugnen des Selbstgefühls, der edleren Natur – nein! guter Pudel, nicht entschließen könnte ich mich, so freundlich zu tun, so mich außer Atem zu setzen mit angreifenden Manoeuvres, so recht demütig zu betteln, wie du es tatest. Bei dem stärksten Hunger, oder wenn mich ein Appetit nach etwas Besonderem anwandelt, begnüge ich mich, hinter dem Meister auf den Stuhl zu springen und meine Wünsche durch ein sanftes Knurren anzudeuten. Und selbst dies ist mehr Erinnerung an die übernommene Pflicht, für meine Bedürfnisse zu sorgen, als Bitte um eine Wohltat.“

    Ponto lachte laut auf, als ich dies gesprochen, und begann denn: „O Murr, mein guter Kater, du magst ein tüchtiger Literatus sein und dich wacker auf Dinge verstehen, von denen ich gar keine Ahnung habe, aber von dem eigentlichen Leben weißt du gar nichts und würdest verderben, da dir alle Weltklugheit gänzlich abgeht. – Fürs erste würdest du vielleicht anders geurteilt haben, ehe du die Wurst genossen, denn hungrige Leute sind viel artiger und fügsamer als satte, dann aber bist du rücksichts meiner sogenannten Unterwürfigkeit in großem Irrtum. Du weißt ja, daß das Tanzen und Springen mir großes Vergnügen macht, so daß ich es oft auf meine eigene Hand unternehme. Treibe ich nun, eigentlich nur zu meiner Motion, meine Künste vor den Menschen, so macht es mir ungemeinen Spaß, daß die Toren glauben, ich täte es aus besonderen Wohlgefallen an ihrer Person und nur, ihnen Lust und Freude zu erregen. Ja, sie glauben das, sollte auch eine andere Absicht ganz klar sein. Du hast, Geliebter, das lebendige Beispiel davon soeben erfahren. Mußte das Mädchen nicht gleich einsehen, daß es mir nur um eine Wurst zu tun war, und doch geriet sie in volle Freude, daß ich ihr, der Unbekannten, meine Künste vormachte, als einer Person, die dergleichen zu schätzen vermögend, und eben in dieser Freude tat sie das, was ich bezweckte. Der Lebenskluge muß es verstehen, allem, was er bloß seinetwegen tut, den Anschein zu geben, als täte er es um anderer willen, die sich dann hoch verpflichtet glauben und willig sind zu allem, was man bezweckte. Mancher erscheint gefällig, dienstfertig, bescheiden, nur den Wünschen anderer lebend und hat nichts im Auge als sein liebes Ich, dem die andern dienstbar sind, ohne es zu wissen. Das, was du also unterwürfige Schmeichelei zu nennen beliebst, ist nichts als weltkluges Benehmen, das in der Erkenntnis und der foppenden Benutzung der Torheit anderer seine eigentlichste Basis findet.“

    Buidln: Historisches Firmenschild an der ersten Filiale der Metzgerei Vinzenzmurr, Schellingstraße 21, Maxvorstadt München, 14. März 2015.

    Deshalb: Wurst selber machen: Claus-Peter Guschmann, 20. November 2012,
    mit eigenen Wurstrezepten des Wurstepeter
    unter Verwendung von Bach: 5. Aria Lebens Sonne, Licht der Sinnen,
    aus Schmücke dich, o liebe Seele, BWV 180, am 20. Sonntag nach Trinitatis 1724.

    Written by Wolf

    10. April 2015 at 00:01

    Veröffentlicht in Nahrung & Völlerei, Romantik

    Ich trinke ein Glas Burgunder!

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    E.T.A. Hoffmann müsste heute als Schweralkoholiker gelten, da gibt es nichts drumrumzureden. So günstig es für seine Zeitgenossen war, dass er dabei seine Stelle als Volljurist nicht etwa so nebenher, sondern ausgesprochen begabt und engagiert versehen haben soll, so glücklich ist es für uns Nachgeborene, dass er unter dem Einfluss legaler Psychogene außer zeichnen und komponieren immer noch geradeaus schreiben konnte.

    Wenn es bei Hoffmann was zu trinken gibt, dann gerne Burgunder. Oder Punsch — wahrscheinlich um auf das unausweichliche Ende mit schlimmstmöglichem Schädelweh vorauszuweisen. Es kann auch sein, dass sich mir das bei der jugendlichen Erstlektüre nur so eingeprägt hat, weil der Burgunder in den Kreisleriana schon eine herausragende Rolle spielt.

    Ich zitiere das Manuskript Hoffmanns aus dem Kommentar der Ausgabe von Hartmut Steinecke, Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch Band 14 bei Insel, gekürzt, aber mit allen Getränken; deren Hervorhebungen sind Eingriffe von mir.

    ——— E.T.A. Hoffmann:

    1. Johannes Kreisler’s, des Kapellmeisters, musikalische Leiden

    in: Allgemeine Musikalische Zeitung, Nr. 52, Leipzig, 26. September 1810, Band I.,
    aus: Fantasiestücke in Callot’s Manier. Blätter aus dem Tagebuche eines reisenden Enthusiasten.
    Mit einer Vorrede von Jean Paul. Bamberg 1814. Neues Leseinstitut von C. F. Kunz,
    1. Band, III. Kreisleriana Nro. 1–6, Manuskriptfassung 1810:

    Conrad Kiesel, Das Duett, ca. 1900Sie sind alle fortgegangen — Ich hätt‘ es an dem Zischeln, Scharren, Räuspern, Brummen, durch alle Tonarten bemerken können; es war ein wahres Bienennest das vom Stocke abzieht um zu schwärmen. — Gottlieb hat mir neue Lichter aufgesteckt und eine Flasche Burgunder hingestellt.

    Spielen kann ich nicht mehr! — ich bin ganz ermattet; aber ist nicht wieder mein alter herrlicher Freund Sebastian daran Schuld, der mich schon wieder auf starkem Fittig [ab Erstveröffentlichung 1814 ff.: wie Mephistopheles den Faust auf seinem Mantel] hoch durch die Lüfte getragen hat — so hoch, daß ich die Menschlein unter mir nicht sah und hörte, unerachtet sie ein tolles lautes Wesen trieben. — Ein verfluchter verwünschter Abend — aber jezt ist mir wohl und leicht —

    In der Manuskriptfassung der Kreisleriana kam der einzige Verweis auf den Goethe’schen Faust also noch gar nicht vor. Zur Erinnerung gab es in Auerbachs Keller nur Rheinwein (im volkstümlicheren „Urfaust“, in dem Auerbachs Keller noch in Prosa steht, präziser bestellt als „echten Nierensteiner“, denn: „Das Vaterland verleiht die besten Gaben.“), als einzigen aus der Weinverkostung ausschließlich im „Urfaust“ Muskatenwein („Spanischen Wein, sonst keinen Tropfen. Ich will nur sehn, wo das hinausläuft“), Champagner Wein (im „Urfaust“ noch allgemein als „Roten Wein, einen Französischen!“ bezeichnet — „Und recht moussierend soll er sein!“), Tokayer („ein Glas vom echten süßen!“) und einen nicht näher bestimmten („Nur nicht lang gefragt.“) zu trinken, und das erst auf Mephistopheles‘ Zutun. Ich wage dennoch zu vermuten, wenn der Zechkumpan Altmayer länger gefragt oder Mephisto ihm Burgunder verordnet hätte, so wäre die Rede davon gewesen. Und alle Fassungen stammen von vor 1811.

    Vladimir Lukich Borovikovskiy, Portrait von Prinzessin A.G. Gagarina und Prinzessin V.G. Gagarina, 1802Aber nicht für mich allein thue ich das, sondern für alle diejenigen, die sich hier zuweilen an meinem Exemplar der Johann Sebastian Bachschen Variationen erschienen bey Nägeli, ergötzen und erbauen, bey dem Schluß der dreyßigsten Variation meine Ziffern finden und von dem großen lateinischen: Verte (ich schreib es gleich hin, wenn meine Klageschrift geendet ist), geleitet, das Blatt umwenden und weiter lesen. Diese errathen denn gleich den wahren Zusammenhang der Sache; denn sie wißen es ja, daß der GeheimeRath Röderlein hier, wie man zu sagen pflegt ein Haus macht und zwey Töchter hat, von denen die ganze elegante Welt im Unisono mit Enthusiasmus behauptet, sie tanzten wie die Göttinnen, sprächen französisch wie die Engel, und spielten — sängen — zeichneten wie die Musen. — Es ist doch wirklich recht schön, daß der steinreiche GeheimRath ein solcher warmer Verehrer der Tonkunst ist; in seinen eleganten Zirkeln wird neben allerley leiblicher Nahrung auch immer etwas Musik präsentirt die von der schönen Welt [gestrichen: ebenso] mit eben der Behaglichkeit wie jene, eingenommen wird. Die Einrichtung ist so. — Nachdem jeder Gast Zeit genug gehabt hat den Thee — Punsch u.s.w. einzuschlürfen, rücken die Bedienten die Spieltische heran für den älteren solideren Theil der Gesellschaft der dem losen, kindischen musikalischen Spiel, das Kartenspiel vorzieht, welches keinen unnützen Lärm macht und Geld einbringt.

    Als ich schon länger lesen und noch nicht ganz so lange Alkoholika trinken konnte, hab ich mal lange nach Burgunder gesucht, wegen Hoffmann, klar. Und was soll ich sagen: Eine Flasche, auch nur ein Glas Burgunder zu trinken ist ein praktisch aussichtsloses Unterfangen. Burgunder existiert weder in Weinläden noch Gaststätten ohne Vornamen, es gibt immer nur Weißburgunder, Grauburgunder, frühen oder späten.

    Baron Francois-Pascal-Simon Gérard, Die Musikstunde. Comtesse de Morel-Vinde und ihre Tochter, 1799Gottlieb bringt zwey Arme voll Musikalien herangeschleppt, da wird geblättert und geblättert. Erst will sie singen: Der Hölle Rache, nachher Hebe sieh in sanfter Feyer, dann: Ach ich liebte, in der Angst schlage ich vor: Ein Veilchen auf der Wiese, oder: Gran dio, aber es bleibt bei der Constanze. —

    O quike — miaue — gurgle — ächze — quinkeliere nur frisch darauf los, ich habe den FortißimoZug getreten und orgle mich taub. O Satan! Satan! welcher von deinen höllischen Geistern ist in diese Kehle gefahren, der alle Töne zwickt und zwängt und zerrt. — Vier Saiten sind schon gesprungen, zwey Hämmer invalid. — Meine Ohren gellen, mein Kopf dröhnt, meine Nerven zittern. Sind denn alle unreine Töne kreischender Trompeten in diesen kleinen Hals gebannt? — Das hat mich angegriffen! — ich trinke ein Glas Burgunder!

    Die Arie war aus, man applaudirte gewaltig, Fräulein Marie sah die auf dem Schlachtfelde gebliebenen Todten und jemand bemerkte:

    „Ja Ja! Mozart und unsere göttliche FinanzRäthin, die setzen den Kapellmeister recht ins Feuer!“

    Ich lächelte ganz dumm!

    Selbst wenn man die Definition auf zwei Möglichkeiten ausweiten will, nämlich die Unterscheidung nach Rebsorten, die als Burgunder zusammengefasst werden, gegenüber fertigen Weinen, die im Weinbaugebiet Burgund, das weitgehend mit der französischen Region Bourgogne zusammenfällt, gekeltert wurden — selbst wenn man diese Unterscheidung nach gleich zwei unüberschaubaren Vielfalten treffen will, wird allenfalls Pinot, der historisch aus Burgunder-Rebsorten gezüchtet wurde, greifbar — will heißen: erhältlich und erschwinglich.

    Hendrick ter Brugghen, Das Duett, 1628Diese Produktion erregte nicht nur allgemeine Aufmerksamkeit sondern hin und wieder sogar einiges Entsetzen, so daß zwey etwas nervenschwache Stiftsfräuleins den Saal verlaßen mußten und ein Major, dem ein Spiel darüber verlohren ging, sich so weit vergaß laut herauszuschreyen: Ey MordtausendSapperment, das nenn ich brüllen! — Ueberhaupt entstand an den Spieltischen eine merkliche Pause schon deshalb, weil sie nun nicht so wie vorher melodramatisch mitwirken konnten welches sich erst recht artig ausnahm und für den Werth des Einfalls während der Musik sprechen zu laßen, hinlänglich entschied. So z. b. während der Arie Ach ich liebte — Sechs Stiche — war so glücklich — ich paße — kannte nicht — Whist! — der Liebe Schmerz — in der Farbe — u.s.w.

    — Ich trinke ein Glas Burgunder!

