Archive for the ‘Novecento’ Category
Würste sprechen kein Hochdeutsch (ziemlich trunken eines billigen süßlichen Weines)
Update zu Die alte und neue Inertia (Warum hast du nichts gelernt?),
Dieses treffliche Märchen vom Schmidt
und Dornenstück 0010: Antisterntaler:
——— Rio Reiser / Dietmar Robert / Ignaz Semmel:
Je wodewi dehacka
als Hoffmanns Comic Teater, aus: Die wunderliche Gasterey, 1965,
cit. nach: Blackbox, Möbius Records (Buschfunk), 2016:
Je wodewi dehacka
De knohe ide knacka
De wide in desa!
De sine bide knöhel
Bore wi in löhel
Un hänge ihn danuff
Je wodewi dehacka
De knohe ide knacka
De wide in desa!
„Hä?“ – Gute und berechtigte Frage.
Rio „Ralph Christian Möbius“ Reiser, der erklärtermaßen nach dem Anton Reiser bei Karl Philipp Moritz heißt, nur leider seit dem 20. August 1996 ebenso 46-jährig wie schmerzlich abgeht, befehligte mit 15 Jahren sein erstes Kunstprojekt namens Hoffmanns Comic Teater. Darin unterläuft uns erst der Einakter Die Wunderliche Gasterey nach dem fast gleichnamigen Grimmschen Kinder- und Hausmärchen, nach dem Aarne-Thompson-Uther-Index aus der Motivkategorie ATU 334: Haushalt der Hexe, und darin ein dadaistisch anmutendes Vokalstück, gefolgt von dem Instrumentalstück Blut- Und Leberwurst, das offensichtlich nach den Haupthandelnden des Grimmschen Märchens heißt.
Rio Reiser war nämlich vier Jahre auf dem Nürnberger Melanchthon-Gymnasiumy, weswegen ich ihn um seine humanistische Grundausbildung beneide, und erinnert sich an den Zusammenhang aus nicht allzulanger Zeit danach in König von Deutschland. Von Ton, Steine, Scherben bis in die Hitparaden 1994:
Anfang Juni kam ein Anruf aus Nürnberg. Ich wurde dort gebraucht. Das Teater – die Fantastischen Vier – wollten drei Einakter aufführen. Ich fuhr hin. Ich war ja der Hauskomponist. Die vier wohnten in einer Ladenwohnung, Nähe Plärrer, in der Schreyerstraße. Zwei Zimmer. Beide waren von der Scheuerleiste bis zur Decke bemalt. Selbst die Zimmerdecken waren bemalt. Jeder der vier war an diesem Kunstwerk beteiligt. Ihre vier Stile zusammen ergaben eine Art galaktisches Barock. Hier wurde eine Dauer-Arbeits-Party gefeiert. Während im Hintergrund ständig die Beach Boys „Pet Sounds“ oder Johnny Cash „Orange Blossom Special“ zum Besten gaben, saßen sie zwischen leeren und halb vollen Martini- und Portweinflaschen und schnitzten und malten an Requisiten.
Die drei Einakter, die für die Aufführung ausgesucht waren, hießen „Rückkehr nach Terra“, „Gibt es Geister und Phantome?“ und „Die wunderliche Gasterey“. „Rückkehr nach Terra“ spielte in der Pilotenkanzel eines Raumschiffs, das sich auf die Erde zubewegt. Der Kapitän des Raumschiffs ist Adolf Hitler. „Gibt es Geister und Phantome“ war eine Art Jahrmarkts-Show, in der alle mögichen PSI-Phänomene vorgeführt wurden. Das Filetstück aber war „Die wunderliche Gasterey“ nach einem düsteren Grimm-Märchen, das Dietmar Robert alias Ignaz Semmel zu einem Stück umgearbeitet hatte. Es handelte von dem Mordkomplott einer Blutwurst gegen eine Leberwurst. Die Blutwurst, gespielt vom Autor selbst, hatte zwei düstere Arien: „Jetzt woll’n wir ihn zerhacken“ und „Das Wasser kocht“. Es fiel reichlich dramatische Musik an, auch bei den anderen beiden Stücken. Kostüme und Masken konnten größtenteils aus dem Teater-Fundus übernommen werden. Dietmar baute sich auch noch einen übergroßen dreistöckigen Hut. Außerdem brauchte er ein „langes, langes Messer, das blinkte, als wäre es frisch gewetzt“. An diesem Messer zu schnitzen und zu polieren, war eine seiner Hauptbeschäftigungen. Der „Ich-weiß-nicht-wer’s-gewesen-ist“, dargestellt von Blalla, bekam ein Kostüm und eine Maske, über und über mit Glühbirnchen besetzt, die von Taschenlampenbatterien gespeist waren. Der „Affe mit der großen Wunde“ wurde durch eine Esel ersetzt, der lateinische Lehrsätze von sich gab: „Plenus venter non studet libenter.“ Aus „Besen und Schippe“ wurden zwei Hähne, die Gehilfen der Blutwurst. Die beiden sollten auch Gitarre spielen. Für die Hähne schlug ich Richard Schorr und Georg Brütting vor. Die beiden hatten Lust, sie ahnten ja nicht, dass sie am Ende des Stücks von Dietmar – Sohn der beiden Speerwurf-Olympiasieger von 1936 – mit dem langen, langen Messer, an dem er schon so liebevoll schnitzte, durchbohrt werden sollten. So wollte es der Autor und Hauptdarsteller.
Geprobt werden konnte nur nachts, nach der letzten Vorstellung des „Neuen Theater Nürnberg“. Bei „Rückkehr nach Terra“ und „Gibt es Geister und Phantome“ gab es keine Probleme. Nur bei der „Wunderlichen Gasterey“, dem Lieblingskind, hatten wir noch nicht die richtige Lösung. Eines Nachts behauptete Blalla, Würste würden nicht Hochdeutsch sprechen und erst recht nicht das merkwürdige Barock-Deutsch, das Dietmar ihnen in den Mund gelegt hatte. Aber wie spechen Würste? – „Kannakkisch!“
Aber was ist Kannakkisch? Wir zerbrachen uns die Köpfe, schon ziemlich trunken eines billigen süßlichen Weines namens Lambrusco. Nach drei Stunden hatten wir’s geschafft. Das Stück war übersetzt. Die Blutwurst sagte jetzt nicht mehr: „Bon Matin, Bruder, ist eine kleine Visite gefällig?“ sondern „Bomati Budda, is gefälli i kli visit?“, „Oder stör ich?“ – „Odde story?“, „Ich geh schon wieder, ich geh schon wieder!“ – „Igoschowodda, Igoschowodda!“ – Und so weiter. Nur Latein blieb Latein. Nach einer Woche war die Musik fertig, entweder auf Tonband aufgenommen oder mit Richard und Georg eingeprobt, und ich verließ die Gasterey bei den Fantastischen Vier. Mein Geld war alle. […]
Die Premiere der drei Stücke war einer der beeindruckendsten Theaterabende, die ich erlebt habe. Das Publikum war entgeistert. Dergleichen war in Nürnberg noch nie gesehen worden. Wunderlich-Galaktisches-Kabuki-Theater-Ballett.
Von Hoffmanns Comic Teater ist nicht viel dokumentiert. Vermisst wird mit oder ohne des Künstlers Memoiren, wenngleich nicht ganz so sehr wie dessen feuerköpfichte Person, eine Aufnahme von Je wodewi dehacka samt nachfolgendem Blut- Und Leberwurst, die etwas zugänglicher als in der monumentalen, derweilen streng limitierten und von eifersüchtigen Erben gehüteten Rio Reiser – Blackbox gemacht wird. Traut sich jemand?
Bilder: Rio Reiser, eins via seiner von Peter und Gert Möbius Rio Reiser Haus e. V., offiziell betriebenen Website, eins via Max Hölz und eins aus seinem Polaroid-Archiv, auch via offizielle Website, alle um 1970.
Soundtracks: natürlich wie sich das auf einer anständigen Dauer-Arbeits-Party gehört:
Beach Boys: Pet Sounds, aus: Pet Sounds, 1966;
Johnny Cash: Orange Blossom Special, aus: Orange Blossom Special, 1965:
Blumenstück 010: Der Pirat und die tosende See
Update zu Vielleicht bis zum Meer,
Zu schweigen beginnen,
Du warst den Meeren mitternachts entstiegen,
Seemannsgarn & Wahrheit
und Herzschlag:
——— Friedrich Dürrenmatt:
Meere
aus: Daniel Keel, Anna von Planta, Hrsgg.:
Das Mögliche ist ungeheuer. Ausgewählte Gedichte, Diogenes, Zürich 1993,
cit. nach: Tintenfaß. Das Magazin für den überforderten Intellektuellen, Nummer 21, Diogenes, Zürich 1997:
Ich liebe das Haus zu verlassen
In einen Tag zu gehen, der sich
gegen Abend neigtDurch Meere roten Laubs zu waten
Und die See halt so: Tos.
Pirat: Johanna (* 1990, mit 16), 2006;
die tosende See: * Isar (Würm-Kaltzeit, mit ca. 10.000 bis 115.000), 2006.
Soundtrack: Rummelsnuff: Trägt die Woge dein Boot, aus: Himmelfahrt, 2012:
Fruchtstück 0006: Ja wer wird denn gleich verzweifeln
Update zum 200. Eintrag,
Ein Mann zwischen den Altern
und Du hast genug geflennt:
Robert Gernhardt muss nicht eigens, daher wird Marion Vina empfohlen.
„Ist das ein Zeugma?“ fragt die Wölfin.
„Nein“, sag ich, „das ist eine Grafikdesignerin und Illustratorin.“
„Wolfwolfwolf.“
——— Robert Gernhardt:
Trost und Rat
aus: Wörtersee, 1981:
Ja wer wird denn gleich verzweifeln,
weil er klein und laut und dumm ist?
Jedes Leben endet. Leb so,
daß du, wenn dein Leben um istvon dir sagen kannst: Na wenn schon!
Ist mein Leben jetzt auch um,
habe ich doch was geleistet:
ich war klein und laut und dumm.
Bild: Marion Vina: Trost und Rat, 4. Januar 2023.
Kleinlaut und klug: Sia: Big Girls Cry, 2014:
Blumenstück 009: Hunde reden nicht so viel
Update zu La feuille s’émeut comme l’aile dans les noirs taillis frémissants,
Wie Champagnerschaum das wilde Gelächter (deine Erdbeer- und Himbeerdüfte)
und Das Ungeheuer von Laster, das nicht einmal den Namen Feigheit verdient:
Un bon chien vaut mieux que deux kilos de rats.
Boris Vian.
——— Boris Vian:
9 février 1948,
dans: Cantilènes en gelée, 1949,
Poèmes inédits, 1970,
collection 10/18, page 97,
deutsch in eigener Übersetzung, ca. April 2022:
Bonjour, chien
|
Grüß dich, HundIch erblicke einen Hund auf der Straße |
Image: Ирина Ожерельева: Boris Vian „Bonjour, chien“, 20. April 2019.
Hunde singen Blues: Pink Floyd: Seamus, aus: Meddle, 1971,
als Mademoiselle Nobs ohne Text, weil der zweibeinige Sänger den Mund voll hat,
in den Studios de Boulogne, Paris im Frühling 1972 für Live at Pompeii, 1972:
I was in the kitchen,
Seamus, that’s the dog, was outside.
Well, I was in the kitchen,
Seamus, my old hound, was outside.
Well, the sun sinks slowly
But my old hound just sat right down and cried.
Neruda hungert im Ödland von Quitratúe
Update zu Keine Geschichte über Blut, Krieg und Verwandlungen,
Wie man sich eine Schrift besieht und
Weil er bei den Mahlzeiten so entsetzlich isset:
Mit Pablo Neruda bin ich leider nie richtig warm geworden, obwohl ihm in der Zeit meiner künstlerischen Bewusstwerdung eine wunderschöne dreibändige Augabe gewidmet war, die gesamte Lyrik in drei beeindruckend umfänglichen Bänden. Luchterhand 1984, sind seither selten und teuer geworden. Nerudas Mischung aus Liebesgetön und chilenischer Landespolitik mag dem Heranwachsenden etwas unzugänglich erscheinen, aber das ist nicht des schätzbaren Herrn Nerudas Schuld.
In letzter Zeit kursieren von seinen Gedichten gelegentliche Auswahlen von eher schmückender Funktion und Kenntnisse alternder Studienräte, die 1984 auf dem Nürnberger Bardentreffen immer zu den Ethno-Bands aus Nicaragua gegangen sind und sich die Luchterhand-Ausgabe leisten konnten. Dabei hat Neruda außer einigen nicht ganz ungenießbaren Gedichten eine nachvollziehbare poetologische Auffassung der Poésie impure, 1935 , übersetzt von Hans Magnus Enzensberger in: Text und Zeichen, Heft 1/1955:
[…] So soll die Dichtung aussehen, die wir suchen: verwüstet von der Mühe der Hände wie von einer Säure, vom Schweiß und von Rauch durchdrungen, eine Dichtung, die nach Urin und nach weißen Lilien riecht, eine Dichtung, in der eine jede Verrichtung des Menschen, erlaubt oder verborgen, ihre Spuren hinterlassen hat.
Eine Dichtung, unrein wie ein Anzug, wie ein Körper, von Speisen befleckt, eine Dichtung, die Handlungen der Scham und der Schande kennt, Träume, Beobachtungen, Runzeln, schlaflose Nächte, Ahnungen; Ausbrüche des Hasses und der Liebe; Tiere, Idyllen, Erschütterungen; Verneinungen, Ideologien, Behauptungen, Steuerbescheide.
Die geheiligte Vorschrift des Madrigals; die Gesetze des Tastens, Riechens, Schmeckens, Sehens und Hörens; das Verlangen nach Gerechtigkeit; das sexuelle Verlangen; das Geräusch des Meeres; ohne die Absicht, irgend etwas auszuschließen, ohne die Absicht, irgend etwas gutzuheißen; der Eintritt in die Tiefe der Dinge in einem Akt jäher Liebe, und das dichterische Produkt: von Tauben, von Fingerabdrücken besudelt, mit den Spuren von Zähnen und Eis übersät, möglicherweise angenagt von Schweiß und Gewohnheit, bis es die zarte Glätte eines rastlos geführten Werkzeugs, die überaus harte Sanftmut von abgenutztem Holz, von hochmütigem Eisen erreicht hat. Auch die Blume, den Weizen und das Wasser zeichnet diese Tastbarkeit, diese einzigartige Konsistenz aus. […]
Das ist selbst schon fast lyrisch; Neruda scheint seine Poetologie also zu vertreten und zu leben. Auf dem einen oder anderen Wege ist mir eins seiner Cien sonetos de amor, das ist: Hundert Sonette über die Liebe zugelaufen, nämlich die Nummer XI, das ist: 11, die er seiner nachmaligen dritten Ehefrau Matilde Urrutia schenkte. Auf dem Buchmarkt ist die Sammlung seit 1998 präsent als Hungrig bin ich, will deinen Mund, das ist: eine Auswahl von 68 aus den 100. Markus Müller formuliert es in Nerudas Ode an die Liebe. Große Lücke in der Übersetzung des Werkes des Nobelpreisträgers geschlossen in den Lateinamerika Nachrichten 284, Februar 1998 so:
Bis auf die Wahl des Titels „Hungrig bin ich, will deinen Mund“, der leider an Klaus Kinskis gar nicht erhabene Adaptation Villons „Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund“ erinnert, ist dem Übersetzer und Herausgeber Fritz Rudolf Fries ein großartiger Wurf gelungen.
Die genannte Lücke bestand offenbar bis 1998, also lange nach der Luchterhand-Ausgabe. Dabei wird Sonett XVII in Patch Adams von Tom Shadyac 1998 an mehreren Stellen zitiert, unter anderem der ikonischen Beerdigungsszene; Sonett XII erscheint 2002 in einem Bollywood-Fetzen, dem ich lieber nicht näher nachspüren möchte, beim ersten Treffen in einer Bar und später noch einmal als gleich doppeltes Zitat; und Sonett XVII erscheint vollständig in der Folge The Naked Man von How I Met Your Mother, vierte Staffel 2008.
Mir selbst liegen weder der große dicke Luchterhand noch die Auswahlübersetzung von Rudolf Fries 1998 vor, und mit Verlaub, ohne Herrn Neruda oder seinen Verfechtern nahe zu treten, beabsichtige ich vorerst weder Geld noch Regalmeter an ihn zu wenden.
Deshalb war eine eigene Übersetzung fällig. Ich war so frei, die Metaphern mit „essen“ und „fressen“ zurückzufahren, weil sie in der Ballung unangemessen kannibalistisch wirken. Die formale Bindung besteht aus fünf Vershebungen mit jambischem Auftakt; reine Jamben oder schöner: Daktylen waren ohne inhaltliche Verluste nicht durchzuhalten. Das „Ödland“ aus einer bestehenden Version war zu schön, um es um meiner eigenen Originalität willen links liegen zu lassen, und „herumspüren“ ist das, was nicht gerade ein Puma, aber immerhin Mephisto angesichts Gretchens Zimmer tut.
Und nein, ich kann kein Spanisch. Aus den Vorlagen einer Google-Übersetzung auf Deutsch und Englisch und den Resten eines Latinums lässt sich heute viel machen, aber ich werde mich bereitwillig über Fehler und Stilblüten belehren lassen.
——— Pablo Neruda:
aus: Cien sonetos de amor, 1959:
Soneto XI
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Sonett XI
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Haben die Haare schön: Cover Pablo Neruda: Cien sonetos de amor, 1959;
Silvia Sala, Bergamo, 17. Oktober 2013 und 3. Mai 2012,
aus: Self Portraits.
Soundtrack aus dem modernen Chile: Fother Muckers: A la primera, aus: No Soy Uno, 2007:
Fruchtstück 0005: Opening a can of sardines can be an art
Update for Katerladen and
Dornenstück 0003: Junge Mädchen mit Mündern wie Barrakudas und Körpern wie Zitronenbäume:
——— Charles Bukowski:
Style
c. 1972:
Style is the answer to everything.
A fresh way to approach a dull or a dangerous thing.
To do a dull thing with style is preferable to doing a dangerous thing without it.
To do a dangerous thing with style is what i call art.Bullfighting can be an art,
Boxing can be an art,
Loving can be an art,
Opening a can of sardines can be an art.Not many have style.
Not many can keep style.
I have seen dogs with more style than men,
although not many dogs have style.
Cats have it with abundance.When Hemingway put his brains to the wall with a shotgun,
that was style.
Or sometimes people give you style
Joan of Arc had style,
John the Baptist,
Christ,
Socrates,
Caesar,
García Lorca.I have met men in jail with style.
I have met more men in jail with style than men out of jail.
Style is the difference, a way of doing, a way of being done.
Six herons standing quietly in a pool of water,
or you, naked, walking out of the bathroom without seeing me.
Image: RapidHeartMovement: :behind the scenes:, November 7th, 2015,
via Ahmad Mahbouba, in: Charles Bukowski, Facebook, March 12th, 2022.
Als der Bund Spargel einmal tausend Francs kostete
Update zu Auf der Suche nach den aufgegebenen Blogs,
So eine Art Käse-Cocktail oder Mehl-Flip
und Goethes Kindergartenfutter:
Zu meiner gutbürgerlichen Ausbildung gehörte noch: Spargel gibt’s bis Fronleichnam, danach allenfalls Schwarzwurzeln aus dem Glas. Zur Ausbildung von Marcel Proust und dem Bildungsblogger Silvae gehörten derlei Bauernregeln bestimmt nicht, dafür bringt uns letzterer in seinem Artikel über Spargel vom 12. Juni 2013 auf allerlei künstlerische Darstellungen des Königsgemüses.
Nach Jahrzehnten des Spargelgebrauchs war mir gar nicht bewusst, dass man beim Pinkeln nach dem Zeug riechen soll – ohne mich in hässliche spekulative Details zu verlieren. Nach dem Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache bedeutet das das griechische ἀσπάραγος einfach einen jungen Keim, das spätlateinische asparagus den fetten Keim einer Pflanze, ehe sich die Blätter entwickeln. Allerdings heißt aspergere auch soviel wie bespritzen oder beschmutzen, was der phallischen Symbolik des Spargels entgegenkäme, ohne die kein Bericht über Spargel auskommt, der über Kochrezepte hinausgeht, und die selbst mir bewusst war. Dagegen wird das Asperges me, Domine in der lateinisch-katholischen Messe zum priesterlichen Besprenkeln der Gemeinde mit Weihwasser gesungen, also einem Ritual der Reinigung zum Nachlass der Sünden, und ist dort nicht mit Spargel, sondern Ysop assoziiert. Der galoppierenden Volksetymolgie muss vor allem im Französischen, wo Spargel bis heute l’asperge heißt, Tür und Tor geöffnet sein.
——— Marcel Proust:
Du côté de chez Swann
éditions Bernard Grasset, Paris 1913, übs. Eva Rechel-Mertens 1953 ff.:
Zu der Stunde, da ich hinunterging, um mich nach dem Küchenzettel zu erkundigen, war das Abendessen schon in der Zubereitung begriffen, und Françoise, den hilfreichen Kräften der Natur gebietend wie in den Märchenspielen, in denen Riesen sich als Köche verdingen, klopfte die Kohle klein, brachte Kartoffeln zum Weichwerden in den Dampf und ließ auf dem Feuer kulinarische Meisterwerke gar werden, die zuvor in irdenen Gefäßen, von großen Bottichen, Schüsseln, Kesseln und Fischbassins bis zu Terrinen für die Wildpastete, Kuchenformen und kleinen Rahmschüsselchen, vorbereitet wurden, wozu noch eine vollständige Sammlung von Kochtöpfen aller Größen kam. Ich blieb an einem Tisch stehen, an welchem das Küchenmädchen grüne Erbsen enthülst und dann in abgezählten Häufchen aufgereiht hatte wie kleine grüne Kugeln für ein Spiel; besonders aber die Spargel hatten es mir angetan, die wie mit Ultramarin und Rosa bemalt aussahen und deren in Violett und Himmelblau getauchte Spitze nach dem anderen Ende zu – das noch Spuren des nährenden Ackerbodens trug – lauter Abstufungen von irisierenden Farben aufwies, die nichts Irdisches hatten. Es schien mir, dass diese himmlischen Tönungen das Geheimnis von köstlichen Geschöpfen enthüllten, die sich aus Neckerei in Gemüse verwandelt hatten und durch ihre aus feinem essbaren Fleisch bestehende Verkleidung hindurch in diesen Farben der zartesten Morgenröte, in diesen hinschwindenden Nuancen von Blau jene kostbare Substanz verrieten, die ich noch die ganze Nacht hindurch, wenn ich am Abend davon gegessen hatte, in den nach Art Shakespearescher Feenkomödien gleichzeitig poetischen und derben Possen wiedererkannte, die sie zum Spaße aufzuführen schienen, wenn sie sogar noch mein Nachtgeschirr in ein Duftgefäß umschufen.
An späterer Stelle in Die Welt der Guermantes, die erst 1920 erschien, mokiert sich der Herzog von Guermantes über den Preis eines bloßen Abbildes von Spargel – wie Silvae weiß: ganz entegegengesetzt wie der Bankier und Kunsthistoriker Charles Ephrussi an den Künstler Édouard Manet, indem er ihm freiwillig zuviel zahlte. – Meinte der von Guermantes:
„Swann hatte tatsächlich die Stirn, uns zum Kauf eines Spargelbundes zu raten. Wir haben das Bild daraufhin sogar ein paar Tage im Haus gehabt. Es war nichts weiter als das darauf, ein Bund Spargel, genau wie die, die Sie gerade schlucken, die Spargel von Herrn Elstir aber habe ich nicht geschluckt. Er verlangte dreihundert Francs dafür. Dreihundert Francs für einen Bund Spargel! Einen Louisd’or höchstens sind sie wert, und auch das nur, solange es noch die ersten sind.“
Dagegen Ephrussi laut Silvae:
Manet wollte achthundert Franc für das Bild haben, aber Ephrussi hat ihm tausend gezahlt. Er wusste, dass Édouard Manet in finanziellen Nöten war. Da hat sich Manet auf seine eigene Art und Weise bedankt. Hat dem Monsieur Ephrussi schnell noch eine Spargelstange gemalt und sie mit der kleinen Notiz Il en manquait une à votre botte versehen an den Kunstsammler geschickt.
Luzius Keller, dem wir überall begegnen, wo wir bei Marcel Proust über den Primärtext hinauslesen wollen, abgekürzt: wo wir Marcel Proust lesen wollen, weiß uns das Wesen des Gemüsestilllebens historisch zu verankern:
——— Luzius Keller:
Proust und der Spargel
in: Neue Zürcher Zeitung, 14. November 2009:
Spargelbund und andere Gemüsemotive haben in der Stilllebenmalerei Tradition. So findet sich beispielsweise im Amsterdamer Rijksmuseum ein Spargelbund von Adriaen Coorte (1660–1707), der jenem von Manet erstaunlich ähnlich sieht. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, insbesondere im Umfeld von Impressionismus und Naturalismus, werden jedoch die Gattungen als solche immer mehr in Frage gestellt: Wozu sollen bestimmte Motive auf bestimmte Gattungen beschränkt bleiben? Weshalb sollte ein bestimmtes Motiv an sich wertvoller sein als ein anderes? Bekannt ist das Diktum Max Liebermanns, der in den 1870er Jahren in Paris lebte: „Eine gut gemalte Möhre ist besser als eine schlecht gemalte Madonna“, und in seinem Roman „L’Œuvre“ (1887) lässt Zola seinen Protagonisten, den Maler Etienne Lantier, fragen, ob ein Möhrenbund nicht mehr wert sei als die ewigen Schinken aus der Ecole des Beaux-Arts. Ein erstes Echo auf diese ästhetische Diskussion findet sich in „Guermantes“ in einem Gespräch zwischen Marcel und Norpois, in dem Proust einen Bund Radieschen von Elstir einer Madonna von Hébert gegenüberstellt.
Dass ich nur eine gutbürgerliche Ausbildung voller Bauernregeln, nun ja: genossen habe, erkennt man spätestens daran, dass ich im Ernst nach einem französischen Bild von einem Bund Radieschen gesucht habe, bevor mir dämmerte, dass ein Maler Elstir von Proust ebenso frei erfunden ist wie sein Erzähler Marcel und der Marquis de Norpois. Erfreuen wir uns stattdessen an einem weiteren runden Kilo Spargel von Philippe Rousseau unsicherer Datierung.
Und selber will man ja auch nicht leben wie ein veganer Hund, wenn schon nicht wie ein französischer Landadliger: Selber erfreut haben wir uns heuer an einem Kilochen vom Penny am Eck Lindwurm-/Zenettistraße, am 14. Mai 2022 für tagesfrische 5,55 Euro, leider in Erdölprodukte eingeschweißt, dafür aus regionalem Anbau. Der Magen isst ja mit, wie der Gutbürgerliche weiß.
Bilder:
- Édouard Manet: Botte d’Asperges, 1880;
- derselbe: L’Asperge, 1880;
- Adriaen Coorte: Stilleven met asperges, 1697,via Kochbuch für Max und Moritz: Marcel Proust und der Spargel von Édouard Manet, 8. Juni 2011
– mit Spargelrezepten! – - Philippe Rousseau: Nature morte aux asperges, 1860 oder ca. 1880,
- und unser eigener vom Penny, 14. Mai 2022.
Soundtrack: Camille Hardouin: Mille bouches, aus: Mille bouches, 2017,
live in la chapelle St Louis de La Rochelle, Comment je me suis mariée avec mille bouches, Juli 2106:
Krullsekt (Fürchten Sie die Gesetze!)
Update zu Ich trinke ein Glas Burgunder!,
Damit du siehst, wie leicht sich’s leben läßt
Saufspiele für Bücher-Geeks
und Wein-Lese:
Ich tränke gern ein Glas, die Freyheit hoch zu ehren,
Wenn eure Weine nur ein Bißchen besser wären.Mephistopheles, Vers 2245 f.
Dem Vorsatz, nicht immer bloß aus dem ersten Theil, erstes Buch, erstes Capitel zu zitieren, ist schwer Folge zu leisten. Vor allem wenn man wie ich am liebsten mit dem Nachwort anfängt und dann natürlich schon auf den ersten 40 Seiten schwächelt. Und wenn man bei der Charakterisierung der Hauptfiguren über ihr marktwirtschaftliches Produkt seinen oberexquisiten Gummibärchensirup (Kong Strong Wild Power Urban Classic) durch die Nase prustet vor Lachen.
Das so vielversprechend beschriebene Etikett war nicht aufzutreiben — vermutlich weil es nie ausgeführt wurde. Wenn bei Gelegenheit jemand so viele künstlerische mit technischen Fertigkeiten verbinden wollte?
——— Thomas Mann:
Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull
Der Memoiren erster Teil. Erstes Buch, Erstes Kapitel,
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1954, Fischer-Gesamtausgabe Seite 267 f.:
Mein armer Vater war Inhaber der Firma ‚Engelbert Krull‘, welche die untergegangene Sektmarke ‚Lorley extra cuvée‘ erzeugte. Unten am Rhein, nicht weit von der Landungsbrücke, lagen ihre Kellereien, und nicht selten trieb ich mich als Knabe in den kühlen Gewölben umher, schlenderte gedankenvoll die steinernen Pfade entlang, welche in die Kreuz und Quere zwischen den hohen Gestellen hinführten, und betrachtete die Heere von Flaschen, die dort in halbgeneigter Lage übereinandergeschichtet ruhten. Da liegt ihr, dachte ich bei mir selbst (wenn ich auch meine Gedanken natürlich noch nicht in so treffende Worte zu fassen wußte), da liegt ihr in unterirdischem Dämmerlicht, und in euerem Innern klärt und bereitet sich still der prickelnde Goldsaft, der so manchen Herzschlag beleben, so manches Augenpaar zu höherem Glanze erwecken soll! Noch seht ihr kahl und unscheinbar aus, aber prachtvoll geschmückt werdet ihr eines Tages zur Oberwelt aufsteigen, um bei Festen, auf Hochzeiten, in Sonderkabinetten eure Pfropfen mit übermütigem Knall zur Decke zu schleudern und Rausch, Leichtsinn und Lust unter den Menschen zu verbreiten. Ähnlich sprach der Knabe; und so viel wenigstens war richtig, daß die Firma ‚Engelbert Krull‘ auf das Äußere ihrer Flaschen, jene letzte Ausstattung, die man fachmännisch die Coiffure nennt, ein ungemeines Gewicht legte. Die gepreßten Korken waren mit Silberdraht und vergoldetem Bindfaden befestigt und mit purpurrotem Lack übersiegelt, ja, ein feierliches Rundsiegel, wie man es an Bullen und alten Staatsdokumenten sieht, hing an einer Goldschnur noch besonders herab; die Hälse waren, reichlich mit glänzendem Stanniol umkleidet, und auf den Bäuchen prangte ein golden umschnörkeltes Etikett, das mein Pate Schimmelpreester für die Firma entworfen hatte und worauf außer mehreren Wappen und Sternen, dem Namenszuge meines Vaters und der Marke ‚Lorley extra cuvée‘ in Golddruck eine nur mit Spangen und Halsketten bekleidete Frauengestalt zu sehen war, welche, mit übergeschlagenem Beine auf der Spitze eines Felsens sitzend, erhobenen Armes einen Kamm durch ihr wallendes Haar führte. Übrigens scheint es, daß die Beschaffenheit des Weines dieser blendenden Aufmachung nicht vollkommen entsprach. „Krull“, mochte mein Pate Schimmelpreester wohl zu meinem Vater sagen, „Ihre Person in Ehren, aber Ihren Champagner sollte die Polizei verbieten. Vor acht Tagen habe ich mich verleiten lassen, eine halbe Flasche davon zu trinken, und noch heute hat meine Natur sich nicht von diesem Angriff erholt. Was für Krätzer verstechen Sie eigentlich zu diesem Gebräu? Ist es Petroleum oder Fusel, was Sie bei der Dosierung zusetzen? Kurzum, das ist Giftmischerei. Fürchten Sie die Gesetze!“ Hierauf wurde mein armer Vater verlegen, denn er war ein weicher Mensch, der scharfen Reden nicht standhielt. „Sie haben leicht spotten, Schimmelpreester“, versetzte er wohl, indem er nach seiner Gewohnheit mit den Fingerspitzen zart seinen Bauch streichelte, „aber ich muß billig herstellen, weil das Vorurteil gegen die heimischen Fabrikate es so will – kurz, ich gebe dem Publikum, woran es glaubt. Außerdem sitzt die Konkurrenz mir im Nacken, lieber Freund, so daß es kaum noch zum Aushalten ist.“ Soweit mein Vater.
Bilder: Château Migraine: Grand vin misérable, Domaine Scharlatan, Appellation souterraine pas controlée, avec Goldmedaille.
Soundtrack: Dschinghis Khan: Loreley, aus: Wir Sitzen Alle Im Selben Boot, 1981.
Teuflischerweise eine nicht ganz reizlose Melodie:
150 Jahre sind alt genug
Update zu Invisible Girls
und Doktor Faustus goes Science Fiction
und aufgemöbelte Zweitverwertung:
Frank Zander konnte man schon immer albern finden, aber was den bis heute berüchtigten Bestand an Schlagersängern nach 1970 angeht, hatte man bei dem nie so das Gefühl, der wird doch von der CDU bezahlt.
Ein großer Moment in der trüben deutschen Musikgeschichte der Siebziger war … nein, nicht seine Phase als „Fred Sonnenschein“, da konnte Hugo Egon Balder als Hamster Fritz mitsingen, soviel er will — sondern sein Album Donnerwetter 1979. Da war nämlich Captain Starlight drauf.
Von dem Lied hat sich jemand einiges versprochen, es wurden nämlich Versionen auf Deutsch und Englisch, mit und ohne Intro erstellt, die nicht einmal in Zanders öffentlicher Diskographie erscheinen. Marketinghistorisch kann man bemängeln, dass Captain Starlight nach dem damaligen Weltraum-Hype schon zu spät kam – der erste Star Wars erschien 1976) –, aber Peter Schilling ist mit seinem „völlig losgelösten“ Major Tom auch erst 1983 nachgerückt, Stephan Remmler ohne Trio mit Feuerwerk gar 1984. Dass Zander einen überschätzten Kubrick-Film elf Jahre zu spät veralbern wollte, habe ich zweifellos schon als „Krieg der Sterne“-Verweigerer in der fünften Klasse gemerkt, weil schon immer auf der Hand lag, dass Kubrick ausschließlich überschätzte Filme gemacht hat.
Das halbminütige Intro von Captain Starlight vom grunddeutschen Frank Zander hatte dagegen das Zeug zum Mythos. Ein Kasperleschlager, der wie selbstverständlich mit einem ausführlichen, nirgends erklärten, ja auch nur erwähnten klassischen Streichersatz anfängt – und genau so wieder aufhört, wo gibt’s denn sowas? Ich muss einige Male ziemlich gebannt am Radio geklebt haben, in den Fernsehauftritten wurden die Streicher nämlich grundsätzlich unterschlagen.
Später, mit einigem musikalischen Grundwissen, konnte man von selber draufkommen, dass es ein Streichquartett war. Welches, ein bestehendes oder gar ein eigens von Herrn Zander komponiertes, wusste kein Mensch, und zu Zeiten des Internets war Frank Zander schon ein abgehalfterter Schlageropa, der sich einigermaßen würdevoll für ironisch-nostalgische Rückblicke hergab.
Bis zum 18. Juli 2010, als in einem nerdigen Gitarrenforum jemand wusste: Nun ja, das ist eine Moll-Version aus dem 1. Satz von Joseph Haydn: Quartett D-Dur für zwei Violinen, Viola und Violoncello, opus 64,5, Hoboken-Nummer III: 63, Werkverzeichnisnummer 860, dem vulgo Lerchenquartett von 1790. — Stimmt.
Dass Haydn mit Sicherheit keine Moll-Versionen von seinen eigenen, gar nicht mehr genau zählbaren Streichquartetten in Dur-Tonarten angefertigt hat, macht die Antwort nicht erschöpfender, rückt Frank Zander aber in ein geheimnisvolles Licht: Der hat das bestimmt auch nicht umgeschrieben, weil er gelernter Grafiker ist. Als Autoren von Captain Starlight werden Bob Burrows und Norbert Hammerschmidt aufgeführt. Letzterer firmiert als Schlagertexter, ersterer ist sehr dürftig belegt – und gerade deshalb als Komponist einer Haydn-Variation am wahrscheinlichsten. Und welche vier praktizierenden Saitenkünstler für die LP Donnerwetter diese musikologische Fingerübung eingespielt haben, sollte man Herrn Zander (Jahrgang 1942, berufsbedingt als trinkfester Raucher einzuschätzen) endlich mal selber fragen. Wer traut sich?
Ich wette nur auf soviel: Es ist h-Moll.
Für den Nachweis der musikalischen Verwandtschaft ist das Haydn’sche Lerchenquartett in YouTube ausreichend vertreten. Aus diesem Reichtum möchte ich eine eher kleine, nicht gerade auf dem Gipfel der professionellen Brillanz umhertänzelnde, dafür anrührend dilettantische Version verlinken: die von den Eleven der Levanger Kulturskole, weil deren Instrumente so schön authentisch verstimmt sind. Außerdem mag ich das hagere Tomboy-Nordmädchen an der ersten Geige.
Und weil die jungen nordischen Kulturschüler offenbar mit Allegro moderato, Adagio und Menuetto. Allegretto – Trio schon ausgelastet waren, Haydn aber seine Quartette noch viersätzig gestaltete, müssen die ausgelernten Kolleginnen vom Four Voices String Quartet Vivace zu Ende spielen:
Und nochmal alle vier Sätze als Playlist vom Attacca Quartet im Zusammenhang:
Bilder: Cover Frank Zander: LP Donnerwetter, Der Andere Song 1979, via Discogs;
Cover Doppel-Single Captain Starlight/Pilli Willi der Telefonanist, 1979, via YouTube.
Die Literatur, die humanistische Wissenschaft, das Ideal des freien und schönen Menschen
Update zu Der Dr.-Faustus-Weg: Polling–Pfeiffering und wieder weg
und Wo mit Mais die Felder prangen:
Wie an geeigneten Stellen breitgetreten, sind wir hier ein Habe-nun-Ach und kein Hätt-ich-Doch. Ad vocem Breittreten bot es sich in unschlagbar günstig fallender Weise an, den Doktor-Faustus-Weg hinter Polling abzuwandern.
Das geht von München aus recht kommod: Die Regionalbahn fährt stündlich – optimistische Reiseplaner errechnen: „ca. 40 Züge am Tag„, zählen allerdings die ICE mit – vom Starnberger Flügelbahnhof Richtung Mittenwald und hält nach etwa 40 Minuten auch richtig in Weilheim in Oberbayern, von wo einen der Bus 9601 nach kurzen Anschlusszeiten nach Polling weiterträgt, was keine Viertelstunde beansprucht. Auf den Bahn- und Busstrecken gilt das Bayernticket, zu zweit kommen Sie also mit 32 Euro hin und zurück (Stand November 2021) zurecht. In Polling ist man ohnehin viel zu schnell mit den fünf Kilometerchen Faustusweg fertig, Sie können sich also noch einiges für den Tag vornehmen (ich empfehle: zurück nach Weilheim, dann mit dem Bus 9652 nach Kloster Wessobrunn, dem gleichnamigen Gebet nachspüren, das dauert auch nicht viel länger. Dort lohnender Abstecher zur Tassilolinde und Einkehrmöglichkeit).
Das zahlreich ausliegende Gratisfaltblatt zum Wanderweg wurde offenbar im März 2021 aktualisiert und lehrt:
Der von der Gemeinde Polling mit mit literarischer Unterstützung von Dr. Fritz Wambsganz und unter kräftiger Mithilfe der Pollinger Weinbruderschaft 2007 errichtete „Doktor-Faustus-Weg“ berührt alle Lokalitäten, die im Roman Erwähnung finden und bietet auf dem landschaftlich reizvollen Rundweg mit seinen 13 Texttafeln sowohl ein Nachempfinden dieses großen deutschen Dichterwerkes als auch unterhaltsame Erholung in einer intakten Kulturlandschaft.
Stimmt alles. Die sechs Seiten Hochformat gefalzt, eigentlich 2 DIN A4, führt man am besten mit sich, dann hat man den nötigen Ausschnitt Wanderkarte und eine geeignete Einführung dabei, um sie nachher 4C auf Weiß nach Hause zu tragen. Selber ausdrucken oder am Bildschirm angucken geht auch. Der touristische Einstieg wird dem interessieren Laien also leicht gemacht.
Was den wenigsten Touristen auf dem Weg zur nächstliegenden Einkehr einfallen wird, ist das Korrekturlesen der dreizehn wichtigsten Touristenziele Pollings: der Stationsschilder des Dr.-Faustus-Weges. Dafür haben sie ja uns.
Das fängt mit der Schreibung des Gesamtunternehmens an — Thomas Manns Roman von 1947, der nähergebracht werden soll, schreibt sich Doktor Faustus, an keiner Stelle (außerhalb Pollings) Dr. Faustus — und hört mit der inkonsequenten Rechtschreibung — die oft von einer Station zur nächsten zwischen alter und neuer wechselt — nicht auf. Da hat der online leider nicht näher zu verortende Dr. Fritz Wambsganz für seine Stationsschilder offenbar Stellen aus verschiedenen Quellen zusammenkopiert, versäumt, sie für sein neu angelegtes Korpus anzugleichen und nur noch selbst Korrektur gelesen, also gar nicht. Was einem Lektorat nicht dauerhaft hätte unterlaufen dürfen, ist die Verwechslung des Vornamens einer Romanfigur: „Gideon“ für Gereon Schweigestill. Da ist Blech wohl nicht ungeduldiger als Papier.