    Mit der größten Lust hatte ich zum Chor mitgehammert, den ich dachte: das ist die höchste Spitze der heutigen musikalischen Expositionen und nun ist’s aus: ich schlug daher das Buch zu und stand auf. Da komt der Baron Schönlauge (mein antiker Tenorist) und sagt: O bester Capellmeister, Sie sollen ganz himmlisch fantasiren, o fantasiren Sie doch ein wenig! — Ich versezte ganz trocken, die Fantasie wäre mir heute ganz ausgegangen und indem wir so darüber sprechen hat ein Teufel in Gestalt eines Elegants mit zwey Westen im Nebenzimmer unter meinem Hut die Bachschen Variationen ausgewittert und komt gesprungen: „Ach da hat der Herr Kapellmeister Variationen mitgebracht, die soll er uns noch geben — Variationen lieb ich bis zum Wahnsinn aber die von Gelinek sind doch die besten.“

    Der Fat mochte sich einbilden, ich hätte die Variationen mitgebracht, um sie zu spielen und wollte mich jezt bitten laßen weil ich mich so weigerte. Sie fielen alle über mich her, da dacht‘ ich: nun so hört zu und berstet vor Langerweile. Schon bey No 3, entfernen sich mehrere Damen — die Elegants folgten alsbald. Die Röderleins hielten nicht ohne Quaal aus bis No 12 — Die No 15 schlug den ZweyWestenMann in die Flucht. Aus ganz übertriebener Höflichkeit blieb der Baron Schönlauge bis No 30. und trank bloß viel Punsch, den Gottlieb auf den Flügel stellte. Alles wäre gut gegangen aber diese No 30, das Thema riß mich unaufhaltsam fort. — Die Quartblätter dehnten sich plötzlich vor meinen Augen aus zu einem RiesenFolio auf dem tausend kanonische Imitationen jenes Thema’s geschrieben standen und die ich abspielen mußte. Die Noten wurden lebendig und flimmerten und hüpften um mich her — Elektrisches Feuer fuhr durch die Fingerspitzen in die Tasten, der Geist von dem es ausströmte überflügelte die Gedanken — der ganze Saal hing voll dichtem Duft in dem die Lichter düstrer und düstrer brannten — zuweilen sah‘ eine Nase heraus — ein Paar Augen — aber sogleich verschwanden sie wieder und so kam es denn daß ich allein sitzen blieb mit meinem Sebastian Bach.

    Ich schenke mir ein. —

    Soll man denn ehrliche Musiker so quälen mit Musik wie ich heute gequält worden bin und so oft gequält werde? Wahrhaftig! mit keiner Kunst wird so viel arger Mißbrauch getrieben als mit der hochherrlichen Musica, die in ihrem zarten Wesen so leicht entheiligt wird. —

    Was Burgunder in der modernen Wirtschaftswelt ausmacht, stand am 6. Oktober 2014 im Aktuellen Lexikon der Süddeutschen Zeitung auf Seite 4 unter Autorenkürzel G.K.:

    Théobald Chartran, La joueuse de mandore, 1879Kein Wort in der Weinwelt verspricht so viel und sagt so wenig über die Qualität eines Produkts wie das Wort Burgunder. Auch wenn man die in Deutschland angebauten Burgundersorten beiseite lässt und sich auf Frankreich konzentriert, ist man immer noch mit einer Vielfalt unterschiedlichster Weine konfrontiert: Die Weinregion Burgund reicht vom Chablis im Norden bis zum Beaujolais im Süden. Was all diese Gebiete miteinander verbindet, sind überhöhte Preise und extreme Qualitätsunterschiede. Wer also erstmals blind Burgunder kauft, wird fast immer enttäuscht sein. Die Weinregionen Bourgogne und Bordeaux galten schon immer als die bedeutendsten Frankreichs. Doch der Ruhm beruht auf einem winzigen Bruchteil dessen, was dort erzeugt wird. Beim Burgunder ist es nur die Côte-d’Or, der etwa 50 Kilometer lange Hangstreifen zwischen Dijon und Santenay, auf dem Weine höchster Qualität gedeihen. Für die wenigen winzigen Spitzenlagen in dieser Zone aber sind immer schon Höchstpreise bezahlt worden. So konnte es passieren, dass Weine der vielleicht berühmtesten Rotwein-Lage der Welt, der nur 1,8 Hektar großen Lage Romanée-Conti, einen neuen Höchstpreis für Auktionsweine erzielt haben. Bei Sotheby’s in Hongkong sind am vergangenen Samstag [also am 4. Oktober 2014] 114 Flaschen Romanée-Conti der Jahre 1992 bis 2010 für umgerechnet 1,3 Millionen Euro ersteigert worden.

    Zusammengefasst ist Burgunder manchmal ganz gut, oft sehr teuer, kaum aufzutreiben und nicht einmal genau definiert. O des welschen Namensgewölks!

    So viel Begriffsverwirrung hätte ich bei einer so berühmten Weinsorte, dass sie selbst mir Bierfranken etwas sagt, nicht erwartet. Bei Punsch ahnt man wenigstens vorher, dass die Definitionen geradezu von einem Individuum zum anderen erheblich auseinanderklaffen. — Weiter der Kapellmeister Kreisler:

    Quelle InternetNun könt‘ ich zu Hause gehn und an meiner neuen KlavierSonate schreiben, aber es ist noch nicht eilf Uhr und ich wette, daß in der schönen SommerNacht dicht neben mir bey dem Oberjägermeister die Mädchen am offnen Fenster sitzen und mit kreischender, gellender, durchbohrender Stimme zwanzigmahl: „Wenn mir dein Auge strahlet“ — aber immer nur diese erste Zeile des verbrauchten Duetts heraus in die Straße schreien. — Schräg über martert einer die Flöte und hat dabey Lungen wie Rameaus Neffe, und in langen langen gedehnten Tönen macht der Nachbar akustische Versuche mit dem Horn. Die zahlreichen Hunde der Gegend werden unruhig und meines Hauswirths Kater aufgeregt durch jenes zärtliche Duett meiner holden Sängerinnen macht dicht neben meinem Fenster, (Sie wißen, meine Herrn! daß mein musikalisch-poetisches Laboratorium ein Dachstübchen ist) der NachbarsKatze, in die er seit dem ersten März verliebt ist, die Chromatische Skala durchjammernd, zärtliche Geständniße. Nach eilf Uhr wird es ruhiger und so lange bleibe ich sitzen da ohnedies noch weißes Papier und Burgunder vorhanden.

    Das war jetzt viel Musik und viel zu trinken, was ja oft gut zusammengeht. Den musikalischen Teil wollte ich erst in einer Art Anhang zugänglich machen und kurz erläutern — um schnell zu merken, dass manche der Musikstücke, die Hoffmann noch ganz selbstverständlich geläufig waren, heute ähnlich schwer dingfest zu machen sind wie eine Flasche Burgunder. Meistens ist schon der Nachweis aller Bilder genug Arbeit für eine Textmenge, die ein gebildetes Publikum hintereinander weg lesen soll. Deshalb lagere ich die Playlist als eigenen Weblog-Artikel aus — demnächst an dieser Stelle.

    Das war das lezte Glas Burgunder. —

    Gottlieb puzt mir die Lichter und scheint sich über mein ämsiges Schreiben zu wundern.

    Bilder:

    1. Conrad Kiesel: Das Duett, ca. 1900, Öl auf Leinwand;
    2. Vladimir Lukich Borovikovskiy, Portrait der Prinzessinnen A.G. und V.G. Gagarina, 1802, Öl auf Leinwand, Staatsgalerie Tretyakov;
    3. Francois-Pascal-Simon Baron Gérard: Die Musikstunde (Comtesse de Morel-Vinde und ihre Tochter), 1799: Die stoischen Virtuosinnen tragen Kleider, die griechische und römische Gewänder imitieren, wodurch sie Stil und Werte der Rokoko-Bewegung zurückweisen. Auf dem Notenblatt der Tochter steht: „An meine Mutter“;
    4. Hendrick ter Brugghen: Das Duett, 1628, Öl auf Leinwand, Louvre, Paris;
    5. Théobald Chartran: La joueuse de mandore, 1879, Öl auf Leinwand;
    6. und eins ohne Öl und Leinwand, ca. 2002, unbekannter Quelle, Photoshop auf 72 dpi.

    Warum singende Menschen in der E-Kunst allermeistens mit geschlossenem oder nur leicht zum Öffnen geneigtem Munde dargestellt werden, werden wir bei geeigneter Gelegenheit besprechen; siehe Lessing: Laokoon, 1766.

    Written by Wolf

    13. Februar 2015 at 00:01

    Veröffentlicht in Nahrung & Völlerei, Romantik

    Gar kein Advent mehr: Das Männlein in der Gans

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    Update zum Spielmann:

    Zu Weihnachten 1813 schenkte der 25-jährige Friedrich Rückert seiner kleinsten, damals dreijährigen Schwester Maria eine Sammlung aus fünf selbstgemachten Gedichten, die er innerhalb einer einzigen Nacht ausgearbeitet und niedergeschrieben hatte. Maria starb 1835, als sie ihrerseits 25 war.

    ——— Friedrich Rückert:

    Fünf Märlein zum Einschläfern für mein Schwesterlein.

    Zum Christtag 1813:

    5 von 5

    Das Männlein in der Gans

    Ludwig Richter, Die Mutter am ChristabendDas Männlein ging spazieren einmal
       Auf dem Dach, ei seht doch!
       Das Männlein ist hurtig, das Dach ist schmal,
       Gib acht, es fällt noch.
       Eh‘ sich’s versieht, fällt’s vom Dach herunter
       Und bricht den Hals nicht, das ist ein Wunder.

    Unter dem Dach steht ein Wasserzuber,
       Hineinfällt’s nicht schlecht;
       Da wird es naß über und über,
       Ei, das geschieht ihm recht.
       Da kommt die Gans gelaufen,
       Die wird’s Männlein saufen.

    Die Gans hat’s Männlein ’nuntergeschluckt,
       Sie hat einen guten Magen;
       Aber das Männlein hat sie doch gedruckt,
       Das wollt‘ ich sagen.
       Da schreit die Gans ganz jämmerlich;
       Das ist der Köchin ärgerlich.

    Die Köchin wetzt das Messer,
       Sonst schneidt’s ja nicht:
       Die Gans schreit so, es ist nicht besser,
       Als daß man sie sticht;
       Wir wollen sie nehmen und schlachten
       Zum Braten auf Weihnachten.

    Sie rupft die Gans und nimmt sie aus,
       Und brät sie,
       Aber das Männlein darf nicht ‚raus,
       Versteht sich.
       Die Gans wird eben gebraten;
       Was kann’s dem Männlein schaden?

    Weihnachten kommt die Gans auf den Tisch
       Im Pfännlein;
       Der Vater tut sie ‚raus und zerschneid’t sie frisch.
       Und das Männlein?
       Wie die Gans ist zerschnitten,
       Kriecht’s Männlein aus der Mitten.

    Da springt der Vater vom Tisch auf,
       Da wird der Stuhl leer;
       Da setzt das Männlein sich drauf,
       Und macht sich über die Gans her.
       Es sagt: „Du hast mich gefressen,
       Jetzt will ich dafür dich essen.“

    Da ißt das Männlein gewaltig drauf los,
       Als wären’s seiner sieben;
       Da essen wir alle dem Männlein zum Trotz,
       Da ist nichts übriggeblieben
       Von der ganzen Gans, als ein Tätzlein,
       Das kriegen dort hinten die Kätzlein.

    Nichts kriegt die Maus,
       Das Märlein ist aus.

    Das Kind fragt:

       Was ist denn das?

    Antwort:

       Ein Weihnachts-Spaß;
       Aufs Neujahr lernst
       Du, was?
       Den Ernst.

    Daniel Chodowiecki, Hausliches Fest am Weihnachts Abend, 1799

    Bilder: Ludwig Richter: Die Mutter am Christabend, Holzstich. In mehreren Ausgaben nachgedruckt, hier nach: Johann Peter Hebel: Werke. Hrsg. von Paul Alverdes. München: Carl Hanser o.J., S. 364
    via Goethezeitportal;
    Daniel Chodowiecki: Hausliches Fest am Weihnachts Abend, 1799.