Was nichts am Erlebniswert der viel zu selten umgesetzten Idee ändert, einen tiefernsten, nur ganz verhalten „ironisch“ gefärbten Roman voll der erdenschwersten Betrachtungen mehrerer vergangener Jahrhunderte in die immerneue Gegenwart einer durchaus heiteren, jedwede Seele erhebenden Feld-, Wald- und Dorflandschaft in Beziehung zu setzen. Zu noch weiter führenden Verbindungen siehe laut Kommentar der Großen Kommentierten Frankfurter Ausgabe – hier zur besseren Übersicht absichtsvoll angeglichen und erweitert, also eigentlich unkorrekt zitiert:
Das Modell war der Hof der Familie Schweighart in Polling. Zur Beschreibung der Örtlichkeit und der Personen (des Ehepaars Schweigestill und seiner Kinder) siehe
- Gunilla Bergsten: Thomas Manns Doktor Faustus. Untersuchungen zu den Quellen und zur Struktur des Romans, Lund 1963, 2., ergänze Auflage Tübingen 1974, Seite 28 bis 30,
- Lieselotte Voss: Die Entstehung von Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“. Dargestellt anhand von unveröffentlichten Vorarbeiten, Studien zur deutschen Literatur, Band 39, Tübingen 1975, Seite 58 bis 60, dort auch Hinweise auf die bezeichnende Abwandlung des Namens [Polling zu „Pfeiffering“], und
- Marta Vogler: Die Jenseitsvorstellungen vor Dante, Neue Zürcher Zeitung, 1. Dezember 1945, das ist: die Rezension zu August Rüegg: Die Jenseitsvorstellungen vor Dante und die übrigen literarischen Voraussetzungen der Divina Commedia. Ein quellenkritischer Kommentar, 2 Bände, Benzinger, Einsiedeln/Köln 1945.
Am mühevollen Gestücksel all dieser Ausgrabungen und unterschiedlich erfolgreichen Versuche möglichst verlässlicher Belege merke ich als erstes, dass Dr. Wambsganz und die Weinbruderschaft Polling nicht etwa eine schludrige, sondern eben nur nicht die letztendgültige Arbeit geleistet haben. Ich gebe das Vorfindbare wieder – mit speziellem Dank an Frank T. Zumbach, der den Ausflug am 9. November 2021 unterstützt, mitgelatscht und belebt hat.
——— Dr. Fritz Wambsganz/Weinbruderschaft Polling:
Dr.-Faustus-Weg
Polling, ab 2007:
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Tafel 1
Als sich die Brüder Thomas und Viktor Mann 1947 in Zürich wieder trafen, sagte Thomas zu Viktor: „Du wirst die Schweigharts in meinem >Doktor Faustus< wiederfinden […] Polling hatte Atmosphäre. Weißt du noch: das alte Wohnzimmer?“ [>Wir waren fünf<].Nachgewiesene Aufenthalte von Thomas Mann in Polling: 1903 (3 Wochen), 1908 (1 Woche), zwei mal 1920, dazu wohl öfters Besuche bei seiner 1906 – 1923 am Pollinger Kirchplatz 15 wohnenden Mutter Julia.
Der Held des Dr.-Faustus-Romans, der Komponist Dr. Adrian Leverkühn, lebt in Pfeiffering/Polling von 1912 – 1930.
Die Zitate auf den Tafeln sind dem 1943 – 1947 in Pazifik-Palisades geschriebenen Dr.-Faustus-Roman entnommen.
Was ist vor unseren Augen, oder auch nicht just vor unseren Augen, im Namen des „Volkes“ nicht alles geschehen, was im Namen Gottes, oder der Menschheit, oder des Rechtes nicht wohl hätte geschehen können! […] Ich spreche vom Volk, aber die altertümlich-volkstümliche Schicht gibt es in uns allen, und, um ganz zu reden, wie ich denke: Ich halte die Religion nicht für das adäquateste Mittel, sie unter sicherem Verschluss zu halten. Dazu hilft nach meiner Meinung allein die Literatur, die humanistische Wissenschaft, das Ideal des freien und schönen Menschen.
Wegbeschreibung: Richtung Kirche, dann 150m nach Norden zur Tafel 2
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Tafel 2
Sie hatten im Wirtshaus am Hauptplatz des Städtchens [Waldshut] zu MIttag gegessen, und da ihnen der Fahrplan mehrere Stunden Zeit ließ, fuhren sie auf der baumbestandenen Landstraße weiter nach Pfeiffering, führten ihre Räder durchs Dorf [,] ließen sich von einem Kinde den Namen des nahen Weihers, des Klammerweihers, sagen, warfen einen Blick auf die baumgekrönte Anhöhe „Rohmbühel“ und baten unter dem Bellen des Kettenhundes, den eine barfüßige Magd mit seinem Namen „Kaschperl“ berief, um ein Glas Limonade unter dem mit einem geistlichen Wappen geschmückten Tor des Gutshauses, – weniger von Durstes wegen, als weil ihnen das massive und charaktervolle Bauernbarock des Gebäudes gleich in die Augen gestochen hatte.
Sie [Frau Else Schweigestill] kredenzte sie ihnen [Adrian Leverkühn und Rüdiger Schildknapp] in einer fast saalartigen, gewölbten guten Stube links an der Diele, einer Art von Bauernsalon mit gewaltigem Tisch, Fensternischen, die die Dicke der Mauern erkennen ließen, und der geflügelten Nike von Samothrake in Gips obenm auf dem buntbemalten Spind. Auch ein braunes Klavier stand in dem Saal. […] Weiterhin an dieser Seite gebe es noch ein ansehnliches Gelaß, die so genannte Abtsstube, wohl so genannt, weil es dem Vorsteher der Augustiner-Mönche, die hier einst gewirtschaftet, als Studio gedient habe. Dass der Hof ein Klostergut gewesen war, bestätigte sie damit. Seit drei Generationen saßen die Schweigestills darauf.
Zur Tafel 3: Zurück zum Kirchplatz, über die Bachbrücke und am Weinfass vorbei, ca. 22m
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Tafel 3
Clarissa empfing die eingeschriebe Sendung in Pfeiffering, wo sie nach Schluss der Pforzheimer Theater-Saison für ein paar Wochen im Häuschen ihrer Mutter, hinter den Kastanien, zu Gast war. Es war früher Nachmittag. Die Senatorin sah ihr Kind im Geschwindschritt von einem Spaziergang zurückkehren, den sie nach Tische auf eigene Hand unternommen. Auf dem kleinen Vorplatz des Hauses eilte Clarissa [Karla Mann] mit einem flüchtig-wirren und blinden Lächeln an ihr vorüber in ihr Zimmer, dessen Schlüssel sich hinter ihr kurz und energisch im Schlosse drehte. In ihrem eigenen Schlafzimmer, nebenan, hörte die alte Dame die Tochter nach einer Weile am Waschtisch mit Wasser gurgeln, – wir wissen heute, dass dies zur Kühlung der Verätzungen geschah, die die furchtbare Säure ihr im Schlunde verursacht. Dann trat Stille ein.
Hier geht es zu Tafel 4 (20 m)
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Tafel 4
Die Anziehungskraft dieses bescheiden-stilvollen Winkels auf jederlei distinguierte Resignation oder verwundete Menschlichkeit war merkwürdig: Man musste sie wohl aus dem Charakter der Hofbesitzer, besonders der rüstigen Wirtin, Else Schweigestills, und ihrer Gabe des „Verständnisses“ erklären, die sie denn auch in gelegentlichem Gespräch mit Adrian, als sie ihm nämlich mitteilte, dass die Senatorin [Rodde = Julia Mann] drüben einzuziehen gedenke, in wunderlicher Klarsicht bewährte. „Das ist ganz eimfach (sie assimilierte das n dem f) und verständlich, Herr Leverkühn, ich hab es gleich gesehen. Sie hat g’nua von Stadt und Leut und Gesellschaft, von Herren und Damen, weil das Alter sie g’schamig macht.“
Adrian, wie gesagt, war wenig berührt von dem Einzug der neuen Mieterin dort drüben, die, als sie zuerst den Hof besucht hatte, sich von der Wirtin zu kurzem Einspruch hatte zuihm führen lassen, dann aber seine Arbeitsruhe schonend, für seine Zurückhaltung die ihre in Tausch gab und ihn nur einmal, gleich anfangs, zum Tee bei sich sah. […]
Thomas Mann 1875 – 1955
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Tafel 5
Er [Adrian] fuhr vom Starnberger Bahnhof in einem der Personenzüge, die nicht nur in Waldshut, sondern, zehn Minuten später, auch in Pfeiffering halten, an sein Ziel, indem er zwei Kisten mit Büchern und Utensilien der Fracht überließ […] Er [Gideon Schweigestill] erwartete vor der kleinen Station den Gast auf dem Bock eines Char à bancs, das hoch vom Gestell und hart gefedert war, und ließ, während der Träger die Handkoffer einlud, die Peitschenschnur über den Rücken des Gespanns, zweier muskulöser Braunen, spielen. […] Den Rohmbühel mit seinem Baumkranz, den grauen Spiegel des Klammerweihers [Streicherweiher] hatte Adrian schon vom Zuge aus wiedergesehen. Jetzt ruhte sein Auge von nahebei auf diesen Erscheinungen […] Lieb und beruhigend schien ihm allerdings dabei [Treffen mit Münchner Kunstfreunden] die stehende und allen bekannte Notwendigkeit seines frühzeitigen Aufbruchs, die Gebundenheit an den 11-Uhr-Zug zu sein.
Thomas Mann 1875 – 1955
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Tafel 6
„Gern“, sagte sie. „Nur schad‘, dass mein Max“ (das war Herr Schweigestill) „draußen ist auf dem Feld mit Gereon, das ist unser Sohn. Sie wollten eine neue Düngerstreu-Maschine ausprobieren, die der Gereon angeschafft hat. Müssen die Herren halt vorliebnehmen mit mir.“ […]
Dazu Viktor Mann:
Die Gegend zwischen Würm- und Ammersee und den Murnauer Vorbergen ist keine großartige, aber eine liebe Landschaft. Die leicht gewellte Ebene beiderseits der ungebärdigen Ammer ist auf drei Seiten von Höhenzügen eingefasst. Über den südlichen schaut die Zugspitze mit der ganzen Kette des Wettersteins […] Die Kunstelevinnen saßen schaund und pinselnd vor der Kirche, im Schweigharthof, an den schilfigen Windungen des Pollinger Baches. Sie malten die alten Bauernhöfe, den langen Rücken des Peißenbergs, die Ammer am wilden Steilhang des „Kühtods“. [>Wir waren fünf<]
Thomas Mann 1875 – 1955
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Tafel 7
„Wer kann dich [Serenus Zeitblom] hindern, deine Konjekturen zu machen? Übrigens ist dies enge Gezimmer gar nicht der rechte Schauplatz dafür. Wenn ich nicht irre, war es der Zionsberg daheim, auf dem du mir verwandte Eröfffnungen machtest. Wir hätten auf den Rohmbühel steigen sollen zu unserer Konversation.“ […] „Maitre“, sagte er [Saul Fitelberg], „ich verstehe vollkommen, wie Sie an der stilvollen Abgeschiedenheit hängen müssen, die Sie sich zum Aufenthalt erwählt haben, – o ich habe alles gesehen, den Hügel, den Teich, das Kirchdorf […] Wie lange leben Sie schon hier? Zehn Jahre? Ununterbrochen? Kaum unterbrochen? […] Und dennoch, figurez-vouz, bin ich gekommen, Sie zu entführen, Sie zu vorübergehender Untreue zu verführen, Sie auf meinem Mantel durch die Lüfte zu führen und Ihnen die Reiche dieser Welt [Paris] und ihre Herrlichkeit zu zeigen, mehr noch, sie Ihnen zu Füßen zu legen … Verzeihen Sie mir meine pompöse Ausdrucksweise!“
Thomas Mann 1875 – 1955
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Tafel 8
Wir sprachen wenig auf der verbleibenden Strecke des Heimwegs. Ich erinnere mich, dass wir einige Augenblicke an der „Kuhmulde“ haltmachten; wir taten ein paar Schritte seitwärts vom Feldwege und blickten, den Schein der sich schon neigenden Sonne im Gesicht, auf das Wasser. Es war klar; man sah, dass nur in der Nähe des Ufers der Grund flach war. Schnell fiel er schon in geringer Entfernung davon ins Dunkle ab. Bekanntlich war der Weiher in der Mitte sehr tief. „Kalt“. sagte Adrian mit dem Kopfe hindeutend, [„]viel zu kalt jett zum Baden.“ – „Kalt“, wiederholte er einen Augenblick später, diesmal mit merklichem Zusammenschaudern, und wandte sich zum Gehen.
Eine Stunde später aber, als man ihn schlummernd wähnte, entwich er unversehens aus dem Hause und wurde von Gereon und einem Knecht erst eingeholt, als er am Klammerweiher sich seiner Oberkleider entledigt hatte und schon bis zum Hals in das so rasch sich vertiefende Gewässer hineingegangen war. Er war im Begriffe, darin zu verschwinden, als der Knecht sich ihm nachwarf und ihn ans Ufer brachte. Während man ihn nach dem Hof zurückführte, erging er sich wiederholt über die Kälte des Weihers und fügte hinzu, es sei sehr schwer, sich in einem Wasser zu ertränken, in dem man oft gebadet und geschwommen habe.
Thomas Mann 1875 – 1955
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Tafel 9
„Versuche [Adrian zu Rudi Schwerdtfeger] sie [Marie Godeau] sanft und heiter auf deine nette Art, ob sie – nun ja, ob sie mich lieben könnte! Willst du? Du musst mir ihr volles Ja nicht bringen, bewahre. Ein bisschen Hoffnung genügt durchaus zum Abschluss deiner Sendung.“ […] Sie hatten den Rohmbühel zu ihrer Linken gelassen und gingen durch das Fichtenwäldchen, das dahinter liegt, und von dessen Zweigen es tropfte. Dan schlugen sie den Weg am Rande des Dorfes ein, der sie zurückführte.
Ein und der andere Kätner und Bauer, dem sie begegneten, grüßte den langjährigen Gast der Schweigestills mit Namensnennung. Adrian und ich [Serenus Zeitblom] taten an jenem Nachmittag einen Gang um die Kuhmulde und zum Zionsberg [Hochzeit von Ursula Leverkühn]. Wir hatten zu reden über die Texteinrichtung von >Love’s Labour’s Lost<, die ich übernommen, und über die es schon viel Gespräch und Korrespondenz gegeben hatte.
Thomas Mann 1875 – 1955
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Tafel 10
Der Weiher [in Adrians Geburtsort Buchel] hieß „Kuhmulde“, wohl wegen seiner oblongen Gestalt und weil gern die Kühe an sein Ufer zur Tränke schritten, und hatte, ich weiß nicht warum, auffallend kaltes Wasser, so dass wir nur, wenn die Sonne sehr lange darauf gestanden, zu Nachmittagsstunden, darin baden durften. Den Hügel angehend, so war es bis zu ihm schon ein – gern unternommener – Spaziergang von eine halben Stunde. Die Anhöhe hieß, gewiss seit sehr alten Tagen, der „Zionsberg“ und war zur Winterszeit, die mich aber selten dort draußen sah, zum Rodeln gut. Im Sommer bot sie, mit dem Kranze schattender Ahorne auf ihrem Gipfel und der dort auf Gemeindekosten errichteten Ruhebank einen luftigen, übersichtlichen Aufenthalt. […] Der Schauplatz seiner späteren Tage war eine kuriose Nachahmung desjenigen seiner Frühzeit. Nicht genug, daß die Gegend von Pfeiffering […] einen mit einer Gemeindebank geschmückten Hügel aufwies, der allerdings nicht >Zionsberg<, sondern >Rohmbühel< hieß; nicht genug, daß auch, und zwar in zeimlich gleicher Entfernung vom Wirtshofe wie die Kuhmulde, ein Teich vorhanden war, hier der >Klammerweiher< geheißen und ebenfalls sehr kalten Wassers. Nein, auch Haus, Hof und Familienverhältnisse korrespondierten schlagend mit denen von Buchel.
Thomas Mann 1875 – 1955
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Tafel 11
Als sie [Else Schweigestill] erfuhr, dass es sich um einen Schriftsteller [Rüdiger] und einen Musiker [Adrian] handelte, hob sie respektvoll die Brauen und meinte, das sei seltener und interessanter. Kunstmaler gebe es wie Gänseblumen. Die Herren seien ihr auch gleich recht ernst vorgekommen, wo doch die Kunstmaler meistens ein lockeresm sorgloses Völkchen seien, ohne viel Sinn für den Ernst des Lebens, – sie meine nicht den praktischen Ernst, das Geldverdienen und diese Dinge, sondern wenn sie Ernst sage, meine sie eher das Schwere des Lebens, seine dunklen Seiten. Übrigens wolle sie der Gattung der Kunstmaler nicht Unrecht tun, denn ihr Mieter von damals zum Beispiel, habe schon eine Ausnahme von der Vergnügtheit gemacht und sei ein stiller, verschlossener Mann gewesen, eher von schwerem Mut, – danach hätten ja auch seine Bilder, die Moorstimmungen und einsamen Waldwiesen im Nebel, ausgesehen.
Thomas Mann 1875 – 1955
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Tafel 12
Er [Nepomuk Schneidewein] brachte etwas wie Glückseligkeit, eine beständige und heitere Erwärmung der Herzen, nicht nur auf den Hof, sondern bis in das Dorf und bis nach Stadt Waldshut hinein, – whin immer die Schweigestills, Mutter und Tochter, begierig, sich mit ihm sehen zu lassen, des gleichen Entzückens überall gewärtig, ihn mit sich nahmen, damit er beim Apotheker, beim Krämer, beim Schuhmacher unter zauberhaftem Gestenspiel und mit ausdrucksvollst schleppender Betonung seine Verschen aufsage […] Der Pfarrer von Pfeiffering, vor dem er mit zusammengetanen Händen […] ein Gebet sprach, konnte in seiner Ergriffenheit nur sagen: „Ach, du Gottskindlein, du benedeites!“, streichelte ihm das Haar mit seiner weißen Priesterhand und schenkte ihm gleich ein buntes Bild des Lammes. Dem Lehrer wurde auch, wie er nachher sagte, „ganz anders“ im Gespräch mit ihm.
Thomas Mann 1875 – 1955
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Tafel 13
Der dickwandige Folterkeller, zu dem eine nichtswürdige, von Anbeginn dem Nichts verschworene Herrschaft Deutschland gemacht hatte, ist aufgebrochen, und offen liegt unsere Schmach vor den Augen der Welt, der fremden Kommisionen, denen diese unglaublichen Bilder nun allerorts vorgeführt werden, und die zu Hause berichten: Was sie gesehen, übertreffe an Scheußlichkeit alles, was menschliche Vorstellungskraft sich ausmalen könne. Ich sage: unsere Schmach. Denn ist es bloße Hypochondrie, sich zu sagen, dass alles Deutschtum, auch der deutsche Geist, der deutsche Gedanke, das deutsche Wort von dieser entehrenden Bloßstellung mitbetroffen und in tiefe Fragwürdigkeit gestürzt worden ist? […] Wann wird aus letzter Hoffnungslosigkeit, ein Wunder, das über den Glauben geht, das Licht der Hoffnung tragen? Ein einsamer Mann faltet seine Hände und spricht:
Gott sei eurer armen Seele gnädig, mein Freund, mein Vaterland.
– Ende –
Vielen Dank für
Ihren Besuch!
Bus 9601 zurück nach Weilheim, dort Regionalbahnverkehr Richtung München.
Buidln: Selber gemacht, 9. November 2021.
Soundtrack: Faustus: While Gamekeepers Lie Sleeping, aus: Death and Other Animals, 2016:
Und sie kannte keine Angst (Die Stadt mit den roten Ziegeldächern)
Update zu Saufspiele für Bücher-Geeks:
Eine waldige Vorstadtgegend. Ein Jahrzehnt dort. Dann das Jahr. Sieben ferne Freunde. Eine verschwundene Frau. Wer? Wer nicht? Wo? Wo nicht? Der Bahnhofsplatz mit dem Baum, worin die Vögel schlafen. Die Bar der Reisenden. Die Jahreszeiten. Die Pilze. Die Wanderarbeiter. Die Nachbarn. Die Grillen, Kriege, Vulkanausbruch, heiße Quellen. Ein Steinmetz aus dem Mittelalter. Ein kleinlicher Prophet. Das Kind namens Vladimir. Die Fabel vom Lärmmacher, der gesteinigt wird von den Ureinwohnern. Die blaue russische Kirche am Waldrand. Und dann das Wiedersehensfest mit den Freunden in einer Winterrauhnacht kurz vor dem neuen Jahr.
Klappentext, Suhrkamp 1994, a. a. O.
Es mag Boshaftere als mich geben, denen Peter Handke nicht als nobelpreisberechtigt, sondern als ausgemachter Dummbeutel gilt; weiter werde ich mich in meiner Einschätzung hüten zu gehen. Die Älteren erinnern sich an 1994, als Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten unbedingt 78 D-Mark – das waren einst, liebe Kinder, 39,88 Euro – kosten musste, mit des Künstlers Begründung: auf dass es eine nicht ganz leichthin zu leistende Geldaufwendung werde, die man nicht nebenher tätigt, sondern zu der sich der „Leser“ – sprich: Geldgeber – aufraffen muss und die lange, zumindest für die Lektüredauer der 1066 Seiten, spürbar bleibt. Von der Seitenschinderei auf dem Volumenpapier mit extrabreiten Rändern und einem Zeilenabstand, der einen regelmäßigen Schluckauf im Lesefluss verursacht, so offensichtlich, dass es schon wieder etwas Erfrischendes hat, wurde erst in den Taschenbuchausgaben, nun ja: Abstand genommen, die in einem handelsüblich zurechtgestutzten Schriftbild mit 628 Seiten auskommen. Unerfindlich, wie Handke zu Suhrkamp kommt und was die dazu treibt, auch noch Taschenbücher von ihm anzufertigen; normalerweise sind die bei denen nämlich ganz zurechnungsfähig.
Man muss Handke nicht erst in die Verirrungen zwischen den jugoslawischen Nachfolgestaaten hinterherstolpern, um sich die Summe für den Nobelpreis besser bei Amnesty untergebracht zu wünschen. Oder bei LichtBlick oder Strahlemännchen. Irgendwas halt. Immerhin soll er ein recht begabter Schwammerlsucher sein und, solange man sich außerhalb der Schlafenszeit von seinen Büchern fernhält, nicht weiter schädlich. Außer, er fängt wieder von Serbien an.
Heute sind wir Überglücklichen ja im Besitze des Google-Books: das gleiche, mit sterblichen Geistesmitteln nur mehr schwer fassbare Geschmier, speichersparender Weise nur in Auszügen als Leseprobe, und geldsparender Weise unter Umgehung der 78 oder 39,88 Steinchen.
Unter den ganzen kilometerlangen, zentnerschweren Schwurbeleien ohne Sinn, Ziel, Richtung oder Höhepunkt, die sich immer ausnehmen wie unter ihrem Widerstand zu einem „Roman“ zusammengepfercht, hat sich das Anlesen bei genau einer Stelle gelohnt. Vielleicht ist Handke genau darin gut, Frauen zu charakterisieren. Einige meiner besten Freund*innen und verzweifeltsten Widersacher*innen sind Frauen, darum fällt mir immer wieder angenehm auf, wenn jemand eine dieser weitgehend unerforschlichen Lebensformen souverän auf den Punkt bringen kann. Auf Handkes offizieller deutscher Domain — die nicht von dem geborenen Kärtner selbst betrieben wird, aber an die desinteressierten Leser ruhig einige Auskunft darüber verteilen dürfte, ob nicht doch alles satirisch oder postironisch oder aus einer verqueren österreichischen Art von Schmäh gemeint war — ist ja geradeso wenig zu wollen.
——— Peter Handke:
Die Geschichte der Frau
Auszug, aus: Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten,
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1994, Seite 545 bius 548:
[…] Und sie kannte keine Angst. Sooft ihr von einem Verängstigten erzählt wurde, bekam sie in ihrer Verständnislosigkeit Kuhaugen, und ihr Gesicht wurde schön dumm. Ebenso fremd war ihr jedes Mitgefühl, und einen Mitleidigen verachtete sie nicht, sondern war voll des Zorns auf ihn: War etwas auszurichten, hatte sie es schon gleich getan; wenn nicht, wurde des anderen Unglück von ihr übersehen.
Und sie war die, die für niemanden und nichts einen Namen hatte, und wenn, dann nicht den angestammten. Ihr Aussprechen dessen war eine solche Seltenheit, daß der Zuhörer dabei entweder eine Entzauberung spürte (die wohl zuerst die ihre war) oder einen an ihr ungewöhnlichen Ernst. Für sie hatte in der Regel aber nichts auf der Welt einen besonderen oder Eigen-Namen. „Dalmatien“, wo sie seit langem wohnte, durfte nicht so heißen, sondern „das Küstenland“ oder „das Felsküstenland“ (selbst „Karst“ war ihr schon zu speziell), und ebenso unmöglich waren „Distel“, „Wacholder“, „Tito“, „Ephesos“; es konnte über ihre Lippen nur Blume, Busch, Marschall, Stadt, vielleicht „Philosophenstadt“, kommen. Zwar wußte sie meist die jeweiligen Sondernamen, aber es war, als sparte sie diese sich auf, bis eben auch der Sonderfall einträte. Oder sie wollte die Namen, vor allem die Ortsnamen, vorerst gar nicht wissen; bei ihren Briefen waren die nur den Poststempeln zu entnehmen, und sie fragte höchstens lange im nachhinein den Empfänger, wie denn „das Lagunendorf mit den Zwergschildkröten“ heiße, wo sie damals im „Halbmondland“ eine Woche lang gewesen sei.
Am auffälligsten an ihrem Reden war freilich, daß sie dabei doch Namen verwendete, nur selbsterfundene, in der Form von Umschreibungen oder Bildern. So wie ihr „Gefäß“, „Fluß hinterm Berg“, Nadelbaum, der im Herbst die Nadeln verliert“ etwas von der Legende eines Kreuzworträtsels hatte, so kam ich auch immer wieder ins Raten darüber, was sie denn meinte mit ihrer „Frucht, nach der man gut schläft“, ihrem „Tag, an dem die Bäume mit den weißen Rinden neben der Haustür stehen“. ihrem „Stern mit dem Gürtel und darunter dem männlichen Geschlcht“. Maribor, wo sie geboren war, hieß für sie immer nur „Die Stadt mit den roten Ziegeldächern“ (obwohl das vielleicht längst nicht mehr zutraf), und die Drau, die dort breit wurde: „Der Fluß mit den rauchenden Eisschollen“, nur weil sie das einmal als Kind an einem einzigen Wintertag von der großen Brücke aus beobachtet hatte, bei einer Kälte, in der alles erstarrt schien bis auf die unter Gerumpel und Getöse dahingaloppierenden wilden mächtigen Schollen und den von ihnen aufsteigenden Frostrauch, vor dem sämtliche Brückenpassanten flüchteten, außer natürlich ihr.
Bilder: Ilyass T.: Red bridge? Panic Attack!, 7. Juli 2011;
Cover via Suhrkamp Verlag;
Barbara Klemm: Peter Handke 1993,
für Hubert Spiegel: Popstar, Prophet, Provokateur, Frankfurter Allgemeine Zeitung 11. Oktober 2019;
Jernej Furman: Frozen river Drava in Maribor, 13. Januar 2017;
Boris Mittendorfer Photography: Old bridge details .:: HDR ::., 20. März 2010:
Old bridge in Maribor. Wonderful old school bridge building, beams construction is riveted all together.
Fast-kein-Sound-Track. Siniša Zelič: Streets in Maribor (Slovenia) at winter, 30. Januar 2014. Die knapp zehn Minuten sind alles andere denn ein Reißer, aber genau von der stillen, eigenständigen bis skurrilen Schönheit, die man sich in einem ruhigen Moment gerne mal im Vollbild auf einem anständigen Monitor antun darf: Das gleicht der ASMR, das ich zur aktiven Ausübung so warm empfehle wie zur passiven Aufnahme, durch die zweitgrößte Stadt, in der Sie bestimmt, was keine Schande ist, so wenig waren wie die meisten, die nicht hin müssen, eines Landes, das ständig mit der Slowakei und Slawonien verwechselt wird, und bringt frisches Blut in die YouTube-Empfehlungen. So langweilig wie Handke kann’s gar nicht werden.
Immer noch wach? Dann noch als
Trost-Soundtrack: Steph „Carver Baronda“ Green: Thanks for That, aus: Thanks for That,
seit 14. Januar 2022 bei Mashed Potato Records:
Frankonachten 4/5: Es ist alles noch in Dir
Update zu 3. Stattvent: Sie haben kein Geld nicht besessen:
Weihnachten ist ja immer auch was mit Heimat. Bei mir ist das Franken, eine kulturelle und historische Landschaft, die mich nie ganz in Ruhe lassen wird.
In Erlangen zum Beispiel, kreisfreie und Universitätsstadt, einem populären Gerücht zufolge erbaut auf dem Firmenparkplatz von Siemens, hab ich studiert; lange Geschichte. Das Beste, was mir dabei passiert ist, war meine Lieblingsbuchhändlerin Annemarie; lebt auch schon nicht mehr. Die gab mir nicht nur unter der Ladentheke die 40 % Buchhandelsrabatt weiter, soff manche Nacht mit mir durch, und zwar mehr als ich, und machte mir mit ihrer unschlagbaren Logik klar, warum sich richtige Damen, die auf sich halten, die Zehennägel in dem extraschweren Dunkelrot von Margaret Astor lackieren müssen (soll ich’s sagen? –: weil man damit viel ausdrucksvollere Grimassen mit den Füßen schneiden kann. Und jawohl, mein Lieber: auch im Winter. Gerade im Winter, aber „des verstehst du ned“), und warum ich mein Studium sehr wohl noch abschließen würde (soll ich’s sagen? –: „Weil du musst!“), sondern brachte auch einmal einen schmalen, mittig gefalzten Stapel Fotokopien an: Die Harmonie der Welt. Lyrik eines Landstreichers, die sie einem Sandler am Hugo abgekauft haben wollte.
Soviel man über das Geschäftsgebaren des Künstlers weiß, der immer nur „einen Taler vielleicht“ verlangte, „was es dir wert ist“ oder dergleichen, und über den Eigentumsbegriff von Annemarie, die sich mit 31 Jahren an die Welt verschenkt hatte, schätze ich sie auf fünf Mark.
Man weiß nicht viel über den Dichter. Annemarie beschrieb ihn als eine Art Mischung aus Jean Pütz und dem Glücksdrachen Fuchur. Selber gesehen hab ich ihn nur flüchtig, weil er am Hugo seinen Platz auf der anderen Seite einnahm, als auf der ich am Bahnhof zum Gleis 4 musste. Das von Annemarie vermittelte Buch in seiner Gestalt nicht aus einem Verlag, sondern einem Kopierladen hab ich noch.
Geboren wurde er nach manchen Quellen 1931, nach anderen 1923, war Schriftsetzer in der DDR, obdachlos freiwillig, tot aufgefunden wurde er 2009 in Luzern, die wenigen Augenzeugenberichte über ihn finden sich verstreut – Anlaufstellen sind Wilhelm Klingholz und der Zenartblog – und äußern sich durchgehend tief beeindruckt. Beispiele:
Im März 1996 lief ich durch die Fußgängerzone in Mannheim, als ich ihn sitzen sah: einen Landstreicher mit einem Hut vor sich und einem Heft, das er selbst kopiert hatte, darauf stand:
„Die Harmonie der Welt“.
Ich fragte ihn, wieviel das Büchlein kosten würde.
„Soviel es Dir wert ist.“
Im Gegensatz zu den Menschenmassen um mich herum machte dieser Mensch einen sehr ruhigen und zufriedenen Eindruck. Er war einer der wenigen Landstreicher, die ich sah, von dem ich glaubte, daß er seinen Weg selbst gewählt hatte.
Zuhause las ich ein wenig in dem Werk, es erinnerte mich ein wenig an Lao-Tse. Ich zeigte es ein paar Freunden, denen die Texte auch auch gefielen.
Aber noch mehr als seine Lyrik hatte mich die Ausstrahlung des Mannes beeindruckt. Als ich erfuhr, daß er das Honorar seines Werkes für Straßenkinder Nepals spendete, wunderte mich das nicht. Denn mir war von Anfang an klar:
dieser Mensch lebt seine Lyrik!Amazon Customer: Eine Begegnung, die mich nachdenklich machte,
Kundenrezension auf Amazon.de, 4. Juni 2003.
Vor vielen Jahren hielt ich im Ulmer Buchladen Eichhorn einen Vortrag. Zuvor machte ich einen Stadtbummel und schlenderte am Rand des Münsterplatzes an Geschäften entlang. Plötzlich sah ich einen Rucksack und davor einige Hefte und einen Hut liegen. „Lyrik eines Landstreichers“ las ich auf der Titelseite, hob ein Heft auf und blätterte darin. Da hatte sich ein Obdachloser alles von der Seele geschrieben, intensive persönliche Gedanken und Erfahrungen. Ich legte das Heft zurück und als ich weitergehen wollte, sah mich ein Ehepaar enttäuscht an: „Wir dachten Sie sind der Landstreicher!“ Ich schüttelte den Kopf und ging in Richtung Fußgängerzone. Auf dem Rückweg sah ich, wie ein grauhaariger älterer Mann den Rucksack schultert und in Richtung Münster geht. Ich eile ihm nach, in einer gewissen Neugierde, und spreche ihn an: „Als ich vorhin Ihre Lyrik las, da wurde ich mit Ihnen verwechselt, da dachten andere Menschen, ich sei der Landstreicher.“ Nur kurz dreht er den Kopf und sagt im Laufen. „Das war keine Verwechslung!“ Mir bleibt nur die Verblüffung und ein befreiendes Lachen. […]
Nachtrag:
Monate später sehe ich im Schweizer Fernsehen, daß ein Berner Verlag den Landstreicher sucht, da dieser dessen Lyrik in einem Büchlein verlegt und bereits über sechshundert davon verkauft hat. Ihm stehen die Tantiemen zu. […]Dieser „Landstreicher“, ein ehemaliger Schriftsetzer aus der DDR, der alles zurückgelassen hat, nur mit Rucksack und Fahrrad durch Europa radelt, ist für mich ein heute lebender Laotse. Denn seine Lyrik geht tief und beschreibt in einfachen Gedanken das unfassbare. […]
P. Burger: Sehr empfehlenswert !!, Kundenrezension auf Amazon.de, 13. September 2014.
Uwe Schade ist mehr als die Hälfte seines Lebens als Landstreicher durch viele Länder der Erde gewandert. Die „Harmonie der Welt“ schrieb er als EIN Gedicht. Es entstand nach eigenen Angaben in wenigen Stunden ohne ein einziges Wort nachtäglicher Korrektur. Es ist sein Vermächtnis. Der Autor ist 2009 verstorben. Seine Lebensweisheiten aus einem langen, unsteten – aber reichen – Leben hat er in diesem Büchlein in knappen Sätzen zusammengefasst.
Verlagstext Schillinger Verlag, Freiburg im Breisgau 2001.
Wann genau er seine einzige bekannt gewordene Gedichtsammlung, die sich als ein einziges Gedicht versteht, „in wenigen Stunden ohne ein einziges Wort nachtäglicher Korrektur“ geschrieben hat, ist nicht zu rekonstruieren – offenbar schon nicht mehr im Status eines Schriftsetzers, aber mit wenigstens einigen Stunden Zugang zu einer mechanischen Schreibmaschine. Wenn er seine Obdachlosigkeit, wie wir anhand seines besonders friedliebenden Charakters annehmen dürfen, nicht als „Republikflüchtling“, sondern ganz ordentlich nach Grenzöffnung der DDR aufgenommen hat, um all die Länder aufzusuchen, die ihm als DDR-Bürger verschlossen waren, mag er sein kurzes, anrührendes Vermächtnis um 1990 niedergeschrieben haben, um es gelegentlich zum Verkauf zu kopieren und unverändert bis zu seinem Tod 2009 zu ihm zu stehen. Mein Exemplar, das im Herbst oder Winter 1992 entstanden sein muss, entstammte demnach einer recht frühen Auflage.
Das muss im schneetreibenden Wintersemester 1992/1993 gewesen sein. Bis heute habe ich Annemarie im Verdacht, Herrn Schade am Heiligabend 1992 bei sich zu Hause im unweit gelegenen (Bus 294) Spardorf beherbergt zu haben, an den wenigen Heiligen Abenden, die wir uns kannten, war sie sowieso nie für mich ansprechbar. Ich selber nutzte die Tage „zwischen den Jahren“, um für den Sprachatlas von Mittelfranken ein paar Ortsbefragungen wegzucodieren – wozu hatte ich wohl sonst die Schlüssel? – und mir hinterher in meiner bevorzugten Erlanger Gastronomie das eine oder andere Bier in den Kopf zu stellen. Wenn ich hinterher zum letzten Zug von Gleis 4 strebte, war der Landstreicher samt seiner Lyrik schon verschwunden, ebenso beim nächsten Tageslicht. Annemarie, befragt, meinte dazu:
„Seh ich aus, als ob ich Männer mit nach Hause nehm?“
„Die Frage ist“, sagte ich, „wie die Männer aussehen.“
Sie lachte ob der rhetorischen Figur und dachte nach, um zu befinden:
„Depp.“
Genauer werden wir es aufgrund des Ablebens aller Beteiligten und komplett fehlender Dokumentationslage nie erfahren. Deshalb dürfen wir davon ausgehen, dass es stimmt. Was auch vollständig in Ordnung ist, denn wohin es führt, wenn Herbergssuchende am Heiligen Abend ständig nur abgewiesen werden, haben wir zur Genüge erlebt. Warum soll da nicht einmal eine mildtätige Maria einem streunenden Josef ein Essen ausgeben?
Was das mit Weihnacht in Franken, Christkindlesmarkt, Zwetschgamännla, Drei in amm Wegglä und besinnlichen Adventsliedern vom Hutzeldorfer Viergsang zu tun hat? Ach Gott, „Einst war in Deinem Fühlen die ganze Welt // Hast Du sie weggeschmissen ?“
——— Uwe Schade:
Die Harmonie der Welt
Lyrik eines Landstreichers
o. J., in wenigen Stunden ohne Korrektur, Schillinger Verlag, Freiburg im Breisgau 2001:
01
Dein Schicksal überrascht Dich nicht
Denn Du bist Dein Schicksal
Deine Begegnungen wundern Dich nicht
Denn Du bist nicht getrennt von ihnen
Dein Tod schreckt Dich nicht
Denn Du bist tausendmal gestorben .Deine Bewegungen sind die Bewegungen der Welt
Deine Verwandlungen sind die Verwandlungen der Welt
Dein Stillstehen ist nur ein Schein
Dein Sterben ist nur ein Wort .Du meinst Du seiest etwas Bestimmtes
Doch Du bist eine Welle im Weltenmeer
Du meinst Du seiest selbstständig
Doch Du bist der Treffpunkt von hunderttausend Kräften
Du meinst Du kannst Dich lenken
Weil Du nicht siehst was Dich zieht und treibt
Du meinst Du müßtest etwas tun
Doch Deine Anstrengung ist nur Widerstand .~~~\~~~~~~~/~~~
02
Hast Du Schmerzen, lauf nicht davon
Hast Du Hoffnungen, halt sie nicht fest
Suchst Du die Freiheit, bindet Dein Suchen Dich
Ergreifst Du das Gute, ist Dein Greifen das Böse .Weil Du unglücklich bist, strebst Du
Weil Du Angst hast, denkst Du
Doch Dein Streben wird kein Glück
Dein Denken wird keine Ruhe .Du suchst eine Zuflucht
Doch es gibt keinen Schutz
Du suchst einen Ausweg
Doch es gibt keine Öffnung .In Deiner Rede reden tausend Menschen
In deinem Gang gehen Lurche und Pferd
Aus Deinen Augen blicken Vogel und Reh
Deiner Hände Greifen ist das Greifen der Steinzeitmenschen .~~~\~~~~~~~/~~~
03
Dein Fühlen ist Wahrheit
Dein Vorstellen ist Schein
Du jagst nach dem Schein
Und die Wahrheit verfolgt Dich .Du hast Schmerz an der Welt
Und suchst Trost im Vergnügen –
Sie schnitten mit Messern durch Deine Seele
Und trösteten Dich mit Süßigkeiten .Deine Augen machen aus tausend Strahlen eine Farbe
Deine Ohren machen aus tausend Schwingungen einen Ton
Deine Hände fühlen in tausend Bewegungen einen Körper
Dein Denken macht aus tausend Wahrnehmungen eine Idee .Dein Wahrnehmen ist gefilterte Welt
Dein Denken ist gefilterte Wahrnehmung
Dein Streben ist gefiltertes Denken –
Was ist es, das Du da greifst ?~~~\~~~~~~~/~~~
04
Des kreisenden Vogels Spähen gilt nur der Beute
Des Rehes Lauschen gilt nur der Gefahr
Des Hundes Schnüffeln gilt nur den Reizen
Deiner Gedanken Umherlaufen gilt nur der Befriedigung .Du gehst zu den Lustigen
Doch ihr Lachen ist ohne Freude
Du suchst den Reichtum
Doch er lastet auf Deiner Seele
Du suchst den Erfolg
Doch der Glanz blendet Dich
Du gehst zu den Weisen
Doch ihre Weisheiten sind Gefäße ohne Böden
Du rufst Deinen Gott
Und hörst nur Dein Echo
Du fliehst die Stille
Doch Dein Schreien will niemand hören
Du suchst den Tod
Doch Dein Suchen ist das Leben –
Was Du suchst, erreichst Du nicht
Was Du fliehst, verläßt Dich nicht .~~~\~~~~~~~/~~~
05
Ist jeder Halt zerbrochen
Fällst Du nicht um
Ist jedes Haus zerstört
Fällt Dich nichts an
Ist jeder Wunsch vergiftet
Reißt Dich nichts fort
Ist Alles verloren
Kommt die Welt zu Dir .Die Welt ist offen
Du suchst zu schließen
Die Welt ist verbunden
Du suchst zu trennen
Die Welt ist Verwandlung
Du versuchst die Form .In Deiner Mitte fühlst Du die Welt
Mit Deinen Sinnen veränderst Du die Welt
Mit Deinem Denken fliehst Du die Welt
In Deinem Streben zerstörst Du die Welt .~~~\~~~~~~~/~~~
06
Du zwingst die Stoffe in Deine Form
Doch sie zerfallen
Du zwingst Deine Kinder in Deine Form
Doch sie wenden sich gegen Dich
Du zwingst die Gesellschaft in Deine Form
Doch Menschen werden das nicht
Du zwingst Dich selber in Deine Form
Und sie zerbricht Dich .Die Strahlen der Welt durchdringen Dich
Die Schwingungen der Welt erschüttern Dich
Die Kräfte der Welt bewegen Dich –
Dein Reden von Freiheit betrügt Dich .Du redest von Freiheit
Und Dein Motiv ist Zwang
Du redest von Sicherheit
Weil Du sie suchst
Du redest von Unabhängigkeit
Und wartest auf Beifall –Du kannst nichts Böses tun
Denn Du bist die Konstellation
Von hunderttausend Konstellationen .~~~\~~~~~~~/~~~
07
Du hast den Mut in den Weltraum zu fliegen
Doch Du zitterst vor Gespenstern
Du beherrschst Atome und Raketen
Doch Dein Denken beherrscht sich nicht
Du ordnest das Leben von Völkern
Doch Deine Gedanken ordnen sich nicht
Du verfügst den Tod anderer Menschen
Und weißt nicht ob Du nicht an Dir selbst zerbrichst .Die Mechanik Deiner Logik täuscht Dich
Lebendiges bewegt sich nicht gradlinig
Materie bewegt sich nicht beziehungslos
Kannst Du ungradlinige Bewegung verstehen
Kannst Du allseitigen Bezug sehen
Ist die Mechanik Deiner Logik zu Ende .Du bewahrst Deine Täuschung
Und erlebst Deine Macht
Du bewahrst Illusion –
Und fühlst Deine Ohnmacht .~~~\~~~~~~~/~~~
08
Du redest von Fortschritt
Und bewegst Dich auf der Stelle
Du machst Revolutionen
Und wiederholst die Unterdrückung
Du glaubst an das Neue
Und Dein Denken orientiert sich beim Alten
Du strebst nach vorn
Und schaust nach hinten .Dein Lebensbaum erhebt sich aus dem Dunkel der Welt
Du schaust Deine Krone an
Und fühlst Deine Wurzeln
Zwischen beiden spannt sich Dein Leben –
Du hängst an dem einen
Und meidest das andere .~~~\~~~~~~~/~~~
09
Willst Du in der Welt ruhen
Mußt Du den Geschmack der Welt lieben
Willst Du den Geschmack der Welt lieben
Mußt Du ihn kennenlernen
Willst Du ihn kennenlernen
Mußt Du feinfühlig werden
Willst Du feinfühlig werden
Mußt Du allen Widerstand aufgeben
Willst Du allen Widerstand aufgeben
Mußt Du auf dem Fleck sitzenbleiben
Mußt stehenbleiben, wo Du stehst –
Das Festgehaltene weicht von Dir
Das Unterdrückte gesellt sich zu Dir
Dein Ich stirbt tausend Tode
Die Welt wird in Dir geboren .In Deinem Widerstehen spannt sich die Welt
In Deinem Streben erhebt sich die Welt
In Deinem Wirken verwandelt sich die Welt
In Deinem Sterben entspannt sich die WeltIn Spannung und Entspannung erklingt
Die Harmonie der Welt .~~~\~~~~~~~/~~~
10
Du greifst nach Reichtum und verurteilst die Diebe
In beidem wirkt Dein Widerstand
In beidem wirkt die Spannung der Welt
Du baust Atombomben und verfluchst ihre Wirkung
In beidem wirkt Dein Widerstand
In beidem wirkt die Spannung der Welt
Du baust eine Welt und hast Angst vor Zerstörung
In beidem wirkt Dein Widerstand
In beidem wirkt die Spannung der Welt
In Dir erhebt sich ein Ich und sucht sein Heil
In beidem wirkt Widerstand und die Spannung der Welt .Das Böse ist nur ein Schein
Im Spiegel Deiner Moralen
Zerstörung ist nur ein Schein
Im Spiegel Deines Formens
Verlieren ist nur ein Schein
Im Spiegel Deines Ergreifens
Dein Weilen ist nur ein Schein
Im Fluss der ewigen Begegnung .~~~\~~~~~~~/~~~
11
Die Arbeit Deiner Sinne ist Ergreifen und Widerstand
Drum entstehen Schönes und Häßliches
Wohlklang und Mißklang, Schmackhaftes und Schmackloses
Die Arbeit Deines Denkens ist Ergreifen und Widerstand
Drum entstehen Verstehen und Nichtverstehen .Dein Lieben ist Nichtergreifen
Dein Sterben ist Nichtergreifen
Dein Weltoffensein ist Nichtergreifen –
Diesem gilt Deine verborgene Sehnsucht .Deine Zellen sind permanenter Austausch
Dein Blut ist permanenter Fluss
Dein Hirn ist permanente Reaktion
Deine Idee ist der Versuch, alles anzuhalten .Die Basis Deines Ideenturmes ist Dein Widerstand
Die Steine Deines Ideenturmes sind Deine Vorstellungen
Der Mörtel ist Dein Ergreifen
Die Spitze ist Dein ICH .~~~\~~~~~~~/~~~
12
In Deinem Spiel erscheinen Möglichkeiten
Dein Denken erkennt diese Möglichkeiten
Dein Streben ergreift diese Möglichkeiten
Dein Leben wird abhängig von diesen Möglichkeiten .Deine Gedanken ruhen sich aus
Wenn sie von einem Buch geführt werden
Wenn sie von einem Spiel amüsiert werden
Wenn sie in einer Aufgabe diszipliniert werden
Wenn sie in einen Traum entlassen werden
Deine Gedanken ruhen sich aus
Wenn sie von Dir nicht festgehalten werden .Wenn das Leben an sich selber leidet
Heilt sich das Leben
Schiebt sich eine Vorstellung dazwischen
Bleibt Dein Leiden steril .~~~\~~~~~~~/~~~
13
Du willst Deinen Schmerz nicht sehen
Denn Du schaust lieber die Heilmittel an
Du wagst Deine Qual nicht zu bekennen
Denn Du meinst Du müßtest ihr Meister sein
Du wagst nicht, Deinen Gott zu verfluchen
Denn Du denkst er müßte Dein Ebenbild sein
Du willst nicht zur Wurzel gehen
Denn dort bist Du klein .Du sagst Du magst dieses Essen nicht
Es ist Dein Geschmack den Du nicht magst
Du sagst Du magst dieses Wetter nicht
Es ist Deine Erwartung die Du nicht magst
Du sagst Du magst diese Gesellschaft nicht
Es ist Deine Anschauung die Du nicht magst
Du sagst, wenn Du es wagst, Du magst diese Welt nicht
Es ist der Geschmack von Dir selber, den Du dann wahrnimmst .Du meinst Du kannst wie ein Kindlein bleiben
Daß Du das denkst, zeigt, daß Du es nicht bist
Du meinst Du kannst ohne Ideen bleiben
Was Du da denkst, ist eine Idee
Du meinst Du kannst ohne Absturz bleiben
Wenn DU das hoffst, ist er Dir nahe .~~~\~~~~~~~/~~~
14
In Deinem Leib entwickelt das Lebendige Härte
Um, zerbrechend, heimzukehren in die Verwandlung
In Deinen Ideen entwickelt das Lebendige Verirrung
Um, zerbrechend, heimzukehren in die Wahrheit
In der Menschheit entwickelt das Lebendige Brutalität
Um, zerbrechend, heimzukehren in die Schönheit .Du mußt gewaltig irren
Um die Wahrheit tief zu erfahren
Du mußt gewaltig triumphieren
Um Deine Nichtigkeit zu erfahren –
Glaubst Du, Du kannst eines Menschen Weg abkürzen ?Du rückst die Stoffe zurecht
Und Deine Mühe nimmt kein Ende
Du rückst die Kreaturen zurecht
Und Dein Töten nimmt kein Ende
Du rückst die Welt zurecht
Und die Zerstörung kommt auf Dich zurück.
Kannst Du ein Spinnennetz nachmachen ?~~~\~~~~~~~/~~~
15
So, wie Du diesen Augenblick erlebst
Will das Lebendige in Dir den Augenblick erleben
So, wie die Menschheit diesen Augenblick erlebt
Will das Lebendige in der Menschheit sich erleben .Verdammst Du einen Gedanken in Dir
Verdammst Du eine Lebende Zelle
Verfluchst Du ein Gefühl in Dir
Verfluchst Du lebendiges Blut
Verurteilst Du einen Schuldigen
Dann verurteilst Du einen Menschen
In dem Dein Gedanke Fleisch und Dein Gefühl Blut wurden .Deine Häuser sperren Dich ein
Dein Wissen kettet Dich an
Deine Wünsche zerren Dich umher
Doch Leben ist Bewegung aus sich selbst
Dein Atem wird nicht von Dir gemacht
Dein Feuer wird nicht von Dir entfacht
Dein Wirken wird nicht von Dir verursacht
Denn Leben ist Bewegung aus sich selbst .~~~\~~~~~~~/~~~
16
Mal zerschlägst Du den Stein
Mal zerschlägt er Dich
Du siehst Deine Farbe aus dem übrigen Grau hervorstechen
Doch unterschiedlos ist der Allzusammenhang .Wird Lebendiges gereizt
Wächst Widerstand oder Begehren
Werden Menschen gereizt
Wächst das Ich
Ist das Ich stark
Ist die Blindheit groß
Und die Zerstörung nimmt kein Ende.
Drum mußten die, die Menschen verändern wollten
Vor ihnen fliehen
Drum wurden die Worte derer,
Die den Menschen etwas Gutes verhießen
Die Quelle endloser Zerstörung –
Weil das Ich gestärkt wurde .Hast Du etwas im Auge, sieht Dein Auge nicht klar
Hast Du Dein Denken gebunden, ist es unbeweglich
Ist Dein Ich stark
Ist Deine Orientierung schwach .~~~\~~~~~~~/~~~
17
Die Gnade Deiner Krankheit ist
Daß sie Dich Dein Kranksein nicht sehen läßt
So bleibt Dir großer Schmerz erspart
Der Fluch Deiner Krankheit ist
Daß sie Dich Dein Kranksein nicht sehen läßt
So bleibt Dein Kranksein bewahrt.
Doch wenn Lebendiges an sich selbst leidet
Geht es aus allem heraus .Entsteht in Deiner Mitte das Gefühl von Mangel
Bewirkt es an Deinen Rändern Ergreifen
Die Augen suchen reizvolle Bilder
Die Ohren reizvollen Klang
Der Gaumen reizvollen Geschmack
In Deinem Denken entstehen reizvolle Vorstellungen.
Bleibst Du in der Mitte
Erfüllt sie sich selbst .Binden leibliche Freuden Dich
Wird in leiblichen Freuden Lebendiges sich entspannen
Binden Worte und Bücher Dich
Wird im Gebrauch von Worten Lebendiges sich entspannen
Binden Mystik und Glauben Dich
Wird in Mystik und Glauben Lebendiges sich entspannen
Binden hoch und niedrig Dich
Wird im Höherstreben Lebendiges sich entspannen
Will Dir jemand Deine Fesseln abnehmen
Wirst Du Dich zur Wehr setzen
Niemand ist gern seines Erlösungsmediums beraubt.
Doch will Lebendiges sich befreien
So wird es geschehen –
Du aber kannst das Atmen Deiner Seele nicht verändern .~~~\~~~~~~~/~~~
18
Es ist so schwer
Aus dem Schein der Macht
Hinabzusteigen in die Wahrheit der Ohnmacht
Du bist süchtig wie ein Moskito
Der für einen Tropfen Blut alles riskiert
Du bist geblendet, weil Du sagen kannst
„Es werde Licht“, wenn Du den Schalter betätigst
Du eroberst die höchsten Gipfel
Doch Deine Triumphe werden durch Deine Finger rinnen
Und das Tal der Schmerzen wartet auf Dich
Denn, schau, leicht ist Dein Nichtsein zu erkennen :Tag und Nacht
Aufstieg und Abstieg
Wachsen und Zerfallen sind Reaktionen
Hunger Frieren Angst sind Reaktionen
Sehen Fühlen Erkennen sind Reaktionen
Verstehen und Nichtverstehen
Sich Zuwenden und Abwenden
Sich Öffnen und Verschließen sind Reaktionen
Verschlingen und Ausscheiden
Gnade und Fluch
Verfinsterung und Erleuchtung sind ReaktionenDu aber bist dieses alles .
~~~\~~~~~~~/~~~
19
Lebendiges erlebt den Schein der Form
In wiederkehrender Bewegung
Im Zyklus vollzieht sich Gebären
Im Zyklus vollzieht sich Ernähren
Im Zyklus erlebt es die Seligkeit des In-der-Welt-Seins
Doch nichts wiederholt sich.
Der Zwang zur Wiederkehr ist in allem Deinen Tun –
Und leicht geraten die Kreise steril .Zu wiederkehrender Bewegung
Organisiert sich die Materie
Um in Spannung zu erleben
Die eigene Bewegungsform
Das eigene Kreisen
Aus mystischer Energie.
Den Rhythmus zu wahren
Ist des Vitalen Interesse
Die Zerstörung des Rhythmus‘
Erlebt es als Tod –Wenn der Rhythmus Deiner sterilen Kreise gestört wird
Zerbrechen sie
Und Du erfährst die Gnade des Sterbens .~~~\~~~~~~~/~~~
20
Als Störung wirkt das Neue
In den Kreisen Deiner Gedanken
Als Störung wirkt das Neue
Auf die Richtung Deines Gehens
Als Störung wirkt das Neue
In das Verhängnis Deines Strebens –
Die Welt holt das Verirrende zurück.
Du aber kannst das Tor zur Freiheit nicht sehen .Einst sahest Du ein Land von namenloser Schönheit
Hast Du das vergessen ?
Einst kam Dein Tun aus der Quelle der Unschuld
Hast Du das vergessen ?
Einst war in Deinem Fühlen die ganze Welt
Hast Du sie weggeschmissen ?Es ist alles noch in Dir .
Bilder: Wilhelm „Nitya“ Klingholz: Die Harmonie der Welt, 17. September 2015;
Cover Lokwort Buchverlag, Bern 1999,
danach Schillinger Verlag, Freiburg im Breisgau 2001.
Soundtrack: Die schönste von allen bekannten Tausenden Versionen Stille Nacht ist zweifellos eine englische – Silent Night –, nämlich die von die von Tom Waits. Sie ist nie auf einer Original-CD von ihm erschienen, insofern eine Rarität, nur auf SOS United, 1989 – eine Stiftung von Tom Waits für die SOS-Kinderdörfer. Der teilhabende Kinderchor bleibt unbekannt, weil ungenannt.
Im Video: Correggio: Anbetung der Hirten, 1530 (Detail); Tintoretto, 1545 oder 1578; Gerrit van Honthorst, 1622 oder 1646.
Bonus Track: Tom Waits: Innocent When You Dream (Barroom), aus: Franks Wild Years, 1987,
für Paul Auster/Wayne Wang: Smoke, 1995:
Frankonachten 3/5: Und schuld dran war die Ofenhitz
Update zu Willkomm und dervoo,
Jean Paul, sein erster Kuss, meine Bedienung und ich,
In dich hoff ich ganz festiklich,
So eine Art Käse-Cocktail oder Mehl-Flip
und Zwetschgenzeit (zu spät):
Weihnachten ist ja immer auch was mit Heimat. Bei mir ist das Franken, eine kulturelle und historische Landschaft, die mich nie ganz in Ruhe lassen wird.
Aber weh und ach, man tut sich mancherorts a weng arch, was bedeutet: in besonderem Maße, hart mit der Heimatliebe. Vor allem in Franken, wo man ein Wort wie „Heimatliebe“ nicht einmal aussprechen kann. Das ist eine körperliche Tatsache, allenfalls Hinschreiben funktioniert bei manchen, also ich könnt’s nicht. Alle drei Regierungsbezirke, die ja erst der Napoleon 1806 bayerisch und teilweise katholisch gemacht hat, sind eine karge Gegend, in denen der menschliche Mund als Organ des Inputs, nicht des Outputs seinen Gebrauch finden muss; seitdem sind die Franken innerhalb ihrer zugewiesenen politischen Heimat „eine Art Preußen mit mildernden Umständen“ (cit. Günter Stössel: Frankensong, 1979). Was erwartet man auch von einem Menschenschlag, unter dem ein Bündnis gegen Depression e.V. zur landkreisweiten Überraschung erst aus einer Aufklärungskampagne über die eigene Volksseele entstehen muss. Dass es als gemeinnütziger Verein im Südnürnberger Klinikum fortgeführt wird – hinter Langwasser draußen, wer’s kennt –, ist schön und nützlich wie nur was, war aber nicht abzusehen bei einem Volksstamm, bei dem Scheitern zur Folklore gehört. Als Beispiel: „Das war eine ganz vorzügliche Mahlzeit“ heißt auf Fränkisch: „Scho schlimmer gschbeid.“
Der Volksschullehrer Franz Bauer nun lebt im Stadt- und Landnürnberger kollektiven Gedächtnis fort mit seinem Gedicht über die weihnachtliche Begebenheit mit einer Christbaumspitze, das als seine Lebensleistung herhalten muss. Das ist mehr als die meisten von uns vorweisen können, aber zu kurz gesprungen. Bauers nachweisbare Produktion von Dialektlyrik setzt in der schweren bösen Zeit 1936 ein (Zammkratzi. Das sind allerlei Verse in der schönen Nürnberger Mundart), von etwas wie Schreibverbot oder innerer Emigration weiß man nichts. Was bei anderen Literaten ideologischen Verdacht erregen müsste, ist bei dem Herrn Lehrer, Dichter und Heimatkundler noch kein gültiger Ausweis der unbotmäßigen Affirmation, weil sein Gegenstand allzu mehrheitsfähig und harmlos daherkommt. So reißt seine lyrische Produktion auch bis 1962 nicht ab (Lachkabinettla. Gedichtla und Gschichtla in Nürnberger Mundart.).
Noch vor der beschaulichen Lyrik, im Jahre der „Machtergreifung“ 1933, hat Bauer Alt-Nürnberg: Sagen, Geschichten und Legenden zum Druck befördert – eine reichhaltige Sammlung von Begeben- und Gegebenheiten, die Nürnberg zu dem gemacht haben, was es bald nicht mehr ist, ideologisch unverdächtig und ungebrochen ein zuverlässiger Hausschatz.
Überhaupt hat sich der Rektor Bauer um die Nürnberger Heimatkunde in Lach- und Sachliteratur recht verdient gemacht: Es gibt themengebundene Mythologie, Mundarttheater, dem Jugendbildner angemessene Kinderbücher und – was man in der Franconica-Ecke außer den Regionalkrimis bis heute gern ausliegen sieht –: die Mundartlyrik in ausgesprochen schmuck broschierten Bänden – eins der Verdienste der Nürnberger Buchhandlung, damals noch inhabergeführter Verlag Edelmann, die sich seit 2004 bloß noch im verfeindeten Fürth ein bissel rudimentär dahinfrettet. Was uns sagt: Gerade die epigonalen Paarreimereien, die einen schwankhaften, leicht brachialen Humor bedienen, bedeuten generationenübergreifend den meisten Leuten immer noch was.
Im Gegensatz zu allen anderen auffindbaren Stellen im großen weiten Internet bringe ich die zeichengenau abgetippte Version von der Christbaumspitz nach der 9. Auflage von Betthupferla 1982, einschließlich des eindeutigen Druckfehlers einer ungeschlossenen Anführung und einiger mundartlicher Fragwürdigkeitkeiten, soweit ich sie als Native Speaker beurteilen kann und unter leisem innerem Sträuben stehen lassen muss: So nachsichtig ich mich auf der phonetischen Ebene zu zeigen geneigt bin, weil sich der oberostfränkische Lautstand seit 1955 pro Generation ein paarmal über den Haufen gewandelt haben wird, so sicher bin ich doch, dass auf grammatischer Ebene weder anno 1455 noch 1955 die Hilfsverben einer „Umschreibung mit to do“ – Nürnberger Mundart: Lemma tun, von Bauer verwendet als tout – unterliegen, auch nicht in der Verlaufsform in einem vorzeitigen Zeitverhältnis, oder anders: Eine Bildung „walls pressiert habn tout“ gibt’s nicht, hat’s nie gegeben und wird auch nix mehr. Nicht das einzig mögliche Beispiel. Und wenn ich schon diachronisch werden soll, fang ich von der phonetischen Transkription des historisch gewordenen Lautstands eines weiterhin quicklebendigen sprachlichen Subsystems vorsichtshalber gar nicht erst an.
Da seht ihr schon, eine zuverlässige Wiedergabe ist seit 1955 endlich mal fällig. Dass ich das tun kann, hat mich 3 Euro 60 einschließlich Porto für ein Korrekturexemplar gekostet. So bin ich zu euch.
Die künstlerischen Unzulänglichkeiten liegen auf der Hand, sie eigens zur Beleuchtung hervorzuzerren zeugte von Häme. Das Ding ist in Erstauflage von 1955, dem Rektor Bauer sein Gesamtwerk sagt manchen Leuten, die vielleicht anders sind als du, aber nix gegen dich haben, und die du, wenn du sie triffst, am Ende sogar ganz gern leiden magst, mehr als dir, was voll in Ordnung geht. Du fährst deiner beglückt lauschenden Großmutter ja auch keine siebengescheiten Aperçus über Beschaffenheit und sozialpolitische Relevanz von Bayern 1 hin, bloß weil Heino läuft. Und wenn doch: Lass es einfach bleiben.
Zur Belohnung sehe ich taktvoll von Bildmaterial mit weihnachtlich-besinnlich gemeinten Christbaumspitzen ab. Des bassd dann scho.
——— Franz Bauer:
Die Christbaumspitz
(a Gschicht vo daham)
aus: Betthupferla. Neie Gedichtla und alti Lodnhüter aff närnbergisch,
Verlag Moritz Edelmann, Nürnberg 1955, Seite 6 f., in 9. Auflage 1982 Seite 9 f.:
Döi is fei wahr und is ka Witz,
döi Gschicht vo unserer Christbaamspitz!
Dös war a schöine Spitz, jawull,
war außn silbri, inna huhl,
drum hout mei Frau gsagt: „Gouter Fritz,
gib obacht aff die Christbaamspitz!“I hob dou grod in Christbaam putzt
und höit mi wärkli ball derhutzt
und walls pressiert habn tout, drum ebn
lang i mit meiner Händ dernebn,
(der Mensch macht manchmal solchi Schnitz!)
und druntn liegt die Christbaamspitz.Mei Frau döi war dou net zur Stell,
drum hab i denkt: Öitz handelst schnell!
Die hinter Seidn war lädiert,
drum hab i’s gscheit mit Leim ohgschmiert,
habs wieder nafpappt aff ihrn Sitz,
glei hie an Baam, die Christbaamspitz.Wer’s gwußt höit, der höit’s deitli gsehng,
doch hab ich gar nix gsagt, destweng …
Bloß bo der Bscherung, dou war’s dumm;
mir stenna um den Christbaam rum,
und wöi mei Frau singt: „… einsam wacht …“
dou houts aff amal komisch kracht,
i merk, wöi i ganz plötzli schwitz,
am Budn liegt die Christbaamspitz.I hab blouß mit der Achsel zuckt
und hab an der Krawattn gruckt,
hab gsagt: „Dou droh is schuld öitz fei
ner blouß dei houcha Singerei;
dei kräftin Tön, döi habns zerhaut, –
warum bläkst immer a su laut?
Du schnullst a vill zu vill Lakritz! –
Siehgst – öitz is hie, die Christbaamspitz!In Wärklichkeit is anderscht gwest:
der Leim, der hout si langsam glöst
und hout halt nemmer a su pappt,
drum hout die Spitz si g’lockert ghabt.
Und schuld droh war die Ufnhitz
– und ich! – an dera Christbaamspitz.
Bildlä: Covers via – hilft ja nix – Amazon;
Petra und Stefan aus Forchheim, 9. September 2020
Soundtrack: Mercury Rev: Endlessly (mit der „Stille Nacht“-Referenz), aus: Deserter’s Songs, 1998:
Standing in a street,
the line beneath the falling leaves
leading her again endlessly.
And of all the stars above,
only one reminds her of
leaving you again endlessly.
Und vierzehn Gräser formen ein Sonett
Update zu Nachtstück 0026: Heut hat der Sommer Schnaps gesoffen
und Das Beste sind die Kartoffeln:
Das Sonett von Klaus Modick steht erst- und letztmals als „Erstdruck aus einem größeren lyrischen Werk“ in der 1989er Ausgabe in der jährlichen Anthologie Von Büchern & Menschen der Frankfurter Verlagsanstalt; die hat mir mal meine Lieblingsbuchhändlerin geschenkt. Die Fünfheber verleihen ihm eine deutliche Rilke-Note.
——— Klaus Modick:
Sonett
aus: Von Büchern & Menschen, Frankfurter Verlagsanstalt 1989:
Der Sommer gähnt. Die Kronen werden lichter.
Der Wind hat sich zu einem Schlaf gelegt.
Im Gras liegt regungslos ein müder Dichter,
der nichts mehr schreibt und den nichts mehr bewegt.Der Dichter hat die Worte freigelassen,
als Seifenblasen sind sie fortgeweht.
Er muß sich endlich nicht mehr selber hassen,
Er lächelt, spricht ein sprachloses Gebet.De Dichter lebt sein Leben vor dem Tode.
Drei Wolken tanzen anmutig Terzett.
Der Himmel ist so blau wie eine Ode.
Und vierzehn Gräser formen ein Sonett.Käm jetzt kein Wort mehr, würd er das genießen.
Käm doch noch eins, er würde es begrüßen.
Bild: Ernst Förster: Jean Paul, 1826 — also posthum:
In Gras u. Blumen lieg ich gern
via Jean-Paul-Gesellschaft Bayreuth.
Soundtrack: Fairport Convention: Book Song, aus: What We Did on Our Holidays, 1969:
Die Fahne der Arbeitnehmerschaft
Update zu Trotzki, Fauser und die Goetheforschung,
Quis me amabit? (Wer sol mich minnen?) und
Nachtstück 0017: Von der Anmaßung erstaunlicher Vorzüge:
Ergreife die Macht, du Hurensohn, wenn man sie dir gibt!
Anonymer Arbeiter zu Виктор Михайлович Чернов, 4. Juli 1917.
Während des Juliaufstands 1917 meuterten die Kronstädter Matrosen mit Roten Garden gegen die Kaiserlich Russische Marine:
Der ausgerufene Generalstreik scheiterte jedoch ebenso wie eine schlecht koordinierte Erhebung der Kronstädter Matrosen und Roten Garden. Sie begleiteten eine Demonstration mit angeblich bis zu 500.000 Teilnehmern zum Taurischen Palais, dem Sitz sowohl der Petrograder Sowjets als auch der Staatsduma. Dort nahmen sie den sozialrevolutionären Landwirtschaftsminister Wiktor Michailowitsch Tschernow als Geisel, nachdem er sowohl seinen Rücktritt als auch eine Machtübergabe an die Sowjets verweigert hatte. Er wurde von Leo Trotzki befreit, der die Demonstranten mahnte, ihr Anliegen nicht zu „besudeln“. Am Newski-Prospekt kam es zu einem Schusswechsel, die Demonstranten flohen in Panik. Weitere Schießereien folgten, nach zwei Tagen waren 500 Tote und Verletzte zu beklagen.
——— Николай Николаевич Суханов:
Записок о революции — мемуаров о событиях 1917
Augenzeugenbericht der Russischen Revolution,
cit nach Danil Gaido: Die Julitage, Marx 200, 19. Oktober 2017:
Alle Arbeiter und Soldaten in Petersburg nahmen daran teil. Aber was war das politische Charakter der Demonstration? ‚Wieder Bolschewiki‘, merkte ich an, als ich die Parolen ansah, ‚und da hinten ist noch eine Kolonne der Bolschewiki.‘ ‚Alle Macht den Sowjets!‘ ‚Nieder mit den zehn Minister-Kapitalisten!‘ ‚Friede den Hütten, Krieg den Palästen!‘ Auf diese kräftige und gewichtige Weise brachte Arbeiter-Bauer-Petersburg, die Vorhut der russischen- und Weltrevolution, seinen Wille zum Ausdruck. […]
Der Pöbel befand sich in Aufruhr, wohin man auch blickte … Ganz Kronstadt kannte Trotzki und, so dachte man, vertraute ihm. Doch er begann seine Rede, und die Menge wich nicht zurück. Wäre in diesem Moment ein Schuss gefallen, als Provokation, es hätte ein fürchterliches Gemetzel stattfinden können, und wir alle, Trotzki eingeschlossen, wären vielleicht zerfetzt worden. Trotzki, in großer Erregung und unfähig, in dieser aufgeheizten Atmosphäre die richtigen Worte zu finden, konnte kaum die Aufmerksamkeit derer gewinnen, die ihm am nächsten standen. Als er sich Tschernow selbst zuwandte, geriet die Menge, die um den Wagen herumstand, in Wut. ‚Ihr seid gekommen, euren Willen zu bekunden und dem Sowjet zu zeigen, dass die Arbeiterklasse die Bourgeoisie nicht länger an der Macht sehen will [sprach Trotzki]. Aber warum wollt ihr eurer Sache schaden mit kleinlichen Gewaltakten gegen zweitrangige Individuen?‘ Trotzki streckte seine Hand einem Matrosen entgegen, der besonders heftig protestierte … Mir schien, der Matrose, der Trotzki bestimmt mehr als einmal in Kronstadt hatte sprechen hören, hätte nun das bestimmte Gefühl, dass Trotzki ein Verräter sei. Er erinnerte sich an seine früheren Reden und war verwirrt … Unschlüssig, was zu tun sei, ließen die Kronstädter Tschernow gehen.
Und jetzt alle:
——— Harry Rowohlt:
Matrosen von Kronstadt
Arbeiterlied, 1917, aus: Abschweifungen in Frankfurt und Kassel, Edition Tiamat 2017:
Verronnen die Nacht
und der Morgen erwacht,
rote Flotte mit Volldampf voraus.
Durch Stürme und Tosen
die roten Matrosen,
wir fahren als Vorhut hinaus.Vorwärts an Geschütze und Gewehre
auf Schiffen, in Fabriken und im Schacht.
Tragt über den Erdball, tragt über die Meere
die Fahne der Arbeitermacht.Mag der Sturm uns zerzausen,
die Wellen, sie brausen,
die rote Flut, sie steigt an.
Vorwärts, Kommunisten,
zum Endkampf wir rüsten,
die rote Marine voran.Vorwärts an Geschütze und Gewehre
auf Schiffen, in Fabriken und im Schacht.
Tragt über den Erdball, tragt über die Meere
die Fahne der Arbeitnehmerschaft.
BIld, weil historisches Material grundsätzlich nur über den
Kronstädter Matrosenaufstand 1921 aufzufinden war:
Harry Rowohlt: Abschweifungen in Frankfurt und Kassel, 2017.
Bonus Track instrumentiert:
Zu seiner wahren Gestalt erheben
Update zur Wanderwoche 03: 2 + 2 – 2 + 2 = 7 (Ist doch bloß ein Märchen):
——— Franz Kafka:
Der plötzliche Spaziergang
aus: Betrachtung, Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig, November 1912, ausgewiesen 1913:
Wenn man sich am Abend endgültig entschlossen zu haben scheint, zu Hause zu bleiben, den Hausrock angezogen hat, nach dem Nachtmahl beim beleuchtetem Tische sitzt und jene Arbeit oder jenes Spiel vorgenommen hat, nach dessen Beendigung man gewohnheitsgemäß schlafen geht, wenn draußen ein unfreundliches Wetter ist, welches das Zuhausebleiben selbstverständlich macht, wenn man jetzt auch schon so lange bei Tisch stillgehalten hat, daß das Weggehen allgemeines Erstaunen hervorrufen müßte, wenn nun auch schon das Treppenhaus dunkel und das Haustor gesperrt ist, und wenn man nun trotz alledem in einem plötzlichen Unbehagen aufsteht, den Rock wechselt, sofort straßenmäßig angezogen erscheint, weggehen zu müssen erklärt, es nach kurzem Abschied auch tut, je nach der Schnelligkeit, mit der man die Wohnungstür zuschlägt, mehr oder weniger Ärger zu hinterlassen glaubt, wenn man sich auf der Gasse wiederfindet, mit Gliedern, die diese schon unerwartete Freiheit, die man ihnen verschafft hat, mit besonderer Beweglichkeit beantworten, wenn man durch diesen einen Entschluß alle Entschlußfähigkeit in sich gesammelt fühlt, wenn man mit größerer als der gewöhnlichen Bedeutung erkennt, daß man ja mehr Kraft als Bedürfnis hat, die schnellste Veränderung leicht zu bewirken und zu ertragen, und wenn man so die langen Gassen hinläuft, — dann ist man für diesen Abend gänzlich aus seiner Familie ausgetreten, die ins Wesenlose abschwenkt, während man selbst, ganz fest, schwarz vor Umrissenheit, hinten die Schenkel schlagend, sich zu seiner wahren Gestalt erhebt.
Verstärkt wird alles noch, wenn man zu dieser späten Abendzeit einen Freund aufsucht, um nachzusehen, wie es ihm geht.
Zur Zeit von Niederschrift und Ersterscheinen von Der plötzliche Spaziergang war Kafka 29 und wohnte im Kreise seiner Ursprungsfamilie Juni 1907 bis November 1913 im neunten und obersten Stockwerk im Prager Haus Zum Schiff, Pařížská 36, damals Niklasstraße 36:
Das Mietshaus „Zum Schiff“ war damals eines jener modernen Mietshäuser in Prag, die im Zuge der Sanierung des ehemaligen Ghettos hochgezogen wurden. Es gab einen Lift im Haus und die Wohnungen hatten auch ein Bad. Im Juni 1907 zog die Familie in das Haus und wohnte dort bis zum November 1913. Leider ist das Gebäude im Jahre 1945 zerstört worden. An seiner Stelle steht heute das Hotel Praha-Intercontinental.
Wer sich einen Eindruck verschaffen will, wie der Blick aus Kafkas Zimmer gewesen sein mag, kann der Empfehlung des Verlegers und Kafka-Biographen Klaus Wagenbach folgen, in das Restaurant im obersten Stockwerks des Hotels gehen und sich dort einen Fensterplatz suchen. Wem das zu umständlich ist, mag sich mit einer Tagebuchaufzeichnung Kafkas vom 29.09.1911 begnügen:
„Der Anblick von Stiegen ergreift mich heute so. Schon früh und mehrere Male seitdem freute ich mich an dem von meinem Fenster aus sichtbaren dreieckigen Ausschnitt des steinernen Geländers jener Treppe die rechts von Cechbrücke zum Quaiplateau hinunter führt. Sehr geneigt, als gebe sie nur eine rasche Andeutung. Und jetzt sehe ich drüben über dem Fluss eine Leitertreppe auf der Böschung die zum Wasser führt. Sie war seit jeher dort, ist aber nur im Herbst und Winter durch Wegnahme, der sonst vor ihr liegenden Schwimmschule enthüllt und liegt dort im dunklen Gras unter den braunen Bäumen im Spiel der Perspektive.“
[…] Kafka litt sehr unter der ungünstigen Aufteilung der Wohnung. Zwar besaß er ein eigenes Zimmer, das für damalige Verhältnisse eher ungewöhnlich war, dennoch hatte er kaum Rückzugsmöglichkeiten, da es das Durchgangszimmer zwischen Wohn- und Schlafzimmer der Eltern war. In der Erzählung „Grosser Lärm„, das er 1911 in sein Tagebuch schrieb und kaum ein Jahr später in einer Prager Literaturzeitschrift abdrucken ließ, beschrieb er — kaum verhüllt — den typischen Alltag in der Wohnung.
„Verstärkt wird alles noch,“ indem sich der Mann in einem Durchgangszimmer zwischen dem elterlichen Wohn- und Schlafzimmer in einem neunten Stockwerk mit Blick auf den Anlegeplatz für sein Ruderboot außerdem noch Das Urteil (in der Nacht vom 22. auf den 23. September 1912), Die Verwandlung (1912) und Der Verschollene (1911 bis 1914), wie der Textbruch ausgerechnet hat, abringen musste.
Wenn er also wie in seiner halb nur sich hin träumenden Prosaskizze spätabends „in einem plötzlichen Unbehagen“ „straßenmäßig angezogen“ „gänzlich aus seiner Familie ausgetreten“ wäre, so hätte er erst einmal entweder einen vermutlich gründerzeitgemäß rumpelnden Aufzug benutzen oder sich satte neun Stockwerke treppab bis auf Flussuferniveau hinabbegeben müssen. Da sieht die instagrammable Winteridylle am Hradschin natürlich um Klassen stimmungsvoller aus, aber es ist ja nicht gesagt, wo der auszusuchende Freund gewohnt hätte. Irgendwie geht’s.
Bilder: Blick vom Hradschin, via Akademisches Lektorat, 14. Januar 2021;
Prague 1913, via My Old Days Saigon: Khí hậu ẩm ướt trong thế giới tiểu thuyết Nguyễn Đình Toàn;
Hotel InterContinental, Pařížská 30, via Kafka & Prag: Haus „Zum Schiff“.
Großer Lärm: Matěj Ptaszek und Lubos Bena na Karlově mostě, wo Kafka auf dem Heimweg sowieso vorbeigekommen wäre — wenn er nicht die bei My Old Days Saigon abgebildete Čechův most genommen hätte, die unmittelbar an seiner ungeliebten Pařížská liegt —: Music of the Mississippi River, Sommer 2008:
Fruchtstück 0003: Du und dein Gedächtnis 50+
Update zu Unter sotanen Umständen und
Nachtstück 0019: Noch weit beunruhigendere Betrachtungen:
——— Arno Schmidt:
Heiliger Antropoff : tat mir der Rücken weh! (»Mitternacht ist vorüber : das Kreuz beginnt sich zu neigen.« hatten Humboldts Gauchos immer gesagt : demnach wärs also bestimmt 12. – Tembladores fielen mir ein, mit allen Geschichten und Widerlegungen, und die ganze voyage équinoxiale prozessionierte heran, so daß ich entrüstet an was anderes dachte : ein gußeisernes Gedächtnis ist eine Strafe ! !)
Brand’s Haide, 1951.
Vorm Bücherregal. Ich griff eins heraus, dessen Farbe mir leidlich ins Gesicht fiel; dunkelgrüner Lederrücken mit hellgrünem Schildchen : ‹J. A. E. Schmidt, Handwörterbuch der Französischen Sprache. 1855›. Ich schlug aufs geratewohl auf, Seite 33 : ‹Auget = Leitrinne, in welcher die Zündwurst liegt› – ich kniff mich in den Oberschenkel, um mich meiner Existenz zu vergewissern : Zündwurst ? ? ! ! (und dieses ‹auget› würde ich nun nie mehr in meinem Leben vergessen; ein gußeisernes Gedächtnis ist eine Strafe !). –
Sommermeteor, in: Trommler beim Zaren, 1966.
Und bloß nicht den Namen dieses Nachbardorfes einprägen; jetzt noch nicht; mit 55 muß man das Gedächtnis für’s Notwendigste reservieren.
Kühe in Halbtrauer, 1961.
Bild: Marie Dashkova: Librarian, Moskau, 4. März 2020.
I hope we remember all the words („What’s the the next chorus to this song now? This is the one now I don’t know.“): Ella Fitzgerald (46-jährig): Mack the Knife, aus: Ella in Berlin: Mack the Knife,
live in der Deutschlandhalle, Berlin, 13. Februar 1960:
: »– : king !« –
Update zu Cit. Schmidt, A.: Faust IV, 1960 und
Helmstedt-Marienborn (Mitternacht) — Arizona (noon).:
„Nennt mich Ismael.“ / „Ilsebill salzte nach.“ / „Stattlich und feist erschien Buck Mulligan am Treppenaustritt, ein Seifenbecken in Händen, auf dem gekreuzt ein Spiegel und ein Rasiermesser lagen.“ — : Ich werde nicht enden, darüber zu trauern, dass Arno Schmidt ZETTEL’S TRAUM nicht mit einer catchy phrase, nein: mit einem zitierbaren Satz angefangen hat.
Sogar er selber hat das zuvor schon besser gemacht: „Nichts Niemand Nirgends Nie ! : Nichts Niemand Nirgends Nie ! : (die Dreschmaschine rüttelte schtändig dazwischen, wir konnten sagen & denken was wir wollten. Also lieber bloß zukukken.)“ Und in seinem erklärten magnum opus verschenkt er dann sehenden Auges und ach so wissenden Geistes die Chance, sein Monument im populär-kollektiven Gedächtnis zu errichten. Bei dem Anspruch, den er damit stellt, nämlich keinen geringeren — eher einen noch höheren — als sein altes Forschungsobjekt James Joyce mit Finnegans Wake, hätte es eine Entsprechung zu
A way a lone a last a loved a long the riverrun, past Eve and Adam’s, from swerve of shore to bend of bay, brings us by a commodius vicus of recirculation back to Howth Castle and Environs.
sein müssen: ein Satz, der nicht gleich so eingängig zum volkstümlichen Zitieren taugt, aber am Ende des Buches mittendrin aufhört und am Anfang weitergeht. Das wäre Futter für Interpretation, eine passende Hommage und ein motivierender Anlass für ein erstes Grinsen gewesen. Auf mich hört er ja nicht, der Prophet aus der Heide. So, wie es ist, konnte Dieter E. Zimmer nur anmerken:
»Groß« ist das Buch auf jeden Fall. Es könnte schon sein, daß in Zettel’s Traum das literarische Meisterwerk des Jahrhunderts steckt; es könnte sein, daß es sich um eine Art Streichholzeiffelturm in Originalgröße handelt, von einem Hobby-Berserker um den Preis seines Lebens erstellt. Vielleicht ist es auch beides.