    Written by Wolf

    26. Dezember 2014 at 00:01

    Veröffentlicht in Biedermeier, Nahrung & Völlerei

    Tumultuantenharanguieren (sed iam satis)

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    Update zu Jug:

    Ballettfigurant Beske als Schneidergeselle im Ballett von Peter Winter, Die Lustbarkeiten im Wirtsgarten, 1808Vermutlich 1812 zog sich E.T.A. Hoffmann mit einer Runde studentischer Kumpane zu dem zurück, was der Erstdruck von Carl Friedrich Kunz 1839 „ein Glas Punsch“ nennt, in seiner Lieblingskneipe beim Wirt Striegel in Bug bei Bamberg, wo auffallend viele Sachen mit B anfangen. Das tat Hoffmann in seiner Bamberger Zeit zwischen 1808 und 1813 mit Sicherheit öfter, dieses eine Mal aber veranlasste man dort offenbar zur Kurzweil eine Stichwortgeschichte für den Dichterkollegen, „nachdem jeder der anwesenden Freunde und sonstigen Gäste, ihm ein paar Worte gesagt, die der Reihenfolge nach, zu einem Ganzen sich verbindend, wiederkehren mußten“ — und zwar offenbar noch unmittelbar im Kneipengeschehen. Wer einmal live vor einem fränkischen Publikum unter Alkoholeinfluss aufgetreten ist, erahnt die künstlerische Leistung.

    Kanonisch wurde der Schwank durch die Gesamtausgabe von Hans von Müller 1915 als I. Anhang zu Hoffmanns Tagebüchern, wo er zugleich vortrefflich analysiert wird. Ich erwarte ihn auch in der heute gültigen Ausgabe im Deutschen Klassiker Verlag, entnehme ihn aber dem 5. Band namens Schriften zur Musik/Nachlese von Friedrich Schnapp bei Winkler 1963, versuche eine sinnvolle Emendation mit seiner online gut erreichbaren Vorlage von Müller 1915 und gebe die Stichworte der Kneipenrunde fett wieder.

    Es ist nicht Hoffmanns brillantester Geniewurf, aber man weiß nicht, wieviel Punsch es schon war. Und ich wette, dass er trotz seiner bisherigen vier Abdrucke und 10 bis 30 Weblog-Abrufen pro Tag in der ganzen Literaturgeschichte noch nicht so viele Leser gefunden hat wie hier. — Das Manuskript ist verschollen.

    ——— E.T.A. Hoffmann:

    Die Folgen eines Sauschwanzes

    um 1812:

    An einem schönen Abende gingen wir, uns zu zerstreuen, nach Bug. Kaum hatten wir uns hingesetzt, als ein Mädchen in die Stube trat und nach einem leichten Gruß sich ebenfalls zu uns hinsetzte. Die Züge tiefer Schwermuth lagen auf ihrem Gesichte, — sie weinte, und zog ein Papier hervor, in welchem etwas eingewickelt war, und welches sie inbrünstig an die Brust drückte. Es gelang uns, ihr Vertrauen zu gewinnen, — sie entfaltete das Papier, und siehe da, es war ein kleiner niedlicher Sauschwanz darin enthalten, den ein scheidender Liebhaber, — der rüstigste Fleischerknecht des Städtchens, ihr zum ewigen Andenken gegeben hatte. „O Pankraz! Pankraz!“ rief sie voll wehmüthiger Begeisterung, ergriff eine Flasche Branntwein, lüftete den Pfropf und that einen tüchtigen Schluck.

    Rasch sprang sie dann auf den Tisch, drehte sich in den Touren der Anglaise zwischen Krügen und Gläsern, die alle zersprangen, bis auf das theuer erkaufte Wetterglas, das Striegel, der Wirth, durch eine geschickte Wendung, die Mütze vorhaltend, vor den Sprüngen der Bacchantin rettete. Die Gäste brummten und summten wie tausend Maikäfer, — unmuthig schob der Kanonikus Seubert seine in Hühnersauce gefallene Bratwurst fort, und besprühte sehr den Doktor Speyer, der über den Tisch gelehnt mit der Brille gewisse Aussichten suchte, die des Mädchens schneller Tanz darbot. Sie versucht sich durch einen schnellen Sprung über ihn weg zu retten, — sie springt zu Kunz, — trifft ihn, — wirft ihn, — Er — Mädchen, Speyer, Bratwurst liegen am Boden.

    „Halt! Halt! wollt Ihr denn in die Ewigkeit hineinplumpen mit gebrochenem Genick und Bein, und höchst einfältig beschmiert mit Hühnersauce und Branntwein?“ erschallt eine Stimme vom Ofen herab, und siehe da, es ist Hoffmann, der sich im Tumult in ein Hutfutteral retirirt hat und nun daraus lustig die Tumultuanten haranguirt.

    Mit Hülfe des Doktor Durow kommt alles wieder auf die Beine: „Hätten wir den unseligen Sauschwanz, so wär allen geholfen,“ spricht der Süße, „doch verordne ich dem Mädchen ein aromatisches Klystier, welches mir jedesmal dienlich, so oft ich vom Schiller’schen Trauerspiel zu sehr in Extase gerathen.“ „Ei da habe ich Herrn ScheuringsKlystierspritze noch in der Schublade,“ spricht Striegel, macht sie auf, und bringt ein Futteral hervor, das er vergebens zu öffnen strebt.

    Seubert — Sutow — Kunz — drei Canonici — verschiedene Administratoren springen herbei, — man zieht, — immer länger und länger wird das Futteral, — es ist kein Futteral, — es ist ein Tubus aus Rüdinger’s Apparat mit endlosen Zügen, — sie ziehen und ziehen — bis zur Kirchthurmhöhe dehnt sich immer wachsend und wachsend das tolle Instrument; — plötzlich wird der Amtmann Vill durch einen Perpendikelschlag an Striegel’s hölzerner Uhr getroffen, — er stürzt — die Reihe wankt — fällt, — der Tubus fährt in seine alte Form zurück, und wie mit Blumen bestreut Hoffmann vom Ofen herab die wie todt daliegende Gesellschaft mit Papierschnitzeln, welche er in seinem Hutfutterale fand.

    Der Professor Klein hatte Schelling’s Weltseele, in der er nach Bug promenirend gelesen, aus der Tasche verloren, das Mädchen den Sauschwanz, — beide griffen darnach, als Epaminondas hereintrat, die Weltseele beschnüffelte, den Sauschwanz aber zwischen die Zähne nahm und davon lief.

    Sie kennen doch, meine Herren, den guten deutschen Pudel mit dem griechischen Namen? —

    Wie aus einem Traume erwachte das Mädchen, — die Somnambule, nicht mehr affizirt von dem magnetischen Sauschwanz, setzte sich um in eine gewöhnliche Köchin, und indem sie an Seuberts Bratwurst roch, meinte sie, das sey ein ekles Fressen, worauf sie Striegel zur Thür hinauswarf.

    Der Administrator Beck ergriff die Lichtscheere, sagte gedankenvoll und ernst: „Was sind wir Menschen!“, putzte das Licht aus, — und gab so dieser höchst tragischen als wahren Erzählung einen angenehmen Schluß. —

    Die vortreffliche Analyse Hans von Müllers 1915 besteht vor allem in der Beobachtung, dass sich durch die Einteilung in Absätze, die oben eingehalten ist, aber im Manuskript wahrscheinlich gefehlt hat, „eine unerwartet gute [— immerhin symmetrische —] Gliederung in fünf Teile“ ergibt:

    1) Bezauberung des Mädchens durch den sympathetischen Gegenstand und ihre weitere Erregung durch einen Schluck Branntwein;

    2) erste Katastrophe, der sich nur Hoffmann entzieht, um dann die Verunglückten zu verhöhnen;

    3) vergebliche Vorbereitung zu einer Beruhigung der Somnambulen;

    4) zweite Katastrophe, die Hoffmann zu einer neuen Verhöhnung Anlaß gibt;

    5) Entzauberung des Mädchens durch Entfernung des Gegenstandes.

    Sed iam satis.

    August Hoffmann, E.T.A. Hoffmann zeichnet Carl Friedrich Kunz und Dr. med. Christian Pfeufer, Bamberg 1809--1813, Radierung 1839

    Bilder: Ballettfigurant Beske als Schneidergeselle im Ballett von Peter Winter:
    Die Lustbarkeiten im Wirtsgarten, 1808;
    August Hoffmann: E.T.A. Hoffmann zeichnet Carl Friedrich Kunz und Dr. med. Christian Pfeufer,
    Bamberg 1809/1813, Radierung 1839;
    Hans Liska: E.T.A. Hoffmann vor seinem Wohnhaus am Zinkenwörth in Bamberg, Aquarell 1970:
    via Staatsbibliothek Bamberg.

    Hans Liska, E.T.A. Hoffmann vor seinem Wohnhaus am Zinkenwörth in Bamberg, Aquarell 1970

    Bonus Track von Concerto Bamberg: E.T.A. Hoffmann: Symphonie Es-Dur, leider schon 1806.

    Written by Wolf

    11. November 2014 at 11:11

    Veröffentlicht in Nahrung & Völlerei, Romantik

    Frühstücks With Wolves

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    Update zu Ein paar Stunden später stößt die Katze schreckliche Schreie aus:

    Cover Mary Frances Kennedy Fisher, How to Cook a Wolf, 1942

    ——— Mary Frances Kennedy Fisher: How to Cook a Wolf, 1942:

    One of the stupidest things in an earnest but stupid school of culinary thought is that each of the three daily meals should be „balanced.“ Of course, where countless humans are herded together, as in military camps or schools or prisons, it is necessary to strike what is ironically called the happy medium. In this case, what kills the least number with the most ease is the chosen way.

    Kochanweisung & Beziehungsberatung: Laura Cahen: Mon Loup, 30. März 2012;
    Cover: via Roy Peter Clark: Miss Lonelyhearts No More: Three Surprising Books of Advice, 30. März 2014.

    Written by Wolf

    10. Oktober 2014 at 00:01

    Veröffentlicht in Nahrung & Völlerei, Novecento

    Anständig essen

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    Eine jungische Dozentin hat mal in meinem Erlanger anglistischen Grundkurs als Gruppendiskussionsthema „Food and Eating“ anberaumt — mit der Begründung, dazu könne jeder was sagen, „or is anybody here who doesn’t eat at all?“

    Das war schon die erste Gelegenheit, bei der sich niemand melden wollte. Für mich brachte die junge Dame da eine erschreckende Implikation vor: Ist es denn keine der Weltmiseren, wie der Mensch durch beständiges Streben nach körperlicher Nahrung, also entlang eines mit Leichen gepflasterten Weges, seinen eigenen Tod hinauszögert? Und wenn er sich dabei nicht anständig benimmt, sich zumindest gesellschaftlich unmöglich macht, also nicht weniger wirksam aushungert, als wenn ihm gleich die Muttermilch verweigert würde? Und wehe dem sozialen Wesen, das keine Freude an Nahrungsaufnahme zeigt!

    Das ist eine Ansicht, mit der ich damals nicht gleich die Grundkursdiskussion eröffnen wollte, schon gar nicht auf Englisch. Seit man seine Mammuts nicht mehr selbst handwürgen muss, ist nichts einfacher geworden.

    ——— Um 1370:

    Du solt nit bey tische grelzen noch mit dem messer in die zent stüren.

    ——— Vor 1643, überliefert in Umberto Eco: Die Insel des vorigen Tages, Hanser Verlag 1994,
    Kapitel 6: Große Kunst des Lichts und der Schatten, Seite 69,
    Übersetzung von Burkhart Kroeber:

    „In sauberen Kleidern erscheinen, nicht nach jedem Happen einen Schluck trinken, sich vor dem Trinken den Bart und den Schnurrbart abwischen, sich nicht die Finger ablecken, nicht in den Teller spucken, sich nicht in die Tischdecke schneuzen. Wir sind schließlich keine Kaiserlichen, Messieurs!“

    ——— Heinz Dietrich:

    Menschen miteinander.

    Ein Brevier des taktvollen und guten Benehmens, 1934, Nachdruck 1952:

    Mittelalterliche Tischsitten. Gutes Benehmen macht Eindruck, Tischsitten sind weiter wichtig, Badische Zeitung 11. November 2013Von dem aufgetanen Fleisch wird im Gegensatz zu angelsächsischen Gepflogenheiten immer nur das Stück, das man für den nächsten Bissen braucht, abgeschnitten. Nur für Gebrechliche und für Kinder, die sich auf den Gebrauch von Messer und Gabel noch nicht verstehen, kann man das ganze Stück gleich auf einmal zerteilen. Knochen, unzerkaubare Knorpel und Sehnen, die einem in den Mund geraten sind, läßt man auf die Gabel gleiten und legt sie etwas abseits auf den Teller zurück.