Wo das steht? Laut Silvae, der in ähnlich enzyklopädischer Gelehrtheit „alles“ weiß wie Bonaventura, war es in der Zeit, kurz nach Erscheinen von Zettel’s Traum 1970. Hinterbracht wird es an exponierterer Stelle vom selben Bonaventura, der seit langem ganz zurecht nebenan in der Linkrolle steht, und der auch die Fliegenden Goethe-Blätter und den Prometheusfelsen betreibt. Nicht zuletzt hat er einst Zettel’s Traum lesen. Ein lektürebegleitendes Blog angefangen und leider nach wenigen Wochen liegen gelassen.
Was aus diesen Wochen Ende 2010 übrig bleibt und voraussichtlich nicht mehr viel anderes tun als im Mondlicht schimmern, folgt unten quasi als Sicherungskopie, weil es wichtig und sichernswert ist. Auch wenndie Forschung seitdem nicht stillstand: Fast auf den Tag zehn Jahre nach Bonaventuras Enträtselung der ersten Seite ist seit 26. Oktober 2020 das von Bernd Rauschenbach und Susanne Fischer herausgegeben Arno Schmidts Zettel’s Traum. Ein Lesebuch verlagsfrisch für 25 Euro erhältlich.
Das Motto
10. November 2010:
Das Motto zu ZT stammt bekanntlich aus dem Midsummer Night’s Dream von William Shakespeare. Es findet sich am Ende der ersten Szene des vierten Aufzugs und ist dem erwachenden Weber Bottom – bzw. bei Schlegel: Zettel – zugeschrieben. Schmidt bricht den Monolog vor dem Ende ab; ich setze das Zitat einmal ganz hierher und in der Fassung der Erstausgabe der Schlegelschen Übersetzung von 1797, da deren Orthographie der Schmidts nahe steht:
Ich habe ein äußerst rares Gesicht gehabt. Ich hatte ’nen Traum – ’s geht über Menschenwitz zu sagen, was es für ein Traum war. Der Mensch ist nur ein Esel, wenn er sich einfallen läßt, diesen Traum auszulegen. Mir war, als wär’ ich – kein Menschenkind kann sagen, was. Mir war, als wär’ ich, und mir war, als hätt’ ich – aber der Mensch ist nur ein lumpiger Hanswurst, wenn er sich unterfängt, zu sagen, was mir war, als hätt’ ich’s. Des Menschen Auge hat’s nicht gehört, des Menschen Ohr hat’s nicht gesehen; des Menschen Hand kann’s nicht schmecken, seine Zunge kann’s nicht begreifen, und sein Herz nicht wiedersagen, was mein Traum war. – Ich will den Peter Squenz dazu kriegen, mir von diesem Traum eine Ballade zu schreiben; sie soll Zettel’s Traum heißen, weil sie so seltsam angezettelt ist, und ich will sie gegen das Ende des Stücks vor dem Herzoge singen. Vielleicht, um sie noch anmuthiger zu machen, werde ich sie nach dem Tode singen.
Es ließe sich natürlich trefflich spekulieren, weswegen er die ausdrückliche Erwähnung des Titels Zettel’s Traum fortgelassen hat; noch trefflicher darüber, warum er das Singen der Ballade nach dem Tode weggelassen hat. Aber dazu ist es sicherlich noch zu früh.
Wichtiger ist, dass das Motto den Leser einstimmen soll: Im Midsummer Night’s Dream ist Bottom/Zettel ein ziemlich von sich selbst eingenommener Mensch, der Opfer einer Intrige der Geisterwelt wird. Ihm wird ein Eselskopf angezaubert (das äußerst rare Gesicht, das er gehabt hat) und die Elfenkönigin Titania wird verliebt in ihn gemacht, was seinem Selbstbild durchaus entgegenkommt. Nach seiner Rückverwandlung hält er das Geschehen für eben jenen Traum, den er für unausdeutbar hält und den er aufschreiben lassen will.
Bezeichnend scheint mir, dass sich bereits das Motto als vieldeutig erweist: Einerseits ist der Traum des Webers Zettel kein wirklicher Traum, sondern die fehlgedeutete Erinnerung an den Zusammenstoß mit der Geisterwelt (und Geister werden auch in ZT auftreten), andererseits weiß der Zuschauer von Shakespeares Stück, dass dem vorgeblichen Traum eine Realität zugrunde liegt, die aber selbst wieder durch den Titel und den gesamten Charakter des Stückes als Traum gekennzeichnet ist. Zettel’s Traum ist also ein Traum in einem Traum, der aber als Bericht von einem zauberhaften Erlebnis in einem Traum erscheint. Zudem ist es der Bericht von jemandem, der nicht nur selbstgefällig und -verliebt ist, sondern sich vor kurzem noch als ein ausgemachter Esel erwiesen hat. Was also soll der Leser ASs von Zettel’s Traum erwarten?
Die erste Seite (1)
16. November 2010:
Es war, wenn ich mich recht erinnere, Jörg Drews, der die erste Seite von ZT (ZT 11, TS 4) eine »mittelschwere Seite« genannt hat. Wir erkennen außerdem aus dem TS, dass AS diese Seite neu geschrieben hat, nachdem zumindest ein bedeutender Teil des Buches bereits geschrieben war, da die erste Seite mit jener Schreibmachine geschrieben worden ist, die erst ab Seite 575 des TS’ zum Einsatz gekommen ist. (Natürlich ebnet die gesetzte Ausgabe diese Differenz ein.)
Nun ist ZT ohnehin kein einfaches Buch, und es ergibt sich die Frage, was einen Schriftsteller dazu veranlasst, ein solches Buch dann auch noch mit einer mittelschweren Seite beginnen zu lassen, die dem naiven Leser, der nicht wie auch immer auf das Buch vorbereitet wurde, doch einen nicht unerheblichen Widerstand entgegensetzt.
Dazu ist zuerst einmal festzustellen, dass AS überhaupt eine Neigung dazu hatte, seine Bücher eher kryptisch beginnen zu lassen:
Auf die Sterne soll man nicht mit Fingern zeigen; in den Schnee nicht schreiben; beim Donner die Erde berühren: also spitzte ich eine Hand nach oben, splitterte mit umsponnenem Finger das ‹K› in den Silberschorf neben mir, (Gewitter fand grade keins statt, sonst hätt ich schon was gefunden!) (In der Aktentasche knistert das Butterbrotpapier).
Der kahle Mongolenschädel des Mondes schob sich mir näher. (Diskussionen haben lediglich diesen Wert: daß einem gute Gedanken hinterher einfallen).
»Aus dem Leben eines Fauns«
Oder:
In unserem Wassertropfen: Ein metallisch blauer Kegel kam mir entgegen; im Visierei 2 stumpfe Augenkerne.
Dann ein strohgelber: unter der trüben Plasmahaut schied man breite Zellen, Fangarme hingen; oben hatte es einen Wimpernkopf abgeschnürt, Romanoffskyfarbton; und zog naß tickend an mir vorbei. Volkswagen rädertierten. Nah hinten auf dem Platz trieb auch die Schirmqualle. (Genug nu!).
So hantierten wir im Stickstoff mit anaëroben Gebärden (eben machte Einer aus Armen ein schönes langes Beteuerungszeichen), wir, am Grunde unseres Luftteiches, und die Bäume schwankten wasserpflanzen. Mein linker Schuh betrachtete mich kühl aus seinen Lochreihen.
»Das steinerne Herz«
Beide Beispiele – gleichgültig, ob man auch sie mittelschwer findet oder nicht – machen deutlich, dass AS seinen Lesern zumutet, beim Lesen seiner Texte anfangs eine gewisse Orientierungslosigkeit ertragen zu müssen. Das ist sicherlich der Ausdruck eines elitären Kunstverständnisses, das AS mehrfach zum Ausdruck gebracht hat:
Kunst dem Volke?!: den Slogan lasse man Nazis und Kommunisten: umgekehrt ists: das Volk (Jeder!) hat sich gefälligst zur Kunst hin zu bemühen! – [BA I/1, 137]
Man kann nun in diesem Sinne die erste Seite mit dem »Distel=Drittel, field of horror« (ZT 12) des Schauerfelds identifizieren, als eine »gegen Camper !« (ebd.), also unbefugte Benutzer, gerichtete Maßnahme des Autors, der zu verhindern sucht, dass die falschen Leser den Zaun übersteigen, den er zu Anfang des Buches errichtet hat.
Tun wir es dennoch und schauen wir uns im Folgenden das Gestrüpp der ersten Seite etwas genauer an.
Die erste Seite (2)
16. November 2010:
Der hier versuchte Einzelstellenkommentar zur ersten Seite erhebt – genau wie der Rest der Texte hier – keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit oder Verbindlichkeit. Zum Wesen der Lektüre von ZT (wie auch der meisten anderen Bücher) gehört es, dass sie wesentlich vom Wissen und den Assoziationen des Leser geprägt ist. Dieser Versuch darf und soll also gerne in den Kommentaren ergänzt werden.
ZT beginnt in der mittleren Kolumne mit zwei Reihen von Xen, die den Stacheldrahtzaun zu Anfang des Schauerfelds darstellen. In der Mitte wird der Zaun auseinandergehalten, um – wie wir kurz darauf erschließen können – Wilma (W) das Durchschlüpfen zu ermöglichen.
Das erste Wort des Buches spricht Paul (P):
: »– : king !« –
Dazu findet sich am rechten Rand eine Assoziation Daniel Pagenstechers (DP):
(? : NOAH POKE ? (oder fu=))
Das Fragezeichen signalisiert, dass sich DP fragt, ob das »King!« Ps ein Zitat aus James Fenimore Coopers Roman »The Monikins« sei, in dem Kapitän Noah Poke seinem Erstaunen des öfteren mit diesem Ausruf Ausdruck verleiht, oder ob es sich um ein verkürztes »fucking!« handelt. Bei »The Monikins« handelt es sich um eine der anregenden Quellen für Edgar Allan Poes »Arthur Gordon Pym«. Darüber hinaus ist vielleicht erwähnenswert, dass king im Chinesischen Buch bedeutet; ASs chinesische Motive kommen allerdings erst in »Die Schule der Atheisten« so recht zum Tragen.
Am linken Rand steht dem gegenüber:
: ›Anna Muh=Muh !‹ –
Hierbei handelt es sich um eine eingedeutschte Schreibung eines der Wörter aus der Sprache von Tsalal, das sich gleich darunter auch in der Schreibung des Originals wiederfindet: »: ›Ana Moo=moo !‹« Tsalal ist die Insel, die in Poes »Arthur Gordon Pym« in der Nähe des Südpols entdeckt wird. Zugleich ist »Muh=Muh« natürlich auch eine onomatopoetische Wiedergabe des »Gestiers von JungStieren«, wie es gleich darauf in der mittleren Kolumne heißt.
Nach diesem Auftakt beginnt der erzählende Text:
Nebel schelmenzünftig.
ist ein Spiel mit dem Titel von Thomas Murners »Der schelmen zunfft«, dessen lateinische Übersetzung »Nebulo nebulonum«, also »Der Schelm der Schelme« lautet. Dies ist also nicht nur eine wortspielerische Beschreibung der Wetterlage, sondern auch eine Wiederaufnahme der bereits im Motto enthaltenen Warnung, alles folgende nicht zu ernst zu nehmen.
1 erster Dianenschlag; (LerchenPrikkel).
Dazu gibt der Pierer (Pierer’s Universal-Lexikon, 4. Auflage, 1857–1865):
Diana, […] 2) (Seew.), Tagwache von 4 Uhr bis 8 Uhr Morgens. Daher Dianaschuß, der Morgenschuß vom Admiralschiff; Dianaschlagen, Trommeln u. Pfeifen, welches die Schiffsmannschaft zur Morgenwache ruft. (Bd. 5, S. 108)
Statt der Trommeln muss auf dem Schauerfeld eine Lerche den Beginn der ersten Wache ankündigen.
Gestier von JungStieren. Und Dizzyköpfigstes schüttelt den Morgen aus. /
Beschreibung des Jungviehs, das sich auf der oder den Weiden rechts und links des Schauerfelds aufhält. Was AS mit «dizzyköpfig», also soviel wie »schwindelköpfig« meint, ist mir unklar. Vielleicht schütteln sich die Kälber selbst den Kopf schwindelig? Der Schrägstrich zeigt in ZT in der Regel an, dass nun eine andere Person spricht, oder auch, dass DP seine Rolle als Erzähler mit der als Protagonist bzw. vice versa vertauscht.
Am rechten Rand dazu der biografische Gedankensplitter DPs:
(Als Kind hab’Ich ›Euter‹ essn müssn : Meine Mutter usw. – (tz, Wahnsinn; &=Brrr…)
Es folgt die erste wörtliche Rede DPs:
: »Sie diesen Galathau, Wilma. Und wie Herr Teat’on mit Auroren dahlt :
Ob sich der Tippfehler »Sie« statt »Sieh« fruchtbar machen lässt, ist mir unklar. Das Wort »Galathau« ist ein Portmanteau-Wort aus »Tau« und »Galathea«. Tau wird offensichtlich zu dieser frühen Stunde einen der wesentlichen Eindrücke beim Betreten des Schauerfelds bilden; er wird außerdem wenige Zeilen später gebraucht, um eine »(sündije) Vision« DPs auszulösen.
Das Wort »Galathea« dagegen kann zur ersten Falltüre für den interpretatorischen Zugriff werden. In der Variante Galateia – eingedeutscht: die Milchweiße (was im Zusammenhang mit Poes »Arthur Gordon Pym« relevant ist, dessen Eingeborene auf Tsalal ja die weiße Farbe fürchten); in ASs Schreibung auch: die Milchgöttin – bezeichnet das Wort zuerst einmal eine Nymphe der griechischen Mythologie. Sie ist die Geliebte des Polyphem, also eines einäugigen Riesen. Der Hirte Akis, der sich in sie verliebt hatte, wurde von Polyphem aus Eifersucht getötet, und Galateia verwandelte den Blutstrom des Erschlagenen in einen Fluss. Dies kann als Vorverweis auf die am Fuß der Seite erfolgende Messung der Strömungsgeschwindigkeit des kleinen Bachs am Anfang des Schauerfelds gelesen werden. Auch das Motiv des Totschlags wird im ersten Buch von ZT noch einmal ausdrücklich aufgenommen werden.
Galatea ist aber auch der (nachantike) Name der Statue, die Pygmalion sich erschuf und der auf seine Bitten hin von den Göttern Leben gegeben wird. Hier kommt ein Motiv ins Spiel, das später in ZT noch ausführlich dargestellt wird: Franziska Jacobis (F) Verliebtheit in DP entspringt ganz wesentlich einem früheren Aufenthalt bei DP, der sie tief beeinflusst haben muss. Würde DP also dieser Verliebtheit Fs nachgeben, so hätte auch er sich seine Geliebte in gewissem Sinne selbst geschaffen.»Pygmalion und Galatea« ist auch der geläufige Titel eines Gemäldes von Bronzino. Es zeigt nicht nur den die lebendige Galatea anbetenden Pygmalion, sondern in der Bildmitte auch ein Stieropfer, was wiederum gut zum »Gestier von JungStieren« passt.
»Galatea« ist auch der Titel einer Schäferdichtung von Cervantes, die – witzigerweise – auf eine »Diana« Jorge de Montemayors zurückgeht. Der Roman ist unvollendet geblieben und spult im Großen und Ganzen das übliche Schema einer unglücklichen Liebe zu einer unerreichbaren Frau ab. Auch dies ist ein guter Resonanzraum für das Verhältnis bzw. Unverhältnis zischen DP und F.
Nicht zuletzt ist Galathea eine der größten Gruppen der Springkrebse, also eines Lebewesen mit einem harten Äußeren und einem weichen Kern, was als erste Charakterisierung DPs nicht schlecht passen dürfte. Ich bin sicher, dass sich weitere Assoziationen und Deutungen zu »Galathea« problemlos finden lassen.
Tithon – dem bei AS übrigens das h fehlt, das seine Galathea zuviel hat – und Aurora sind ein mythologisches Liebespaar: Die Göttin der Morgenröte Eos (Aurora) verliebt sich in den jungen Tithon, den sie entführt, um ihm dann von Zeus das Geschenk des ewigen Lebens zu erbitten. Leider vergisst sie aber, ihm auch ewige Jugend zu verschaffen, so dass er altert, während sie ewig jung bleibt. Thiton endet schließlich in der Metamorphose zu einer Zikade; ebenfalls ein Tier mit Exoskelett, wie auch der oben schon genannte Springkrebs. Auch hier wird das Liebesverhältnis zwischen DP und F angespielt: DP fürchtet sich natürlich davor, wie Thiton einer jugendlichen Geliebten auf Dauer nicht genügen zu können.
Zum Wort »dahlen« gibt Adelung folgende Auskunft:
Dahlen, verb. reg. neutr. welches das Hülfswort haben erfordert, aber nur in der vertraulichen Sprechart der Obersachsen üblich ist, tändeln, kindische Dinge vornehmen, sich albern bezeigen
Viel von dem, was im Verlauf des Buches zwischen DP und F vorgehen wird, hat den klaren Charakter des Spielens und ist wesentlich die Fortsetzung des Verhältnisses zwischen den beiden, als F noch ein Kind war.
: jetzt ist die Zeit, voll itzt zu seyn !«. /
Wurde als Übersetzung des Satzes »Yet’s the time for being now, now, now.« aus Joyces »Finnegans Wake« (FW 250) gedeutet. Das mag so sein; es scheint mir aber auch zu genügen, es als eine schmidtsche Variante des »Carpe diem« zu lesen.
Wird fortgesetzt.
Die erste Seite (3)
23. November 2010:
Weiter im Text:
Aber Sie, noch vom vor=4 benomm’m, shudderDe mit den (echtn!) Bakk’n) : »Dän – Ich bin doch wirklich a woman, for whom the outside world exists. Aber verwichne Nacht …«; (brach ab; und musterDe Mich, / Den Ihr gefälligst den Draht aus’nander Haltndän : – ? – /
Es wird noch einmal explizit die Uhrzeit bestätigt, die die Formulierung „1 erster Dianenschlag“ angedeutet hatte. Zum niedersächsischen Wort „schuddern“ gibt Adelung folgendes:
Anm. Schüttern, Nieders. schuddern, Engl. to shudder, ist dem Ursprunge nach eine unmittelbare Nachahmung des Lautes, der Form nach aber ein Intensivum und Iterativum von schutten, schütten, welches ehedem dafür gebraucht wurde. Sih scutita thiu Erda, die Erde erschütterte, Ottfr. Thaz wazar er yrscutita, er erschütterte das Wasser, eben derselbe. Zittern und schaudern sind nahe damit verwandt, nur daß schüttern in Ansehung beyder ein Intensivum ist;
Bei der Phrase „a woman, for whom the outside world exists“ besteht natürlich der Verdacht, dass es sich um ein Zitat handelt; wer kann es identifizieren? [Vgl. unten den Kommentar 1.] [D. i.: Kommentar von Friedhelm Rathjen, Zettel’s Traum lesen, 23. November 2010: „Die Phrase „a woman, for whom the outside world exists“ ist in der Tat ein (leicht abgewandeltes) Zitat, nämlich von Theophile Gautier, der freilich der französischen und nicht der englischen Literatur zuzurechnen ist – daß Schmidt ihn dennoch englisch ‚benutzt‘, liegt daran, daß er das Zitat im „Oxford Dictionary of Quotations“ fand, einem Nachschlagewerk, das er ab den frühen 1960er Jahren so ausgiebig benutzt, daß man von diesem Zeitpunkt nicht automatisch davon ausgehen kann, Schmidt kenne die entlegenen Texte, aus denen er zitiert. Die Quelle hat Schmidt in diesem Fall vermerkt, allerdings nicht im Text, sondern auf einem der Zettel, die er für die erste Textseite von ZT benutzt hat: „FW / ‚I am a man, for whom the outside world exists‘ / Th. Gautier (Quot.)“.“] Weswegen Wilma hier abbricht, bleibt unklar; offenbar hatte sie in der Nacht eine Erscheinung, die über einen normalen Traum hinausgeht. Anschließend finden wir hier die Grundlage für die bereits vorgenommene Interpretation der beiden Reihen von Xen zu Anfang der Seite. Die Zeichenfolge „: – ? –“ bezeichnet in der Regel einen fragenden Blick oder eine fragende Geste, kann aber auch eine ausformulierte Frage ersetzen, die sich aus der Antwort selbst ergibt. Am rechten Rand findet sich eine weitere Assoziation DPs:
(: we’cher Hals! We’che Stimme!
(Der eine voll, die andre rauh : kein
Zug mehr wie früher, aber noch gans
dasselbe Gesicht …)Dies ist der erste Hinweis darauf, dass sich die Eheleute Jacobi und DP schon länger kennen. Die Verschreibung „gans“ zeigt zudem an, dass DP von Ws Intellekt nicht die höchste Meinung hegt.
: »Singularly wild place – «; (hatte P indessn gemurmlt. Er ragte, obm wie untn, aus seiner WanderHose; Er, lang=dünn & haarich) /
Die Beschreibung Ps lässt sich als erster Hinweis darauf lesen, dass die Figurenkonstellation in ZT mehrfach überdeterminiert ist. So können die Figuren unter anderem den Instanzen der Schmidt-Freudschen Persönlichkeitstheorie zugeordnet werden: W repräsentiert das Über-Ich, P das Ich, F das Es und schließlich DP die von Schmidt hinzugefabelte 4. Instanz. P wird zudem gleich bei seinem ersten Auftreten als personifizierter Penis vorgestellt.
In der linken Kolumne findet sich auf Höhe dieses Textes:
: MUUHH! – (immer näher ad Zaun
: immer (B)Rahma=bullijerDie erste Zeile ist einfach die Fortsetzung des schon erläuterten „Gestiers von JungStieren“ in derselben Spalte; die zweite eine Reaktion auf den rechten Rand:
(Goloka=Goloka; The World of
Cows; (+ Galaxy). (: ›La vaca,
la cabra y la oveja nos dan su leche‹;
sagde gleich Eins auf; (aus’m
DERNEHL=LAUDAN …Goloka, die Welt der Kühe, ist im Hinduismus der ewige Wohnort Krishnas:
Mit seinem aus Sein, Intelligenz und Wonne (saccid-ânanda) bestehenden Leibe genießt Krishna an höchster Stätte in der »Welt der Kühe« (Goloka) mit Râdhâ ewige Wonnen als Widerschein des geistigen Liebesverhältnisses zwischen Seele und Gott. [RGG, 3. Aufl., Bd. 3, 347]
Auch hier wird also wieder ein Liebesverhältnis angespielt, diesmal mit ausdrücklicher Betonung der Spannung zwischen Körper und Geist. „Galaxy“ ist die Milchstraße (altgr. γαλαξίας), eine Verstärkung der Motive Milch und weiß einige Zeilen weiter oben im Text. „La vaca, la cabra y la oveja nos dan su leche“ ist Spanisch und bedeutet: „Die Kuh, die Ziege und das Schaf geben uns ihre Milch“ (vgl. auch unten Kommentar 5); der „DERNEHL=LAUDAN“ ist das Spanisch-Lehrbuch, nach dem AS in der Schulzeit Spanisch gelernt hat. Auch dies ist ein Hinweis darauf, dass die Bekanntschaft der drei Erwachsenen bereits aus ihrer Schulzeit herrührt.
Das „(B)Rahma“ des linken Randes ist also zuerst einmal mit der hinduistischen Welt der Kühe vom rechten Rand assoziiert; Brahma ist eine der drei hinduistischen Hauptgottheiten. Die Einklammerung des Buchstabens B lässt zudem das Wort „Rahma“ hervortreten; zusammen mit dem Wort „bullijer“ wurde hier von einem Deuter die Zote „Hast Du Rama auf der Stulle / kannst du vögeln wie ein Bulle“ assoziiert. Dazu mag sich jeder Leser stellen, wie er will.
Wird fortgesetzt.
Die erste Seite (4)
23. November 2010:
Weiter im Text:
: »HasDu überhaupt zugehört ? Was Ich gesagt hab’ ?« / (Vollkomm’ Wilma. Aber a) : »hatt’Ich eine (sündije) Vision zu bekämpfn …«/ (: »? ! –«) / (Galant) : »So im Stiel von ›Achab + Zedecias durch 2‹ : Dich; in einem Zuber voll Thau! – «; (dann hattn Wir Se, endlich, cnorpulend, hindurch. Und b) : »Hab’Ich den D=Zug, von Eschede, rumpln hör’n.
Achab und Zedekias (in der Schreibung Sedechias) sind in Sixtus Bircks Drama „Susanna“ (1532) die beiden, die die fromme und keusche Susanna im Bade beobachten. Die Fabel des Dramas geht auf das biblische Buch Daniel (13, 1 ff.) zurück; es handelt sich dabei um einen der Fälle, an dem sich Daniel als weiser und gerechter Richter beweist. Natürlich möchte auch DP als ein solch weiser und gerechter Richter, und sei es auch nur in Sachen Literatur, angesehen werden. Mit Material aus dem Buch Daniel spielt AS noch öfter; auch ist vermutet worden, dass die Seitenzahl des TS von ZT durch Daniel 12, 12 determiniert ist:
Wohl dem der durchhält und dreizehnhundertfünfunddreißig Tage erreicht!
Wir werden sehen.
DP hat die Vision von Achab und Zedekias nur „durch 2“, da er sie alleine hat; es mag aber auch sein, dass er W als nur halb so attraktiv imaginiert wie die biblische Susanna. Der „Zuber voll Thau“ ist natürlich assoziativ ausgelöst von dem zuvor bereits kommentierten Wort „Galathau“. Wichtig für den weiteren Verlauf des Romans ist aber, dass hier erstmals das Motiv des Voyeurs angespielt wird. Es werden wenige Zeilen später auch entsprechende Gerätschaften folgen.
Das Wort „cnorpulend“ ist wohl zusammengezogen aus korpulent, Knorpel und pulen: Man hat sich W, wie auch der bereits erwähnte ‚volle Hals‘ andeutete, als eher vollschlanke Frau vorzustellen; die Bandscheiben in ihrem Rücken werden beim Durchklettern des Stacheldrahtzauns beansprucht und offenbar führt alles dies dazu, dass sie von den beiden Herren eher sanft durch den Zaun hindurch gezogen (gepult) werden muss, als dass sie die Passage wirklich selbst bewältigt.
Eschede ist eine Kleinstadt in der Lüneburger Heide und den meisten heute wohl bekannt durch das ICE-Unglück im Juni 1998. Die Bahnstrecke durch Eschede führt von Celle nach Uelzen und ist Teil der Bahnstrecke zwischen Hannover und Hamburg. Sollte DP tatsächlich in der Lage sein, einen D-Zug auf dieser Strecke „rumpln“ zu hören, so liegt das fiktive Ödingen, in dem ZT hauptsächlich spielt, wahrscheinlich ein gutes Stück westlich von ASs Wohnort Bargfeld. Es mag auch sein, dass es in den 60er Jahren von Eschede aus noch eine direkte Verbindung zur Strecke zwischen Celle und Hankesbüttel gegeben hat (hier mögen bitte Ortskundige einspringen); diese Bahnstrecke verläuft südlich von Eldingen und liegt deutlich näher an Bargfeld, was die konkrete Lage von Ödingen wieder an Bargfeld annähern könnte.
Am rechten Rand findet sich auf Höhe des Satzes „dann hattn Wir Se, endlich, cnorpulend, hindurch“
(? – : b/cnuffDe’s nich? Bescheidnt-
lich; von hintn ? … / (›Die Gopis
(= KuhHirtinnen) waren rasend vor
Liebe zu Krischna/an : als er seine Flöte
spielde, kamen sie=Alle, mit ihm
zutanzn …‹). /Die hier verwendeten Zeichengruppen „b/cn“ und „na/an“ sind, auch im Weiteren so verwendete, Notlösungen, um die Ramifikationen (Verästelungen) des Textes – hier
und
– wiederzugeben. AS hatte diese typographische Spielerei bereits früher verwendet, ab ZT wird es aber zu einem wesentlichen Mittel seiner Schriftsprache. Während die dadurch erzeugten Wortvarianten an dieser Stelle nur einen spielerischen Charakter zu haben scheinen, werden sie im weiteren Text zum optischen Darstellungsmittel für die Unterwanderung der Wörter durch die von AS sogenannten Etyms. Was Etyms sind und wozu sie dienen, muss später an gegebener Stelle erörtert werden. Es sei hier nur nebenbei erwähnt, dass das Wort „Ramifikation“ selbst einen vortrefflichen Anlass für eine Etym-Analyse bietet.
Wer es ist, der DP bufft und knufft lässt sich nur vermuten, aber wahrscheinlich handelt es sich um F, die DP von seiner zu intensiven Beschäftigung mit ihrer Mutter ablenken möchte. Die Konkurrenz von Mutter und Tochter um die Sympathie und Aufmerksamkeit DPs wird eine bestimmende Konstante der Figurenkonstellation in ZT sein.
Woher das Zitat mit den Gopis genau stammt, wurde meines Wissens bislang nicht identifiziert. Es passt aber gut in nahezu jede beliebige Darstellung der Existenz Krishna im zuvor bereits erwähnten Reich Goloka. Natürlich ist sowohl das Spiel der Flöte als auch der Tanz der Gopis mit Krishna schon im Ursprung und nicht erst bei AS stark sexuell konnotiert.
Die Ramifikation Krischna/an ist wohl die schlichteste Art der Verweltlichung des Mythos, die möglich ist. Ob dabei auch eine Parallelität zwischen Krishna und Christus bzw. zwischen Hinduismus und Christentum (Krischan ist ja nur die norddeutsche Verschleifung den Namens Christian) mitgedacht werden soll, bleibt offen.
– (?) – : Nu ›Eintrübunc‹.«; (Vorkeime v Wolckn; Windwebm.) : »Was willsDú nehm’ Fränzel ? : ’s DopplGlas ? Oder die YASHIKA ?«. / (Sie griff stumm. Und der LederRiem’m teilde. (›Das ließ Ihr schön zu den dunkelblauen Augen‹. (Und dem Pleas’see=Rock; waid genoug für Zweie.))) /
Auf eine nicht ausformulierte Frage Fs hin, wendet sich DP nun ihr zu. Nach der Erklärung der meteorologischen Lage, werden nun die Werkzeuge des oben bereits ins Spiel gebrachten Voyeurs verteilt: Fernglas und Kamera. Zur Übereinstimmung meines Nachnamens mit dem in ZT häufig gebrachten Kosenamen Fs sei hier nur angemerkt, dass meine Schmidt-Lektüre erst mehrere Jahre nach dessen Tod begonnen hat. F greift sich wortlos eines der beiden Geräte und hängt es sich so um, dass der Lederriemen zwischen ihren Brüsten durchläuft; da sie im Gegensatz zu ihrer Mutter aber eher kleine Brüste hat, „teild“ der Lederriemen weich. Rechts findet sich dazu das Zitat:
: ›did diuide her daintie paps‹; SPENSER …
Also etwa: ‚Teilte ihre zierlichen Nippel‘; es handelt sich um ein Zitat aus Edmund Spensers „The Faerie Queene“ (1590–1596). ASs archaisch anmutende Schreibung „diuide“ scheint dem ursprünglichen Text Spensers zu entsprechen. „The Faerie Queene“ wird in ZT relativ häufig zitiert, was den phantastischen Tendenzen des Buchs gut entspricht. Bereits über die Assoziation mit dem Traum des Webers Bottom hatte Schmidt ZT als ein (auch) phantastisches Buch gekennzeichnet, und, wie bereits angedeutet, Geister und andere phantastische Erscheinungen spielen in ihm keine unwesentliche Rolle. Für die Liebhaber von Verschwörungstheorien sei hier angemerkt, dass Spenser ursprünglich geplant hatte, „The Faerie Queene“ in zwölf Büchern zu je zwölf Gesängen zu schreiben; aus dem Namen Daniel und der doppelten 12 ergibt sich dann unschwer die Notwendigkeit, dass ZT im TS 1335 Seiten haben musste. In die gleiche Kategorie gehört auch das von Zeit zu Zeit kolportierte Faktum, AS habe die 120.000 Zettel zu ZT (vgl. BA Suppl. 2, S. 33) in 12 Zettelkästen organisiert; auch hieraus ergeben sich sicherlich weitreichende Folgen.
Ob es sich bei „›Das ließ Ihr schön zu den dunkelblauen Augen‹“ tatsächlich um ein Zitat handelt, ist mir unklar. Jedenfalls haben unzählige literarische Heldinnen und Geliebte dunkelblaue Augen. [Siehe auch unten Kommentar 4.] [Kommentar von MF, Zettel’s Traum lesen, 26. November 2010: „Wie ich der Poe-Biografie von Zumbach (München: Winkler, 1986. S. 247) entnehme, hatte Poes Virginia „veilchenblaue Augen“.“] Beim „Pleas’see=Rock“ handelt es sich um eine weitere wichtige Technik von ASs Schriftsprache, dem systematischen Verschreiben von Wörtern, so dass eine zweite Bedeutung im klanglich identischen oder ähnlichen Material aufscheint. Hier ist das Beispiel relativ unverfänglich: F trägt einen Plissee-Rock, der außerdem nett aunzuschauen ist bzw. ihr gut steht. Die gleich darauf folgende Verschreibung „waid“ könnte den Waidmann anspielen (assoziativ ausgelöst durch das Doppelglas), es könnte aber auch die Waid-Pflanze assoziiert sein, einer wichtigen Farbstoff-Lieferantin des Mittelalters für blaue Farbe. Die Verschreibung „genoug“ hat sich mir bislang nicht erschlossen. [Vgl. dazu unten den Kommentar 2.] [Kommentar von MF, Zettel’s Traum lesen, 24. November 2010: „zu genoug: Bis Nougat war ich auch gekommen, fand aber keinen richtigen assoziativen Haken im Umfeld. Doch der Hinweis auf die Süßigkeit ist gut, denn damit läßt es sich an das „daintie“ aus der rechten Spalte anhängen, das nämlich auch lecker heißen kann.
zu Lama=Lama: Die Assoziation mag schon hinkommen, denn die JungStiere stehen sicherlich auch als Symbole der Fruchtbarkeit und Potenz da. Wichtiger aber ist, glaube wenigstens ich, dass AS später (ZT 35, TS 31) Lama via der Lautweiche Lahem als Fleisch übersetzen wird. (Ich war gestern nur zu faul, es noch herauszusuchen.) Gemeint ist also eher, dass es sich bei den Kälbern, die jetzt noch munter auf der Weide herumspringen, eigentlich schon um totes Fleisch handelt. Das „werdt’ ihr früh“ wäre dann durch ein (leckeres?) genoug zu ergänzen. Das gehört daher eher in die Reihe der Todesmotive, von denen die Impotenzklage allerdings auch eines ist. Es ist also nicht so weit auseinander.“]
Ungefähr auf der Höhe des letzten Zitates steht in der linken Spalte:
? – : »Lama=Lama!« – (: werdt’ ihr
früh. (Sie schüttltn auch die Ohren
so=oft …))„Lama=Lama!“ ist ein Ausruf der Eingeborenen auf Tsalal. Es sind einige Versuche gemacht worden, diese Sprache, von der Edgar Allan Poe nur wenige Wörter und einen einzigen Satz mitteilt, zu übersetzen. Keiner dieser Versuche ist letztlich überzeugend. Wir werden noch sehen, was AS dazu entwickelt. Das Satzfragment „werdt’ ihr früh“ bleibt vorerst unverständlich. [Vgl. auch unten den Kommentar 2.]
Wird fortgesetzt.
Die erste Seite (5)
3. Dezember 2010:
Weiter im Text:
(? –) : »Ganz=winzij’n Moment nur … (: dreh langsam, 1 Mal, den Kopf in die Wunder einer anderen AtmoSfäre … (?) – : nu, ne Sonne von GoldPapier, mit roth’n Bakkn et=caetera ?)) – : verfolg ma das WasserlinsnBlättchin, Franziska=ja ? – (?) – : Ganz=recht; (Ch kuck aufdii Uhr). –«; (und knien; am WegeGrabm, zu Anfang des Schauerfeld’s) : »Ch wollt die StrömungsGeschwindichkeit ma wissn : Wir habm Zeit, individuell zu sein, gelt Fränzi?« « (Und erneut zu W, /
Der erste Satz scheint an W gerichtet zu sein, wie der Schluss der zitierten Passage und der rechte Rand klar machen:
(da W Uns, anschein’d n Ausputzer
gebm wollte. (: heut regier’Ich :
morgn fahrt Ihr wiederDiese Marginalie enthält eine wichtige zeitlich Rahmenbedingung des Geschehens, die auch gleich darauf noch einmal betont werden wird: Der Tag, den ZT beschreibt, ist in vielerlei Hinsicht ein letzter Tag, ein Tag, der in sich abgeschlossen ist und etwas besonderes darstellt. Zum heute so nicht mehr gebräuchlichen Wort „Ausputzer“ schreibt Adelung:
Der Ausputzer, des -s, plur. ut nom. sing. der etwas ausputzet. Figürlich, im gemeinen Leben, ein scharfer Verweis. Einem einen derben Ausputzer geben.
Im obigen Zitat aus der Mittelkolumne ist wohl wichtig, dass DP W gegenüber für ein und denselben Sachverhalt zwei sehr unterschiedliche Formulierungen gebraucht: Die „die Wunder einer anderen AtmoSfäre“ können auch als „ne Sonne von GoldPapier, mit roth’n Bakkn et=caetera“ beschrieben werden. Hier kündigt sich DPs Methode der Interpretation an, die später im Text als „Etym=Methode“, „Etymkunde“, „Etym=Analyse“ oder auch explizit als „Etym=Theorie“ bezeichnet werden wird. Für diese Lesart von Texten wird es – besonders auch bei denen Edgar Allan Poes – charakteristisch sein, dass eine gravitätischen Formulierung mit eine ihre Erhabenheit entlarvende Deutung gegenübergestellt wird. Ich selbst habe mir in meiner Einführung zu Schmidts erzählerischem Werk erlaubt, diese Methode als „Etymmystik“ zu bezeichnen, da zumindest DP mit dieser Methode darauf abzuheben scheint, die oberflächliche Lektüre von Texten durch eine wahrere, unmittelbarere Lektüre zu ergänzen. Ich werde hier in im weiteren dei Abkürzung EM für diese Art des Textzugriffs verwenden, wobei sich jeder nach Belieben denken mag, ob dies für Etym-Methode oder Etymmystik stehen soll.
Der zweite Teil des obigen Zitats leitet eine Messung der Strömungsgeschwindigkeit des kleinen Bächleins im „WegeGrabm, zu Anfang des Schauerfeld’s“ ein. Dies im weiteren Roman wohl keine Rolle mehr spielende Detail könnte in zweierlei Hinsicht gedeutet werden: Zum einen ist für DP die ihn umgebende Welt nicht nur Anlass zur äußerlichen Betrachtung, sondern er objektiviert sie auch – die Welt wird nicht nur betrachtet, sondern auch vermessen; auch hier liegen, wie bereits oben thematisiert, zwei Zugriffe auf die Welt nebeneinander vor. Zum anderen kann das Knien „am WegeGrabm“ auch als eine religiöse Geste gedeutet werden. Hinweis darauf könnte das kurze Poe-Zitat am linken Rand sein:
(›watered by a beautiful stream,
which bears the name of ISIS, the
divinity of the Nile & the Ceres of
the egyptians‹. (REC.WALSH))Das Bächlein wird also assoziiert mit der Isis, der Göttin des Nils und der Ceres der Ägypter, was zum einen eine erneute Aufnahme des Themas Fruchtbarkeit ist, für das auch schon die die linke Kolumne bisher beherrschenden Jungstiere stehen können, zum anderen aber eben für das Knien „am WegeGrabm“ ein religiöses Assoziationsfeld liefert. Vor wem oder was hier dann tatsächlich das Knie gebeugt würde, lässt sich wohl noch nicht erkennen.
F stimmt der Aussage DP, man „Zeit, individuell zu sein“ schweigend zu, wie der rechte Rand verrät:
(Sie nickde, schweignd …
Weiter in der mittleren Kolumne:
(Und erneut zu W, / (Die, irgndwie=gereizt, Paul just ein’n ›Altn Dämian‹ hieß : ! –) / : »Lieb=sein Wilmi. Villeicht sind Wa, an Unserm 1 Tag Fee’rij’n, ooch noch grawitätisch! –
Meine Lektüre des Hesseschen „Demian“ liegt zulange zurück – und ich möchte sie auch nicht auffrischen –, um noch beurteilen zu können, ob es sich bei „Dämian“ um ein spezifisches Schimpfwort handelt; der Dämlack dürfte bei der Schöpfung des Wortes Pate gestanden haben.
Auch hier wird, wie oben bereits gesagt, betont, dass es sich bei dem Tag, den ZT beschreibt, um einen besonderen Tag handelt. Das Wort gravitätisch wird natürlich mit „w“ geschrieben, weil es dann gravitätischer erscheint.
: Iss’oweit Friendsel?« – ; / – ; – / : »Jetz ! –« (versetzDe der GlocknRock nebm Mir : – (präziser die Bluse von schlankstim Ausschnitt, satinisch ainzuschau’n. Der RotMund voller SchneideZähne (aber unlächlnd). /
Diese zweite Beschreibung Fs wird rechts ergänzt durch die Marginalie:
((ein ›leidliches Lärvchin‹ ? (m=m ! :
reicht nich ganz ! …[Die beiden „m“ in „m=m“ tragen im Buch einen Accent grave.]
Hier wird die spielerische Beschreibung der Kleidung Fs fortgesetzt: Die Bluse ist aus Satin und von „schlankstim Ausschnitt“ – durch das „i“ wird das Wort schlanker als in der Duden-Orthografie –, aber es ist wohl auch so, dass F an der Bluse einen Knopf zu viel offen gelassen hat, denn sie hat die satanische Absicht, DP in sich verliebt zu machen, und also kann er die Bluse auch ein wenig zu sehr hinainschauen.
Die Formulierung vom „leidlichen Lärvchen“ lässt sich zum Beispiel in Ludwig Ferdinand Hubers Lustspiel „Juliane“ wiederfinden, ohne dass ich behaupten möchte, dass dieser Text für ZT irgendeine Relevanz hat.
Ungefähr an dieser Stelle schließt der Text der erste Seite des TSs. Am Fuß der Seite findet sich eine Skizze des realen Schauerfeldes, jenes Bargfelder Grundstücks, das AS im April 1965 für 1.000 DM von Wilhelm Michels gekauft hat. Die Skizze ist mit Schrittmarken versehen, auf die im weiteren Text von ZT dann Bezug genommen wird. AS hat für viele Schauplätze seiner Texte solche Skizzen angelegt; in der ersten Buchausgabe der „Gelehrtenrepublik“ z. B. wurde seine Skizze der IRAS, der schwimmenden, stählernen Insel, auf der der zweite Teil des Romans spielt, auf den Vorsatz gedruckt.
Es hat hier einigen Aufwand gebraucht, um der ersten Seite wenigstens einigermaßen Herr zu werden – wobei, das sei hier gern noch einmal betont, keinerlei Anspruch erhoben wird, diese erste Seite tatsächlich ausgeschöpft zu haben. Es hat sich gezeigt, dass zumindest einzelne Passagen von ZT an den Leser einigen Anspruch stellen, wenn er auch nur grundlegend erfassen will, was sich im Text abspielt. Von Lesen im klassischen Sinne kann in solchen Fällen kaum mehr die Rede sein, vielmehr ist der Leser gezwungen, vieles im Text unverstanden auf sich beruhen zu lassen – nicht die schlechteste Strategie im Umgang mit ZT – oder sich den Text zu erarbeiten bzw. – das dürfte der Absicht ASs mehr entsprechen – ihn zu enträtseln.
Dass AS Spaß am Verrätseln und an seiner eigenen Schlauheit gehabt hat, ist für seine treuen Leser eine Konstante des Werks. ZT geht dabei in einigen Passagen weiter als die zuvor entstandenen Texte. Gerade bei der ersten Seite wurde hier schon die Möglichkeit angedacht, dass sie eine Abwehrgeste darstellt gegenüber unbefugten Lesern, also solchen, von denen der Autor glaubt, dass sie seinem eigenen Anspruch an eine gelungene Textrezeption nicht genügen können.
[…] ich habe Ihnen da entgegen zu halten, daß es ja leider im Verhältnis zu anderen Künsten, der Musik oder der Malerei zum Beispiel, der allgemein verbreitete Irrtum beim Leser ist, weil er lesen kann, könnte er auch jedes Buch lesen, sehen Sie, in der Musik wird das niemandem einfallen, wenn ich da einem Laien eine Partitur vorlege, wird er gern zugeben, daß er nichts, auch gar nichts davon versteht, aber bei einem Buch die Buchstaben sind jedem geläufig, auch einzelne Worte, und so meint jeder, daß er ohne weiteres lesen und vielleicht gar auch schreiben könne, das ist aber ein Irrtum, denn auch in diesem Falle hat sich eben der Fachmann so weit von dem rohen Laien entfernt, daß, das gebe ich Ihnen gerne zu, eine Annäherung da schwer möglich ist, […] [BA Supl. 2, S. 10]
Diese Äußerung stammt aus einem Rundfunk-Interview, das Martin Walser bereits im Jahr 1952 mit AS geführt hat. Die hier zum Ausdruck kommende elitäre Haltung des Autors seinen potentiellen Lesern gegenüber liegt wohl ganz wesentlich auch ZT zugrunde, und das, obwohl es ironischer Weise gerade dieses Buch war, das AS so bekannt gemacht hat wie keine seiner Veröffentlichungen zuvor.
Natürlich wird meine weitere Lektüre nicht durchgehend in dieser Ausführlichkeit annotiert werden können und müssen, wie dies hier für die erste Seite geschehen ist. Es wird sich zeigen, welches Gleichgewicht zwischen Lesen und Enträtseln sich einstellen bzw. wie weit das Lesen und Enträtseln überhaupt gelingen wird.
Bilder: via Textquelle;
Norbert Barth: Arno Schmidt mit Kater Hintze über Zettelkästen, ca. 1955,
via Kater Paul: Arno Schmidt und seine Katzen, 2. Januar 2011.
Wenn ich da einem Laien eine Partitur vorlege:
The Dubliners: Barney’s Mozart, aus: Hometown!, 1972:
Coronadvent 0: Wie Wein in den Muscheln
Update zum Адвент 1: Über Nacht bin ich tot:
Versäumte Gedenktage: Zuerst im unseligen Jahr 2020 hatte Paul Celan (* 23. November 1920 im seinerzeit großrumänischen, inzwischen ukrainischen Czernowitz; † vermutlich 20. April 1970 in Paris) seinen 50. Todestag, „vermutlich“ sinnigerweise an Führers Geburtstag; und weil er da gerade einmal 50 Jahre alt war, hat er als letztes im unseligen Jahr 2020 seinen 100. Geburtstag.
מן השמים תנוחמו und מזל טוב!
——— Paul Celan:
Corona
für Ingeborg Bachmann,
aus: Mohn und Gedächtnis, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1952:
Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:
die Zeit kehrt zurück in die Schale.Im Spiegel ist Sonntag,
im Traum wird geschlafen,
der Mund redet wahr.Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:
wir sehen uns an,
wir sagen uns Dunkles,
wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße:
es ist Zeit, daß man weiß!
Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.Es ist Zeit.
Bild: Paul Celan und Ingeborg Bachmann, via Thalia Theater: Bachmann — Celan, Hamburg 2009.
Dankeschön an לאה זאננעכער!
— mit dem Bonus Track: ДахаБраха: Карпатський реп, aus: Light, 2010:
Und du liegst armselig, krank und blaß
Update zu Weihnachtsengel 1: Brecht (Über die Vergewaltigung von Frigiden)
und Du warst den Meeren mitternachts entstiegen:
Ich selbst möchte so gern auch produktiv sein, aber […] immer wenn ich etwas beginne, habe ich Angst, dass die Leute sagen werden, ich hätte es nicht selbst gemacht. Und deshalb höre ich wieder auf. Oder ich glaube, dass es nichts taugt.
So brieflich am 5. Juni 1940 Margarete Steffin, * 21. März 1908 in Rummelsburg, heute Berlin, † 4. Juni 1941 in Moskau, von Bertolt Brecht als Grete angesprochen und als nicht mehr als dessen engste Mitarbeiterin und Geliebte apostrophiert, sträflich unterschätzt.
33-jährig auf dem Weg von Skandinavien nach Amerika in Moskau an ihrer chronischen Tuberkulose gestorben:
Im neunten Jahr der Flucht vor Hitler
Erschöpft von den Reisen
Der Kälte und dem Hunger des winterlichen Finnland
Und dem Warten auf den Paß in einen anderen Kontinent
Starb unsere Genossin Steffin
In der roten Stadt Moskau.
Für ihre Bedeutung spricht schon, dass Brecht sie als Co-Autorin nicht nur genutzt, sondern gar angeführt und ihr als Kumpanin und manches darüber hinaus schmerzlich hinterhergedichtet hat:
Mein General ist gefallen
Mein Soldat ist gefallen
Mein Schüler ist weggegangen
Mein Lehrer ist weg
Mein Pflegling ist weg…
Sie soll sich als einzige in Brechts heillosem Verhau von Manuskripten ausgekannt haben. Ihr eigenes Werk stand erst unter Verschluss des Ost-Berliner Brecht-Archivs, wurde erst im Laufe der 1960er Jahre bekannt und 1991 zu ihrem 50. Todestag erschlossen.
Seit du gestorben bist, kleine Lehrerin
Gehe ich blicklos herum, ruhelos
In einer grauen Welt staunend
Ohne Beschäftigung wie ein Entlassener.
Ohne sie stünden Brechts Gedichtsammlungen bis heute nicht in der geordneten Form, in der sie stehen. Das oben stückweise angeführte Nach dem Tod meiner Mitarbeiterin M.S., noch von 1941, war naturgemäß schon nicht mehr dabei.
Beim stand des populären Halbwissens über „Brecht und seine Weiber“ drängt sich nach einem ihrer eigenen Sonette in korrektem Blankvers der Gedanke auf: Na, mehr muss man ja wohl nicht wissen. Damit machte man es sich zu leicht. Muss man nämlich doch: Hartmut Reiber, Hrsg.: Grüß den Brecht. Das Leben der Margarete Steffin, Eulenspiegel Verlag, Berlin 2008. Die allesamt erst aus dem Nachlass geretteten Texte mit dokumentarischem Anhang gab 1991 Inge Gellert als Konfutse versteht nichts von Frauen heraus.
——— Margarete Steffin:
Stell dir vor
8. Juli 1933, aus: Konfutse versteht nichts von Frauen. Nachgelassene Texte, Rowohlt, Berlin 1991:
Stell dir vor: es kommen alle Frauen
Die du einmal hattest, an dein Bett.
Ach, die wenigsten sind jetzt noch nett.
Keine, denkst du, ist mehr anzuschauen.Aber alle stehen streng und schweigend.
Eine jede will von dir heut nacht
Ihren Spaß. Und wenn du ihr’s gemacht
Tritt sie seitwärts, auf die nächste zeigend.Gierig langen sie dich an. Verloren
Bist du. Die du einst zum Spaß erkoren
Treiben mit dir einen bösen Spaß.Selbst seh ich mich in der Reihe stehen
Sehe mich ganz schamlos zu dir gehen.
Und du liegst armselig, krank und blaß.
Bilder: Portrait via Deutsche Liebeslyrik;
Ruth Berlau: Margarete Steffin beim Schachspiel mit Bertolt Brecht, via Pedro Hafermann, 9. Juni 2020.
Soundtrack: Fiona Apple: Not About Love, aus: Extraordinary Machine, 2005:
Vom Zwerg am Römerberg
Update zu Vorbild und Nachbild: Nebelschleiern sich enthüllen,
Der deutsche Sonderweg zur Hochkomik 1–10
und vor allem Du hast genug geflennt:
Bei – voller Titel: Die Wahrheit über Arnold Hau. Herausgegeben von Robert J. Gernhardt. F. W. Bernstein und F. K. Waechter bei Bärmeier & Nikel 1966 – bei Arnold Hau also weiß man nie, ob ein Beitrag von Gernhardt, Bernstein oder Waechter stammt. Wie der Dreierpack Die Drei – zusammen mit Besternte Ernte 1976 und Die Blusen des Böhmen 1977 – bei Zweitausendeins 1981 es ausdrückt:
1966 das erste Mal erschienen, alsbald verramscht und 1974 bei Zweitausendeins wiederauferstanden, hat das Buch mittlerweile eine Auflage von weit über sechzigtausend Exemplaren erreicht. Völlig zu Recht, denn wo gibt es das noch einmal: drei Autoren, die derart zusammenarbeiten, daß es ihnen heute schwerfällt, ihre Arbeiten von damals auseinanderzuhalten? Sind ja auch gar nicht ihre Arbeiten, ist alles von Arnold Hau, das ist die Wahrheit, jawohl.
Jawohl. Und sechzigtausend Exemplare sind ein Bestseller und ein siebenzeiliges Gedicht — mit dem nicht ganz unraffinierten Reimschema ABABCBC plus Binnenreim im Vorletzten — ist ein hypertrophierter Limerick.
Dankenswerter Weise wurde Arnold Hau nach 1966 nie wieder nennenswert erweitert oder verbessert oder sonstwie unkenntlich gemacht; sogar die 17. Auflage von 2005 bleibt noch seitengleich mit den drei Erstauflagen, indem sie dreimal von vorne zu zählen anfängt. Egal wo man egal welche Ausgabe in egal welcher Auflage erwischt, soll man sich auf sie stürzen und nie wieder hergeben. Jawohl.
——— Robert Gernhardt, F. W. Bernstein oder F. K. Waechter:
Der unerzogene Zwerg
aus: Die Wahrheit über Arnold Hau, Bärmeier & Nikel, 1966, Seite 147:
Einst tuschelte am Römerberg,
es war im Monat März,
ein feister untersetzter Zwerg
ins Ohr mir einen Scherz.
Der war so säuisch, war so fies,
daß ich den Zwerg am Römerberg
entrüstet stehen ließ.
Hei, wie sich an dieser Stelle anböte, einen nicht weniger säuischen denn fiesen Scherz weiterzutragen, und welch ein Jammer, dass ich dergleichen gar nicht kenne. Unweit vom besungenen Frankfurter Römerberg residiert jedoch seit 2008 das Caricatura Museum für Komische Kunst. Man wird also heutzutage zu Frankfurt ausreichend Gelegenheit finden, sich allerlei Scherze von feisten untersetzten Zwergen oder sonstwem eintuscheln zu lassen.
Bild: Rachael Robinson Elmer: Restoring the Lost Sense, aus: St. Nicholas Magazine, undatiert,
via Abecedarian, 4. Oktober 2014.
Soundtrack zur Heimatkunde: Ludwig van Beethoven: 5. Satz: Allegretto: Hirtengesang. Frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm, aus: Pastorale, Symphonie 6, F-Dur, opus 68, 1807 f. Videomaterial vom Frankfurter Römerberg sichtlich von 2020:
Ich lese jedes Wort von Dir. Die Andern liefern nur Geschmier. (Also sprach der kleine Mops)
Update zu Charakter ist nur Eigensinn. Es lebe die Zigeunerin!:
Zum 105. Todestag von Paul Scheerbart (* 8. Januar 1863 in Danzig; † 15. Oktober 1915 in Berlin) bringe ich seinen zweiten Band Gedichte, der stark nach geistigem Getränke duftet und deshalb oft mit dem ersten, der Katerpoesie, zusammengefasst wird. Offensichtlich wurde der Band posthum veröffentlicht und ist seinerseits einhundertjährig.
Hei, wer besoffen so schön herumspinnen könnte. Das Getränk ist noch frisch, die Gedichte höchst genießbar, ja: süffig.
——— Paul Scheerbart:
Die Mopsiade
Alfred Richard Meyer, Berlin-Wilmersdorf 1920:
Von dieser ersten Auflage, Herbst 1920 erschienen, wurden 20 Exemplare auf echt China-Papier abgezogen und von RUDOLF WEIDNER, NAUMBURG a. S., in Buntpapier gebunden. — Das Titelblatt zeichnete der Dichter.
Mopsiade
Für den ersten Welterlöser
Muss ich mich natürlich halten.
Also sprach der kleine Mops,
Der zu Hause lebt von Klops.
Das quiekende Ei
Und wärmer wird’s im Frühlingswald.
Die alte Sonne scheint nicht kalt,
Sie scheint wie tausend Öfen.
Im Wasser lag das weisse Ei.
Es quiekte auf dem Schreibtisch
Eine schöne Dichterei.
Masslied
Liebe, labe, lobe mich!
Aber nicht so fürchterlich!
Denn die grossen Freuden
Sind mir viel zu viel …
Lebe, liebe dich nur aus –!
Doch mit Laben, Loben halte Haus!
Schlingwahn!
„Alte Jacken!“ „Alte Jacken!“
Ruft das alte Weib.
Und es bläst in ihren Nacken
Der Hansnarr zum Zeitvertreib.„Lasst ihn blasen!“ „Lasst ihn blasen!“
Schreit das alte Weib.
Und sie setzt sich auf den Rasen
Mit dem alten Leib.„Grüss den Springhahn!“ „Grüss den Springhahn!“
Krächzt das alte Weib.
Und sie singt von einer Hinkbahn,
Sagt zum Narren: „Bleib!“„Auf zur Hinkbahn!“ „Auf zur Hinkbahn!“
Blärrt das alte Weib.
Doch der Narr sagt: „Nur der Schlingwahn
Ist ein dummer Zeitvertreib.“„Alte Jacken!“ „Alte Jacken!“
Preist das alte Weib.
Doch der Narr sagt: „Lass die Schnaken!
Denn die füllen keinen Leib.“
Noch ein Mal!
Lass dich noch ein Mal
im tollsten Rausche
Verzückt umfangen –Lass dir noch ein Mal
So selig küssen
Auf Hals und Wangen –Lass mich noch ein Mal,
Ach nur noch ein Mal
Zu dir gelangen –Hurrah!
4. Dezember 95.
Was ist ein Original?
Was ist ein Original?
Ein Ei ohne Schal‘. –
Zum Fressen für die Helläugigen …
Wie lebt ein Original?
In Angst und Qual. –
Schliesslich, schliesslich wird’s nur
Gefressen von den Helläugigen …
Wer sieht dann das Original?
Was weiss ich?
Fürchterlich – fürchterlich –
Ein Ei ohne Schal‘.
Ich weiss – ich weiss:
Nur eine Rettung gibt’s –
Kocht hart, kocht hart
Das Ei ohne Schal‘!
Lass dich vom rauhen Leben
Hart kneten, du Original!
Dann liegst du den Helläugigen
Recht schwer im Magen –
Sie können dich dann nicht vertragen.
Der grosse Mann und der Schlaukopp
oder
Der gegenseitige Kultus
„Mein Freund, Du bist der grösste Mann!
Es zweifelt keine Seele dran!
Ich lese jedes Wort von Dir.
Die Andern liefern nur Geschmier.
Du bist der Einz’ge, der was kann!
O glaub’s, Du bist der grösste Mann!
Was Andre reden, ist nur Quatsch.
Drum reich mir freundlich Deine Patsch!
Wir gründen einen Männerbund
Und hauen los auf jeden Schund!
Damit man endlich doch mal seh,
Worin die wahre Kunst besteh!
Und will einmal ein Schweinehund
Verhöhnen unsern Männerbund,
So kommen wir mit Knüppeln an
Und zeigen, was ein Mann noch kann.
Vor uns muss Jeder tief sich bücken
Und dabei weg sein vor Entzücken!“
So sang voll Hohn ein Bösewicht
Dem Freunde Süsses ins Gesicht.
Und dieser Gute merkte nicht,
Wie leicht das Süsse an Gewicht.
„Der grösste Mann“, rief er voll Stolz,
„Der sei jetzt länger nicht von Holz!“
Und er begann vergnügt zu zechen
Und musste schrecklich dabei blechen.
Der Bösewicht, der freut sich drob,
Er wird beim zwölften Glase grob.
Jedoch der grösste Mann vergisst,
Dass ihm sein Freund oft lästig ist.
Er freut sich seines grossen Ruhms,
Gedenkt nicht seines Eigentums.
Bald ist sein Hab und Gut verschwendet.
Der Bösewicht sich von ihm wendet.
Denn grosse Männer ohne Geld
Sind doch das Schlimmste in der Welt.
So geht’s dem Dummen, der gemütlich
Des Freundes Lob hält für sehr gütlich!
Der Schmeichler ist ein Bösewicht –
Oh, kluger Mensch, vergiss das nicht!
Auch arme Menschen sollen lächeln,
Wenn sie ein Schmeichler will umfächeln.
Verrate deine Grösse nie!
Sei nur ein heimliches Genie!
Die Galle
Ein Tafelgedicht
Mit Euch an einem Tisch zu sitzen
Macht mir den grössten Höllenspass.
Ich träume schon von Euren Witzen.
Wohl dem, der mit Euch Austern ass.Denn was Ihr trinkt
Ist pure Galle.
Und was Ihr esst
Ein alter Quark.Recht grob möcht ich Euch Allen sagen,
Dass Ihr mir nie mehr könnt behagen.
Ihr seid das Luderpack der Welt
Und habt mir manchen Tag vergällt!
Sommernacht
Nun lasst uns wieder preisen
Die grosse prächtige Sommernacht!
Nun lasst uns wieder trinken
Den schweren Feuertrank!
Nun lasst uns wieder jubeln!
Wir sind ja gar nicht müd und krank.
Nun lasst uns wieder dichten
Den wildesten tollsten Bacchantengesang!
Nun lasst uns lustig selig sein!
Wein! Wein in die alte Laube hinein!Schon funkeln die Sterne da oben.
Hei! Stürmisch das Glas erhoben!
Sommernacht, sei gepriesen!
Die bunten Lampen bringt auch herbei!
Und auch die besten Zigarren!
In einer prächtigen Sommernacht
Soll man prassen, schlemmen und schwelgen!
Manches Gedicht
Manches Gedicht mit viel Genie
Ist nur Verhöhnung der Poesie.
Der springende Ton
Der springende Ton,
Der springende Ton,
Der ist mein Sohn!
Und ich bin seine Mutter.
Die backt mit guter Butter
Für ihren Sohn,
Den springenden Ton
Kuchen! – Kuchen!
Dass er sich freuen kann. –
Er wird ein grosser Mann –
Mein lieber Sohn,
Der springende Ton!
Der braucht ein gutes Futter!
Das backt ihm seine Mutter!
Schweige du Hohn!
Es lebe mein Sohn!
Die letzten Trümpfe
Überwinden, überwinden
Wollen wir die letzten Trümpfe.
Und wenn wir das Letzte finden,
Machen wir uns auf die Strümpfe.
Die Reifen
Diese Welt besteht aus Reifen,
Die voll Ärger immer pfeifen,
Dass sie Garnichts mehr begreifen!
Sollen sie sich weiter schleifen,
Dürfen sie sich nicht versteifen
Auf das ewig dumme Keifen!
Lasst sie täglich anders pfeifen –
Sonst gehören diese Reifen,
Die uns immer wieder kneifen,
Nicht zu jenen guten Pfeifen,
Deren Wohlklang wir begreifen.
Kein Gedicht
Ich möchte so gern wie ein Vogel
Durch die Lüfte fliegen.
Ich möchte so gern wie ein Löwe
In der Wüste liegen.
Ich möchte so gern wie ein König
die lange Weile besiegen.
Doch der Glanz der ewigen Sonnen
Begeistert mich heute nicht.
Ich habe Vieles begonnen.
Doch das macht noch kein Gedicht.25. Juli 1894.
Das Festland
Tief unten, wo die Zwerge
Hämmern und feilen,
Muss man eilen.Hoch oben, wo die Adler
Jagen und morden,
Muss man auch eilen –Nur auf dem Festlande
Kann man ruhig sitzen,
Ohne zu schwitzen –Man kann da auch liegen.
Ja, ein Festland ist das feste Land!
Wüsst ich nur, wo das Festland liegt!
???
Und lasst Ihr mich allein,
So will ich mich nicht haben!
Ich werde mein Pein
Schon selber mal begraben.
Frühling
(Parodie auf die Belebung der Blasierten)
Das soll mein feinster Frühling sein!
Es leuchten tausend Sonnen,
Und hinter den Bergen
Wogen die Meere des ewigen Sommers.
Ich komme noch hin.
Ich komme mit Welten
Und lache gewaltig.
Die Berge sind hoch,
Aber rüber komm ich doch.
Tausend Sonnen beleuchten
Den wilden höckrigen Pfad.
Das soll mein feinster Frühling sein.
Das Sonnenlicht macht Alles rein.
Alte, alte Wunderwelt!
Nun geh zur Ruh
Nun geh zur Ruh!
Es ist schon spät,
Nun träume deinen Traum,
Die Welt ist gut,
Die Nacht ist kurz.
Nun träume deinen Traum
Von Liebeslust
Und Seligkeit
Und freundlichen guten Augen
Träume! Träume
Von allen denen,
Die du liebst,
Damit sie dich
Auch lieben –
Ein Abschiedsvers
Weit in die Welt
Spring nur hinein
Mit wildem Geschrei!
Liebst du die Welt?
Spring nur hinein!
Das Leben lacht!
Grüsse die Welt!
Fall nur hinein!
Mein Leben lacht nicht!
Das wird ein Gedicht
Und muss ernster sein.
Weit in die Welt
Spring nur hinein!
Ich bleibe zurück
Und wünsche dir Glück!
Bilder: Erstauflage: „Das Titelblatt zeichnete der Dichter“, 1920;
Portrait & Vignette: Otto Kokoschka, ohne Jahr.
Soundtrack: Marius Müller-Westernhagen: Es geht mir wie dir, aus: Das erste Mal, 1975:
Ich sehe meine Hände an,
denke mir: Warum sind die dran?
Glaube mir:
Es geht mir wie dir.
Jeden Tag betrunken sein,
ich zahle für den Sonnenschein.
Komm,
mach die Augen zu
Wuchtig, in gedrängter Vierzeil‘ singe ich vom Cinnamone
Update zu Hastig die ärmlichen Verse
und Nach einer guten Mahlzeit:
Wir erleben einen ganz ungewohnt aufgeräumten Arno Schmidt in Kalauerlaune. Aus der Reihe: So sinnenfroh konnte der alte missmutige Zausel, nein: Dichterfürst also auch.
Laut den Anmerkungen der Bargfelder Ausgabe konnte bis zur Auflage von 1992 „über Anlaß und Entstehung des von den Herausgebern so genannten ‹Zimtfragments› […] nichts in Erfahrung gebracht werden.“ Als Textgrundlage konnte nur das Manuskript dienen, das vermutlich mit Schmidts restlichem Nachlass im Stiftungsarchiv zu Bargfeld aufbewahrt wird.
Die Niederschrift „um“ 1949 erklärt sich aus der 29. Strophe mit der Jahresangabe, allerdings ist die Strophenreihung auf keine stringente Abfolge angelegt, sondern als Sammlung von Ideen ohne zwingende Reihenfolge. Niederschrift innerhalb ein und desselben Jahres liegt nahe, weil man solche Bierideen erfahrungsgemäß durchziehen muss, solange sie frisch sind.
Zur biographischen Einordnung war Schmidt 1949 mit seiner Frau Alice wohnhaft im Mühlenhof der Cordinger Mühle in der Lüneburger Heide, wo er seinen Erstling Leviathan armutsbedingt auf Formularpapier für Telegramme kritzeln musste. Im Falle des 35-Jährigen zählt das Gedicht also noch unter apokryphe Juvenilia. Viel mehr wird sich darüber nicht mehr herausfinden lassen, aber der Übermut dieses Nebenwerks ist ein gutes Zeichen für Schmidts Schaffenskraft. Es war weder 1989 in Arno Schmidts Wundertüte, der posthumen Sammlung fiktiver Briefe aus den Jahren 1948/49 bei Haffmans, weil es kein fiktiver Brief ist, noch 2013 in Arno Schmidt zum Vergnügen bei Reclam, weil es zu lang ist, und musste deshalb zur Rarität verwittern.
Das Zimtfragment erscheint unten als Internetpremiere nach der Bargfelder Ausgabe korrigiert, wobei selbst im kostbaren „elektronischen Findmittel“ kleinere Unterschiede zur gedruckten Studienausgabe, vor allem in der Zeichensetzung, aufgefallen sind. Schmidts typische französische Anführungszeichen habe ich belassen, diesmal in einer Schweizer, nicht französischen Anwendung. Die Schreibweise „Cinnamon“ verrutscht nur einmal in die Unregelmäßigkeit „Zinnamon“. Nur was ein geschlagene dreimal vorkommender „tin“ sein soll, ist wohl Gegenstand künftiger Forschung.
Meine Lieblingsstrophe ist die 14., die englische, die hat so schön was von Irish Folk, jedenfalls höre ich da die Pogues raus.
——— Arno Schmidt:
Das ‹Zimtfragment›
Manuskript um 1949, cit. nach Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe I, Band 4, Seite 155 bis 159:
1.) Bötet ihr im Pantheone
einen Platz bei Göttern mir,
und ich sollt vom Cinnamone
scheiden – lieber bleib ich hier.2.) Fürsten, Grafen und Barone,
Allen sei ihr Gold geschenkt –
sitz ich nur beim Cinnamone
leicht mit Zucker untermengt
3.) Elbe, Weser, Maas und Rhone
rollen stolz zum Meere hin :
laß mich nur beim Cinnamone,
nicht hinaus steht dann mein Sinn4.) Daß er schnödem Goldstaub frohne
müht sich Arm und Reich gebückt. –
Gönnt mir Staub vom Cinnamone
und ich preise ihn entzückt.5.) Bot dem Sänger man zum Lohne
einst im flutenden Pokal
roten Wein – vom Cinnamone
heisch ich einzig mir ein Mahl.6.) Mohren, singt im vollen Tone –
und ihr, Sphären, fallt mit ein –
mir das Lob vom Cinnamone :
mög‘ er ewig bei uns sein !7.) Hurtig keimt im Beet die Bohne,
grüne Lauben wölbt der Mai;
und ich träum‘ vom Cinnamone –
waldher lockt ein Kuckucksschrei8.) Laßt Euch nur der Schöpfung Krone,
weitgemäulte Toren, schelten;
nur der Duft vom Cinnamone
kann mir als vollkommen gelten.9.) Formt Euch Götzen nur aus Tone,
Marmor, Silber, Erz, Platin –
Vor dem einz’gen Cinnamone
sollte meine Andacht knien.10.) Fragt ihr, was denn würdig wäre
einer höhren Dimension,
werd‘ ich stumm zur tin Euch weisen :
Ruch und Schmack vom Cinnamon !11.) Mögen Plinien und Strabone
melden uns von Fabelküsten –
ich werd‘ – froh beim Cinnamone –
nicht zum Periplus mich rüsten12.) Bötet ihr mir Reiche, Throne
unter der Bedingung an,
daß ich ließ vom Cinnamone –
sucht Euch einen Dümmren dann.13.) Steuerte zur duft’gen Zone
Weihrauchflotten der Lateiner;
im Besitz vom Cinnamone
bringt vom Mühlenhof mich keiner14.) Years have passed and kingdoms gone
Greece and Rome declined and fell –
give me only cinnamon
and the globe may go to hell.15.) Opfert, tanzet, räuchert, fleht zu
Fufluns, Zeus, Merkurium –
wir, in frommem Mohrensinne
baun ein Cin-Ammonium16.) Was dem Landmann Karst und Spaten,
dem Soldaten die Patron‘,
was dem Wechsler der Dukaten
ist dem Mohr der Cinnamon17.) Frag des nahen Haines Echo
ich, geruht am Silberbronn,
nach dem König der Gewürze
säuselt’s englisch : Cinnamon18.) Frag ich das geschlossne Weltall
die Myriaden Mond und Sonn‘
nach dem König der Gewürze
dröhnt’s betäubend : Cinnamon19.) Auf der Kugel der Kanone
ritt Münchhausen tollkühn weg
auf der tin vom Cinnamone
reit‘ ich, trotz‘ ich Allem keck.20.) Daß er Punien unerbittlich
haßte rühmt man an Catonen;
gleich beharrlich soll mein Lied stets
preisend schall’n von Cinnamonen.21.) August, bester der Cäsaren :
legtest eine Garnison
zum Hydreuma des Apollon –
nur zum Schutz des Cinnamon.22.) Rühmt nur Götter, Fraun und Helden,
schnörkelt Epen und Kanzone;
wuchtig, in gedrängter Vierzeil‘
singe ich vom Cinnamone23.) Fortunat‘ aus Famagusta,
glücklich bald, bald Glückes Hohn –
hättst du weise dich beschieden
doch wie wir beim Cinnamon24.) Länder teilt man in Provinzen
(nur die Schweiz hat den Kanton)
Also teil‘ ich die Arom‘ in
andres Zeug – und : Cinnamon !
25.) Was der Phyllis ist ihr Damis
was dem Bjerknes die Zyklon‘,
Eratosthenes die Chlamys,
ist dem Mohr der Cinnamon26.) Shakespeare hat Mac-Beth verherrlicht,
Hamlet, Cäsar und Sir John
Falstaff – – wußt er nichts Erhabners ?
Kannt‘ er nicht den Cinnamon ? !27.) Letzthin kam vom Wunderlande
ein Paket voll von Bacon –
dennoch forschten meine Augen
drin bestürzt nach Cinnamon28.) Vielfach schätzt man Mus und Printen
estimiert auch den Bonbon –
ich hingegen weiß nichts Höhres
mir als Zuck‘ und Cinnamon29.) 1796
stand Fouqué am Ems=Kordon –
1949
stehe ich vorm Cinnamon30.) Hüte sieht man voll Agraffen,
rot vom Schuh wippt der Pompon;
Mohren sieht man rastlos schaffen
fern – beim Reis – beim Cinnamon31.) »Pi-Pi-Pö« ertönt’s aus Linden,
dort bei Vehlows düngt man schon,
und auch mich faßt mailich Sehnen –
träum’risch flüst’r ich : Cinnamon32.) Dieser prunkt mit leeren Titeln,
Jener nennt sich »Graf« und »von« –
ruft mich »Er« – gebt mir [unleserlich: ’ne Nummer?] :
aber laßt mir Zinnamon33.) Was den Christen ihre Götzen :
Vater, heilger Geist und Sohn –
soll uns Mohren voll ersetzen
diese tin mit Cinnamon34.) Ein gewisses Volk im Süden
schätzt sich, sagt man, Makkaron‘
und Musik vor allen Dingen
just wie wir – den Cinnamon.35.)
[Fragment]
Cinnamon Girl: weder das Lied von Neil Young 1970 noch von Prince 2004
noch von Dunkelbunt 2014 noch von Lana Del Rey 2019 — sondern:
Nicolas Fourny photographie featuring die zimmetrothaarige Cathel:
- February 12th, 2016;
- noch eins vom February 12th, 2016;
- March 3rd, 2017.
It’s so beautiful, but it’s not real: Katzenjammer: Tea With Cinnamon, aus: Le Pop, 2008:
Nachtstück 0026: Heut hat der Sommer Schnaps gesoffen
Update zu The boys and girls are one tonight (I marry the bed)
und Du warst den Meeren mitternachts entstiegen:
——— Barbara Maria Kloos:
Münchner Honeymoon
aus: Solo. Gedichte, Piper Verlag, München 1986,
cit. nach Hans Ulrich Hirschfelder und Gert Nieke, Hrsgg.: Nachtstücke. Ein Lesebuch, Suhrkamp 1988:
Himmel, hat der Halbmond
einen Ständer! Die Sterne
reiben sich in Scharen
an seinem gelben Schwanz.Ich glaub, heut hat der
Sommer Schnaps gesoffen.
Die heiße Nacht nimmt mich
von hinten: voll und ganz!
Buidl: Maxine Anastasia für Instagram.
Soundtrack: Frank Zappa: Satumaa (Finnish Tango), live 1974,
aus: You Can’t Do That on Stage Anymore, Vol. 2, Juli 1988:
Dornenstück 0003: Junge Mädchen mit Mündern wie Barrakudas und Körpern wie Zitronenbäume
Update zu „du schaffst es“, sagte ich, „du bist ein Guter …“
und Katerladen:
Allan Davis „A. D.“ Winans war der Verleger von Bukowski; erstaunlich genug, dass er ihm trotzdem noch Gedichte gewidmet hat. Die Übersetzung ist nicht gerade Carl Weissner, aber ich mag, wie der einzige Druckfehler da drin im Wort „Fehler“ vorkommt. Das Buch ist im übrigen ein Schatz, und das sag ich nicht über viele Sampler, nein: Anthologien.
——— Charles Bukowski:
für A. D.
ca. 1983,
aus: Rainer Wehlen und A. D. Winans, Hrsgg.:
BUK. Von und über Charles Bukowski, MaroVerlag, Augsburg 1984, Seite 37 f.,
deutsche Übersetzung Rainer Wehlen:
mache dir nichts aus absagen, mann
die haben mich hart gemacht
eine ziemliche zeitlang
in verschiedenen formenmanchmal macht man den Fehler
das falsche gedicht hinzuschicken
ich mache häufiger den fehler
es überhaupt geschrieben zu habenaber ich spiele lieber in jedem rennen mit
selbst wenn das pferd morgens früh
am totalisator30 zu eins
vorgewettet wirdich denke mehr und mehr über den
tod nachdas alter
krücken
lehnstühle
wie ich hochgestochene gedichte schreibe
mit klecksender federwährend die jungen mädchen mit mündern
wie barrakudas
und körpern wie zitronenbäume
und körpern wie wolken
und körpern wie strahlen aus blitzendem eis
nicht mehr an meiner tür klingelnund nicht an deiner tür
und nicht an unseren türenund statt dessen weiter die straße entlanggehen
wo alles erst in wirklichkeit anfängtmache dir nichts aus absagen, mann
ich habe gestern abend 25 zigaretten geraucht
und das mit dem bier kannst du dir ja denkennur einmal hat das telefon geklingelt
falsch verbunden
Umschlagbild: Rotraut Susanne Berner unter Verwendung einer Zeichnung von Charles Bukowski
für Maro 1984, via Amazon.de.
Buidl: Charles Bukowski: Los Angeles, 9–16–79:
The wind is
blowing, it’s
smoggy and I’m
sober. Things
will get better.
Körper wie Wolken und Strahlen aus blitzendem Eis:
My Bubba bei den Gladden House Sessions am Freitag, 26. Juli 2015,
Musik ca. ab Minute 5:10:
- Gone;
- Knitting;
- Going Home;
- Bob Dylan: You’re Gonna Make Me Lonesome When You Go.
Blumenstück 005: Versprich du es auch
Update zu Nachtstück 0021: Нет хуже ада:
——— Richard Brautigan:
Japanisches Popkonzert
aus: Japan bis zum 30. Juni, Eichborn, Frankfurt 1989, cit. nach Rowohlt, Reinbek 1995, Seite 39,
i. e. June 30th, June 30th, Delacorte Press/Seymour Lawrence, New York 1977,
deutsche Übersetzung: Günter Ohnemus:
Vergiß nie, nie
die Blumen
die nicht angenommen wurden,
vehöhnt wurden.Ein sehr schüchternes Mädchen gibt dem
angehenden Popstar einen schönen,
einen wunderschönen
Blumenstraußzwischen zwei Liedern. Wieviel Mut
sie gebraucht hat, zur Bühne
hinauszugehen und ihm die Blumen zu
geben.Er legt sie wie Unrat
auf den Boden. Da liegen sie jetzt.
Sie geht zu ihrem Platz und schaut
zu ihren Blumen hinaus.
Dann hält sie es nicht mehr aus.Sie flüchtet.
Sie ist weg
aber die Musik geht weiter.Ich versprech es.
Versprich du es auch.Tokio
31. Mai 1976
Bild: Eichborn-Cover, Auflage 1996.
Soundtrack: 郷ひろみ: あなたがいたから僕がいた, 1976. Musik ab Sekunde 47:
~~~\~~~~~~~/~~~
Bonusbild: 正刀: 聴こえない, 24. März 2020.
Doch jene Wolke blühte nur Minuten
Update zu Mille tre und
Meine Urgroßmutter und die Wolken:
Nach neuesten Forschungsergebnissen war eine literarisch wirksam gewordene Wolke im Jahr 1920, vielleicht auch schon, man weiß es nicht, 1919, eine Cirrocumulus-Wolke. Literarisch wirksam ist sie durch das Gedicht Erinnerung an die Marie A. von Bertolt Brecht, und eine Cirrocumulus oder „Kleine Schäfchenwolke“ ist sie durch die Eigenschaften der Cirrocumulorum: Sie entstehen in großen Höhen von sechs bis zehn Kilometern — daher ihre Charakterisierung als „ungeheuer oben“ —, gern auch in ansonsten wolkenfreien Räumen, sind eher selten, dann aber bei ihrem Aufzug aus westlichen Richtungen unter der Sonneneinstrahlung „sehr weiß“ und lösen sich schnell auf — denn „als ich aufsah, war sie nimmer da“ (1. Strophe, Schluss) oder „schwand sie schon im Wind“ (3. Strophe, Schluss).
Brecht schrieb die Urfassung des vielleicht schönsten Gedichts von allen, bestimmt aber sein eigenes schönstes, am 21. Februar 1920 auf einer Zugfahrt nach Berlin als Sentimentales Lied Nr. 1004 über Marie Rose Amann — also frisch 22-jährig über eine Jugendliebe, die er als 18-jähriger Schüler erlebt hatte. Die dazuerfundene Melodie richtete sich bei Brechts eigenen Wiedergaben zur Klampfe nach Verlor’nes Glück von Leopold Sprowacker 1896.
Cirrocumuli weisen auf einen Wetterumschwung hin, im Sommer — also in seinen letzten Ausläufern durchaus noch „im blauen Mond September“ — auf eine Kaltfront innerhalb eines Tiefdruckgebietes oder Hitzegewitters. Vor allem wenn sich im Tagesverlauf Cumulus-Wolken hinzugesellen, droht ein Gewitter, wie wir Was die zehn wichtigsten Wolkentypen verkünden von Wolfgang W. Merkel in der Welt vom 21. August 2011 entnehmen.
Rechnen wir mal nach: Brecht hat vier Jahre nach dem Geschehen, im Alter von 22 Jahren, eine Jugendliebe in Verse gefasst, die prozentual auf seine Lebenszeit umgerechnet eine Ewigkeit zurücklag. Dafür hat er in einem „sentimentalen Lied Nr. 1004“ — das ist: eine mehr als die mille tre, die Don Giovanni bei Mozart in Spanien „hatte“ — ganz schön kaltherzig über eine Mitschülerin vom Leder gezogen, die vier Jahre später rein rechnerisch noch keine sieben Kinder haben kann. „Sie war es, die das Verhältnis beendete“, erfahren wir erst 1979 im Interview mit Kurt Tetzlaff. Der Wetterumschwung, von dem Cirrocumulus kündet, ist ein Umschwung vom sommerheiß verknallten Schulbuben zur Kaltschnauze.
Ich finde ja, solche Wetterhinweise wurden bislang für die Interpretation von Gedichten viel zu leichtfertig vernachlässigt.
——— Bertolt Brecht:
Erinnerung an die Marie A.
21. Februar 1920, in: Bertolt Brechts Hauspostille, Propyläen Verlag, Berlin 1927<:
1
An jenem Tag im blauen Mond September
Still unter einem jungen Pflaumenbaum
Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe
In meinem Arm wie einen holden Traum.
Und über uns im schönen Sommerhimmel
War eine Wolke, die ich lange sah
Sie war sehr weiß und ungeheuer oben
Und als ich aufsah, war sie nimmer da.2
Seit jenem Tag sind viele, viele Monde
Geschwommen still hinunter und vorbei
Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen
Und fragst du mich, was mit der Liebe sei?
So sag ich dir: Ich kann mich nicht erinnern.
Und doch, gewiß, ich weiß schon, was du meinst
Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer
Ich weiß nur mehr: Ich küsste es dereinst.3
Und auch den Kuss, ich hätt‘ ihn längst vergessen
Wenn nicht die Wolke da gewesen wär
Die weiß ich noch und werd ich immer wissen
Sie war sehr weiß und kam von oben her.