    Messer und Gabel werden am oberen Teil des Griffes gehalten, so daß dessen Ende wie ein Hebel gegen die Mitte der Innenhand stößt. Dadurch hat man nicht nur die größte Gewalt über Messer und Gabel, die locker über den Griff ausgestreckten Zeigefinger werden dann auch niemals so weit nach unten gleiten, daß sie die Schneide oder die Gabelzinken berühren. Die Daumen liegen ebenfalls ausgestreckt seitwärts an, während die übrigen Finger eingekrümmt die untere Klammerstütze für die Besteckgriffe bilden. Je leichter und unverkrampfter die Hände Messer und Gabel führen, desto eleganter sieht es aus und desto weniger Geklapper und Lärm entsteht. Die Gabel bleibt stets in der Linken, das Messer in der Rechten. Sie werden beide mit dem Rücken nach oben im spitzen Winkel flach und schräg über dem Teller gehalten. Das Messer darf sich niemals vom Teller entfernen, es dient nur zum Fleischschneiden und zur Unterstützung der Gabel bei der Zusammenstellung und beim Anspießen des Bissens. Degenschlucker gehören in den Zirkus. Grundsätzlich wird das Messer nur zum Schneiden solcher Gerichte benutzt, die allein mit der Gabel nicht zerkleinert werden können. Gemüse wird also nicht geschnitten, ebensowenig natürlich Deutsches Beefsteak. Gleichwohl wird das Messer auch dann nicht aus der Hand gelegt, sondern zur Unterstützung der Gabel als Schieber gebraucht. Auch wenn es für das Messer gerade nichts zu tun gibt, soll es während des Ganges also nicht aus der Hand gelegt werden. Die Gabel sticht, Rücken nach oben, leicht in das abgeschnittene Fleischstück und hebt es zum Munde. Gemüse, Kartoffel usw. ohne Fleisch kann auch mit der nach oben offenen Gabel aufgenommen werden. Sie darf aber nicht erst in der Luft angefüllt werden, indem etwa das Messer die Speisen an ihr wie ein Maurerspachtel abstreicht, sondern immer direkt auf dem Teller. Und, wie man nicht oft genug sagen kann, nie zu hoch auf einmal aufladen, lieber die Gabel ein paarmal mehr zum Munde führen. […]

    Jede Mahlzeit geht einmal zu Ende, auch die längste. Trotz der so oft angestrengten „Sitzung“ werden Sie jedoch niemals schwer und stumm in Ihren Stuhl zurücksinken, als hätten Sie schon mit einem kleinen Verdauungsschlummer begonnen. Bei den Rauchern erwacht die Sehnsucht nach der Zigarette. Doch sie sollten ihre Etuis steckenlassen und sich bezähmen, bis der Hausherr es für richtig hält, Zigaretten anbieten zu lassen. Vor dem Schlußgericht (Süßspeise oder Obst) wird das nicht der Fall sein. In der Regel geht man zu Kaffee, Zigarette und Likör nach beendeter Mahlzeit in ein anderes Zimmer. Wird der Kaffee sofort anschließend am Eßtisch serviert, nachdem alles Geschirr und alle Gläser abgedeckt sind, so paßt eine Zigarette recht gut dazu. Zugleich macht auch die Kiste Zigarren die Runde. Zwischen den Gängen zu rauchen, ist heute vielfach üblich geworden. Besonders schön ist das nicht, und bei großen, offiziellen Diners ist das zweifellos nicht am Platze. Vor dem Kriege verwendete man für die ganz engagierten Raucher gern sogenannte „Damen-Zigaretten“, die nur wenige Züge enthielten. Zur Zeit sind solche Zwischengangszigaretten nur als Sonderanfertigungen erhältlich. […]

    Darum wird man auch allein genau so essen, als sei man mit anderen zusammen. Auch allein bleibt man ein Mitglied der menschlichen Gesellschaft, und man degradierte sich menschlich, wenn man sich von jenen Formen „befreite“, sobald man unbemerkt ist, als seien sie nur ein Komödienspiel, das man ohne Zuschauer nicht mehr nötig hätte. Wie könnte man auch von jemand verlangen, daß er als ernsthafter erwachsener Mensch sich nach Formeln richtete, die weiter nichts wären als bloße Spielregeln?

    Doch es kommt noch hinzu, daß man niemals die nötige Sicherheit und Gewandtheit erlangt, wenn man immer erst in Gegenwart anderer mit seinem guten Benehmen beginnt. Da Appetit und schlechte Gewohnheit sehr bald den auferlegten Zwang durchbrächen, so würden sich die üblen Manieren doch schnell verraten. Wem daher der tiefere Sinn der Tischsitten verborgen bliebe, für den wäre es immer noch eine Sache der praktischen Zweckmäßigkeit, sich auch allein am Tische niemals gehen zu lassen.

    ——— Barbara Kleber:

    Knigge für jeden Tag: Richtiges Benehmen.

    Zeitgemäße Umgangsformen. Mit Trainingsfilm auf DVD, 2011:

    Stundenbuch des Herzogs von Berry, Johann von Valois bei einem großen Mahl, ca. 1410 via Kochzitate.deEin Beispiel: Dr. jur. Krösus (wir erinnern uns, der frischgebackene Doktor der Rechtswissenschaften) lädt seine beiden Mitarbeiterinnen zum Mittagessen in den Ratskeller ein. Alle Tische sind eingedeckt, ein paar Gäste sitzen im Gastraum. Dr. Krösus führt die Damen an einen Tisch seiner Wahl, ohne sich mit dem Service abgesprochen zu haben. Ein Kellner folgt der Prozession und weist die Gruppe darauf hin, dass dieser ausgewählte Tisch reserviert sei. Mit den Worten „Dann reservieren Sie eben einen anderen!“ lässt sich Krösus nieder, während die Damen noch zögerlich stehen bleiben. Der Kellner bittet Krösus höflich an einen anderen Tisch, denn dieser Tisch sei reserviert und schon für die Gäste dekoriert, die übrigens die Dekoration auch schon bezahlt hätten. Notgedrungen wechselt Krösus mit den Damen, denen die ganze Situation peinlich ist, an einen anderen Tisch. Krösus hat kaum von der Suppe gekostet, als er laut in die Hände klatscht, um die Aufmerksamkeit eines Kellners zu gewinnen. Dieser kommt auch schnell, weil er neues Unheil ahnt. Krösus erklärt ihm nun lautstark, dass er dieses „Dosenfutter“ nicht essen und auch nicht bezahlen wird. Mit einer Entschuldigung räumt der Kellner die Suppentasse ab. Die Damen löffeln weiter, immerhin scheint es ihnen zu schmecken. Zum Hauptgang haben die Herrschaften Rotwein bestellt. Wieder lässt Krösus den Service antreten und verkündet: „Diesen verkorkten Wein werde ich nicht trinken, bringen Sie mir ein Bier, damit können Sie hoffentlich nichts falsch machen.“ Schließlich sind die Teller und Gläser leer und Krösus ruft durch den Raum: „Zahlen!“ Der Kellner kommt mit der Rechnung. Derweilen hat Krösus seine Brieftasche gezückt, knallt drei Kreditkarten auf den Tisch mit der Bemerkung: „Suchen Sie sich eine aus!“ Während der Kellner noch mit der Karte seiner Wahl und der Abrechnung beschäftigt ist, steht Krösus auf und holt die Garderobe. Als sich die drei anziehen, kommt der Kellner mit der Karte und dem Rechnungsbeleg zurück. Wortlos nickend nimmt Krösus beides an sich. Die drei verlassen den Ratskeller und der Kellner atmet tief durch.

    Sie wissen und können es besser. Notieren Sie hier Ihre Empfehlungen für Herrn Dr. Krösus:


     


     


     


     


    Bilder: Badische Zeitung: Gutes Benehmen macht Eindruck.
    Tischsitten sind weiter wichtig, 11. November 2013;
    Les très riches heures du duc de Berry. Janvier (Stundenbuch des Herzogs von Berry, Januar):
    Johann von Valois bei einem großen Mahl, ca. 1410 via Kochzitate:
    Der Herzog sitzt an einem hohen Tisch unter einem luxuriösen Baldachin vor dem Kamin. Auf dem Tisch links vom Herzog ist ein goldenes Salzfässchen in Form eines Schiffs.

    Written by Wolf

    19. September 2014 at 00:01

    Veröffentlicht in Hochmittelalter, Nahrung & Völlerei

    Wer weis, wie lang ich hier noch bin

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    Update zu Mille tre und What shalbe, shalbe:

    Christopher Clarke, 3. Oktober 2010

    ——— Johann Christian Günther:

    Studentenlied

    1712:

    Das Haupt bekränzt, das Glas gefüllt!
    So leb ich, weil es Lebens gilt,
    Und pflege mich bei Ros- und Myrthen.
    Fort, Amor, wirf den Bogen hin
    Und komm, mich eiligst zu bewirthen!
    Wer weis, wie lang ich hier noch bin?

    Komm, bring ein niedliches Coffee,
    Komm, geuß der Sorgen Panacee,
    Den güldnen Nectar in Chrysthallen!
    Seht, wie die kleinen Perlen stehn!
    Mir kan kein beßrer Schmuck gefallen,
    Als die aus dieser Muschel gehn.

    Mein Alter ist der Zeiten Raub,
    In kurzem bin ich Asch und Staub;
    Was wird mich wohl hernach ergözen?
    Es ist, als flöhen wir davon.
    Ein Weiser muß das Leben schäzen,
    Drum folg ich dir, Anacreon.

    Werft Blumen, bringt Cachou und Wein
    Und schenckt das Glas gestrichen ein
    Und führt mich halb berauscht zu Bette!
    Wer weis, wer morgen lebt und trinckt?
    Was fehlt mir mehr? Wo bleibt Brunette?
    Geht, holt sie, weil der Tag schon sinckt!

    Christopher Clarke, 3. Oktober 2010

    Niedliches Coffee: Christopher Clarke, 3. Oktober 2010.

    Kaffeekantate BWV 211: Ei! wie schmeckt der Coffee süße, Liesgens Sopran-Arie mit Traversflöte und Continuo, ca. 1734, M: Johann Sebastian Bach; T: Christian Friedrich „Picander“ Henrici; Janet Perry (mit Peter Schreier und Robert Holl), Contentus Musicus Wien unter Nikolaus Harnoncourt, auf DVD 2009.

    Written by Wolf

    1. Juni 2014 at 00:01

    Veröffentlicht in Barock, Nahrung & Völlerei

    23!!

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    ——— William Shakespeare: Othello II,1:

    Iago. She that was ever fair and never proud,
    Had tongue at will and yet was never loud,
    Never lack’d gold and yet went never gay,
    Fled from her wish and yet said ‚Now I may,‘
    She that being anger’d, her revenge being nigh,
    Bade her wrong stay and her displeasure fly,
    She that in wisdom never was so frail
    To change the cod’s head for the salmon’s tail;
    She that could think and ne’er disclose her mind,
    See suitors following and not look behind,
    She was a wight, if ever such wight were,—

    Desdemona. To do what?

    Iago. To suckle fools and chronicle small beer.

    Es ist der Tag des Buches (daher heute ohne Musik), des Urheberrechts (daher heute ohne Bilder), in Katalonien sogar der Verliebten (daher heute ohne Zeit), in Gesamtspanien Todestag von Cervantes (daher heute ohne … öh, Windmühlen), in England Geburtstag von Shakespeare (daher heute ohne nackte Weiber) und in Deutschland Tag des deutschen Bieres (daher heute ohne Sinn).

    Written by Wolf

    23. April 2014 at 16:37

    Veröffentlicht in Nahrung & Völlerei, Renaissance

    Nachtstück 0003: Polizistenschatten im Laternenschein

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    Update zu Dann, Engel, blas Posaune und Nachtstück 0002:

    Mein Vater war Eisenbahner. Für junge Menschen hat ein Vater bei der Bahn den Vorteil, dass er viel in Deutschland herumkommt, je nachdem, wohin er seine acht Zeilen Freifahrschein ausfüllt; innerhalb Europas geht’s auch, aber die sind nicht so spontan, weil sie beantragt werden müssen. Mein Vater und ich haben im Laufe meiner frühen Jahre mehr als einmal an einem Samstagnachmittag beschlossen, ein Frühstück aus grünem Aal nach Nürnberg zu holen, schrieben „Ottensoos–Hamburg/Altona“ in die nächste Zeile, sprangen in den Hamburger Nachtzug, kamen zu nachtschlafender Zeit zum Fischmarkt zurecht, kauften einige Tüten voll Aale, so frisch, dass sie noch gelebt hatten, während wir die Bahnhofslichter von Hildesheim bewunderten, frühstückten in den Markthallen gegenüber Blohm & Voss Labskaus und Pils, um im Zug besser zu schlafen, vergaßen auch nicht das landwirtschaftliche Kleinvieh nebenan zu besuchen, um doch wieder kein exotisches Huhn zu kaufen, schrieben in die nächste Zeile „Hamburg/Altona–Osterhofen“, damit wir nächstes Mal ins Gebirge konnten, stiegen in Altona ein, um am Hauptbahnhof schon unseren Platz zu haben, stanken das Abteil mit Fisch voll, versorgten die Nachbarn mit Aal, weil das Zeug schnell weg muss, und rechtfertigten uns mit Zeitgründen, warum wir „auf“ Sankt Pauli nicht im Puff gewesen waren. Dann war früher Sonntagnachmittag. Das nur nebenbei.