Die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch immer
Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind
Doch jene Wolke blühte nur Minuten
Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.
Die weiß ich noch und werd ich immer wissen: Filipp Chilov: Cirrocumulus virga in Hamburg, 24. Juli 2012:
Niederschlag, der den Erdboden nicht erreicht: Das ist eine Beschreibung vom sog. virga. Hier äußert sich der Niederschlag in Form von Eiskristallen als Streifen unterhalb der Wolke: Cirrocumulus virga.
Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer: Marie Rose Amann, via Liebte Brecht die Marie A.?, Augburger Allgemeine, 3. Januar 2017.
Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen…: Kurt Tetzlaff, Dokumentarfilm, 10 Minuten, DDR 1979:
Vor der Kamera äußert sich die heute fast 80jährige Marie Amann, eine Jugendliebe des damals 18jährigen Bertolt Brechts. Sie erinnert sich an den jungen Dichter und an ihre eigenen Gefühle für ihn, die aus Neugier, Stolz, Liebe, Unverständnis und auch Angst zusammengesetzt waren. Sie war es die das Verhältnis beendete. Brecht widmete ihr eines seiner schönsten Gedichte „Einnerungen an Marie A.“. Aus dem Gedicht wurde ein Lied, das von Ernst Busch im Film gesungen wird. Die einzelnen Strophen kommentieren die Erinnerungen der alten Dame, die durch Fotografien anschaulich gemacht werden.
Soundtrack: Ernst Busch: Erinnerung an die Marie A.,
für Konrad Wolf: Busch singt — Sechs Filme über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, DDR 1982:
But little girls grow up, my friend
Update for Schlachtens,
Lasst mich scheinen, bis ich werde (Mit Freuds Worten singt Mignon als Engel ihr Liebeslied der schönen Seele ohne Geschlecht),
Zu Lolitas Verteidigung,
and Babes With Guns:
No need to argue, Strangers in Paradise by Terry Moore (not to be confused with Alan Moore), running from January 1st, 1993 to its planned conclusion with issue #90 of volume 3 on June 6th, 2007, was the second-best comic series of all times known.
Often referred as the comic book to give to people who do not read comic books, SiP brings a storyline over literally three lives, featuring the characters — Katina „Katchoo“ Choovanski, Francine Peters, David Qin — through their life ages, including their monochrome-scribbled appearance and behaviour, over the generations. Not many „sagas“ attend so many characters with such elaboration and profound psychology — and exciting action scenes.
In her age for high school, Katchoo is characerized as socially and sexually abused — not to spoiler or trigger. With the knowledge that she is going to be an artist (and a noble prostitute) in her later life, we are following not only a Lolita, but even a Mignon character emerging to her adult life. Katchoo, painted here as a grumpy, rebellious Gothic kid, makes an encouraging experience in her creative writing class, presenting her self-exposing poem — obviously not her first artistic attempt. A grand moment within the series.
Since Katchoo’s birthday is positively specified as November 19th, 1972 — she shows her driver’s licence when checking into a motel — we may assume the plot setting in the school year of 1987/1988 or one later.
Around 2005, I made the scan of the bookpage myself to show it to a German schoolgirl, who was in Katchoo’s age then, and in her physical condition: abused, grumpy, and with an inclination to arts and writing. Now when she should be aged 30, I cannot find her name in any connection with fame (or prostitution).
——— Terry Moore:
This Mask I Wear
„Katina Choovanski“ in: Strangers in Paradise, volume 3, issue #13, Abstract Studio, 1997,
collected in: High School!, Strangers in Paradise Pocket Book 2,
and The Complete Strangers in Paradise Volume 3, Part 2:
by 16 year old Katchoo
This mask I wear you gave to me
One winter night beneath the trees.
It’s black and blue enshrouds my life,
Surrounds my eyes and blinds my sight.This mask I wear pretends I’m here
And hides me from the awful fear
That you might find the heart of me
And take that too, beneath the trees.This mask I wear to hide the pain.
It’s all I have to keep me sane.
I just fell down, I’m told to tell.
There are no words to stop this hell.This mask I pray to God for why
He hates me so to watch me die
A little more with every night
This man comes in and rapes my life.But little girls grow up, my friend
And learn the wicked ways of men.
And this mask I wear comes off the day
This mask I wear lays on your grave.
Images: Terry Moore via High School!; The Complete Strangers in Paradise Volume 3, Part 2, 1997.
Musical setting: Densha Donahoe via Rodrigo Daher, 16. September 2008:
Dornenstück 0002: Vom Doddredn und Zuzzeln
Update zu Urbane Legenden: Der Hugendubel am Marienplatz
und Herrjeh, schweigt mir vom Tegernsee!:
Der Verfasser versichert glaubwürdig, dass er selber nicht mehr weiß, wann er das verfasst hat — was ein neues, milderes Licht auf die mangelhafte Einordnung literarischer Texte wirft: Woher soll es dann jemand anders wissen? Noch bessere Nachricht: Derselbe Verfasser ist, sei es vorher oder nachher, mit weit eindeutiger nachweisbaren Veröffentlichungen hervorgetreten. Die Wiedergabe erfolgt ohne sein freundliches Einverständnis, aber da muss er durch.
——— Frank T. Zumbach:
Mehr sog i ned
Spätes Novencento:
Meine Frau hatte diese efeubewachsene Villa auf dem Lande geerbt, also zogen wir eben aufs Land. Wir befürchteten nicht, dort zu ‚versauern‘, wovor uns wiederholt Freunde glaubten warnen zu müssen. Stadtleben, Landleben, uns war das egal. Ich mag die Berge und das Meer, verstehen Sie? Man nimmt sich überallhin selbst mit, und allein ist man in bester Gesellschaft. So dachten wir anfangs.
Eine angenehme, ja herzerfrischende Eigenart des Landlebens besteht darin, daß man nach einiger Zeit beim Bäcker, Metzger, Apotheker, Lebensmittelhändler usw. mit Namen gegrüßt wird. Schallend. Ah, der Herr und die Frau … ! Auf Behörden heißt es: Es ist zwar schon viertel nach sechs, aber wenn Sie schon einmal da sind, kommen’s nur herein, nehmen’s Platz, mögen’s vielleicht an Willi? Und auf der Straße sagt dauernd irgendjemand, an dessen Gesicht man sich nicht im mindesten erinnert, ‚Grüß Gott‘. Wer war das bloß? Ein Nachbar, ein Verkäufer? Kein Mensch kann sich so viele freundlich zunickende Gesichter merken.
Auch Schrulligkeiten kommen vor, liebenswerte Landschrulligkeiten. Der Arzt, der sich beim ersten Termin unter den Platz am Schreibtisch zu seinen Schuhen bückt, den offenen Schnürsenkel zubindet und dabei unachtsamerweise ans Tischbein fesselt. Die Gemüsefrau, die zur Verabschiedung merkwürdige Muli-Schreie ausstößt. Und der Arbeiter, der ein Stück Grünfläche aufrollt und auf die leutselige Frage, was er denn da mache, ein ‚Mpf!‘ ausstößt und durch verzweifelte Gesten und Grimassen andeutet, er wisse es selbst nicht genau.
Leuten, die geflissentlich im Wege stehen, den roten Einkaufswagen mit Gewalt in die grüne Einkaufswagenkolonne zu drücken versuchen und schon beim ersten lauen Frühlingslüftchen Socken in Sandalen tragen, kann man auch in der Stadt begegnen, nur nicht so häufig. Insbesondere die Socken-in-Sandalenträger ahnen schließlich nicht, welchen Unmut sie bei mir auslösen. Ich ertappe mich dabei, sie zu zählen, und komme ich über zehn, ist mir der Tag verdorben. Ich zweifle dann am Menschengeschlecht. Aber das kapieren sie nicht, diese Idioten mit ihren häßlichen Quanten! Ach, was rede ich mich in Rage. Es gibt ganz andere Ärgernisse.
Das mit der Haustierkot-Trennung zum Beispiel. Mindestens einmal im Monat fährt man an diesen widrigen Ort, an dem Hunderte von Bürgern eifrig ihren Haustierkot entsorgen. Der größte Behälter ist für Hunde-, ein etwas kleinerer für Katzenkacke, nicht zu übersehen. Hasen-, Karnickel- und Meerschweinchenködel in die grüne Tonne, bitte! Pferdeäpfel heute nicht vor 16 Uhr. Für Guano sind Sie hier falsch, das ist Sterntalerstraße 8. Alles gut und schön. Ich halte mir leider Chamäleons. Sie passen, als Krawatte geschlungen, immer zum Anzug. Man muß nur aufpassen, den Knoten nicht zu stramm zuzuziehen, denn sonst macht es ‚knack‘ und das Reptil rutscht leblos zu Boden. Ich verbrauche pro Jahr ungefähr sechs bis sieben Chamäleons, aber glauben Sie, jemand hätte an ein Behältnis für Chamäleonexkremente gedacht? Ja sollen denn die Tiere in ihrem eigenen Kot ersticken?
Überhaupt, mit Tieren ist das auf dem Lande so eine Sache. Ich persönlich bin ein großer Anhänger bayrischen Brauchtums. Kein Maibaumaufstellen, keine Stub’n- oder Blasmusi, kein Perchtentreiben, keine König-Ludwig-Gedenkfeier mit Gebirgsjägerböllerei, wo ich nicht begeistert dabeistehe. Weißwurst, Leberkäs, sogar ’saures Lüngerl‘ – jederzeit! Aber hier bei uns herrschen schon eigentümliche Bräuche. Letzten Herbst, bei einem Spaziergang über die Felder, es dämmerte schon, kamen wir an einem Gehöft vorbei, und da war ein lebendiger Rauhhaardackel an das Scheunentor genagelt.
„Grüß Gott,“ sagte der Bauer, aus der Haustür tretend und sich wohlwollend zu uns gesellend, „Sie wundern Eahna wohl über den Rauhhaardackel am Scheunentor?“
Wir nickten beklommen. Die Porzellanpfeife mit Deckel in seinem Mundwinkel war dem Kopf von Franz Josef Strauß nachgebildet. „Jo, des is bei uns hoid so Brauch,“ erklärte er. „Warum?“ fragte ich blöde. Er antwortete mit einem ‚Gstanzl‘ und schlug sich dazu im Takt wuchtig auf die Schenkel, während aus dem geöffneten Fenster die passende Hackbrettbegleitung erklang: „Wenn der Rauhaardackel, wenn der Rauhaardackel, aufm Scheuntor droben muaßt an Herrgott loben, wird der Winter milder und die Madel wilder sog’n ma Pfüagott am liaben Herbst!“ Wir klatschten höflich, aber das arme Hundchen hob den Kopf, blickte uns aus treuherzigen Äuglein an und kläffte: „Ned klotschn, ned klotschn, des bringt fei Unglück!“ Der Bauer sah uns unverwandt an, ging wieder ins Haus, und wir traten schweigend den Heimweg an.
Heuer war’s, es ist gerade mal zwei Wochen her, da spazierten wir um den See der Gemeinde. An einer seichten Stelle hatte sich eine große Volksmenge versammelt, und einige Männer trugen Gamsbarthüte und leuchtend rote Trachtenjanker. Schon von weitem vernahmen wir ein gedämpftes Geräusch, das man nur lautmalerisch mit ‚Knurtscheln‘ umschreiben kann – wie es übrigens auch dem hiesigen Sprachgebrauch entspricht. Zwei Polizisten, die uns zuerst mißtrauisch beäugten, riefen unisono ‚Grüß Gott!‘ als sie uns erkannten, und auf meine Erkundigung, was es denn hier zu sehen gebe, drucksten sie ein wenig herum. Der Vorgang schien schwer erklärbar, offenbar bedurfte er eingehender Erläuterung, zu der sie entweder zu lustlos oder nicht imstande waren; mit einem bloßen ‚Mpf!‘ hätte ich mich diesmal allerdings nicht zufrieden gegeben. „Jo mei,“ sagte schließlich einer der beiden, „dös is hoid dös alljährliche Antndoddred’n.“ „Dös wos?“ fragte ich, unwillkürlich in Dialekt fallend. „No schaugns hoid selba,“ sagte der andere und rief den Nächstehenden zu: „Do mochts a weng Plotz für de Zuagroasten!“ Eine Gasse tat sich auf, wir schoben uns hindurch. Die Sonne spiegelte auf der Wasseroberfläche und blendete uns zunächst. Dann traute ich meinen Augen nicht. Auf einem Rasenstück am Ufersaum traten die mit den roten Jankern tatsächlich mit ihren groben Haferlschuhen Enten tot. Aus unerfindlichen Gründen fügten sich diese still und ohne das geringste Flattern in ihr Schicksal. Das erzeugte jenes ‚knurtschelnde‘ Geräusch, und jedesmal, wenn ein Federvieh verendet war, rief ein älterer Herr, der den voluminösesten Gamsbart am Hut trug, laut konstatierend: „Knurtschelt hods!“, wozu die Menge beifällig murmelte. Nach der Zahl der toten Enten zu schließen, neigte sich das Schauspiel gerade seinem Ende zu. Der ältere Herr sagte noch „Damitsas endlich lernen, de Sauviecher de dreckaten“, aber es klang keineswegs grimmig, sondern wie der einstudierte Schlußtext eines Rituals. Die Zuschauer verstreuten sich nun, und wir pirschten uns an ihn heran, um mehr über die Hintergründe zu erfahren. Er stellte sich als Dr. Dr. Schirmer vor, Gymnasiallehrer a. D. , Heimatforscher und Vorstand des örtlichen Antndoddreder-Vereins. Der Brauch gehe auf ein Ereignis im Mittelalter zurück, als ein Trupp Welfen wieder einmal die Ortschaft überfiel und die Bewohner durch Austeilen von ‚Watschn‘ und Urinieren an Pavillons schier zur Verzweiflung trieb. Ein von langer Hand geplanter nächtlicher Überraschungsangriff auf das Welfenlager, das jene hier am See aufgeschlagen hatten, schlug jedoch wegen des laute Schnatterns der ansässigen Enten fehl, was unerhörte Drangsalierungen und Hochnotpeinigungen der Einheimischen zur Folge hatte. Weshalb Enten noch heute als ‚Verrätervögel‘ gelten, die zweimal jährlich durch den Antndoddreder-Verein eine verdiente Lektion erteilt bekommen. „Aber das ist doch das letzte!“ entfuhr es meiner Frau. „Glauben Sie denn selbst an diesen Mist?“
Er sah uns lange aus graublauen Augen an, lächelte resigniert, sagte „Versteh scho“, wandte sich um und entfernte sich im Abendrot. Wir sahen ihm noch lange nach. Er schritt aus wie a ganz a Junger, und wir dachten: Er sieht rüstig aus für sein Alter.
Seither sind, wann immer wir uns in die Öffentlichkeit begeben, die ‚Grüß Gotts‘ um uns her allmählich versiegt und erloschen. Es hat sich ausgegrüßgottelt. Wir vermissen das jetzt. So ist es immer, wenn man etwas zu lange als selbstverständlich vorausgesetzt hat. Man muß mit dem Strom schwimmen. Ich habe versucht, beim naheliegenden Gymnasium ‚Fensterlkurse für Heranwachsende‘ anzubieten, ein Vorschlag, der mit größter Zurückhaltung und dem verwirrenden Bescheid, „man habe derzeit keine Kapazitäten frei“ aufgenommen wurde. Meine Frau offeriert fleißig Batik-, Töpfer- und Feng-Shui-Kurse im Lokalanzeiger, um nur wieder in Kontakt mit der Bevölkerung zu kommen: Resonanz null. Es wird vermutlich noch lange dauern, bis wir die Scharte ausgewetzt haben.
Vorgestern entdeckte ich in der Gemeindebibliothek Schriller-Eulenschreis Standardwerk über örtliches Brauchtum, von dem der Bibliothekar jedesmal mit einem scheuen Seitenblick behauptete, es sei gerade ausgeliehen. Ich weiß jetzt, warum. Beim Durchblättern stieß ich unter ‚Z‘ auf ‚Des Zuagroastenboandlzuzzeln‘. Wissen Sie, ich habe ein gesundes Nervenkostüm, aber dieser Absatz ließ mir denn doch das Blut in den Adern gefrieren. Meine Frau habe ich noch nichts davon erzählt, um sie nicht unnötig zu beunruhigen. Vielleicht sollte ich’s doch lieber tun. Als ich blaß hinausschlich, sah mich der Bibliothekar diesmal direkt an, mit einem sonderbaren Ausdruck aus Strenge, Mitleid und Schadenfreude. Ich kann nur hoffen, inständig hoffen, daß der Brauch des Zuagroastenboandlzuzzelns inzwischen der Vergangenheit angehört. Mehr sog i ned.
Buidln am Beispiel Olchings, erst 2011 der Misere der bevölkerungsreichsten Gemeinde Bayerns ohne Stadt- und Marktrecht ent- und zur Stadt erhoben:
- Heimat- und Volkstrachtenverein Olching e. V.: „Unsere Fahne — das Schmuckstück des Vereins!„;
- Gebirgstrachtenerhaltungsverein Immergrün Graßlfing e. V., gegründet 1933: Wir über uns:
Große und kleine, sehr aktive und heimatverbundene Familienbande halten den Verein lebendig, organisieren den Jahreslauf und freuen sich auf Auftritte, Vereinsabende und Festtage.
Unsere Tracht,
die Miesbacher Gebirgstracht wird vom Münchner Süden über Lengries bis fast zum Chiemsee getragen.Das Gewand der Frauen und Deandl,
bestehend aus Rock und Spenzer mit gesmoktem Ärmel in blau, Mieder mit Silbergeschnür, Leinentuch und -schürze mit Spitzeneinsatz, Miesbacher Deandlhut und -schuhe sowie handgestrickte weiße Strümpfe.Die Männer
in kurzer Lederhosn gelb bestickt, graue Joppe mit Eichenlaubmuster, dunkelgrüne Weste mit Silberknöpfen, Hosenträger (Quersteg) mit Stickerei, weißes Trachtenhemd, und Miesbacher Hut und -schuhe. Zu Kirchenfesten wird eine schwarze Stoffhose getragen.
Stub’n- ohne Blasmusi: Sagschneider Dreigsang: Leg di eina,
in: Musikantentreffen im Werdenfelser Land , 1. Juni 2019:
Und das soll immer mein sein
Upate zu so net,
Wære diu werlt alle mîn und
Wunderblatt 10: Herzensbrand und der eisige Westwind:
Wo du stehst,
wenn du gehst,
wenn du bleibst,
morgens deine Augen reibst,
und die Spuren im Sand,
und die Schatten an der Wand
und das, was ich dir nicht sagen kann,
all das soll immer mein sein,
denn ich will nie mehr allein sein.Thomas Dörschel: Mein Sein, für Virginia Jetzt!, a. a. O., 2002.
Konkrete Poesie hab ich von Anfang gemocht, wobei Anfang heißt: Das war bei uns in der fünften Klasse im Lesebuch, in meinem Fall ab dem Schuljahr 1978/1979. Hat mich seitdem nie wieder vollends in Ruhe gelassen. Konkrete Poesie atmete den Geruch von hoher, ernstzunehmender Kunst, gebärdete sich aber verspielt, war mit einfachen Mitteln zuhause herzustellen und für jeden, der schon mal einen Zeichentrickfilm mit Gewinn angeschaut hatte, verständlich.
Meine eigenen Versuche auf dem Gebiet der Konkreten Poesie handelten meist von weiblichen Vornamen, deren Buchstaben Ausdruckstänze vollführten oder irgendwas miteinander trieben. Leider gelangten sie selten über das Stadium des Entwurfs mit Mutters Stenofüller bis in die kanonische Gestalt mit Schreibmaschine, weil mir ein leistungsfähiges Gedicht in dieser Machart zu schaffen ähnlich titanisch vorkam wie jedes handelsübliche „Südstaaten-Epos, das sich über vier Generationen einer Ketchupfabrikantendynastie erstreckt“ auch. Außerdem war mit diesen mageren, über eine A4-Seite verteilten paar Buchstaben beim Herumzeigen in der Kneipe kein Schnitt zu machen.
Unbedingt klar ging der Gründungsvater Eugen Gomringer, manche ehrgeizige deutsche Dichterfürsten waren mir schon damals zu erdenschwer. Die Österreicher konnte man unbesehen alle lesen: die ganze Wiener Gruppe und meine persönlichen Helden H. C. Artmann und Ernst Jandl. Die machten eine Kunst, die von „können“ oder wenigstens von aussichtsreichem Versuchen kommt, und scherten sich nix, wenn’s um den Preis von zuviel Albernheit war. Bis heute schätze ich es sehr, wenn in die Kunst egal welchen Mediums eine Ebene eingezogen ist, über die man beim Hinschauen grinsen muss. Merkt man wahrscheinlich ein bissel.
Ein Bayer namens Wolf Wezel war nie dabei; bis heute hat es der Gute nicht zu einem Wikipedia-Artikel gebracht, und angesichts der auffindbaren Quellenlage werde nicht ich der Mann sein, einen anzulegen. Die vollständigen Quellen sprudeln laut Eugen Gomringer in seiner Anthologie konkrete poesie: deutschsprachige autoren, Reclam 1972, Seite 146:
wolf wezel
geboren 1935 in ludwigsburg.
jura- und philologiestudium in tübingen und münchen, dr. phil. als justitiar einer versicherungsgesellschaft in münchen tätig, mitbegründer der studio UND, münchen, herausgeber der edition UND, jürgen-willing-verlag.
lebt in planegg bei münchen.
veröffentlichungen:
sandkerben. stuttgart: burkhardt 1961.
meinsein. münchen: jürgen-willing-verlag 1968 (edition UND).
tensione (mappe calderara). zürich 1971.
eins. münchen: willing verlag 1972.druckvorlagen: konzeptionelle kunst, mailand: vanni scheiwiller 1970 (147), meinsein (148, 149, 150, 151).
So unliebsam Eugen Gomringer mit seiner Konkreten Poesie — wir erinnern uns: speziell mit seiner Konstellation avenidas an Hausmauern aufgefallen ist — was mich ungerührt in seinem Team verweilen lässt — mag für ihn sprechen: Das Reclam-Heft von 1972 gibt’s immer noch verlagsfrisch, erweitert, aktualisiert und „längst selbst ein maßgebender Bestandteil der Geschichte dieser avantgardistischen Lyrikform nach dem Zweiten Weltkrieg“, letzte Auflage 2018.
——— Wolf Wezel:
meinsein
aus: meinsein, Jürgen-Willing-Verlag, München 1968,
cit. Eugen Gomringer, Hrsg.: konkrete poesie, Reclam 1972, Seite 148 bis 151,
.pdf-Scan in UbuWeb:
Soundtrack: Virginia Jetzt!: Mein Sein, aus: Wer hat Angst vor Virginia Jetzt!, 2003;
Videojungfernregie: Benjamin „Nichts bereuen“ Quabeck,
featuring Julia „Absolute Giganten“ Hummer in Welpenform:
Sylvia Spinster
Update zu Nachtstück 0024: I wish you were dead, my dear:
One doesn’t become a witch to run around being harmful, or to run around being helpful either, a district visitor on a broomstick. It’s to escape all that ― to have a life of one’s own, not an existence doled out to by others. ―
Sylvia Townsend Warner: Lolly Willowes, 1926.
How dreadful it is that because of our wills we can never love anything without messing it around! We couldn’t even love a tree, a stone even; for sooner or later we should be pruning the tree or chipping a bit off the stone.
Sylvia Townsend Warner: Mr Fortune’s Maggot, 1927.
While I slept we crossed the line
between May and June:
The morning came, gently walking
down from the hill,
And by the time I stirred it was
full day
And she had brought summer with
her into my room.
Das Buch war ein Fund in unserem Treppenhaus, in der lebhaften Tauschbörse, die auf dem Mauerabsatz über den Briefkästen ganzjährig still vor sich hin stattfindet: Sylvia Townsend Warner (6. Dezember 1893; † 1. Mai 1978): Mister Fortunes letztes Paradies, Unionsverlag, Zürich 1996, deutsche Übersetzung: Helga Weigelt, das ist: Mr Fortune’s Maggot, Chatto & Windus Limited, London 1927. Im deutschen Nachwort von Jacques Roubaud fiel der Satz auf: „Sie wird zeit ihres Lebens eine Vorliebe für jene absonderlichen Lyriker englischer Tradition hegen, die nicht exportierbar, brummig, exzentrisch und erzenglisch sind, die aber nicht eigentlich zu den Besten gehören“ – siehe unten.
Das ist natürlich cool, so eine Vorliebe. Das sollten sie nicht im Nachwort vor der Öffentlichkeit ausschließen, sondern mindestens gefettet in den Klappentext schreiben, dann weiß ein jeder gleich, dass er die Warnersche lesen muss. Das Nachwort selber macht keinen Hehl daraus, dass Mister Fortunes letztes Paradies gar nicht so sehr das spontan begeisterndste von Warners Büchern ist – das wäre Lolly Willowes –, nennt es vielmehr so vorsichtig wie respektvoll das „vielleicht in sich geschlossenste“, dass es auch schon wieder cool ist.
Leider unterschlägt es 1996 noch verschämt, wovon ihre postmillennialen, der politisch korrekten Diversität verpflichteten Lebensbeschreibungen vordergründig handeln: wie stocklesbisch sie war. Der Einfluss ihrer Lebensliebe Valentine Ackland auf ihr belletristisches, biographisches, musikwissenschaftliches, journalistisches und politisches Werk ist zumindest menschlich überhaupt nicht zu überschätzen. Offensichtlich finde ich Leben und Werk der Townsend interessant und mitteilenswürdig genug, um das Nachwort aus ihrem einzigen auf Deutsch erhältlichen Roman — einschließlich der fies zu maskierenden Kapitälchen und einigen Verlinkungen — abzutippen, aber ich empfehle selbstständig weiterzulesen. Online und allem voran ihr Lolly Willowes.
——— Jacques Roubaud:
Sylvia Townsend Warner
Porträtfragmente
Nachwort zu: Mr Fortune’s Maggot, Chatto & Windus Limited, London 1927,
deutsch: Mister Fortunes letztes Paradies, Unionsverlag, Zürich 1996:
London, 1926: Sylvia Townsend Warner veröffentlicht ihren ersten Roman, Lolly Willowes. Der Verlag, Chatto & Windus, ist berühmt. Der Roman wird es nur fast. Die Leser werden informiert, daß Miss Warner dreißig Jahre alt sei, bisher einige Gedichte veröffentlicht habe, wie viele andere Autorinnen auch, und dies nun ihr erstes fiktives Werk sei.
Porträt der Künstlerin, einer intelligenten jungen Frau David Garnett, der sie damals zum Schreiben ermutigte, hat sie als eine dunkelhaarige Sylvia (mit ständig gerunzelten Brauen) in Erinnerung, schlank (wenn nicht gar brandmager), immer in Hast und mit gewelltem Haar; eine Brille in einem vor Lachen, Ungeduld und Intelligenz sprühenden Gesicht. Wenn er redete, glühte sie vor Ungeduld, ihn zu unterbrechen und seine zögernden, banalen Sätze durch etwas Eigenes, viel Lebendigeres zu ersetzen. „Wenn ich mich mit ihr unterhielt“, schreibt er, „hielt ich manchmal einen Moment inne, um zu überlegen, ob ich auch das richtige Wort traf, und sie nutzte mein Zögern, um sich meines schwebenden, in meinem Mund noch unvollständigen Satzes zu bemächtigen und ihm eine weitaus interessantere Wendung zu geben; ich hatte zusehends das Gefühl, geradezu brillant zu werden.“
Kindheit und Jugend Sylvia Townsend Warner wurde am 6. Dezember 1893 in der typisch englischen Ortschaft Harrow-on-the-Hill geboren. Ihr Vater war Master an der nahegelegenen, weitherum bekannten Schule von Harrow. Er unterrichtete Geschichte. nach einem kurzen Aufenthalt im Kindergarten, aus dem sie wegen Frühreife und Ungehorsam verwiesen wird, wird sie zu Hause unterrichtet: ihre Mutter unterrichtet sie zwei Stunden am Tag in allen Fächern, außer in Geschichte, die ihr Vater ihr erzählt. Geschwister hat sie keine; sie liest. Mit ihrem Vater verbindet sie eine idyllische Beziehung. Die Mutter ist eine ungeheuer tüchtige, geistreiche, aber auch autoritäre Frau, mit der nicht einfach auszukommen ist. „Solange sie nicht Aktionen befürwortete, die gesetzeswidrig waren oder zu einem öffentlichen Sklandal führten, war mein Vater immer einer Meinung mit ihr.“ Als Mr. Warner stirbt, zeiht Sylvia es vor, nach London zu gehen und dort lieber allein in Armut zu leben, als sich auf einen unvermeidlichen Konflikt einzulassen. „Meine Mutter hatte keinen Sohn, mit dem sie mich hätte vergleichen können, aber das Gefühl tiefster Enttäuschung, zu dem ich ihr Anlaß gab, war sicher verdient. Ich stand morgens um sieben auf, um mich ans Klavier zu setzen, lehnte jegliche Haushaltsarbeit strikte ab, kleidete mich ostentativ in Schwarz, als Vamp mit Hornbrille.“
Musik Sylvia war in erster Linie Musikerin. Sie wäre gern nach Wien gegangen, um bei Schönberg zu studieren, aber der Erste Weltkrieg dirigierte sie statt dessen in eine Munitionsfabrik. Sie hat sich trotzdem der Musikwissenschaft gewidmet, trug zusammen mit drei anderen Spezialisten – darunter der berühmte Dr. Rambotham – an der Entstehung der monumentalen Ausgabe der Tudor Church Music bei, der Wiederentdeckung der berühmten enlischen Musik des 16. Jahrhunderts. Sie war also eine der ersten, die nach über drei Jahrhunderten die Handschriften von John Taverner, Thomas Tallis, William Byrd und Orlando Gibbons lasen. „Taverners Missa Salve Intemerata stürzte die vier Autoren der Tudor Church Music, zu denen ich gehörte, in sich ständig neu vor uns auftuende Abgründe der Ratlosigkeit. Wir saßen um einen Tisch mit Blick auf die Themse und sagten mal verzweifelt: Wenn aber doch … Dann wieder mit ekstatischer Begeisterung: Ja aber, schließlich … Derweil auf dem Fluß die Schleppdampfer heulten.“ Fast siebzigjährig, am 20. April 1961, schreibt sie: „Ich würde gern eine Sonate für Violine und Klavier komponieren; ein Auftragswerk zum Beispiel (merkwürdig, ich habe immer gern im Auftrag gearbeitet; der Begriff Auftrag hat etwas Geradliniges, Geordnetes an sich, das mich fasziniert – als ob man einen Anzug mit Weste trüge und eine hübsche Perücke dazu).“
Lyrik Nach ihren musikalischen Anfängen sieht sie sich eher als Dichterin. Sie wird zeit ihres Lebens eine Vorliebe für jene absonderlichen Lyriker englischer Tradition hegen, die nicht exportierbar, brummig, exzentrisch und erzenglisch sind, die aber nicht eigentlich zu den Besten gehören, Hardy oder Crabbe zum Beispiel. „Erinnerst Du Dich“, schreibt sie in einem Brief von 1953, „an den Quacksalber bei Crabbe, der den Protagonisten wegen Syphilis behandelt und ihm zum Trost sagt: Just take the boluses from time to time / and hold but moderate intercourse with crime. [Nehmt von Zeit zu Zeit Eure Arznei und begnügt Euch maßvoll mit unerlaubtem Geschlechtsverkehr.]. Crabbe ist ein Dichter, den ich schlicht wunderbar finde. Kein anderer englischer Dichter hat ein solches Repertoire an Schwulen aufzuweisen. Vor langer Zeit, in meinen ersten Londoner Jahren, als ich jung, ausgehungert und sinnlich war, ging ich eines schönen Sommermorgens Brot kaufen; auf dem Rückweg habe ich zweimal haltgemacht, das erste Mal, um ein Pfund jener winzigen Tomaten zu kaufen, die man von den Stengeln zupft, damit ihre wohlgeratenen Schwestern besser gedeihen können, das zweite Mal wegen eines antiquarischen, viktorianisch gebundenen Buches von Crabbe. Noch heute spüre ich die erfüllende Intensität jenes Morgens. Ich las Crabbe und nochmals Crabbe, ich aß Tomaten und nochmals Tomaten mit Brot, und hatte alles vergessen, alles, was ich hätte tun müssen, und auch alles, was ich nicht hätte tun müssen und nichtsdestotrotz getan hätte. Alles war vergessen. Amnestiert. Ich las Crabbes Gedichte, als hätte ich sie selbst geschrieben.“
Lesen, als hätte man selbst geschrieben. Die Geschichte lesen, als hätte man sie selbst erlebt: Genau so würde sie als Romanschriftstellerin vorgehen. Jede Erzählung, jeder Roman wurde für sie zu einer Übung im Besitzergreifen.
Porträt der Künstlerin als Romanschriftstellerin Das Bild, das sich Sylvia Townsend Warners späte Bewunderer von ihr machen, ist ganz offensichtlich von irem ersten Roman Lolly Willowes beeinflußt. Peter Pears schreibt 1980 in seinem Vorwort zu Twelve Poems: „Ich erinnere mich, daß man mir gesagt hatte, Lolly Willowes sei in gewissem Sinne ein Selbstporträt, und die Autorin wirklich und wahrhaftig eine Hexe. Als ich dann Sylvia in den letzten Jahren ihres langen Lebens kennenlernte, war ich davon überzeugt. Sie ging gebückt, hatte eine krächzende Stimme und ein Nußknackergesicht; es fehlte nur mehr der Besen, um davonfliegen zu können. Ich habe allerdings in der National Portrait Gallery eine Fotografie aus den zwanziger Jahren von ihr gesehen, eine Profilaufnahme: ruhig und selbstsicher, kurzes Haar, elegant, spitz wie eine Nadel, schön und apart.“
Politik Sylvia Townsend Warner arbeitete in ihrer Eigenschaft als Mitglied der Kommunistische Partei Großbritanniens als Berichterstatterin in Spanien, und zwar auf der republikanischen Seite Spaniens: in Barcelona, Valencia und Madrid. Ihre politische Einstellung ist in ihrem literarischen Werk kaum offen erkennbar. Sie scheint auch in politischer Hinsicht nicht eben konformistisch gewesen zu sein (wie ein Kommentar aus Barcelona aus dem Jahre 1938 beweist, in dem sie offen ihre Sympathie für die Anarchisten zum Ausdruck bringt. Nach dem Zweiten Weltkrieg spricht aus ihren Briefen die gleiche Ironie und Skepsis, die sich im übrigen immer gegen die ein und dieselben richtet.
„21.10.52 [kurz vor der Präsidentschaftswahl 1952 geschrieben, in der Eisenhower über den Demokraten Stevenson siegen sollte]: Ich kann Eisenhower nicht ausstehen. Der Kerl heult ständig, und ich finde das reichlich übertrieben, selbst für einen General. Zu wessen Gunsten die Wahl auch immer ausfällt, ich nehme an, daß er sich an Stevensons Brust ausweinen wird. […] Es ist mir durchaus bewußt, daß ich mich mit solchen Bemerkungen von einem chauvinistischen Vorurteil hinreißen lasse. Von den Männern im öffentlichen Leben unseres Landes erwartet man, daß sie niemals weinen, außer vielleicht beim Cricket.“
1976 hat sie für Mrs. Thatcher herzlich wenig übrig:
„Könntest Du mir vielleicht irgendeine hübsche, skandalträchtige Falschmeldung zuschieben, die man über Mrs. Thatcher in Umlauf bringen könnte? Nicht von der Sorte: Sie unterhält widernatürliche Beziehungen zu Barbara Castle [damals noch Mitglied der Labour Party], sondern eher so etwas wie: Sie ißt Spargel mit dem Messer. Oder auch: Sie setzt ihren Gästen Kartoffelflockenpüree vor.„
Ihre politische Haltung stellt tatsächlich einen besonderen Aspekt ihrer allgemeinen Respektlosigkeit dar:
„1.7.60: Ich bin fasziniert von Eckermanns Gesprächen mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hast Du jemals dieses kuriose Werk gelesen? Es kommen darin mehr Platitüden pro Seite vor, als man sich überhaupt vorstellen kann. Eckermann ist so voller Bewunderung. So ein Arschkriecher, schlimmer noch als Boswell Dr. Johnson gegenüber. Und Goethe ist so zuckersüß. Das kann einen in der weiblichen Vorstellung doch nur bestärken, daß die Männer, wenn sie unter sich sind, wie ausgestopfte Eulen reden.„
Hunde und Enten; Katzen; Katzen (bis); Fuchs, Rosen und Vettern Brief vom 29.8.1921 (Rückkehr ins Elternhaus): „Worte sind nicht imstande, die pelzige Wonne dieser Chow-Chows zu beschreiben, ebensowenig die verzückte Beharrlichkeit ihrer Begrüßung. Wie Algen winden sie sich um meine Beine, küssen mir mit ihrer kalten, bleiblauen Zungenspitze die Hände. Und erst die Wonne eines ungefähren Dutzends kohlschwarzer Enten mit ihren glatten, reckenden Hälsen, die wie eine Konferenz nonkonformistischer Clergymen in grauen Holzpantinen durch den Garten watscheln. Ich habe jeder einen Namen gegeben: Swedenborg, Mr. Toplady, Joanna Southscott, Wesley und Whitfield, Reverend Chalmers, Frances Tidley Havorgood, Mrs. Guyon und Miss Royden. Doch das ist vergebliche Liebesmüh, da man sie unmöglich voneinander unterscheiden kann.“
Katzen, 1965: „Ich wünschte, Du könntest die zwei Katzen sehen, wie sie Seite an Seite auf der viktorianischen Chaiselongue vor sich hin dösen. Pfoten, Ohren und Schwanz genau aufeinander abgestimmt. Mitunter öffnen sie die blauen Augen, von einem einzigen, gemeinsamen Gedanken bewegt, mit Blinzeln zu verstehen zu geben: Hast du etwa vergessen, daß bald Zeit für den Lunch ist? Sie könnten wahrhaftig von Bach für zwei Flöten komponiert worden sein.“
Katzen, bis: „Ich hatte Grippe, und sie brachten mich schier um den Verstand, weil sie mich mit ihren großen Augen anstarrten und mir bedeuteten: O Sylvia, du bist ja so krank, du wirst bestimmt bald sterben. Und wer soll uns dann füttern? Feed us now. Gib uns vorher zu fressen.<"
Der Fuchs, 4.9.58: „Vorgestern ist mir ein Wunsch in Erfüllung gegangen, der so alt ist wie ich selbst. ich habe einen Fuchswelpen in den Armen gehalten, ein Waisenkind (mit anderen Worten, seine Mutter, die Füchsin, war getötet worden). Ich habe ihn auf den Arm genommen und seinen herben Geraniengeruch eingeatmet, und plötzlich hat er seine spitze Schnauze unter mein Kinn geschmiegt, hat sich in meiner Achselhöhle vergraben und ist im Handumdrehen verzückt eingeschlafen. Seine Pfoten sind unglaublich weich, weich wie Himbeeren. Alles an ihm ist anmutig, ein richtiger Adonis. Er hat ein durch und durch elegantes Profil und ein Gesicht voller reinster Unschuld.“ (Siehe Peter Pears nachstehende Beschreibung.)
Rosen und Erdbeeren, 18.6.61: „Und nun sitze ich hier, mit Erdbeeren und Tugenhaftigkeit bis zum Hals vollgestopft, nachdem ich zig Liter Frischblut in Form von Gießkannen an die Rosen verteilt habe, meine liebevollen Gesprächspartnerinnen.“
Und die Vettern: „Ich habe zwei entfernte, hochbetagte Vettern: Bruder und Schwester, die zusammen wohnen. Sie ist um die Achtzig, er ein ganz klein wenig jünger. Neulich saßen sie beide in ihrem Salon. Er las, sie strickte. Plötzlich stand sie auf, um im anderen Teil des Raumes etwas zu suchen. Sie glitt aus und fiel flach hin, ohne sich jedoch weh zu tun. Sie sagte: Charlie, ich bin hingefallen. Charlie legte sein Buch weg, wandte sich zu ihr um, sah sie an – und schlief ein.“
Literarischer Ruhm 2.5.67: „Habe ich Dir schon erzählt, daß man mir angetragen hat, Mitglied der Royal Society of Literature zu werden? Die gehen zweifellos alphabetisch vor (weshalb sie so lange gebraucht haben, um bis zu mir vorzudringen). Das ist die erste öffentliche Anerkennung, die mir zuteil wird, seit man mich wegen meines ätzenden Einflusses aus dem Kindergarten gewiesen hat.“
Traum einer Zauberin Januar 1965: „Ich habe geträumt, daß König Arthur und Merlin ihrem Grab entstiegen waren und nun in einer kleinen, sehr männlichen Junggesellenwohnung lebten, mit einem flackernden Feuer und dieser Art von Möbeln, die in den Colleges von Generation zu Generation weitergereicht werden: räudige Sessel, altersschwache Bücherschränke, ein schwarzer Samthandschuh, um die Kohle aufs Feuer zu legen. Arthur schrieb an seiner Geschichte Englands. Und Merlin wärmte sich die Zehen. […] Ich schaute ihnen unsichtbar (wie immer in meinen Träumen) zu und bemerkte, daß Arthur innehielt und sich mit dem Gesichtsausdruck eines, der nicht mehr weiß, wo er ist, am Kopf kratzte. Und Merlin lieferte ihm auf der Stelle die Antwort. Dann wärmte er sich wieder die Zehen. Und König Arthur schrieb weiter an der Geschichte Englands.“
Sylvia Townsend Warner starb 1978 im Alter von fast fünfundachtzig Jahren.
Die Schriften: zahlreiche Da sind zum einen die – unveröffentlichten – Tagebücher, die Briefe an Valentine Ackland, ebenfalls uveröffentlicht (Privatleben bleibt Privatleben). Dann eine erste Sammlung ihrer Briefe, von William Maxwell in einem Band zusammengestellt, im Freund und Verleger beim New Yorker, dem bevorzugten Blatt vieler angelsächsischer Autoren. Sie war eine leidenschaftliche Briefeschreiberin (wie Henry James, nur in einem ganz anderen Stil), und so stellen ihre Briefe die zweite Etappe ihrer fiktionalen Verarbeitung der Welt dar, der sie sich unaufhörlich widmete.
Um das vorliegende Porträt zusammenzustellen, habe ich aus dem erwähnten Briefband geschöpft.
Ferner sind die Kurzgeschichten zu erwähnen: acht Bände Kurzgeschichten. Einhundertvierundvierzig davon im New Yorker erschienen, was einen Rekord darstellt (und nach dem Zweiten Weltkrieg eine Einnahmequelle). Eine Biographie, und zwar die des Romanschriftstellers T. H. White, Verfasser eines unglaublich erfolgreichen und nicht sehr guten Arthur-Romans: The Once and Future King (eine Auftragsarbeit!). Eine Übersetzung: Contre Sainte-Beuve von Proust.
Und sieben Romane!
Sie schrieb bis zu ihrem Tod. In ihren letzten Lebensjahren begann sie plötzliche eine Reihe von Erzählungen, an die zwanzig, zu schreiben, die sich allesamt um Ereignisse im imaginären Reich der Elfen drehen, jener unsichtbaren, sterblichen, grotesken und ziemlich garstigen Wesen. William Maxwell ist der Ansicht, diese Erzählungen ihrer späten Jahre seien „von großer, geheimnsivoller Schönheit; sie wirken so authentisch, daß sie – wie William Blakes Bericht vom Begräbnis einer Elfe – den Eindruck vermitteln, die Autorin habe Zugang zu Inforamtionen aus erster Hand gehabt.“
T. F. Powys In seinem Vorwort zu A Moral Ending, einem Band mit drei Kurzgeschichten aus ihren frühen Jahren, schreibt er 1931: „Ihre Prosa setzt sich aus Gegenständen zusammen, aus auserwählten Gegenständen, wie eine Patchworkdecke aus dem Jahre 1746: einem Paar hoher Kerzenleuchter, einem Holzfeuer, einer Flasche altem Wein, einem Garnknäuel mit einer Nadel, und das Ganze mit einem roten Pantoffel geschmückt.“
Oder einem Glaspantoffel.
Die intensive visionäre Kraft der Erzählerin, ihre meisterhafte Beherrschung des Abstrusen, des Vertrauten und desv Verschiedenartigen sind genau das, was dieser Zusammenstellung verloren anmutender Gegenstände Leben verleiht, diesem Augenblick des Da-Seins oder des Abwesend-Seins, die sich nur in der Fiktion finden.
Eine Kurzgeschichte aus dem Jahre 1938: Die eingehendere Betrachtung einer wahrscheinlich im Jahre 1938 geschriebenen Kurzgeschichte mit dem Titel Persuasions eignet sich ganz besonders für eine erste Annäherung an Sylvia Townsend Warners fiktionales Vorgehen.
„Es war der 1. Mai. In Europa und in Amerika, in Asien, Australien und Afrika marschierten Menschenmassen hinter roten Fahnen auf. Ein Jahr zuvor war auch Herr Alban hinter einer roten Fahne aufmarschiert.“ Herr Alban ist der Held der Geschichte. Wenn er an diesem 1. Mai nicht defiliert, so deshalb, weil die Parade von „Stalinanhängern“ angeführt wird. Und Herr Alban ist nun mal Trotzkist. Und was tut er?
Eine Schachtel mit vier Krapfen und ein Buch von Jane Austen unter dem Arm, das er sich in der Staddtbücherei ausgeliehen hatte, ging er die Esmond Road, N.W.3, hinunter. […] Eigentlich mißbilligte Herr Alban seine Wahl. Er und Jane Austen hatten nichts miteinander gemeinsam. Er wünschte, er hätte nie ein Wort von dieser Frau gehört. Er verachtete ihre Gestalten, er verachtete ihren Stil. Und erverchtete sich selbst. Aber unvorsichtigerweise hatte er eines Tages dieser Sirene Gehör geschenkt, und nun kam er nicht mehr ohne sie aus. Monatelang konnte er enthaltsam bleiben, und jedesmal packte ihn das Verlangen erneut. Er mochte sich noch so sehr einreden, daß er Jane Austen bloß las, weil sie die bürgerliche Denkweise meisterhaft darstellte. In Wirklichkeit las er Jane Austen, weil er sie liebte.“
Die Erzählung ist ein Meisterwerk vielschichtiger Ironie (Selbstironie mit eingeschlossen, wenn man Miss Warners damalige Standpunkte berücksichtigt, denn Herr Alban ist tatsächlich sehr wohl der „Held“ der Geschichte). In einem köstlichen, sowohl literarischen als auch politischen Streitgespräch über Jane Austen stehen sich der Trotzkist, ein von der Parade heimkehrender kommunistischer Demonstrant, ein Polizist und die Bibliothekarin – bei der Herr Alban das Buch ausgeliehen hat – gegenüber. Was für eine Position die Autorin selbst bezieht, bleibt offen. Doch die Bezugnahme auf auf Jane Austen (einer ihrer Romane stand Pate für den Titel der Kurzgeschichte) ist ein verhülltes literarisches Manifest. Jane Austen ist es, die, unsichtbar und indirekt wie im Traum von Arthur und Merlin (wobei die Sirene an die Stelle des Zauberers tritt), Miss Warners Person verkörpert.
Die vier Romane Von den Aufzeichnungen zu den Briefen, von den Briefen zu den Kurzgeschichten, von den Kurzgeschichten zu den Romanen gewinnt der Prozeß der magischen Transfiguration immer mehr an Breite und Vielschichtigkeit. Alle Ingredienzien Warnerscher Wesensart finden sich hier zusammen: Exzentrik, Ironie, Respektlosigkeit, Humor in den verschiedensten Spielarten; die Distanz zum Leser, die Ungreifbarkeit, die Art auszuweichen (elusive lautet das englische Adjektiv hiefür); das Antlitz des Unsichtbaren in Form des Sichtbaren: Hexen, Dämonen, Magier, Elfen, Sirenen; das Absurde, Geheimnisvolle, Unheimliche (das englische uncanny); jedes Fragment der natürlichen Welt mit Entsprechungen belegt(die Himbeerpfote des jungen Fuchses) und gesehen, als ob es tatsächlich sei.
Von den sieben Romanen ragen vier (mit The True Heart vielleicht fünf) hervor.
Nach Lolly Willowes ist es Mr. Fortune’s Maggot (1927), dann Summer Will Show (1936) und The Corner That Held Them (1948).
Die beiden letzteren sind „historische Romane“. In Summer Will Show steht die Revolution von 1848 im Mittelpunkt der Handlung. Der Roman, der zum Zeitpunkt von Hitlers Machtergreifung und dem Beginn der Judenverfolgung fertig geschrieben worden ist, enthält eine Pogromszene aus Rußland, die man nicht so leicht vergißt.
In The Corner That Held Them wird man mitten in ein englisches Nonnenkloster des 14. Jahrhunderts versetzt und bleibt dreißig Jahre lang dort.
Von Mr. Fortune’s Maggot und Summer Will Show gibt es je ein Entstehungsprotokoll, die auffallende Ähnlichkeiten ausweisen: In beiden Fällen ist eine Kulisse vorhanden, die aus mehr oder weniger großer Entfernung im Traum betrachtet wird und die eine andere Kulisse in sich birgt.
Mr. Fortune a) Paddington Public Library 1918: Die als Buch veröffentlichten Briefe einer Missionarin in Polynesien. Sie beschreibt ein Erdbeben. „Sie schrieb, die Erde habe gebebt wie der Deckel eines brodelnden Teekessels.“
b) Einige Zeit später träumte sie in den frühen Morgenstunden: „Ein Mann stand am Ufer eines Ozeans und rang verzweifelt die Hände; ich wußte, daß es ein Missionar war. Er befand sich auf einer Insel, wo ihm nur eine einzige Bekehrung gelungen war, und in dem Augenblick, als ich ihn im Traum sah, war er sich soeben darüber klargeworden, daß auch diese Bekehrung in Wirklichkeit keine war.“
Summer Will Show a) 1290, eine junge Dame zur Zeit der ersten Regierungsjahre von Königin Victoria. Sie hat eine heimliche Leidenschaft: den Boxsport. Sie heißt Sophia Wiloughby.
b) Ein Jahr später, die Traumvision einer Protagonistin namens Minna, die in einem Pariser Salon das Judenpogrom schildert; Lamartine hört gegen die Tür gelehnt zu.
c) 1932, Rue Mouffetard, aus einem Lebensmittelladen tretend: Es wird ein Roman über die Revolution von 1848.
Brief an David Garnett vom 11.11.25 „Alle sagen mir, mein Roman (Lolly Willowes) sei charmant, sei ausgezeichnet, und meine Mutter behauptet, er sei fast so gut wie ein Roman von Galsworthy. Ich verzweifle je länger, je mehr.“
Kindheitserinnerung Die Neunjährige bei der Lektüre eines Buches, eines Kapitels über Hexerei. Sie setzt sich auf eine Treppenstufe und wiederholt der Katze die Beschwörungsformeln, die den Teufel herbeirufen sollen.
Man könnte Man könnte (und es wurde getan) Lolly Willowes im Licht von Sylvia Townsend Warners Leben lesen – oder auch umgekehrt. Alles Wesentliche kommt darin vor: in den Briefen, Erinnerungen, Blicken, Begebenheiten. Einige habe ich hier zusammengetragen. Es wird nicht mehr lange dauern, und es wird sich bestimmt eine „Biographie“ dieser Aufgabe nach angelsächsischer Manier eingehender annehmen. Vor allem dann, wenn Miss Sylvia Townsend Warner, was durchaus der Fall sein könnte, als eine der großen englischen Autorinnen dieses Jahrhunderts anerkannt werden sollte.
Dieser Roman, der sagt – und deutlich zum Ausdruck bringt –, was er meint, scheint mir bei näherer Betrachtung auf zwei Bildern aufgebaut zu sein, die ich in umgekehrter Reihenfolge anführen möchte:
a) die ungewöhnliche Schlußvision: der Teufel, das Unsichtbare und die Traumvision vom Bett aus Blättern;
b) das Buchenblatt im kleinen Laden, wo Laura (Lolly) plötzlich wußte, was sie wissen wollte, und nun weiß, was sie tun wird. „Laura“, ein Name, der seinen Ursprung in der Wald- und Pflanzenwelt hat wie „Sylvia“ (Lorbeer und Weide, „willow“);
Ein Vorgehen übrigens, das die Autorin im Fall von Mr. Fortune und Summer Will Show beschrieben hat.
Mr. Fortune’s Maggot, der zweite von Sylvia Townsend Warners drei großen frühen Romanen, vor The True Heart und nach Lolly Willowes erschienen, ist der vielleicht in sich geschlossenste.
Philosphisches Märchen, theologisches Paradoxon und Abenteuerroman unter den Wilden der Südsee, tritt Mr. Fortune’s Maggot gleichzeitig in die Fußstapfen von Diderots Nachtrag zu Bougainvilles Reise und Melvilles Omoo. Die reine anglikanische Seele des Helden Timothy Forune, dessen Name allein schon die Essenz viktorianischer Missionsberufung in sich vereint (spätviktorianische allerdings, da die Geschichte sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg abspielt), diese Seele begegnet also – genau wie Laura Willowes – dem Teufel. Doch es ist nicht der souveräne, gefühllose Teufel der englischen Wälder, sondern ein vespielter, ironischer Teufel, unsichtbar und unberechenbar, der sich auf der winzigen Insel, wo Mr. Fortune ihm erfolglos entgegenzutreten versucht, unter dem sogenannten „Naturzustand“ der Anthropologen verbirgt.
Unendlich amüsant und herrlich pathetisch, gilt Mr. Fortune’s Maggot als eines der Meisterwerke englischer Prosa unseres Jahrhunderts.
Bilder: Buchcover 1996; Sylvia Nora Townsend Warner in Fembio; Howard Coster, 1934;
Valentine Ackland in Frome Vauchurch, Dorset, nach 1960.
Tudor Church Music: John Taverner: Mater Christi sanctissima von Sansara, 2018:
Blumenstück 004: Und wohl im armen Herzen auch
Update zu Meteorologischer Frühlingsbeginn,
Frühlingsreigen Buranum und
Wer fühlt den Krampf der Freuden und der Schmerzen nicht:
Zum meteorologischen Frühlingsanfang bietet sich die Gelegenheit, auf den Facebook-Ableger von DFWuH hinzuweisen. Nicht dass jemand außer dem bekannten Herrn Zuckerberg etwas davon hätte, aber bei 39 Gruppenmitgliedern komme ich voraussichtlich ohne weiteres mit ein paar zusätzlichen Likes klar. Besonderer Dank geht in diesem Sinne nach annähernd einem Jahr endlich an Thomas Faulhaber, der mir am 17. März 2019 auf demselben Facebook-Ableger ein Schmuckstück für unsere Sammlung siebenzeiliger Strophen nahegelegt hat: eins vom virtuosen, leider — irgendwas ist ja immer — naziverdächtigen Josef Weinheber, * 9. März 1892, † 8. April 1945. Sagen wir, ich bin bemüht um die zuverlässigste Leistung, nicht um die schnellste Lieferung. Hat mir meine Frau beigebracht.
Ein Schmuck- ist das Stück besonders wegen der sechsten Zeile, die weder inhaltlich noch formal notwendig, um nicht zu sagen: verlustfrei entbehrlich gewesen wäre. Durch ihre schiere Anwesenheit macht sie das Gedicht zu dem, was es ist: eins mit dem seltenen siebenzeiligen Reimschema ABACBAC und mit einer allegorischen Ebene. Die Idee wirkt wie nebenbei hingeworfen, wird aber durch den Vers 6 von 7 zu einem unscheinbaren Kristall. Wow.
——— Josef Weinheber:
Vorfrühling
aus: Von beiden Ufern, Burgverlag, Wien 1923:
Die Hänge streift ein goldner Hauch.
Und in die süße Stille
blüht feierlich ein Schlehdornstrauch.
Am Waldrand äst ein Reh.
In Spalt und Ackerrille,
und wohl im armen Herzen auch,
liegt noch ein wenig Schnee.
Bilder: Jana Martish:
aus: .identity, Sammlung ab 5. April 2009.
Soundtrack: Bedouine: Solitary Daughter, aus: Bedouine, 2017:
Адвент 4: Dinnertime mit Saufspielen
Update zu Ein Nichts, ein Zwischenraum (Jedenfalls sie hattens nicht),
Einigen wir uns auf Unentschieden und
Seht ihr, seht ihr die Tscherkessen (Schöne Menschen, schöne Glieder):
Mich freut’s, daß ich Sie liebe ohne Qual,
Daß Sie sich wegen mir nicht quälen müssen
Und daß der große, schwere Erdenball
Nie wird entschwinden unter unsern Füßen.
Mich freut’s, daß ich darf manchmal komisch sein,
Gelockert sein und nicht mit Worten spielen,
Und nicht erröte, nicht erstick vor Pein,
Kaum die Berührung unsrer Ärmel fühlend.Ich dank mit Herz und Hand Ihnen dafür,
Daß Sie mich lieben, ohne es zu wissen,
Für meine Ruhe nachts, dafür, daß wir
Uns gar so selten abends treffen müssen,
Daß wir spazierten noch kein einzges Mal,
Gemeinsam Mond- und Sonnenschein genießend,
Daß ich Sie leider liebe ohne Qual
Und Sie sich leider auch nicht quälen müssen.Marina Zwetaewa a. a. O.,
Übs. Sepp Österreicher.
Ирония судьбы или С лёгким паром! von Eldar Rjasanow 1975 — das heißt: Ironie des Schicksals oder Genießen Sie Ihr Bad!, wird aber übersetzt: Mit leichtem Dampf — ist eine Art Drei Nüsse für Aschenbrödel Russlands und der Ukraine und umfasst zwei Teile mit insgesamt drei Stunden und vier Minuten, die eine Einheit mit einer rituell eingehaltenen Pinkelpause dazwischen bilden.
Von verschiedenen Fernsehsendern ausgestrahlt wird Ironie des Schicksals am 1. Januar und ähnelt insofern näher denn dem Drei Nüsse für Aschenbrödel (Original: 82 Minuten) eher dem russischen Dinner for One (original: 18 Minuten). Das kommt, müßig zu erklären, von der verschobenen orthodoxen Weihnacht aufgrund des weiterhin geltenden julianischen Kalenders.
Meine ukrainische Gewährsperson versichert entgegen der Darstellung auf Wikipedia glaubwürdig, der Kult um Ironie des Schicksals habe sich inzwischen gelegt; sie kennt den Film durchaus noch und weiß um seine kulturelle Bedeutung, es sei aber eher ein Spaß für ihre Elterngeneration. Ebenso übertrieben findet sie das Bohei, das 2015 um ein drohendes Ausstrahlungsverbot für die Ukraine entstand und pünktlich zum — nicht zum ukrainischen — Heiligabend in die westliche Welt getragen wurde, weil eine der Schauspielerinnen, schlimmer noch: eine der Synchronstimmen, namentlich die russische Walentina Talysina sich allzu putinfreundlich geäußert habe. Nun ist ein Film immer das Werk seines Regisseurs, und der 2015 verstorbene Eldar Ryazov — wobei wir uns in Erinnerung rufen, dass eine Korrelation nicht zwangsläufig eine Kausalität ist — war dagegen ein aufrechter Putin-Kritker und kann nicht dafür verantwortlich gemacht werden, was seinen darstellenden Fachkräften vierzig Jahre nach ihrem Engagement so durchs Hirn schießt.
Was ukrainische Freunde alternativer Christtagsfreuden am gregorianischen Silvesterabend treiben, wenn unsereins Dinner for One guckt, bleibt von einem gewissen Geheimnis umwabert, solange man seine Gewährspersonen so selten zu fassen bekommt, und sollte gern ihre persönliche Angelegenheit bleiben. Kennerhafte Saufspiele anhand Filmszenen, wetten? Wer das auch mal will, kann das — wieder wie bei Dinner for One — heutzutage ganzjährig: YouTube birgt Ironie des Schicksals im Original mit englischen Untertiteln, also recht zugänglich, und praktischerweise in zwei Teilen, also gleich mit der Pinkelpause, die durch die Saufspiele unabdingbar wird. Etwas unpraktischer ist: Man kann beide nicht embedded, sondern nur innerhalb YouTube abspielen. Aber irgendwas ist ja immer, da können Sie jeden Ukrainer fragen.
1. Teil:
2. Teil:
Plakat: Владимир Васильевич Сачков (1928—2005) für Рекламфильм, 1975;
Gewährsmädchen, ihr Bad genießend: Olha in Seefeld in Tirol, 20. August 2019;
mit leichtem Dampf: Film-Still via Неизвестные факты о фильме „Ирония судьбы, или С легким паром!“,
10. August 2016.
Soundtracks: Stille Nacht, heilige Nacht; Silent Night, Holy Night; Тиха ніч, свята ніч:
Веселого Різдва для всіх!
Адвент 1: Über Nacht bin ich tot
Update zu Królowa nieba niezrównany (Himmels Königin ohne Gleichen):
Czernowitz, das waren Sonntage, die mit Schubert begannen und mit Pistolenduellen endeten. Czernowitz, auf halbem Weg zwischen Kiew und Bukarest, Krakau und Odessa, war die heimliche Hauptstadt Europas, in der die Metzgertöchter Koloratur sangen und die Fiakerkutscher über Karl Kraus stritten. Wo die Bürgersteige mit Rosensträuchern gefegt wurden und es mehr Buchhandlungen gab als Bäckereien. Czernowitz, das war ein immerwährender intellektueller Diskurs, der jeden Morgen eine neue ästhetische Theorie erfand, die am Abend schon wieder verworfen war. Wo die Hunde die Namen olympischer Götter trugen und die Hühner Hölderlin-Verse in den Boden kratzten. Czernowitz, das war ein Vergnügungsdampfer, der mit ukrainischer Mannschaft, deutschen Offizieren und jüdischen Passagieren unter österreichischer Flagge zwischen West und Ost kreuzte. Czernowitz war ein Traum. Die glückliche Ehe der Habsburger mit dem deutschsprachigen jüdischen Bürgertum, das diesen Außenposten der k. u. k. Donaumonarchie am Rande der bessarabischen Steppe zu einem ökonomischen und vor allem kulturellen Zentrum Osteuropas machte.
Georg Heinzen: Czernowitz, Rheinischer Merkur, 1. Februar 1991, Seite 18 f.,
cit. nach Ernst Hofbauer, Lisa Weidmann: Verwehte Spuren. Von Lemberg bis Czernowitz.
Ein Tümmerfeld der Erinnerungen, Wien 1999, Seite 139,
cit. nach Marion Tauschwitz: Selma Merbaum. Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben.
Biografie und Gedichte. Mit einem Vorwort von Iris Berben,
zu Klampen Verlag, Springe 2014, Seite 16.
So. Und das ist wahrscheinlich der Schluß.
Der Regen weint und es weint die Nacht
und es weint mein Mund um einen Kuß
und weint, und weint — und lacht.Selma Merbaum: Märchen, 7. März 1941, a. a. O., 1. von 6 Strophen.
Eine Lanze gilt’s zu brechen für die Ukraine, eines der ganz wenigen Länder mit dem bestimmten Artikel im Eigennamen und wenn schon, dann richtig, das größte Land in Europa. Nicht der EU, deren Teil die Ukraine nicht ist, sondern wenn schon, dann richtig: dem Kontinent. Da ist auch Wüstengebiet dabei, aber die 1610 Quadratkilometer der Oleschky-Sande von 603.700 Quadratkilometern Gesamtfläche reißen’s nicht raus. Zum Vergleich: Deutschland hat 357.111 Quadratkilometer. Für diese Dimension ist sogar schon egal, ob man die heiß umkämpfte Halbinsel Krim mit ihren 26.844 Quadratkilometern — das sind 4 % von der gesamten Ukraine — mitrechnet oder nicht.
Якщо говорити про Крим, werde ich mich durchweg tagespolitischer Aussagen enthalten. Ich habe gelernt, mit einigem Freimut zuzugeben, dass mir dergleichen zu schnell geht. Meine politische Meinung speist sich allenfalls aus monatlich erscheinenden Schriften, die sich Zeit nehmen konnten, zum größten Teil aus satirischen Organen, aber keinen Tageszeitungen und schon gar keinen überhasteten Newsflashes. Ich kann nicht mal richtig nachvollziehen, wo genau die umstrittene West-Ost-Grenze der Ukraine momentan verläuft, auch wenn ich das wohl googeln könnte; das wird mich interessieren, wenn zuständige Instanzen sich auf ein bis auf weiteres haltbares Resultat geeinigt haben. — Nur soviel: Da liegen Lemberg und Charkiw, ohne die der deutschen Kultur, als sie noch was getaugt hat, einiges fehlen würde — und, wofür nur sehr vereinzelte ukrainische Individuen etwas können, das fatal bewusstseinsstiftende Tschernobyl. Sie verschweigen taktvoll, dass die Weltsprache Russisch ein reduzierter ukrainischer Dialekt ist. Da liegt das russische Heartland: Die Kiewer Rus — benannt nach dem Warägerfürsten Rurik (830 bis 879), der schwedischen Provinz Roslagen, den aus Ruthenien stammenden Reußen, dem Dnjepr-Nebenfluss Ros, dem sarmatischen Stamm der Roxolanen oder auch der westslawischen Ranen (ich glaube aus alter persönlicher Neigung an eine Herkunft von den Russalken) — bestand nach unterschiedlich motivierten Darstellungen ungefähr ab anno 750, war auf jeden Fall Vorläufer der heutigen russischen Länder westlich des Kaukasus und besteht bis heute, wird mit anderen Mitteln fortgeführt oder ist anno 1240 ersatzlos zerfallen, je nachdem, ob man Ukrainer, Russen oder Weißrussen fragt; politische Tatsache bleibt, dass Kiew immer noch ukrainische Hauptstadt ist. Und sie haben Gogol, Gogol Bordello, Bulgakow, Los Colorados und die malerischen Saporoger Kosaken. Gegen so eine kulturelle und moralische Überlegenheit konnte sich das nordöstlicher gelegene Großrussland nur absetzen, indem es den angeblich nicht abwertend gemeinten Begriff Kleinrussland so lange auf die Gegend um Kiew und Nowgorod anwandte, bis ihn die Ukraine voller Stolz führte — auch dort, wo Kleinrussland nie gelegen hat.
Unter manch anderem hat die Ukraine Czernowitz, Tschernowitz, Chernovtsy oder Chernivtsi. Und die ukrainische Form der Weihnacht, die der mitteleuropäischen recht ähnlich sieht, natürlich abzüglich aller Unterschiede zu Ritualen der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Kiewer Patriarchats und zahlreicher anderer ansässiger Religionen, die sich allesamt — wir reden von Weihnachten — als christlich verstehen.
Der größte Unterschied des ukrainischen Weihnachtfestes zum deutschen ist der Feiertag: nach dem julianischen Kalender fällt er nicht auf den 24. Dezember, sondern auf den 6. Januar des Folgejahres. Gemeinsamkeiten bestehen in der Person des Gefeierten, im gemeinschaftlichen Absingen von Weihnachtsliedgut und Verzehr von eigens für Weihnachten erfundenen Speisen; sonstige Unterschiede am ehesten in graduellen, meist regional begründeten Variationen. Die Adventszeit östlicher Kirchen dauert von 28. November bis 6. Januar — die 40 Tage, die westliche Kirchen für eine Fastenzeit veranschlagen. 25. Dezember und 7. Januar sind offizielle Weihnachtsfeiertage. Darum lassen wir uns nicht nehmen, auf die Freitage vor den Adventssonntagen umzuschalten. Weihnachten soll ja auch Freude bereiten, da mach ich, was ich will.
Das erwähnte Liedgut und ein paar besonders spektakuläre Rezepte kriegen wir noch im Laufe des Advents, für heute sei an eine Czernowitzer Dichterin erinnert:
Die mottostiftende Selma Merbaum, die eben nie, wie seit 1976 gern kolportiert, den Doppelnamen Meerbaum-Eisinger trug, schon gar nicht mit Doppel-e, ist eine Art unbekanntere Anne Frank: 1924 im heute ukrainischen, damals großrumänischen Czernowitz jüdisch geborene Bukowinerin deutscher, wohl österreichisch gefärbter Zunge; 1942, also 18-jährig im transnistrischen Zwangsarbeitslager Michailowka gequält und entkräftet an Flecktyphus gestorben.
Davor, ungefähr ab dem Alter von 15 Jahren, fing Merbaum, die Cousine 2. Grades von Paul „Todesfuge“ Celan, mit dem Schreiben von Gedichten an. Ihre Vorbilder waren die üblichen Helden gutbürgerlicher mittelhoher Töchter: Heine, Rilke, Verlaine, Rabindranath Tagore; ihre Sprachen waren das „Mutterland Wort“ (Rose Ausländer) des Deutschen, das obrigkeitlich verordnete Rumänisch, Französisch als erste Fremdsprache in der Schule, Latein als zweite, und sie sprach und schrieb offenbar geläufig Jiddisch, das nicht etwa ein „jüdischer“ Dialekt, sondern eine ausgebildete Sprache mit hebräisch entlehnten Schriftzeichen ist; Ukrainisch zählte für das Czernowitzer Schulmädchen nicht dazu. Ihre einzige Lyriksammlung Blütenlese, zusammengefasst in einem aufwändig gestalteten Album als Widmung an ihre erste und einzige Liebe Leiser Fichman, umfasst 57 Gedichte — nach anderer Zählung 58; noch mehr sind es nicht mehr geworden. Marion Tauschwitz, die letzte Vertraute und Biographin von Hilde Domin, hat Selma Merbaum 2014 mit ihrer Biographie samt lyrischen Gesamtausgabe wiederentdeckt und -belebt. Zum ersten Mal war damit der zuverlässige Text sämtlicher Gedichte mit ausführlichen Hintergründen erreichbar — meine einzigen Einwände: ohne Stellenkommentar und Register.
Tauschwitz hat Merbaums Gedichte nach den Manuskripten neu editiert. Im Anschluss bringe ich drei Highlights nach Tauschwitz korrigiert, was bedeutet: als Internet-Premiere die zuverlässigsten Fassungen mit kleineren Abweichungen von allen anderen, die bisher online stehen, allesamt einmal mehr, einmal weniger verderbte Abschriften nach Gott weiß welchen Vorlagen: eins, weil es von einem 1. Weihnachtsfeiertag stammt und die Sammlung eröffnet; eins, weil ich die professionellste Vertonung dazu gefunden hab; eins, weil es als das längste einen eigenen Abschnitt einnimmt und einen wirklich umwehen kann.
Schon Wikipedia bescheinigt der jungen Merbaum „beachtliche Stilsicherheit“ und hat recht damit: Praktisch alle Gedichte gehen weit über eine gängige pubertäre Kleinmädchenproduktion hinaus, haben vielmehr eine recht eigenständige Energie. Man staunt viel öfter, wie plastisch das ausgedrückt ist, als man ihr milde ihr Anfängertum nachsehen muss. Man merkt die Ukrainerin, die sie gar nicht war; es scheint an der gedeihlichen Gegend zu liegen. — Chronologisch:
——— Selma Merbaum:
Lied
25. Dezember 1939, aus: Blütenlese, beendet 1942:
Heute tatest du mir weh.
Rings um uns war Schweigen nur,
Schweigen nur und Schnee.
Himmel war, nicht wie Azur,
blau jedoch und voll mit Sternen.
Windeslied erklang aus fernsten Fernen.Heute warst du mir ein Schmerz.
Häuser waren da, so weiß verschneit,
alle in des Winters Kleid.
Ein Akkord in tiefer Terz
war in unsrer Schritte Klang.
Bahnsirenen heulten lang …Heute war es wunderschön.
Schön wie tiefverschneite Höh’n,
eingetaucht im Abendglutenring.Heute tatest du mir weh.
Heute sagtest du mir: geh.
Und ich — ging.
~~~\~~~~~~~/~~~
Ich bin der Regen
8. März 1941, ebenda, Abschitt Nachtschatten:
Ich bin der Regen und ich geh
barfuß einher, von Land zu Land.
In meinen Haaren spielt der Wind
mit seiner schlanken, braunen Hand.Mein dünnes Kleid aus Spinngeweb
ist grauer als das graue Weh.
Ich bin allein. Nur hie und da,
spiel ich mit einem kranken Reh.Ich halte Schnüre in der Hand
und’s sind auf ihnen aufgereiht
alle die Tränen welche je
ein blaßer Mädchenmund geweint.Sie alle habe ich geraubt,
bei schlanken Mädchen, spät bei Nacht,
wenn mit der Sehnsucht Hand in Hand,
sie bang auf langem Weg gewacht.Ich bin der Regen und ich geh
barfuß einher, von Land zu Land.
In meinen Haaren spielt der Wind
mit seiner schlanken, braunen Hand.
~~~\~~~~~~~/~~~
Poem
7. Juli 1941, ebenda, eigener Abschnitt:
Die Bäume sind von weichem Lichte übergoßen,
im Winde zitternd, glitzert jedes Blatt.
Der Himmel, seidig-blau und glatt,
ist wie ein Tropfen Tau, vom Morgenwind vergoßen.
Die Tannen sind in sanfte Röte eingeschloßen
und beugen sich vor seiner Majestät, dem Wind.
Hinter den Pappeln blickt der Mond auf’s Kind,
das ihm den Gruß schon zugelächelt hat.Im Winde sind die Büsche wunderbar:
bald sind sie Silber und bald leuchtend grün
und bald wie Mondschein auf lichtblondem Haar
und dann, als würden sie auf’s neue blühn.*
Ich möchte leben.
Schau, das Leben ist so bunt.
Es sind so viele schöne Bälle drin.
Und viele Lippen warten, lachen, glüh’n
und tuen ihre Freude kund.
Sieh nur die Straße, wie sie steigt:
so breit und hell, als warte sie auf mich.
Und ferne, irgendwo, da schluchzt und geigt
die Sehnsucht die sich zieht durch mich und dich
Der Wind rauscht rufend durch den Wald
er sagt mir daß das Leben singt.
Die Luft ist leise, zart und kalt,
die ferne Pappel winkt und winkt.
Ich möchte leben.
Ich möchte lachen und Lasten heben
und möchte kämpfen und lieben und haßen
und möchte den Himmel mit Händen faßen
und möchte frei sein und atmen und schrei’n.
Ich will nicht sterben. Nein:
Nein.
Das Leben ist rot,
Das Leben ist mein.
Mein und dein.
Mein.*
Warum brüllen die Kanonen?
Warum stirbt das Leben
für glitzernde Kronen?Dort ist der Mond.
Er ist da.
Nah.
Ganz nah.
Ich muß warten.
Worauf?
Hauff um Hauff
sterben sie.
Steh’n nie auf.
Nie und nie. —
Ich will leben.
Bruder, du auch
Atemhauch
geht von meinem und deinem Mund.
Das Leben ist bunt.
Du willst mich töten.
Weshalb?
Aus tausend Flöten
weint Wald.*
Der Mond ist lichtes Silber in Blau.
Die Pappeln sind grau.
Und Wind braust mich an.
Die Straße ist hell.
Dann …
Sie kommen dann
und würgen mich.
Mich und dich
Tot.
Das Leben ist rot
braust und lacht.
Über Nacht
bin ich
Tot.*
Ein Schatten von einem Baum
geistert über den Mond.
Man sieht ihn kaum.
Ein Baum.
Ein
Baum.
Ein Leben
kann Schatten werfen
über den
Mond.
Ein
Leben.
Hauff um Hauff
sterben sie.
Steh’n nie auf.
Nie
und
Nie.
Bilder:
- Поклоніння пастухів (Anbetung der Hirten), Region Lemberg, 1650 bis 1700, 24,7 cm x 27,3 cm,
via Google Art Project; - Selma Merbaum, via Hélène Berr: The Heaviest Weight of All – Holocaust Memorial Day 2015,
Passing Time, 24. Januar 2015: Detail eines Schnappschusses von einem
Stadtbummel in Czernowitz, Sommer 1940; - Marion Tauschwitz: Selma Merbaum. Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben, zu Klampen Verlag, Springe 2014, via Marion Tauschwitz, Buchcover, 2014 ff.;
- Arnold Daghani: Der Tod von Selma Meerbaum-Eisinger, Lager Bershad, 1943, Bleistift auf Papier,
via Wanderausstellung Lichtflecke – Frausein im Holocaust.
Soundtrack: Бог Предвічний народився (Ewiger Gott wurde geboren)
vom Studentenchor des griechisch-katholisch theologischen Seminars Ternopil, 2012:
Du warst den Meeren mitternachts entstiegen
Update zu Schön spricht der Physiologus: Von den Sirenen und Eselskentauren,
Nackt fällt sie ihm an seinen Mund
und Laß mich die Aschengruttel sein in deinem Märchen:
Unklar bleibt, wieso Gertrud Käthe „Gertrud Kolmar“ Chodziesner eine Übersetzung aus dem Englischen so weitgehend hätte vortäuschen sollen, dass sie sogar die Dichterin des Originals gleich mit dazuerfinden musste: Aus politischen Gründen konnte es nicht einmal für die Jüdin, die Anfang März 1943 doch noch in Auschwitz blieb, gewesen sein, weil sie vorher und nachher sehr wohl ihre politisch denkbar unverfänglichen Gedichtbände unter ihrem seit 1917 etablierten Pseudonym veröffentlichte.
SIEBEN GEDICHTE aus „German Sea“ von Helen Lodgers. Nach dem Englischen entstand vermutlich 1934 in Form eines Reisetagebuchs über Hamburg, Lübeck und Travemünde, als Gestaltung einer Liebesbeziehung zum ansonsten weithin vergessenen Dichter Karl Joseph Keller. Dieter Kühn hat 2008 die Frage nach dem auf den ersten Blick unnötigen Pseudonym nicht endgültig, aber glaubwürdig aufgelöst: Sie musste sich vor ihrem Vater tarnen, der eine Liebschaft missbilligt hätte. Mit einem acht Jahre jüngeren Nichtjuden. Weil sie sich damit von ihrem Vater weg zu einem anderen Mann entfernt hätte. Mit gestandenen 40 Jahren.
Sie sieht sogar aus wie Kafka.
——— Gertrud Kolmar:
Meerwunder
:
Als ich das Kind mit grünen Augensternen,
Dein zartes, wunderbares Kind empfing,
Erbrausten salz’ge Wasser in Zisternen,
Elmsfeuer funkelten aus Hoflaternen,
Und Nacht trug den Korallenring.Und deiner Brust entwehte Algenmähne
So grün, so grün mit stummer Melodie.
Sehr sachte Fluten plätscherten um Kähne,
Im schwarzen Traumschilf sangen große Schwäne,
Und nur wir beide hörten sie.
Du warst den Meeren mitternachts entstiegen
Mit eisig blankem, triefend kühlem Leib.
Und Wellenwiegen sprach zu Wellenwiegen
Von unserm sanften Beieinanderliegen,
Von deinen Armen um ein Weib.Seejungfern hoben ungeschaute Tänze,
Und wilde Harfen tönten dunkel her,
Und Mond vergoß sein silbernes Geglänze
Um den Perlmutterglast der Schuppenschwänze;
Mein Linnen duftete vom Meer.Und wieder wachten Hirten bei den Schafen
Wie einst … und glomm ein niebenannter Stern.
Und Schiffe, die an fremder Küste schlafen,
Erbebten leis und träumten von dem Hafen
Der Heimat, die nun klein und fern.Tierblumen waren fächelnd aufgebrochen,
In meinen Schoß verstreut von deiner Hand;
Um meine Füße zuckte Adlerrochen,
Und Kinkhorn und Olivenschnecke krochen
Auf meiner Hüfte weißen Sand.Und deine blaß beryllnen Augen scheuchten
Gekrönte Nattern heim in Felsenschacht,
Doch Lachse sprangen schimmernder im Feuchten
An Wogenkämmen sprühte blaues Leuchten
Wie aus dem Rabenhaar der Nacht.O du! … Nur du! … Ich spülte deine Glieder
Und warb und klang und schäumte über dir.
Und alle Winde küßten meine Lider,
Und alle Wälder stürzten in mich nieder,
Und alle Ströme mündeten in mir.
Bilder: Gertrud Kolmar 1928, via Olivier Ypsilantis für Zakhor Online, 25. April 2011.
Das Meerwunder heißt auch ein Kupferstich von Albrecht Dürer von 24,6 cm × 14,7 cm um 1498 — eine erfreulich detailreiche Arbeit, heute mit originalen Abdrucken im Kupferstichkabinett der Karlsruher Staatlichen Kunsthalle und im New Yorker Metropolitan Museum of Art, deren größte Wiedergaben man sich ruhig mal ein Weilchen bei Karl & Faber oder bei Zeno angucken kann; beide werden größer hinter der, so man hat, rechten Maustaste. Da sitzt man länger dran als an Kolmars Gedicht.
Soundtrack: Cat Power: Sea of Love, aus: The Covers Record, 2000,
Original: John Phillip „Phil Phillips“ Baptiste, aus: Sea of Love, 1959:
#gothiclyrik
Nachtstück 0022: Zu schweigen beginnen
Update zu Break in college sick bay und
Es endet ohne Schlusspunkt.:
Du kannst thun was du willst: aber du kannst, in jedem gegebenen Augenblick deines Lebens, nur ein Bestimmtes wollen und schlechterdings nicht Anderes, als dieses Eine.
Arthur Schopenhauer: Die beiden Grundprobleme der Ethik:
Ueber die Freiheit des menschlichen Willens, Ueber das Fundament der Moral, 1841.
——— Erich Fried:
Meer
aus: Warngedichte, Abschnitt 4 Kampf ohne Engel, Hanser, München 1964:
Wenn man ans Meer kommt
soll man zu schweigen beginnen
bei den letzten Grashalmen
soll man den Faden verlierenund den Salzschaum
und das scharfe Zischen des Windes
einatmen
und ausatmen
und wieder einatmenWenn man den Sand sägen hört
und das Schlurfen der kleinen Steine
in langen Wellen
soll man aufhören zu sollen
und nichts mehr wollen wollen
nur MeerNur Meer
Bild: Jörg Oestreich: After the Storm, 17. Juli 2019.
Soundtrack: Die Moulinettes: Immer nie am Meer, 2001, in: Immer nie am Meer, 2007:
Die Mondfrau sang im Boote
Update zu Take Five:
Einst kannte ich eine Klavierspielerin namens Else. Wenn man sie eine Klavierspielerin nannte, wies sie einen zurecht, weil sie Studentin der Musik mit Schwerpunkt Klavier war, und Else hieß sie nur im Internet.
Mir war beides egal, weil Musikstudentinnen mit Klavierschwerpunkt ganz sicher pro Tag mehr Klavier spielen als ich im ganzen Leben, und der name „Else“ ging klar, weil die Auswahl „Ikearegal“ gewesen wäre. Was Wunder, dass ihr Lieblingsgedicht Mein blaues Klavier von Else Lasker-Schüler war.
Else „Ikearegal“ war Bauchfetischistin und wusste zu schätzen, wenn man ihr wenigstens theoretisch Gedichte schreiben konnte, in denen ihr Name vorkam und die sich reimten, so war das mit ihr. Indem ich weder einen Bauch von nennenswerter Schönheit oder Größe noch Gedichte im Ton Else Lasker-Schülers vorzuweisen hatte, wurde nichts Näheres aus uns, und das ist gut so. Ansonsten war sie ein angenehmer Umgang voller menschlichem Wohlwollen und gebildetem Esprit; eine Zwanzigjährige, die mit solcher Bestimmtheit den Finger auf Dichterinnen ihres Vorzugs legen kann, muss man erst mal finden und eine Spanne des sozialen Umgangs, in deren Zyklus man sich ein-, zweimal zum Geburtstag und zu Weihnachten etwas schenken muss, festhalten.