    Einmal kamen wir erst nach der Sportschau auf die Idee, Aal einzukaufen, was zu knapp für Hamburg war, trugen „Ottensoos–Köln Hbf“ ein und besichtigten am Abend die soeben entstandenen Hochwasserschäden entlang des gastronomisch orientierten Rheinufers. In der Altstadt, wo wir uns nicht auskannten, sah es aus wie in der von Nürnberg, nur mit mehr Sandsäcken vor Kellerfenstern, die Türen waren schon wieder benutzbar. Wir benutzten die von einer nicht zu großen Kneipe namens Papa Joe’s. Em Streckstrump, weil wir Wirtshäuser mieden, die ihre Preise nicht draußen anschreiben.

    Innen lernten wir, dass der Kölner an sich nichts von fremden Menschen weiß, sondern unterschiedslos mit ihnen zu reden anfängt, weil man mit Leuten eben redet, und weil das natürliches menschliches Verhalten ist, vor allem in Kneipen. Und dass sie hier allgemein ihren Ehrgeiz darein setzen, „ein Mensch zu bleiben“, und nicht ohne ein gemütliches bis nachsichtiges Wohlwollen betonen, dass jemand „auch nur ein Mensch“ sei. Und dass der Kerl, der sich mit einem runden Gestell voller zahnputzglasgroßer Biere über dem Kopf durch das Kneipengetümmel schlängelt, Köbes heißt. Und dass man Dixieland in Köln außerhalb von Sonntagsfrühschoppen spielt, aber vielleicht war die Kapelle auch nur ein paar Stunden zu früh da.

    Während mein Vater von Einheimischen dazu verdonnert wurde, seinen Samstgagabend mit Erzählungen von vergangenen und bevorstehenden Bahnreisen zu verbringen und dazu, an 0,5 Liter große Gläser gewöhnt, dem Köbes einen Zahnputzbecher Kölsch nach dem anderen abkaufte, war für mich das Faszinierendste die Tapete des Lokals: Sie bestand von unten bis unter die hohe Decke aus alten Zeitungsseiten, weil sie so in Rheinufernähe zuverlässig jährlich erneuert werden musste. Undenkbar für bodenständige Menschen aus Binnenfranken, einen Wohnsitz noch zu halten, nachdem er das zweite und dritte Mal überschwemmt worden war, aber et kütt wie et kütt, woll?

    Unser zuständiger Köbes mochte mich offenbar, denn er stellte mir jedes Mal, wenn eine neue Runde fällig war, diskret auch so ein Kölsch ab und kassierte es vom Rundenspender mit. Das funktionierte, weil alle Beteiligten damit glücklich waren.

    Meinem Vater sagte wenig zu, dass sie im ganzen Rheinland Rosinen in den Sauerbraten schütteten, aber in dem Gedrängel an den Stehtischen hätten wir sowieso nichts „Richtiges“ — ein Ausdruck „unserer“ daheimgebliebenen Mutter — essen können. Auf das Anraten mehrerer Einheimischer, der Halve Hahn sei hier sehr ordentlich, bestellten wir zwei davon. Wir verzehrten sie, während wir einigen Schnurrbartträgern dabei zuschauten, wie sie sich beim Versuch, das Wort „Käsweggla“, was Käsebrötchen oder Halver Hahn bedeutet, korrekt auszusprechen, fast das Gesicht brachen.

    Die Kapelle schickte fast so regelmäßig wie den Köbes ein Instrument, das gerade nichts zu tun hatte, mit einem Filzhut durch die Menge und rief eine Kollekte für hochwassergeschädigte Musiker aus. Dann spielte sie eine besonders anrührende, stillvergnügte Version von When You’re Smiling, und ich fand im Gewirr der meterhohen, meterbreiten Zeitungsseiten ein Gedicht. Es stand in einer Ecke, die zu den folkloristisch unverzichtbaren Hochwassern offenbar lange trocken blieb, denn das Blatt sah schwer vergilbt und im Design nach Goldenen Zwanzigern aus, als Herrschaften wie Tünnes und Schäl leibhaftig umherliefen, mit Jugenstilschriftarten und im- oder expressionistischen — das kann ich bis heute nicht unterscheiden — Ornamenten, etwa wie die frühe Reklame für Roth-Händle. Ein gutes Eck, um im Gewimmel ungestört zu verweilen, ein nur halb ergaunertes Kölsch zu verkasematuckeln, wie der Kölner sagt, Dixieland zu hören und ein schlagend kurzes, herrlich sinnloses Gedicht an der Wand auswendig zu lernen.

    Nachtstück

    Klingt wie Hellebarde
    Auf dem Pflasterstein.
    Polizistenschatten
    im Laternenschein.

    Bruder Kain noch immer
    Flieht vor dem Gericht.
    In das Dunkel bergen
    Diebe ihr Gesicht.

    Mein Vater konnte das bundesdeutsche Kursbuch, Gesamtausgabe, praktisch auswendig, auch in hohen Promillebereichen, so einer war das nämlich, ein Bahnerer mit Leib und Seele. Daher ist es nur mit Vorsatz zu erklären, dass wir den letzten Zug Köln–Nürnberg verpassten und bis zum ersten ausharren mussten.

    Hoch über dem Bahnhof thronte der Dom leider zugesperrt, die Domplatte war trotzdem beeindruckend weitläufig und belebt. In einer so weltoffenen Stadt schien es uns dennoch statthaft, gegen die Wand des Kölner Doms zu pinkeln; mein Vater war evangelisch. „Et hätt noch immer jot jejange“, hatte er sich gemerkt.

    Die majestätischen Fluten des Rheins begannen schon in einer Morgendämmerung zu glitzern, es wurde also Zeit, mein neu gelerntes Gedicht aufzusagen. Es dauerte einschließlich der Denkpausen angesichts der ungefrühstückten Stunde so lange, wie man pinkeln muss.

    „Du lernst ein Zeug“, sagte mein Vater und schüttelte ab.

    Papa Joe's Jazzlokal Em Streckstrump Köln. Deutschlands ältestes Jazzlokal mit täglichem Live-Jazz

    Bild: Papa Joe, Köln.

    Written by Wolf

    11. Januar 2014 at 00:01

    Schwarze Butter (eine reizende, ursprüngliche Landkonfitüre, um altes Zeug aus dem Kühlschrank aufzubrauchen)

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    Update zu Erdäpfelgulasch und Zwetschgenzeit:

    Die Romane von Jane Austen gelten seit jeher als Mädchenbücher, erstens weil es so schön übersichtlich wenige sind, zweitens weil in ihnen die Romantik in der Liebe unter zwei gegenschlechtlichen Menschen keinen Raum hat, sondern drittens auf möglichst direktem — das heißt: doch ziemlich verschlungenem — Wege in eine wirtschaftlich angemessene Ehe zu münden hat, dem viertens kein normaler Mensch folgen kann.

    Obwohl das gerade das Luzideste war, was ich je über Jane Austen geschrieben und vielleicht sogar gelesen habe, sind keine Kochbücher darunter. Für die Kochrezepte des Hauses Austen muss man in den Briefwechsel hinabsteigen. Eins von bestechender Einfachheit und verlockendem Nutzen findet sich in der Abteilung Frühstück und Fünf-Uhr-Tee. Keine Angst davor, nur weil es Schwarze Butter heißt:

    ——— Jane Austen to Cassandra about Black Butter, Castlesquare, December 27th, 1808:

    The last hour, spent in yawning and shivering in a wide circle round the fire, was dull enough, but the tray had admirable success. The widgeon and the preserved ginger were as delicious as one could wish. But as to our black butter, do not decoy anybody to Southampton by such a lure, for it is all gone. The first pot was opened when Frank and Mary were here, and proved not at all what it ought to be; it was neither solid nor entirely sweet, and on seeing it Eliza remembered that Miss Austen had said she did not think it had been boiled enough. It was made, you know, when we were absent. Such being the event of the first pot, I would not save the second, and we therefore ate it in unpretending privacy; and though not what it ought to be, part of it was very good.

    Das wie niemand anders zu dergleichen berufene Jane Austen Centre erschließt uns späten Anhängern des Merry Old England eine praktikable Version:

    Take 4 pounds of full ripe apples, and peel and core them. Meanwhile put into a pan 2 pints of sweet cider, and boil until it reduces by half. Put the apples, chopped small, to the cider. Cook slowly stirring frequently, until the fruit is tender, as you can crush beneath the back of a spoon. Then work the apple through a sieve, and return to the pan adding 1lb beaten (granulated) sugar and spices as following, 1 teaspoon clove well ground, 2 teaspoons cinnamon well ground, 1 saltspoon allspice well ground. Cook over low fire for about ¾ hour, stirring until mixture thickens and turns a rich brown. Pour the butter into into small clean jars, and cover with clarified butter when cold. Seal and keep for three months before using. By this time the butter will have turned almost black, and have a most delicious flavour.

    In Deutschland sind solche Delikatessen der berüchtigten englischen Küche im Jane Austen Kochbuch erreichbar — selbst bei immerhin Reclam ohne Bindestriche, aber so eingehend recherchiert, kundig kommentiert, stimmungsvoll illustriert und vom Übersetzer Lutz Walther nicht einfach übertragen, sondern für einen gedeihlichen deutschen Hausgebrauch eingerichtet, dass man eigentlich gar nichts mehr nachkochen muss — was gerade bei der Ernährungsweise des kronenglischen Inselvolks ein Vorteil sein kann.

    Das gute Stück, mein persönliches Kochbuch des Jahres, ist seit März 2013 schon im Juli ins Moderne Antiquariat abgewandert — wahrscheinlich weil sie sich bei Hugendubel nicht einigen konnten, ob sie es unter Klassiker oder Kochbücher einsortieren sollten: Von sowas hängt Kultur ab. Die Schwarze Butter findet sich unter Speisekammerkünste:

    ——— Maggie Black, Deirdre Le Faye, übs. Lutz Walther:

    Schwarze Butter

    (Für Kinder; eine preiswerte Konfitüre),
    in: Das Jane Austen Kochbuch, Reclam, März 2013:

    Maggie Black, Deirdre Le Faye, übs. Lutz Walther, Das Jane Austen Kochbuch, Reclam 2013 in Amazon.deJohannisbeeren, Stachelbeeren, Erdbeeren, oder was immer zur Hand ist, pflücken: auf je zwei Pfund Früchte nimmt man ein Pfund Zucker und koche es so lange, bis es um einiges reduziert ist.

    Für die Zubereitung heute lässt sich eine Mischung aus allen oder einigen der oben genannten Obstsorten verwenden. Für je 1 kg Früchte benötigt man 450 g weißen Zucker. Alle Früchte entstielen und abspülen, schimmelige Stellen entfernen. Alles vermischen und schonend in einem Topf erhitzen, bis Flüssigkeit austritt. Den Zucker einrühren, bis er sich auflöst, und dick einkochen lassen. In kleine heiße Gläser füllen und wie Konfitüre verschließen.

    Dies ist eine reizende, ursprüngliche Landkonfitüre, fast unverändert, dafür von der Weisheit Mary Norwaks geprägt. Sie sagt, sie sei ideal, um altes Zeug aus dem Kühlschrank aufzubrauchen.

    Es läuft darauf hinaus, Kühlschrankreste unter fleißigem Zuckern zu Matsch zu kochen. Die Übersetzung lässt den Cider, die Gewürze, den Überzug aus Butterschmalz und die drei Monate Ruhezeit weg, einen Versuch ist alles wert — vor allem der Zimt; den Cider kriegt man wieder nur im abgelegensten Fachhandel. Das wird seinen kulinarischen Grund haben, verfehlt aber den Sinn der Resteverwertung.

    Besonders Austenesque wären Stachelbeeren, die hat Miss Austen sehr gemocht und im eigenen Garten gezogen. Ich empfehle nicht mehr als drei Obstsorten: Vierfruchtmarmelade ist die minderwertige Schlonze aus dem „Super“markt; außerdem hat, wer mehr als drei Sorten vergammeln lässt, ein grundsätzlicheres Problem als ein Pfund angedätschtes Obst.

    Ein Vorteil des Rezeptes ist, dass es normalen Zucker vorsieht, keinen Gelierzucker, den man hinterher für nichts anderes hernehmen kann und seinerseits rumstauben hat. Ein Vorteil der Übertragung ist, dass man in Deutschland, wenn man weiß, wo, Brot auftreiben kann. Viel Brot! Dicke Scheiben! Nicht die durschscheinbaren Läppchen, die Brotschneidemaschinen hergeben! Aber echter englischer Tee dazu ist okay. Kommt ja aus Indien.

    Die Wölfin meint: „Da hat das ganze Häubchen-DVD-Geglotze endlich mal einen Wert.“

    Rebecca Alejandra für Ars Antigua, The Apple Picker, 15. September 2011

    Bilder: Maggie Black, Deirdre Le Faye, übs. Lutz Walther: Das Jane Austen Kochbuch, Reclam 2013;
    Rebecca Alejandra für Ars Antigua: The Apple Picker, 15. September 2011.

    Written by Wolf

    23. Oktober 2013 at 00:01

    Veröffentlicht in Biedermeier, Nahrung & Völlerei

    Zwetschgenzeit (Du bist gemeint)

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    Update zu Willkomm und dervoo:

    William Carlos Williams:
    This Is Just To Say,
    1962:

    I have eaten
    the plums
    that were in
    the icebox

    and which
    you were probably
    saving
    for breakfast

    Forgive me
    they were delicious
    so sweet
    and so cold

         

    Hans Magnus Enzensberger:
    Nur damit du Bescheid weißt,
    1991:

    Ich habe die Pflaumen
    gegessen
    die im Eisschrank
    waren

    du wolltest
    sie sicher
    fürs Frühstück
    aufheben

    Verzeih mir
    sie waren herrlich
    so süß
    und so kalt

         

    Helmut Haberkamm:
    Bloß daßders waßd,
    September 1992:

    Iech hobb fei
    denn Keeskuung
    oogessn aufm Blech
    drauß in der Speis

    denn wusd
    fiern Sunndooch
    baggn un aufkoom
    kadd hasd

    Seimer nedd bees obber
    der woor so saumäßi
    guud nu warm so äsi
    so safdi so waach

    Wiliiam Carlos Williams, Please Read.

    Bild: Married to Theresa via The Bibliophile Files, 8. Oktober 2013.

    Written by Wolf

    13. Oktober 2013 at 00:01

    Veröffentlicht in Nahrung & Völlerei, Novecento

    Erdäpfelgulasch

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    Küchenbloggen funktioniert angeblich immer wieder. Ohne mein Essen für eine gedachte Öffentlichkeit ablichten zu müssen, darf ich verraten: Das Rezept von H.C. Artmann gehört zum Besten, was man kochen (und sogar essen) kann. Wer sich an den ganzen volksliterarischen Zen-Bestrebungen außenherum stößt, findet immer noch neun andere Versionen bei Chefkoch. Jede anders. Artmanns Breitenseer Version macht aber bestimmt den meisten Spaß — vor allem, wenn man so ungezwungenen Zugang zu einem Garten mit Rosenrondell hat, um sie penibel zu befolgen.

    Alles Gute zum Geburtstag, Meister.

    ——— H[ans). C[arl]. Artmann (12. Juni 1921 bis 4. Dezember 2000):

    Erdäpfelgulasch

    in: Grammatik der Rosen; Band 3:
    Kleinere Texte aus den Jahren 1972 bis 1974, Seite 125 bis 129:

    Gulasium bramborum aut bramborové gulaš: 2 libra bramboris cortate in aleas, 2 cepæ magnæ cortate in rotas, lardus porculi cortate in aleas maggiformas, papricium hungaricum (media, suaviter, media fortiter) sal, aqua calida.

    (Vojtěch Delavigne SJ.)

    Albert Anker, Die kleine Kartoffelschälerin, 1886Der erdapfel, erdtoffel, kartoffel, erd- oder grundbirne (soianum tuberosum), eine in die fünfte klasse, erste ordnung (pentandria monogynia), nach dem system des liebenswerten Linné gehörige pflanze, wird wegen ihrer mensch wie tier gleich angenehmen knollen überall in Europa, wo ein tätiger agronom zu finden ist, in großer menge angebaut und als sicherstes mittel gegen hungersnot hochgeachtet. Sie stammt eigentlich aus den niederungen Perus und wurde von daher zuerst im august 1565 durch einen sklavenhändler, nämlich Potaterley Hawkins, nach England gebracht, aber in Europa, das sich damals noch größtenteils an kapaunen und krametsvögeln sättigte, bald wieder vergessen. Im jahre 1585 brachte sie ein kaperkapitän aus Tavistock in Devonshire von neuem nach England; doch auch jetzt blieb sie noch lange zeit eine floristische sehenswürdigkeit in den lustgärten der großen. Beschrieben wurde sie zum ersten mal von dem trefflichen Gaspard Bauhin. Gegen ende des 16. jahrhunderts machte ein gewitzter italiener in Holland den ersten versuch mit ihrem anbau. Noch zu anfang des 17. jahrhunderts wurde sie als seltener leckerbissen an der königlichen tafel zu Paris verspeist. Erst als ein domnonischer edelmann aus Hayes bei Bodley sie 1623 aus Virginien nach Irland gebracht hatte, fand sie allmählich, doch immer nur langsam, eine weitere verbreitung. Ein gewisser Antonio Segnoretti führte sie zuerst 1710 im württembergischen ein; herr von Milkau 1717, bei seiner rückkehr aus dem Brabant, in Sachsen; Jonas Altströmer 1726 in Schweden, der jesuit und alchimist Vojtěch Delavigne 1740 in Österreich und Böhmen, und zur gleichen zeit etwa Graham, der erfinder des nach ihm benannten brotes, in Schottland ein. Seit 1750 wurde sie in ganz Mitteleuropa in gärten, und seit 1780 im freien felde immer allgemeiner angebaut. Man darf mit recht behaupten, daß der erdapfel die zeit der kapaune und krametsvögel abgelöst hat, eine wahrhafte demokratisierung unserer ernährung, die wir im grunde kurioserweise einem sklavenhändler zu verdanken haben.

    Soweit die geschichte des erdapfels von seinen bescheidenen anfängen bis zu seinem völligen triumph auf den feldern des europäischen kontinents. Wie aber verhält sich der veritable kochkünstler angesichts dieser heute leider zur kümmerlichen beilage degradierten frucht? Ich stelle diesee frage rein rhetorisch und gehe sogleich in medias res: er bereitet das einzige original spezial-erdäpfelgulasch nach art des genialen Albertus Delavignus zu, diese kaum über Wien hinaus bekannte ambrosia des armen mannes. Es haben sich freilich durch zwischenkunft übelster modernster verschiedene afterrezepte breitgemacht, manche davon betiteln sich kartoffelgulasch oder prunken mit noch unsachgemäßeren bezeichnungen, was wunder, daß es sich dabei durchaus um schale schleimsoßen, fastensüppchen und schreckliche strafmähler handelt, aberrationen mit unverständigen essigzugaben, gewürzgürklein, knackwurstscheibchen, paradeiserscherzchen et cetera sonder grazie.

    Im vergangenen herbst erst, sah ich in einer antwerpener privatversammlung einen völlig unbekannten Gauguin, ein gemälde aus der letzten schaffensperiode des meisters: To e patato tulasi. Es stellt eine robuste hübsche polynesierin dar, die, vor einer art zigeunerfeuer auf den fersen hockend, mit einem holzkochlöffel den inhalt eines allem anschein nach aus Frankreich eingeführten gußeisentopfes umrührt. Im tagebuch des malers konnte ich folgendes nachlesen (ich übersetze zum besseren verständnis ins deutsche): Nanitanaaupo kocht mir jetzt seit einigen tagen die mahlzeiten. Nanitanaaupo, die ich kurz Nani nenne, ist eine junge frau, die zu mir beim ersten anblick zutrauen gefaßt hat — und ich zu ihr. Ich fühle bei ihrer kost förmlich wie sich meine verlorengeglaubten lebensgeister zu regen beginnen. Zweimal in der woche bereitet sie mir potato tulasi zu, das inzwischen mein leibgericht geworden ist. Eine art scharfer soße aus zwiebeln, zu scheiben geschnittenen bataten, rotem pfeffer, pfeilwurzmehl und meerwasser. Ein wahres aphrodisiacum!

    Ich muß gestehen, mir war beim lesen dieser zusammensetzung eines tahitianischen erdäpfelgulsches nicht sehr wohl zu mute, trotz meiner großen wertschätzung für Gauguin, trotz aller freundlichen gefühle für ein sonniges naturkind der südsee und dessen außerordentliche qualitäten in puncto küche und lager.

    Ich möchte bei dieser gelegenheit am rande erwähnen, daß ich mich vor einigen tagen mit einem ungarischen freund über die orthodoxe zubereitung von erdäpfelgulasch unterhielt, über papriás krumpli, wie er es bezeichnete (was für mich schon eine nicht geringe zumutung war). Und obschon er im prinzip mit mir übereinstimmte, so hatte er dennoch die eher abwegige ansicht, etwas gemahlenen kümmel oder und pfeffer als unerläßlich zu finden, ja, er mißbilligte sogar das bestäuben der gewürfelten erdäpfel mit mehl! Das gulasch müßte, so sagte er, klar und durchsichtig wie consommé sein! Nein, nein, und abermals nein! Vielleicht fand sein vernacularer geschmack das reizvoll, allein mit feiner cuisine hat das nichts mehr zu tun.

    Völlig abzulehnen sind allerdings ungewürfelte, wenn auch kleinste erdäpfel, wie Señor Sartén, der koch Alphon XIII. in seinem ansonst hochinteressanten memoirenwerk Cuarenta años despues beschreibt. Dieser nicht unbegabte mann berichtet doch tatsächlich über die von ihm ersonnenen patatas revolucionarias o golaches, ich zitiere: Peladas bastante cantidad de patatas lo más pequeñas posible, se lavan y escurren bien, se guisan como las demás en un frito de cebolla, ajo y tomate (sic!). Knoblauch und paradeiser und ungewürfelte erdäpfel! Kein wunder, daß bei dieser revolutionären küche die spanische monarchie zugrunde gehen mußte.

    Ich könnte gewiß noch dutzende solcher appetitschmälernder rezepte anführen, doch was solls? Das einzig original spezial-erdäpfelgulasch besteht indessen aus drei grundelementen, zwei gewürzen und reinem wasser. Ich berechne die nötigen mengen für zwei mittlere esser:

    1 kg speckige erdäpfel
    30 dkg zwiebeln
    10 dkg würfelig geschnittenen bauchfilz
    1 gehäuften eßlöffel paprika (edelsüß und scharf zu gleichen teilen gemischt)
    1 gehäuften teelöffel salz
    heißes wasser

    Man stelle nun zu beginn keinerlei yogaübungen an, allerdings sei man tadellos rasiert, der schnurrbart sei dem anlaß entsprechend gepflegt, man gehe noch einige minuten in den garten, betrachte das rosenrondell, erbaue sich kurz an den narzissen und schwertlilien, mache eine besinnliche runde um den teich, entwerfe tief durchatmend ein kleines gedicht. Darauf begebe man sich heiter lächelnd in die tadellos aufgeräumte küche, binde eine saubere weiße schürze vor, reinige nochmals fingernägel und hände, trockne diese mit einem vorgewärmten frottétuch, zünde die gasflamme an (kein elektroherd!), setze eine gußeiserne casserolle auf das feuer, lasse in dieser den würfelig geschnittenen bauchfilz aus. Inzwischen hat man die zwiebeln feinnudelig geschnitten, füge sie bei und lasse sie im heißen fett schön goldbraun rösten. Ist man so weit, stelle man die casserolle vom feuer und bringe die mit glattem mehl leicht gestaubten erdäpfelwürfel (ca. einen zoll im quadrat) dazu, rühre alles einige male um, stelle die casserolle wieder auf das feuer und warte, nach gelegentlichem umrühren, bis die erdäpfel gut blanchiert sind. Sodann nehme man die casserolle abermals vom feuer und überstreue alles mit dem paprika, rühre wieder um und gieße schließlich heißes, aber nicht kochendes wasser gerade soviel auf, daß die erdäpfel leicht bedeckt sind. Nun salze man nach geschmack und lasse das ganze zugedeckt bei kleiner flamme köcheln. Sind die erdäpfel gar, ist das gulasch praktisch fertig und kann serviert werden (suppenteller!). Wohlhabenderen leuten ist es erlaubt, dem erdäpfelgulasch noch einen schuß madeirawein beizufügen, für damen empfiehlt sich ein eßlöffel süßsaurer rahm (süßrahm mit einem spritzer limonensaft), der bei tische mit einer gabel in der gereichten portion verrührt wird. Dazu ißt man, wenn vorrätig, einige schnitten frisches kümmelbrot.

    BIld: Albert Anker: Die kleine Kartoffelschälerin, 1886.

    Written by Wolf

    12. Juni 2013 at 00:01

    Veröffentlicht in Nahrung & Völlerei, Novecento

    Einige Reste Wein

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    ——— Eckermann, 11. März 1828:

    Egal wie dicht du bist, Goethe war dichterGoethe schritt im Zimmer auf und ab. Ich hatte mich an den Tisch gesetzt, der zwar bereits abgeräumt war, aber auf dem sich noch einige Reste Wein befanden nebst einigem Biskuit und Früchten.

    Goethe schenkte mir ein und nöthigte mich, von beiden etwas zu genießen. „Sie haben zwar verschmäht,“ sagte er, „diesen Mittag unser Gast zu sein, doch dürfte ein Glas von diesem Geschenk lieber Freunde Ihnen ganz wohl thun!“

    Ich ließ mir so gute Dinge gefallen, während Goethe fortfuhr im Zimmer auf- und abzugehen und aufgeregten Geistes vor sich hin zu brummen und von Zeit zu Zeit unverständliche Worte herauszustoßen.

    Dichter Maler: Joseph Ducreux: Autoportrait en moqueur, um 1793, Louvre.

    Unverständliche Worte: Dr. med. Georg Ringsgwandl:
    Sekt, aus: Vogelwild, 1992.

    Written by Wolf

    28. Mai 2013 at 00:01

    Veröffentlicht in Klassik, Nahrung & Völlerei

    Der Weise aus dem Mörchenland

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    „Murr“, sagt Moritz und wischt sich den Bart.

    „Was ist dir, o beste aller Katzen?“ sag ich.

    „Mir geht’s gut“, sagt Moritz, was ich angesichts seiner Haltung, lesend auf meinem Bett über gleich zwei meiner Bücher gelümmelt, nie bezweifelt hätte, „aber das mit dem Koriander aus deinem Eintrag letzthin …“

    „Mit dem Rezept von der Buchhändlerin? Je nun, was ist dann mit dem Koriander?“

    „Hast du den mal in deinem West-Östlichen Divan verifiziert?“

    „Nö, ich weiß, was Koriander ist.“

    „Du vielleicht. Frag dich mal, ob Goethe jede Woche dreimal in seine gleichnamige Straße konnte, um sich ein Sträußlein köstlichen Korianderkrauts zu kaufen.“

    „Erstens hat der bestimmt seine Domestiken losgeschickt …“

    „… und zweitens war die Münchner Goethestraße anno 1814 wahrscheinlich noch ein Schlammpfad und keine Meile aus türkischen Gemüseläden. Du hast ja so recht, o bester aller Dosenöffner.“

    „Was ist dann dein Punkt, o weiseste aller Miezekatzen?“

    „Die Anmerkung zu Keinen Reimer wird man finden über Koriander in deiner Hamburger Ausgabe.“

    „Zeig.“

    Gewürz in Form kleiner Kügelchen.

    „Was für Kügelchen? Also, ich hab den immer in Form grüner Wedelchen. Kleiner als Petersilie, aber sonst recht ähnlich, schmeckt auch so. Muss daheim sofort ins Wasser. Der Bund zur Zeit 99 Cent.“

    „Und das aus der Goethestraße. Mit Verlaub, Meister, vom Essen verstehst du nix.“

    „Aber du, gell?“

    „Allerdings. Jedenfalls fällt mir auf, dass die Evolution der Pflanzenarten sich zwischen 1814 und jetzt nicht dermaßen beschleunigt haben wird, dass aus Kügelchen Petersilchen werden.“

    „Sondern?“

    „Dass Goethe seinen Koriander noch in der Darreichungsform der getrockneten Samen verwendete.“

    „Ach stimmt, hab ich schon gesehen. Die Dose 1,49.“

    „Du verstehst vielleicht nix vom Essen, aber vom Geld verstehen wir beide nix.“

    „Danke für dein Vertrauen.“

    „Oh, bitte. Und dann schau mal in deinem Wilhelm Hauff: Die Errettung Fatmes.“

    „Gibt’s da auch was zu essen?“

    „Jawohl, und da wird das orientalische Gastrecht heilig gehalten:“

    Als er so gesprochen, schlug er den Vorhang zurück und trat ein. „Friede sey mit dir, Mustapha,“ sprach er, „laß uns den Morgentrunk kosten und rüste dich dann zum Aufbruch.“ Er reichte meinem Bruder einen Becher Sorbet, und als sie getrunken hatten, zäumten sie die Pferde auf, und wahrlich! mit leichterem Herzen, als er gekommen war, schwang sich Mustapha aufs Pferd.

    „Da gibt’s ja nur was zu trinken.“

    „Und das zum Frühstück.“

    „Und was sagt uns das jetzt? Dass du derzeit deinen orientalischen Vorfahren hinterherspürst, du fränkischer Bauernpressack?“

    „Nicht ausfallend werden, bitte“, sagt Moritz, „jedenfalls dachte ich, vom Trinken verstehst du mehr. Ist dir klar, was ein Sorbet ist?“

    „So ein gezuckerter Matsch aus Obst und Eis, glaub ich …“

    „Na gut, du hast einen Begriff davon. Und da wundert dich nicht, wo Wilhelm Hauff 1826 in der tiefen Wüste halbgefrorene Leckereien herkriegt? Aus dem Gefrierfach?“

    „Erhelle mich.“

    „Deine Winkler-Ausgabe ist von Sibylle von Steinsdorff, auch die Anmerkungen. Über Sorbet schweigt sie.“

    „Sehr erhellend.“

    „Das Erhellende ist: Eine Goethe-Ausgabe von 1949 bis 1972 erachtet Koriander einer Anmerkung wert, sogar im korrekten Aggregatzustand — eine Hauff-Ausgabe von 1970 Sorbet keines Furzes.“

    „Moritz! Contenance!“

    „Murr? Stimmt doch.“

    „Du meinst: Bis 1972 war eben Max Inzinger der einzige Fernsehkoch und Koriander ein exotisches Gewürz — und eine Sibylle von und zu selbstverständlich mit Sorbet vertraut?“

    „Das schließe ich daraus, mein Meister.“

    „Mörchen, mein Mörchen, du musst anständig lesen. Die Märchen-Almanache im Zusammenhnag, nicht nur das eine, wo einer von seinem Vater verstoßen wird. Siehe nämlich auch: ‚Nach dem Essen räumten die Sklaven die Geschirre hinweg und brachten lange Pfeifen und türkischen Sorbet‘ und gleich danach: ‚Selim aber erfrischte seine Stimme mit einem tüchtigen Zuge Sorbet, strich den langen Bart über dem Mund weg und sprach: So hört denn die Geschichte vom Kalif Storch.'“

    „Murr. Alles Hauff?“

    „Unmittelbar einleitend zum Kalif Storch. Mit Anmerkung hinten.“

    „Ich will es nicht wissen.“

    Sorbet: oder Scherbet: (arab.) kühlendes orientalisches Getränk, das aus Fruchtsäften hergestellt wird.

    „Miau! Gut, dass du damit so angibst. Das sagt also Frau von Steinsdorff?“

    „Seite 729.“

    „Wie sie das in der Wüste gekühlt kriegen, weiß sie nämlich da auch nicht.“

    „Deswegen schreibt sie ja ‚kühlend‘ und nicht ‚gekühlt‘. Wie genau brauchen wir’s denn, Euer Kleinlichkeit?“

    „Wikipedia ist unser Freund, o Meister.“

    Das arabische Wort ‏شربات‎ / šarbāt /‚Trank‘ für ein kaltes, nicht-alkoholisches Getränk wurde etwa im 16. Jahrhundert auf dem Weg über die Türkei (sherbet) modifiziert in andere europäische Sprachen übernommen, im Italienischen als sorbetto, französisch als sorbet. Auf Italienisch heißt sorbire schlürfen oder nippen. Die Form der Zubereitung des Getränks stammt ebenfalls aus dem Mittleren Osten. Es wurde dort nur zu speziellen festlichen Anlässen serviert. In der Türkei wurde das Sorbet dann bei Banketten als kleine Erfrischung zwischen mehreren Gängen eingeführt, es wurde dort und in Ägypten aber auch zu einem Alltagsgetränk auf der Basis von Fruchtsirup.

    „Bei Hauff in der Wüste von 1826 war Sorbet demnach vermutlich noch nicht aus dem Kühlschrank, sondern einfach nicht über Kameldung erhitzt. Und bekannt aus der 1825er Übersetzung Tausendundeine Nacht von Habicht, von der Hagen und Schall. Fünfzehn Bände, eine Pracht, hast du die mal gesehen? Du würdest …“

    „Kameldung?“

    „Wie ich sagte. Und du hast vielleicht Lust, bei Frau von Steinsdorff Abbitte zu tun.“

    „Kameldung?“

    „Über getrocknetem. Das machen die so. Wer versteht jetzt nix vom Essen, Euer Belesenheit?“

    „Miau, gut, dass ich schon auf den Teppich gekotzt hab.“

    „Du hast …?“

    „Kein Problem, Meister, mir geht’s gut, wie ich schon sagte.“

    „Das ist die Hauptsache.“

    „Eben. Dafür machst du uns heute Abend ein schönes Rindsgulasch.“

    „Ach, und zwar mit Koriander und weiteren sieben Segnungen des Morgenlandes, Schnurrbart Holmes?“

    „Keine Umstände, die Dekoration kannst du selber essen. Für mich roh, bitte.“

    „Runter mit den Pfoten von meinen antiquarischen Klassikerausgaben.“

    „Murr.“

    Xerones, Cat & Coriander with hebe, jasmine and agapanthus leaves, 11. August 2007

    Cat & Coriander: Freyr die Katze featuring Strauchveronika, Jasmin und Schmucknelkenblätter
    by Xerones, 11. August 2007.

    Written by Wolf

    1. Oktober 2012 at 11:58

    Veröffentlicht in Nahrung & Völlerei, Romantik

    Große Zusammenkünfte, die mehr einer Feierlichkeit als einem geselligen Vergnügen gleichen

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    Baronin Anne Louise Germaine „Madame de Staël“ de Staël-Holstein:
    Über Deutschland. Erster Theil. I. Abtheilung.
    Fünftes Capitel: Das südliche Deutschland. Übs. Friedrich Buchholz et al., 1815:

    Karte Untersendling Theresienwiese 1812Kein Land bedarf so sehr der literarischen Beschäftigung als Deutschland; da die Geselligkeit in diesem Lande wenig Reiz darbietet, da es den Bewohnern größtentheils an der Grazie, an der Lebhaftigkeit fehlt, womit die Natur das wärmere Clima begabt, so folgt daraus, daß der Deutsche nur dann liebenswürdig ist, wenn er ein höherer Mensch ist, und daß er Genie haben muß, um geistreich zu seyn.

    Franken, Schwaben, und, vor der Errichtung der berühmten Akademie zu München, auch Baiern, galten für schwerfällige einförmige Länder, wo es keine Künste gab, die Musik ausgenommen; wenig Literatur; eine rauhe Betonung, der die Aussprache der lateinischen Töchtersprachen ungemein schwer wurde; keine Gesellschaft; große Zusammenkünfte, die mehr einer Feierlichkeit als einem geselligen Vergnügen glichen; eine kriechende Höflichkeit gegen eine ungeglättete Aristokratie; Herzensgüte, Biedersinn in allen Classen, aber eine lächelnde Steifheit, die mit aller Zwanglosigkeit alle Würde verscheucht. Es dürfen uns also nicht die Urtheile, nicht die Spöttereien Wunder nehmen, die man sich über die deutsche Langeweile erlaubt hat. In einem Lande, wo die Gesellschaft so gar nichts, und die Natur so wenig ist, können nur die Sitze der Literatur, die gelehrten Städte, anziehend seyn. […]

    Das südliche Deutschland, in jeder Hinsicht gemäßigt, schleicht im eintönigen Wohlseyn dahin, und verbleibt in diesem Zustande, dem nachtheiligsten für die Thätigkeit im Handeln wie im Denken. Der lebhafteste Wunsch der Bewohner dieser ruhigen fruchtbaren Länderstrecke besteht darin, so fortzuleben, wie sie leben; und wozu führt dieser Wunsch, wenn er der einzige ist? Er reicht nicht einmal hin, dasjenige zu behalten, womit man sich begnügt.

    Festnahme eines betrunkenen Randalierers auf dem Oktoberfest, 23. September 2010Diese Einschätzung stammt von 1813. Das Münchner, mithin eindeutig süddeutsche Oktoberfest nahm seinen Ursprung 1810 — durch die Hochzeit des Kronprinzen Ludwig, nachmals König Ludwig I., mit Prinzessin Therese Charlotte Luise Friederike Amalie von Sachsen-Hildburghausen — und war der Madame de Staël offensichtlich noch nicht so präsent wie heutigen Zugereisten, dass sie seine nachteiligen Auswirkungen auf alle Tätigkeiten im Handeln wie im Denken ermessen konnte.

    Ganz erschrocken bin ich übrigens, dass es die Madame de Staël überhaupt im aktuellen Buchhandel gibt: Über Deutschland wird immer noch ganz regulär bei Insel vorgehalten, wo sie für sowas geradeweg zuständig sind — in der Übersetzung von E.T.A. Hoffmanns Herzensbruder Julius Eduard (H)Itzig und Kollegen. Wartet nur: Wenn wir Insel mal nicht mehr haben, wird es nicht mehr hinreichen, dasjenige zu behalten, womit wir uns begnügen.

    Bilder: Oktoberfest 1812; Oktoberfest 23. September 2010, gemeinfrei.

    Written by Wolf

    23. September 2012 at 00:01

    Veröffentlicht in Nahrung & Völlerei, Romantik

    Die besten Saufbrüder sind gestorben

    with 5 comments

    Cover Das Wirtshaus an der LahnAus dem im Überfluss bekannten Strophenmaterial habe ich aus dem Reiselied eine Version zurechtgebogen, die geographisch Sinn ergibt. Für den Vortrag vor einem Publikum mit eher peripherem ethnologischem und archäologischem Interesse, mit dem man sich weder zur Lach- noch Schnarchnummer macht, ich denke da klassischerweise an Lagerfeuer, empfehlen sich die Strophen 1 bis 5, anschließend erst wieder 21 bis 24; neun Strophen reichen vollauf. Lasst im Zweifelsfall lieber noch 21 und 24 weg und stiftet die Leute im Refrain zum Mitgrölen an, dann beschwert sich niemand. Das gibt einen aufmüpfigen, schön antiquierten Text auf eine unentrinnbar schmissige Melodie, mit dem man bei den Mädels punkten kann. Bei den richtigen jedenfalls. Das war ein Tipp, Jungs.

    Hier ist die Gelegenheit, die Abhandlung von Theo und Sunhilt Mang einzufügen, Herausgeber des Liederquell, seit 2007 das Volksliederbuch für Leute, die wissen wollen, was sie da singen:

    Unter dem Titel Handwerksburschen-Erfahrung steht dieses Lied 1894 im Deutschen Liederhort von Erk-Böhme. 1855 steht es schon in der Liedersammlung von Oskar Schade Volkslieder aus Thüringen, sowie im 2. Teil der Fränkische Volkslieder mit ihren Singweisen des Freiherrn Wilhelm von Ditfurth, Leipzig. Textdichter und Komponist sind unbekannt. Erk/Böhme geben als Herkunftsort das brandenburgische Wilsnack an (1844). Unter dem Titel Der patriotische Handwerksbursch wird auch (Barmen 1844) von Erk/Böhme eine melodisch und rhythmisch verwandte Melodie mit ähnlichen zwei Anfangsstrophen überliefert. Doch dieses Lied zeigt dann die Hinwendung zur politischen Situation in der Napoleonischen Zeit vor 1813. Bei Röhrich/Brednich findet sich eine neuere Textversion, die auch die südlichen Städte Mannheim und Freiburg berücksichtigt und in der das „Glas Champagner Wein“ mit „ein gut Glas Bier“ ausgetauscht wird. Dieses Liedgenre wurde von der Jugend und den Liedermachern der 60-er und 70-er Jahre des 20. Jahrhunderts besonders geliebt, verarbeitet und in den Medien wieder populär gemacht, z.B. durch die Gruppe Liederjan, 1978.

    T und M: Anfang 19. Jahrhundert
    L: Erk/Böhme N 1610, Ditfurth II 233, Gottschalk I 65, Röhrich 259

    In den Text habe ich nach Möglichkeit gastronomische Einrichtungen verlinkt, die ich aus eigener Anschauung empfehlen kann; mein Vater war Eisenbahner, da bin ich in meiner Jugend allerhand in Deutschland rumgekommen. Wo das nicht möglich war, führt der Link zu Gasthäusern, die auch online einiges Vertrauen erwecken. Persönlich möchte ich das Hamburger Fischerhaus und den Freiburger Löwen hervorheben. Das krieg ich nicht bezahlt, obwohl ich’s nehmen würde. Der Bremer Ratskeller und Auerbachs Keller zu Leipzig werden uns an dieser Stelle noch literarisch beschäftigen. Allein die Städte, die mit den Zeitläuften ins befreundete Ausland gerückt sind, bleiben vorerst ohne Empfehlung — und das keineswegs, weil das gefälligst ein deutscher Weblog bleiben soll, sondern weil sich das von München aus schwierig surft. Ich höre jedoch auf Vorschläge.

    Zur Aufführungspraxis: Die Melodie kennt ihr im Zweifelsfall von Slime, die sich 1992 auf der Viva la Muerte (nur auf der LP, nicht der CD!) redlich um zeitgemäße Saufromantik bemühen, aber ein paar Textstellen verwenden, wie ich sie planvoll vermeide: Mit „Unser Orden ist verdorben“ ruinieren sie die Aktualität wieder, die sie mit der Instrumentierung hineingebracht haben — aber zum Eingewöhnen ist die Version gar nicht schlecht. Zum Übernehmen hört deshalb lieber Peter Rohland zu: auf Landstreicherballaden, 1996. Schnell, unkompliziert und ästhetisch unaufgeregt entnehmt ihr sie dem etwas struppigen, aber höchst brauchbaren instrumentalen Video von Mr. Gammler. Bei den Akkorden kommt ihr zurecht mit C/a//C/F//C/G//C — also dem, was sich von selbst ergibt. Nicht so zaghaft.

    Die jeweils dritten Verse jeder Strophe kann man wiederholen, muss aber nicht. In den meisten Fällen finde ich es sogar wirkungsvoller, wenn der Melodiebogen nach dem dritten Vers offen bleibt; da kommt es sehr zupass, dass die sich sich sowieso auf nichts reimen müssen. Ins Schloss schnappen sollte erst der Refrain. Das bedeutet nicht weniger als dass die Strophen mit wahlweise sechs, sieben (selten!) oder acht Zeilen funktionieren. Probiert mal aus, wie ihr euch am logischsten singt. Deshalb heißen solche Dinger „Volkslied“. Und eins und zwei:

    Reiselied

    1.: Lustig, lustig, ihr lieben Brüder,
    nun leget all eure Arbeit nieder
    und trinkt ein Glas Champagnerwein.

    Refrain: Denn unser Handwerk, das ist verdorben,
    die besten Saufbrüder sind gestorben,
    ||: es lebet keiner mehr als ich und du. :||

    2.: Auf die Gesundheit aller Brüder,
    die da noch reisen auf und nieder,
    die sollen unsre Freunde sein.

    3.: Und sollte wirklich noch einer leben,
    so soll der Meister ihm den Abschied geben,
    denn er macht ihm das Leben sauer.

    4.: Weg mit dem Meister, mit all den Pfaffen,
    ja Kaiser, König soll sich raffen:
    Weg, wer da kommandieren will.

    5.: Als wir durch deutsche Lande zogen,
    haben wir so manchen Wirt betrogen,
    doch seine Tochter war uns gut genug.

    6.: In Lübeck hab ich es angefangen,
    nach Hamburg stand dann mein Verlangen,
    das schöne Bremen hab ich längst gesehn.

    7.: Wie auch Celle, Hannover, Minden,
    dann wolln wir auf dem Rhein verschwinden
    wohl nach dem alten heil’gen Köln.

    8.: Wir wollen auch noch Bonn besuchen,
    in Bingen gibt’s zum Wein auch Kuchen,
    bei Mainz, da fließt der Main in‘ Rhein.

    9.: Frankfurt am Maine hab ich gesehen
    der Herbergstochter mußte ich gestehen:
    Der letzte Heller will versoffen sein.

    10.: In Mannheim wolln wir unser Glück probieren,
    nach Karlsruh soll uns der Weg dann führen,
    so kommen wir ins Elsaß rein:
    In Straßburg gibt es guten Wein.

    11.: In Freiburg geht’s nicht lang logieren,
    wir wollen in die Schweiz marschieren,
    nach Basel, Zürich und bis Bern.

    12.: Nach Thüringen möcht ich hinein,
    in Jena, Erfurt, Weimar sein
    und auf der Wartburg kehren ein.

    13.: In Königsbrück hat mir’s gefallen
    die vielen Töpfer hier vor allem,
    die Scheiben drehn sie, drehn und drehn.

    14.: Was warn die Töpfer für Gesellen,
    hörten sie nachts die Hunde bellen
    so fraßen sie die einfach auf.

    15.: Wie auch in Leipzig, Dresden, Sachsen,
    wo all die schönen Mädchen wachsen
    wohl in dem schönen Rosenthal.

    16.: Dann wollen wir uns aufs Schifflein setzen
    und unser junges Herz ergetzen,
    wir fahrn die Elbe hinab zur See.

    17.: Nun Schifflein, Schifflein, du musst dich wenden
    und dich hin nach Riga lenken
    wohl zu der russischen Seehandelsstadt.

    18.: Und auch in Polen ist nichts zu holen,
    als ein Paar Stiefel ohne Sohlen,
    ja nicht einmal ein Heller Geld.
    [alt.: von dort kommt man nicht ungeschoren,
    in Danzig fängt die See schon an.]

    19.: Nun wollen wir es noch einmal wagen
    und wollen fahren nach Kopenhagen
    dort zu der dänischen Residenz.

    20.: In Bergen regnet es große Tropfen,
    getrunken wird hier aus Malz und Hopfen,
    korngelb gebrautes nordisch Bier.

    21.: Und wer dies alles hat gesehen
    der kann getrost nach Hause gehen,
    und nehmen sich ein Mägdelein.

    22.: Ich hatte manchen blanken Gulden,
    heut hab ich jede Menge Schulden,
    doch einen Humpen für der Seele Ruh.

    23.: Schlagt ein die Fässer, lasst es laufen,
    wir wollen heut noch einen saufen,
    ja solches Himmelreich ist nah.

    24.: Darauf wollen wir lustig saufen,
    schöne Mädchen wollen wir uns kaufen,
    ja das soll unser Handwerk sein.

    Bild: LPCD Hamburg.

    Die west-östlichen Sofata

    with 2 comments

    Nein, das heißt nicht richtig „Sofata“. Wenn Sie beim Einkaufen im Bahnhofsviertel Goethe treffen, geben Sie sich auch nicht mehr mit halbherzigen Hyperkorrektismen wie „Sofae“ zufrieden.

    Überhaupt ist es ein ganz anderes Einkaufserlebnis in der Münchner Goethestraße, als wenn man immer nur die Filialen der Rewe-Kette aufsucht, in denen man sich deutschlandweit sofort auskennt. In der Türkei bestimmt auch, falls sie dort agieren. Agieren sagt man doch, oder?

    Überhaupt die Wörter; von einer Goethestraße erwartet man ja nichts anderes. Hätten Sie je geahnt, dass Birnen auf Türkisch Armut heißen?

    Die Dame aus dem Film war gerade ausgegangen, Ginkgo biloba war noch da.

    ——— Johann Wolfgang von Goethe:

    West-östlicher Divan:
    Buch des Unmuts

    handschriftlich 26. Juli 1814:

    Keinen Reimer wird man finden,
    Der sich nicht den besten hielte,
    Keinen Fiedler, der nicht lieber
    Eigne Melodien spielte.

    Und ich konnte sie nicht tadeln;
    Wenn wir andern Ehre geben,
    Müssen wir uns selbst entadeln;
    Lebt man denn, wenn andre leben?

    Und so fand ich’s denn auch juste
    In gewissen Antichambern,
    Wo man nicht zu sondern wußte
    Mäusedreck von Koriandern.

    Das Gewesne wollte hassen
    Solche rüstige neue Besen,
    Diese dann nicht gelten lassen,
    Was sonst Besen war gewesen.

    Und wo sich die Völker trennen
    Gegenseitig im Verachten,
    Keins von beiden wird bekennen,
    Daß sie nach demselben trachten.

    Und das grobe Selbstempfinden
    Haben Leute hart gescholten,
    Die am wenigsten verwinden,
    Wenn die andern was gegolten.

    Hotel Goethe München

    Bild: Hotel Goethe, München;
    Film: Nil Ausländer, 28. Mai 2010.

    Written by Wolf

    29. August 2012 at 06:05

    Veröffentlicht in Klassik, Nahrung & Völlerei