Else Lasker-Schüler besaß bis tief ins erwachsene Alter, in dem sie ihren letzten Gedichtband ebenfalls Mein blaues Klavier nennen konnte, ihre Kinderspielzeuge, darunter ein blaues Puppenklavier. Hinreißend putzig ist natürlich die „Klaviatür“, aber ich werde mir im Leben nicht mehr mit mir einig werden, ob der Kasusfehler im letzten Satz zeitbedingt, reimgeschuldet oder Teil der Gedichtaussage sein soll.
——— Else Lasker-Schüler:
Mein blaues Klavier
aus: Neue Zürcher Zeitung, 7. Februar 1937,
gesammelt in: Mein blaues Klavier — Neue Gedichte, Jerusalem Press Ltd., Jerusalem 1943:
Ich habe zu Hause ein blaues Klavier
Und kenne doch keine Note.Es steht im Dunkel der Kellertür,
Seitdem die Welt verrohte.Es spielen Sternenhände vier
– Die Mondfrau sang im Boote –
Nun tanzen die Ratten im Geklirr.Zerbrochen ist die Klaviatür …..
Ich beweine die blaue Tote.Ach liebe Engel öffnet mir
– Ich aß vom bitteren Brote –
Mir lebend schon die Himmelstür –
Auch wider dem Verbote.
Bild: die wilde Rose Else, 14. Dezember 2000;
via gelöschtes Radio-Feature, via JustMovies, 13. Dezember 2015.
Soundtrack: Frank Mills: Music Box Dancer, 1974, aus: Music Box Dancer, 1979, live 2014.
Leider muss ich dazu stehen, dass ich diese unsägliche Schnulze ganz gern mag:
Bonus Track: Dasselbe nochmal mit einem Text von Peter Orloff, was das Schlimmste verheißt, und dargeboten von Marion Maerz. Das Schlimme ist allerdings nicht der — jawohl, es war möglich — abermals erhöhte Schnulzenfaktor, sondern dass der kleine alte Musikus eine Goldene Schallplatte hat. Es dürfte ruhig um einen gehen, der eben gerade mit seinem Geklimper ein Leben lang erfolglos bleibt, aber Orloff war nie Ringsgwandl, und selbst der hat 1979 noch keine stillen Helden und Loser gefeiert, sondern Medizin studiert. Erfolglose Musiker gewinnen weder mit 30 noch mit 60 endlich ihre Goldene Schallplatte, um es doch noch allen zu zeigen, wie einschlägige „Du kannst alles schaffen“-Geschichten nahelegen. Wer zu cool ist, um das auszuhalten, kann ja gern weiter die Babyshambles hören, sich einen Wilhelm-Busch-Bart wachsen lassen und mit einem MacBook in einem Veganercafé ein Startup für irgendwelche Solutions gründen:
Und ein kleiner Mann, der sitzt in seiner Ecke ganz still
und freut sich so, dass jeder gern sein Lied hören will.
— auch wider „dem“ Verbote.
Charakter ist nur Eigensinn. Es lebe die Zigeunerin!
Update zum 1. Katzvent: Im Bewusstsein seines Wertes sitzt der Kater auf dem Dach
und 4. Katzvent: Hier liegt ein Kater der schönsten Art:
Es lohnt sich einmal wieder, ein vollständiges — im übrigen gemeinfreies — Buch in einen einzigen Link zu fassen: die Katerpoesie von Paul Scheerbart 1909, weil sie einen Heidenspaß macht. In der Erstauflage hieß die Sammlung noch Kater-Poesie, in der zweiten bis vierten Auflage ohne Trennung. Alle folgenden sind posthume Neuauflagen, die Urfassung bleibt schwer aufzutreiben.
Dabei sollte Scheerbart weiterhin neu aufzulegen eine Bereicherung für den Buchhandel wie für die letzten verbliebenen Lyrik-Konsumenten sein: Im Regal stünde er gleich neben Ringelnatz, macht aber nicht die ewig besinnlichen Trauriger-Clown-Späße wie Morgenstern. Wenn wir mit der Lyrik durch sind, wenden wir uns an die Romane — etliche davon in kenntnisreicher Science-Fiction — und die brillanten Auslassungen über Glasarchitektur. Bislang sind die meisten Fans verstorben, unter ihnen Else Lasker-Schüler, Erich Mühsam und Walter Benjamin, ein überlebender hat ihm eine engagierte, quicklebendig benutzbare Website gebaut. Aufgefordert dürfen sich gerne Verlagsgrößen wie Diogenes, Rowohlt und Verbrecher fühlen. Reclam, der unter Ausschluss der Öffentlichkeit schon angefangen hat, ginge klar.
Als praktischer Hinweis sind wir Postmodernen in der gesegneten Lage, dass „antiquarisch erreichbar“ meistens gerade mal einen einzigen Klick mehr auf Amazon.de bedeutet, der dann als Unterstützung von Kleinhändlern (und Medimops) nur noch halb so böse ist wie aufs amazon-eigene Sortiment. Der persönliche Tipp: booklooker.de. Der Profitipp: übergreifende Suche auf eurobuch.de — die meistens doch wieder bei booklooker.de rauskommt.
Der Aficionado-Tipp: Das Katerpoem Die großen Flammen ist siebenzeilig.
——— Paul Scheerbart:
Katerpoesie
Rowohlt, Paris/Leipzig 1909,
Fassung der 2.–4. Auflage, Rowohlt, Berlin ab 1920:
Morgentöne
Guten Morgen! schreit das Menschentier;
Und mancher Schuft trinkt jetzt noch Bier.Guten Morgen! schreit auch der Tyrann;
Früh fängt Er zu regieren an.An den Weltrand will ich heute gahn;
Dort will ich einmal Fliegen fahn.Guten Morgen! schreit der Kriegersmann;
Ach, der ist immerzu im Tran.Guten Morgen! schreit man dort und hier;
Und meine Uhr schlägt schon halb vier.Und mancher Schuft trinkt jetzt noch Bier;
Guten Morgen! schreit das Menschentier.
Hopp! Hopp! Hopp!
Hopp! Hopp! Hopp! Mein süßes Pferdchen!
Hopp! Hopp! Hopp! Wo willst du hin?Über jene hohe Mauer?
Ach, was kam dir in den Sinn?Hopp! Hopp! Hopp! Mein süßes Pferdchen!
Hopp! Hopp! Hopp! Wo willst – Du – hin?
Ich hab ein Auge …
Ich hab ein Auge, das ist blau.
Mir gestern Abend geschlagen.Ich schrie fünfhundertmal „Au! Au!“
Was wollt ich damit sagen?Ich weiß es heute selber nicht;
Ich hab ein Heldenangesicht.
Delirium! Delirium!
Ein Décadencebild
Alte Knaben sitzen auf den leersten Tonnen,
Und die Nächte siegen über alle Sonnen.
Hinten nagen unsichtbare weiße Mäuse
An dem bös zerbeulten großen Hirngehäuse.
Hör doch, wie die ganze Schädelhöhle quarrt!
Ist die alte Rinde »wirklich« noch so hart?
Alles geht zu Ende – auch der dickste Kopf!
Ach, die weißen Mäuse haben dich am Schopf!
Glaubst du, Läuse sitzen bloß in deinem Puder?
Nein, du bist ein unverschämtes dummes Luder,
Und die Frechheit kommt in erster Reihe ran.
Die große Sehnsucht
Wenn die große Sehnsucht wieder kommt,
Wird mein ganzes Wesen wieder weich.
Und ich möchte weinend niedersinken –
Und dann möcht ich wieder maßlos trinken.
Rixráx, der Sonnenbruder
Rixráx, was willst du?
Ich stopfe den Mond
In meine Riesenkanone.
Rixráx, was willst du?
Ich schieße den Mond
Wie eine Riesensaubohne
Hinaus in die ewige Nacht;
Das hat noch keiner gemacht.
Rixráx, was willst du?
Was? Du willst eine Sonnenkanone
Und eine Milchstraßenkrone?
Brüderchen, geh doch nach Haus!
Sei friedlich und schlaf dich aus!
Alter Sonnenbruder!
Vernünftige Devise
Trinke, wenn du trinken willst,
Nie mit deinen Kameraden –
Sonst wird dir der schönste Suff
Leider überall nur schaden.
Dicker roter Mond
Ach, ich kann ja gar nicht schlafen!
Über dem dunkelgrünen Myrtentor
Thront ein dicker roter Mond. –
Ob es später wohl noch lohnt,
Wenn man auf dem Monde wohnt?
Über dem dunkelgrünen Myrtentor?
Wär’s nicht möglich, daß uns drüben
„Längre“ Seligkeiten küßten?
Wenn wir das genauer wüßten!
Hier ist alles zu schnell aus.
Jeder lebt in Saus und Braus.
Wem das schließlich nicht gefällt,
Hält die ganze große Welt
Auch bloß für ein Narrenhaus!
Ach, ich kann ja gar nicht schlafen!
Alter Mond, ich lach dich aus!
Doch du machst dir nichts daraus!
Frage
Meine ganze Welt ist kantig,
Und die Bäume sind verrückt.
Sage, Wilhelm, sage, Sauhirt,
Warum gehst du so gebückt?
Die Welt ist laut …
Die Welt ist laut,
Und ich bin still!
Erloschen sind die Flammen.Ich kann nicht mehr,
So wie ich will!
Den Rausch muß ich verdammen.Die Welt ist laut,
Ich möcht so viel!
Doch bring ich’s nicht zusammen.
Grausamkeit
Der König saß auf seinem Thron
Und sagte: „Lieber guter Sohn,
Hast du das Gift genossen?
Genieß es schleunigst unverdrossen!“
Indianerlied
Murx den Europäer!
Murx ihn!
Murx ihn! Murx ihn!
Murx ihn ab!
Sei sanft und höhnisch!
Charakter-Cyklus
Charakter ist nur Eigensinn;
Ich bin mit mir zufrieden.
Ich geh nach allen Seiten hin;
Wir sind ja so verschieden.Geht mir mit der Quälerei!
Sie macht wirklich kein Vergnügen;
Mir kann nur die Wurschtigkeit
Toll und voll und ganz genügen.
Was wie ein Schienenpaar zerfahren ist,
Das ist noch härter als der Antichrist.Ich möcht am liebsten meine Tinte
Dem Menschenvolk ins Blutgeäder spritzen.
Ich will mich bloß nicht so erhitzen.Glaube mir:
Ich streichle dir
Die zarten vollen Wangen.
Glaube mir:
Ich hab nach dir
Wahrhaftig kein Verlangen.
Ich will dir immer gut sein!
Bleibe mir nur ewig fern
Wie der stille Abendstern.Ich hab die ganze Nacht gelacht –
Natürlich – nur im Traume!
Jetzt bin ich endlich aufgewacht –
Natürlich – noch im Raume!
Ich kann nun nicht mehr lachen!
Was soll ich also machen?
Weiterwachen?Sei klein – dann ist die Welt so groß!
Sei schwach – dann ist die Welt so stark!
Sei dumm – dann ist die Welt so klug!
Sei stumm – dann ist die Welt so laut!
Sei arm – dann ist die Welt so reich!Reimerei und Schweinerei!
Mir ist alles einerlei!
Alte Katzen sind nicht blöde.
Aber jene Untermenschen,
Die ich täglich braten möchte,
Machen mir die Welt so öde.
Mir ist alles einerlei!Mensch, sei frei!
Ach, nur im Dunkeln
Funkeln die Sterne.Freche Fratze,
Deine Glatze
Ist nicht alt,
Auch nicht jung,
Bloß voll Dung,
Hast du bald
Dung genung?Die Eitelheit, die Eitelkeit –
Die steckt ja wohl im Narrenkleid.
Doch bei den steifen ernsten Leuten –
Da steckt sie unter allen Häuten.Der Nebel meiner Lebensqual
Ist dunkel, trüb und fett.
Ich liege still zu Bett.Fahrig, lax, frivol und wischig
Ist die große Alterskunst –
Gräßlich ist der ganze Dunst.Doch die stillen Flaggenstöcke –
Freunde, die laßt stehen,
Wenn auch die Spektakelfeste
Lichterloh vergehen.Die Flaggenstöcke gingen tief
In unsre alte Erde ‚rein.
Wir aber gingen immer schief –
Im Sonnen- wie im Mondenschein.Alte böse Menschen schimpfen
Über meine Lustigkeit.
Und das ist doch weiter nichts als
Alter, dunkelgelber Neid.Du kindische Kröte,
Dich quetsch ich zu Brei.
Ich mag doch nicht hören
Die Mopslitanei,
Die sich lustig macht
Über den, der lacht.Ich schmiß einen Menschen zum Fenster hinaus –
Natürlich – nur im Traume!
Ich fragte höflich die Mama:
Wozu ist das Männchen da?Was denkt sich denn der junge Fant?
Ich liebte nie mein Vaterland.
Das tun ja schon so viel Soldaten!
So selbstgefällig bin ich nicht!Lieber süßer Kannibale,
Liebst du meine Tante Male?
Friß sie auf – sie ist gesund –
Ihre Welt wird ihr zu bunt.Klarheit wollt ihr?
Dicke Klarheit?
Seid ihr echte Untermenschen?
Wollt ihr nicht den kummervollen
Rausch der Ewigkeit umhalsen?
Wollt ihr nicht den götterhaften
Allempfindungsdünkel kosten?
Aber nein: ihr seid gescheidter;
Eure Sehnsucht will ins Bettchen,
Denn der liebe Sandmann kam.Ich weiß, was ich begehrte;
Nie klar wird das Verklärte.Mit den Ketten will ich rasseln,
Daß das Trommelfell euch platze!
Es erblüh in euern Dasseln
Alles Glück in einem Satze.Ach, nur im Dunkeln
Funkeln die Sterne.
Breite Nachtkapuzen,
Ich will euch nur uzen!
Keiner sticht euch tot!
Alles ist im Lot!Überwinden, überwinden
Wollen wir die letzten Trümpfe.
Und wenn wir das Letzte finden,
Machen wir uns auf die Strümpfe.Charakter ist nur Eigensinn.
Es lebe die Zigeunerin!Schluß!!
Ruhmeslied
Meine Welt ist nicht von Pappe!
Dieses sag ich dir im Traum!
Trägst du eine Narrenkappe,
Trag sie unterm Lorbeerbaum!
Wanderlied
Wie weit der Weg!
Im tiefen Tale glänzt
Der Tau der letzten Sommernacht.
Wie weit der Weg!
Im hohen Weltall glüht
Der großen Sonnen Glück so heiß.
Wie weit der Weg!
In tollen Köpfen kreist
Die Schöpferkraft des ganzen Alls.O still! Zum Ziel!
Es wird zu viel!
Fliegenlied
Fliege, fliege, kleine Fliege!
Fliege, fliege in die Wiege!Siege! Siege!
Donnerkarl, der Schreckliche
Ein Heldengedicht
Reich mir meine Platzpatronen,
Denn mich packt die Raserei!
Keinen Menschen will ich schonen,
Alles schlag ich jetzt entzwei.
Hunderttausend Köpfe reiß ich
Heute noch von ihrem Rumpf!
Hei! Das wilde Morden preis ich,
Denn das ist der letzte Trumpf!Welt, verschrumpf!
Ein Säufertraum
Ich war im Traume betrunken
Und sah ein altes Kamel,
Das war zu Boden gesunken –
Es lachte – bei meiner Seel!Und bald lag mein ganzes Genie
Neben dem lachenden Vieh.
Der Himmel lachte über mir,
Und ich trank immer noch für Vier.Mein Kamel kam nicht zu kurz dabei;
Ich ließ es trinken fast für Drei.
Dies war meine schönste Zecherei;
Ich fühlte mich so groß und frei.Ich trinke – bei meiner ewigen Seele! –
Nur noch mit einem alten Kamele.
Mit Menschen trinken ist der größte Kohl –
Kamele nur verstehn den Alkohol.
Gemeinplatz
Ich lobe mir die Freiheit auf den Gassen,
Jedoch das Weib soll man zu Hause lassen.
Abschiedslied
Fahr wohl, du alte Schraube!
Mir warst du sehr egal.
Mir schmeckt die Lebenstraube,
Und dir ist alles Qual!
Tu immer, was du wolltest;
Ich stör dich nicht dabei.
Ich weiß nicht, was du solltest;
Ich laß dich gerne frei.
Und wenn du wieder grolltest,
So wär’s mir einerlei.
Schrei nur, mein Liebchen, schrei!
Ermitage
Die Maske der Betrunkenheit hab ich nun abgelegt!
Ich bin allein – und tue, was ich wollte.
Wer jemals über Albernes sich kindlich aufgeregt,
Der weiß nun endlich, daß ich stets ihm grollte.
Ich lächle nur und lächle immer wieder – wieder!
Mir hängt die Luft voll kreischend-toller Jubellieder!
Notturno
Ich liege ganz still.
Der Nachtwind rauscht leise vorbei.
Eine große Sehnsucht zieht mich noch tiefer.
Diese Sehnsucht – nach – ich weiß nicht was!
Das macht so traurig.
Ich möchte – ich weiß nicht was!
Ich denke an ferne, ferne Zeiten …
Das gute Schaf
Ein erschöpfendes Gedicht
Du bist mein Schaf;
Ich bin dir niemals böse.
Und er ist baff;
Er schaut ins Weltgekröse.Du bist mein Schaf,
Erlöse ihn, erlöse
Auch mich von dem Getöse
Der auferstandnen Jugendzeit;
Sie steht vor mir im Leichenkleid.
Säulenlied
Ich steh auf meiner Säule
Und schau ins weite Meer.
Ich höre dein Geheule
Und wundre mich nicht mehr.
Ich steh auf meiner Säule
Mir wird mein Herz nicht schwer.
Schlußweisheit
Wer sich mit Anderen verbindet,
Auf Erden niemals Ruhe findet.
Moderner Gassenhauer
Der Eremit ist dick und groß;
Er haßt die Nebenmenschen bloß.
Er liebt nur seine Klause
Und bleibt daher zu Hause.
Die ganze Welt ist ihm Pomade.
Die Nebenmenschen sagen: schade!
Das aber rührt den Teufel nicht.
Hat er nur stets sein Leibgericht,
So ist ihm alles piepe –
Der Haß und auch die Liepe.
Groglied
In meinen Adern brennt der stramme Grog;
Pompöser Kohl durchrast mein Eingeweide.
Die kalte Nase steckt im Weltgehirn;
Die heißen Hengste führ ich auf die Weide.
Jetzt, Erdenbürger: Leide! Leide! Leide!
Hobelphantasie
Mir klappern alle Zähne;
Der alte Brei der Welt ist dick.
Doch lange Wunderspäne
Umringeln all mein Mißgeschick.
Abendtöne
Wozu mich mein Schuh drückt?
Das willst du wissen?
Leg dich nur ruhig
Auf dein Ruhekissen;
Es wird zum Luftballon.
Mit dem gehst du davon.
Und deine Locken –
Die werden klingen;
Du sollst mit ihnen,
Da sie rot sind,
Die gelben Sterne umschlingen!
Ach ja, dein verfluchter,
Alter, dammlicher Luftballon
Wird dich weit bringen.
Durch die alte Türe,
Die so herrisch knarrt,
Kommt der Ofenmann
Mit vielen schwarzen Bechern,
Die so traurig sind wie schwarze Briefe.
Na – was will denn der Ofenmann?
Will er den alten Zechern
Die letzten Tropfen schenken?
Der Ofenmann hat kurze Beinchen;
Sein Leib ist ein großes viereckiges Steinchen.
Und auf dem Steinchen sitzt ein Wachskopf –
Der geht natürlich ganz entzwei,
Denn der Ofen ist ja warm.
Und die schwarzen Becher fallen
Diesem alten Ofenmann
Aus den schwarzen alten Händen
Auf die stillen weißen Dielen.
Und der Wein macht die Dielen naß.
Das macht den Zechern Spaß.
Die Beinchen des Ofenmanns
Brechen entzwei.
Und der schwarze Ofen
Steht an der Wand – wie einst.
Die großen Flammen
So nehm ich denn die Finsternis
Und balle sie zusammen
Und werfe sie, so weit ich kann,
Bis in die großen Flammen,
Die ich noch nicht gesehen habe
Und die doch da sind – irgendwo
Lichterloh …
Eine Lichthetäre
Wie ein Lichtstrahl war ich einst,
Zuckte hin und her
Durch die Weltenpracht
In dem Äthermeere.
Quintillionen Wettersterne
Hab ich prickelnd angeblickt.
Oh, ich war geschickt –
Eine Lichthetäre.
Alter Spaß
Ja – meine Sonnenkälber
Sind mit Öl begossen,
Sind naß wie Badelaken
Und erweichte Schrippen.
Ich weiß mit diesen feuchten
Märchenweltschleimtieren
Nichts anzufangen – nichts.
Solche alten Späße
Sind doch eigentlich abscheulich.
Hafentraum
Ich hab in dieser ganzen Nacht
Still wie ein Stall geschlafen.
Ich hab in dieser ganzen Nacht
Geträumt von tausend Schafen.Sie waren alle dick und rund,
Ich aber war nicht ganz gesund,
Ich kam allmählich auf den Hund;
Es war in einem Hafen.In diesem Hafen trank ich viel
Mit großen Welt-Matrosen,
Die spielten Handharmonika
Und mit den tausend Schafen.
Ingrimm
Eine wilde Fratze
Muß ich schneiden,
Denn dies Leben
Macht mir keinen Spaß.
Oh, ich möchte nur
Ein altes Rabenaas
Mit verrückter Wollust
In zehntausend Stücke reißen,
Und dann möcht ich
Hübsche Mädchenköpfe
Balsamieren mit verfaultem Tran
Oder andrer ekler Flüssigkeit.
Und dann möcht ich
In den Himmel springen
Und die Sterne fressen
Und zuletzt:
Den ganzen Lebensunsinn
Ohne weiteres vergessen
Und als Ätherwolke
Traumlos weiterschweben.
Dieses, glaub ich, wird mir
Noch einmal gelingen.
Der lachende Engel
Wie war’s doch nur?
Im Himmel schwebten
Große blanke Diskusscheiben –
Auf denen drehten sich blutrote Nüsse.
Doch alles schlug ein böser Geist entzwei.
Ein Engel lacht dazu
Und spritzt mit Vitriol.
Jawohl! Jawohl!
Die Zappelpappeljöhre
Mal ist mir alles astral
Und mal so ganz egal.
Ich kenne den längsten Strahl
Und auch das Jammertal,
Wo ich beinah nicht hingehöre.
O du Zappelpappeljöhre!
Die alte Laube
Ich habe so viel vergessen.
Ich weiß nicht mehr
Woher ich komme.
Ich saß in einer Laube
Von großen grünen Smaragden;
Sie schimmerten wie Glühwurmlicht.
Mehr aber weiß ich nicht.
Es war ganz hinten im Raume
Und fast wie in dem Traume,
Der uns der allerliebste ist.
Ach ja!
Ach ja! Jetzt weiß ich’s ganz genau!
Von Max und Moritz kam ich her!
Die lagen in einem Syrupmeer
Und waren blöde wie der große Stier.
Es kam ein Strahl durch das Revier
Und hüpfte mit uns Dreien.
Das sollte uns bald entzweien.
Nach jenem Trubel durft ich endlich
So selig ruhen auf dem Zuckersterne,
Der mir aus allen seinen Kratern
Ein glückliches Vergessen dampfte.
Singende Schlangen
Ich war schon wo,
Da ging es wüste zu;
Ich hatte weder Hemd noch Schuh,
Nur grüne Schlangen
In beiden Händen.
Ich konnte mich nicht drehen
Und nicht wenden.
Doch viele Beutelsterne
Drehten sich um meine Arme
Und sahen aus
Wie schlaffe Luftballons.
Die Schlangen aber sangen.
Der Frack-Komet
Ich lebte vor langer langer Zeit
In einem Raume,
Der ganz voll Licht war;
Es leuchteten wohl sämtliche Atome.
Und da kam plötzlich
Eine schwarze Sonne an,
Die schwarze Strahlen
Durch das Lichtreich sandte.
Die schwarzen Strahlen waren kühl
Und kühlten auch meinen heißen Leib,
Der selbstverständlich nicht
Aus dicken Stoffen sich zusammensetzte.
Nun brach sich jenes schwarze Licht,
Das ganz besondre Qualitäten zeigte,
In meinem heißen Leibe so,
Daß ich einen –
Schwarzen Schweif bekam;
Und spalten tat sich dieser Schweif
Und sah beinah so aus
Wie jene langen Streifen,
Die sich an Menschenfräcken
Unter den Händen
Fleißiger Schneider bilden.
Ich ward in jener alten alten Zeit
Ein Frack-Komet.
Ob sich für unsre Erde
Noch mal Kometen
Sichtbar machen könnten –
In Frackform?
Bilder: Cover der Erstausgabe Kater-Poesie, Rowohlt 1909, via Wikimedia Commons;
Vignette: Otto Kokoschka: Portrait Paul Scheerbart; Von Berliner Stammtischen: via Markus „Fognin“ Feuerstack: Fotos Paul Scheerbart, alle ohne Jahr:
Die „Modernen“ an ihrem Stammtisch in einem Café des Westens. Scheerbart und Freunde im „Café des Westens“, v. l. n. r.: Anna Scheerbart, Samuel Lubkinski, Salomo Friedlaender, P. S., Else Lasker-Schüler, Herwarth Walden
Ideales Katerlied: Cerys Matthews: Chardonnay, aus: Cockahoop, 2003:
Filetstück 0001: Vielleicht bis zum Meer
Update zu Happy 189th, Herman:
Herman Melville, * 1. August 1819; † 28. September 1891;
Fanny Morweiser, * 11. März 1940; † 18. August 2014.
Am Sonntag, den 1. August 1819, eine halbe Stunde vor Mitternacht, wird Herman Melville in New York City geboren. Er ist das dritte von bald acht Kindern der Eheleute Allan und Maria Gansevoort Melvill [sic]. Die Geburt findet unter ärztlicher Aufsicht zu Hause statt, in der Pearl Street Nr. 6, nur wenige Steinwürfe von der Battery an der Südspitze Manhattans entfernt. Am nächsten Morgen berichtet der stolze Vater seinem Schwager Peter Gansevoort von der Ankunft seines zweiten Sohnes: „unsere liebe Maria bewies ihre bekannte Tapferkeit in der Stunde der Gefahr, & es geht ihr so gut wie es die Umstände & die starke Hitze erlauben – und der kleine Fremdling hat gute Lungen, schläft gut & trinkt mit Maßen, er ist wirklich ein prächtiger Knabe.“
Daniel Göske: Herman Melville. Ein Leben,
Kapitel I: Harte Zeiten. Kindheit, Jugend, frühe Reisen (1819–1844), 1. Absatz.
O Rosa war mir vom ersten Satz an ein Lieblingsbuch. Meistens mit Erscheinungsdatum 1985 ausgewiesen, steht in meiner Ausgabe, vom Verlag gedruckt: 1983, und das kommt, wenn ich meine Biografie nach Büchern sortiere, viel eher hin: Das hatte meine zuständige Stadtbibliothek schon, als ich in der Neunten war. Und Fanny Morweiser klingt nach den Krimi-Ladies des frühen Diogenes-Verlags, als er noch hautpsächlich schwarz-gelb, meistens mit einer Tuschevignette von Paul Flora, Edward Gorey oder, ganz wichtig: Tomi Ungerer aufgemacht war und was getaugt hat: Patricia Highsmith, Margaret Millar, Dorothy L. Sayers, Muriel Spark oder wie die rechtschaffen zerlesenen, doch etliche Jahrzehnte überdauernden Haushaltsreste im „Zu verschenken !!!!“-Karton alle heißen. Eine Fanny Morweiser hätte genau in die Reihe gepasst, stammt aber tief aus Rheinland-Pfalz; viel deutscher geht’s nicht. O Rosa ist wie ihr restliches Werk ein nicht übersetztes, weil deutsches Original.
Die titelstiftende Rosa ist ein so goldiger, umfassend missmutiger Teenager mit Hang zum Punk und Gothic und so lebensnah gezeichnet, dass man den Fratzen ständig an die Wand klatschen will. Das geschieht aus einer mütterlich erwachsenen Sicht, dass man an ein reales Vorbild glauben möchte, eine nicht sehr zuträgliche Vorliebe für diesen einnehmend abstoßenden Menschenschlag ist mir leider bis heute geblieben. Der Stil gibt sich möglicherweise absichtlich etwas hausbacken harmlos, ist aber zu lakonisch, um als liebloses Lesefutter für unterforderte Hausfrauen durchzugehen. Die Kapitel funktionieren als eigenständige Kurzgeschichten, bilden aber den Handlungsbogen für einen Roman — nicht mit Pulp-Fiction-Loop, aber in dieser Raffinesse mit verloren gehenden und wiederkehrenden, handlungsübergreifenden Figuren hat das erst wieder Daniel Kehlmann in Ruhm 2009 gebracht — wobei ich die Morweiser in ihrem verinnerlichten Understatement sogar brillanter finde.
Ideal für den 200. Geburtstag von Herman Melville, fast gleichzeitig mit dem fünften Todestag von Fanny Morweiser, ist das vorletzte Kapitel:
——— Fanny Morweiser:
Der Badewannenwal
aus: O Rosa. Ein melancholischer Roman, Diogenes Verlag, Zürich 1983, Seite 129 bis 135:
Herbert nahm seinen Urlaub jedes Jahr zur gleichen Zeit. Meistens blieb er zu Hause. Wie seine Mutter, wie Busses, als sie noch lebten, wie Waenbeins und Illichs, die fanden, daß es nirgendwo schöner war. Nur Halil fuhr mit seiner ganzen Familie in die Türkei, um mit schrecklich kitschigen Andenken wiederzukommen.
Blieb Herbert aber zu Hause, hieß das noch lange nicht, daß er so weiterlebte wie sonst, außer daß er nicht zur Abriet ging, natürlich. Er verwandelte sich jedes Jahr für drei Wochen in eine Figur aus einem seiner Bücher. Seine Mutter spielte mit, soweit es ging. Ihr machte das nichts aus, im Gegenteil, der Sommer, in dem er Kipling liebte und Mahbub Ali war, hatte sie auf viele neue Ideen für exotisch gewürzte Gerichte gebracht; in seiner Zeit als Oblomow hatte sie kaum Wäsche, weil er den ganzen Tag in einem alten Schlafrock auf der Couch lag; am liebsten aber war ihr die Dickenszeit gewesen, da war er Mr. Pickwick mit einem Sofakissen unter der Weste, und sie hatten fast jeden Tag etwas unternommen, Ausflüge und Picknicks, sogar Kahnfahrten auf dem Neckar. Daß sie dabei die Rolle irgendeiner unsympathischen Frau, die ihr weiter kein Begriff war, hatte übernehmen müssen, war ihr egal gewesen. Schließlich hatte das keine anderen Folgen für sie gehabt, als daß Herbert ab und zu die Hände über die Augen gelegt und „… ach Mrs. Bardell“ geseufzt hatte.
So erwartete sie einigermaßen gespannt den ersten freien Morgen Herberts, an dem er als die Figur zum Frühstück erscheinen würde, die er dann drei Wochen blieb. Während sie zwei Weißbrotscheiben in den Toaster schob, überlegte sie, welches Buch sie in letzter Zeit in Herberts Zimmer hatte liegen sehen. Als sie ein Plätschern aus der Badewanne hörte, fiel es ihr ein. Moby Dick. Sie stellte Butter und Marmelade auf den Tisch und packte die fertigen Toastscheiben in ein Körbchen.
„Herbert“, rief sie, „das Frühstück ist fertig.“
Aus dem Bad kam keine Antwort, nur das Plätschern schien ihr lauter zu werden. Also ging sie ihn holen. Als sie die Badezimmertür öffnete, sah sie ihn splitternackt in der Wanne liegen, sogar die Brille hatte er abgenommen.
„Ich bin Moby Dick“, sagte er.
„Gut“, erwiderte sie sanft, „du bist Moby Dick. Aber wenn du nicht bald kommst, ist dein Kaffee kalt.“
„Ein paar Algen und etwas Tang wären mir lieber“, er spielte mit den Zehen, tauchte und kam prustend wieder hoch, „aber das wird sich wohl nicht machen lassen. Bring ihn also her.“
„Den Kaffee?“
„Und mein Frühstück.“ Er blinzelte sie aus rotumränderten Augen an. „Sonst stör mich bitte nicht mehr. Das ist hinderlich für die … die …“, er stotterte, „… Mutation.“
„Mutation“, murmelte sie vor sich hin, während sie in die Küche ging, seinen Wunsch zu erfüllen.
Diesmal fand sie Herberts Idee nicht die Spur lustig. Er blieb Tag und Nacht in der Badewanne und stieg nur heraus, wenn er aufs Klo mußte. Seine Haut begann aufzuquellen und einen kränklichen weißen Ton anzunehmen. Sie holte sich das Buch aus seinem Zimmer und las es an drei Nachmittagen durch.
„Du bist der erste Wal, der in eine Badewanne paßt“, erklärte sie nach beendigter Lektüre, als sie ihm das Abendessen brachte.
„Wie groß ist dann dein Kapitän Ahab? Soll ich dir eine von deinen Zinnfiguren bringen?“
Aber Herbert war für Scherze nicht zu haben.
„Laß mich“, sagte er, „laß mich doch. Wie sollst du das auch begreifen. Ich bin frei … ich bin groß … mir gehört das Meer. Nirgendwo stoß ich auf Grenzen.“
„Und ob du auf Grenzen stößt“, erklärte sie wild, „du bist so auseinandergegangen, daß die Wanne bald zu eng für dich sein wird.“
Unglücklich ließ sie ihn allein, um bei den Brüdern Meier Rat zu holen. Meier zwei öffnete ihr und führte sie auf die Loggia, wo sich Meier eins, unsichtbar für seine Umwelt, in einem Liegestuhl sonnte. Taktvoll schlang er sich ein Handtuch um den Bauch und rückte ihr einen Korbstuhl zurecht. Sein Bruder brachte eine Erfrischung in Form eines riesigen Glaskruges, gefüllt mit geeistem Weißwein, in dem Melonenstückchen schwammen. Irma trank ihr Glas mit geschlossenen Augen in langen dankbaren Schlucken auf einmal leer und entließ dann einen tiefen Seufzer.
„Seit vierzehn Tagen“, sagte sie, „freß ich’s in mich rein. Aber jetzt muß ich einfach mit jemandem reden.“
„Nur zu“, sagte Meier eins und füllte nach.
„Er spinnt“, sagte Irma anklagend und wies mit dem Zeigefinger nach oben. „Diesmal spinnt er wirklich. Er liegt Tag und Nacht in der Badewanne und denkt, er sei ein Fisch.“
„Ein Fisch?“
„Ein Wal. Ein weißer Wal.“
„Aha“, sagte Meier zwei und blickte seinen Bruder ratlos an.
„Er macht Tauchübungen“, fuhr Irma fort, „die letzte Woche wollte er nur noch Fisch und Grünzeug. Und gestern verlangte er einen Tintenfisch.“
„Wozu?“
„Um ihn zu essen“, jammerte sie.
„Die schmecken nicht schlecht“, meinte Meier eins, „paniert oder mit einer guten Sauce.“
„Er wollte ihn roh“, sagte Irma düster.
„Und hat er?“
„Er hat“, sagte sie und schüttelte sich.
„Dann werden wir ihn uns einmal ansehen“, erklärte Meier zwei entschieden. „Zieh dir was über, Bruder.“
Irma fischte die Melonenstückchen aus ihrem Glas, während Meier eins in die Wohnung ging, um sich fertigzumachen. Zu dritt, die schon leicht schwankende Irma zwischen sich, stiegen sie einen Stock höher. Die Wohnungstür war nur angelehnt, aus dem Badezimmer kam das Irma inzwischen nur zu gut vertraute Geplätscher. Sie übernahm die Führung und stieß die Tür zum Bad auf. Herbert blickte nicht einmal hoch, als sie zu dritt vor der Wanne standen. Er holte tief Luft, tauchte unter und blieb leise blubbernd, eine Ewigkeit, wie es ihnen schien, unter Wasser. Die Brüder betrachteten ihn nachdenklich. „Er ist dicker geworden“, sagte der eine.
„Kaum noch Hals“, der andere.
„Seine Augen sind ganz klein.“
„Und fast keine Ohren mehr.“
„Und die Füße. Siehst du die Füße?“ Interessiert beugten sie sich vor.
Irma setzte sich auf den plüschbezogenen Schemel, der neben dem Waschbecken stand, und begann zu weinen.
„Nicht doch, nicht doch“, sagte Meier eins, „in acht Tagen ist sein Urlaub vorbei. Dann muß er wieder in die Fabrik. Dann ist er wieder genau wie früher.“
„Ich glaub’s nicht. Ich glaub’s einfach nicht“, sagte Irma, schüttelte den Kopf und schnaubte in ein Handtuch, das gerade da hing.
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Sie sollte recht behalten. In der dritten Woche sprach Herbert nicht einmal mehr mit ihr. Wenn sie ihm das Essen brachte, tauchte er auf und sah sie aus seinen winzigen Augen an, als erkenne er sie nicht. Und dann, in der Nacht, bevor er wieder zur Arbeit mußte, hörte sie ihn schwerfällig aus der Wanne steigen und mit feuchtem Tapp, Tapp durch die Wohnung wandern. Erst tat ihr Herz einen Sprung, weil sie einen Augenblick die Hoffnung hatte, er würde in sein Bett gehen, aber dann hörte sie die Flurtür, und es wurde schwer wie Blei. Langsam schob sie sich aus dem Bett und suchte ihre Pantoffeln. Sie machte Licht im Treppenhaus und ging der nassen Spur hinterher bis zu Meiers Tür. Dort schellte sie – ein paarmal –, bis ihr geöffnet wurde. An den erschrockenen Brüdern vorbei ging sie ins Wohnzimmer und trat ans Fenster.
„Da!“ sagte sie.
Unten ging Herbert über die schlüpfrige Wiese auf den Neckar zu. Aber eigentlich ging er nicht, er schob sich mehr, von einer Seite zur anderen schwankend, als wäre mit seinen Beinen etwas nicht in Ordnung. Als er im Nebel verschwunden war, legte Meier eins Irma tröstend den Arm um die Schulter. „Er war schon immer zu Größerem bestimmt“, sagte er.
Und Meier zwei, die Augen weit aufgerissen, um sich Herberts letzte Spuren für immer einzuprägen, flüsterte: „Wenn er so sehr geübt hat … so geübt … dann schafft er es vielleicht bis zum Meer.“
Bilder: Cover via Leipziger Antiquariat, 12. Juli 2019;
zweimal unsicheres Copyright, vermutlich gemeinfrei;
Skelett vom Wal, Meyers Konversationslexikon 1888.
Soundtrack: The Tellers: Second Category aus: Hands Full of Ink, 2007, video artwork by Deflower Prod.:
This ain’t Hollywood, life is never that good.
She won’t come back with love in her sack,
not a single picture of you in her wallet,
the letters you wrote aren’t pinned up her bed.
Nachtstück 0021: Нет хуже ада
Update zu Lästu dich zum Freien bitten?:
——— Richard Brautigan:
Phantom Kissmid-1950s, from:
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——— Richard Brautigan: Phantomkußdeutsche Übersetzung:
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Images: Illustration zum 1. Kapitel aus Leo N. Tolstoi: Auferstehung:
Missed Crimes. Pulp Rehash. Resurrection by Lev Tolstoy,
L’ombelico di Svesda, 31. März 2012;
eronsk.xxx, 30. November 2014.
Soundtrack: Patricia Kopatchinskaja & Fazıl Say: Beethoven: Kreutzersonate, Opus 47, 1802:
Sonntag 5 von 7: Dann hat’s der Gottseibeiuns gemacht (Geschichtsstunde für Mädchen)
Update zu Bierchen aus alter Zeit und
Der deutsche Sonderweg zur Hochkomik 1–10:
Um unsere eigene Leitkultur auszukosten, feiern wir einmal alle sieben Sonntage der Osterzeit durch. Am sinnvollsten geschieht das anhand siebenzeiliger Strophen.
5. Sonntag nach Ostern: Vocem iucunditatis oder Rogate
Vocem iucunditatis annuntiate, et audiatur.
GEhet aus von Babel / fliehet von den Chaldeern mit frölichem schall / Verkündiget vnd lasset solchs hören / Bringets aus bis an der Welt ende / sprecht /Der HERR hat seinen knecht Jacob erlöset.
Jesaja 48,20.
Rogate heißt der Bittsonntag, vocem iucunditatis heißt, dass die Bitten gefälligst freundlich gestellt werden.
Ich möchte nicht, daß es so aussieht,
als ob sich hier ein Fräulein auszieht.Robert Gernhardt.
——— Bertolt Brecht:
Der Gottseibeiuns
aus: Svendborger Gedichte II, 1939:
Herr Bäcker, das Brot ist verbacken!
Das Brot kann nicht verbacken sein
Ich gab so schönes Mehl hinein
Und gab auch schön beim Backen acht
Und sollt es doch verbacken sein
Dann hat’s der Gottseibeiuns gemacht
Der hat das Brot verbacken.
Herr Schneider, der Rock ist verschnitten!
Der Rock kann nicht verschnitten sein
Ich fädelte selber die Nadel ein
Und gab sehr mit der Schere acht
Und sollt der doch verschnitten sein
Dann hat’s der Gottseibeiuns gemacht
Der hat den Rock verschnitten.
Herr Mauerer, die Wand ist geborsten!
Die Wand kann nicht geborsten sein
Ich setzte selber Stein auf Stein
Und gab auch auf den Mörtel acht
Und sollt sie doch geborsten sein
Dann hat’s der Gottseibeiuns gemacht
Der hat die Wand geborsten.
Herr Kanzler, die Leute sind verhungert!
Die Leute können nicht verhungert sein
Ich nehme selber nicht Fleisch, nicht Wein
Und rede für euch Tag und Nacht
Und solltet ihr doch verhungert sein
Dann hat’s der Gottseibeiuns gemacht
Der hat euch ausgehungert.
Liebe Leut, der Kanzler hänget!
Der Kanzler kann nicht gehänget sein
Er hat sich doch geschlossen ein
Und war von tausend Mann bewacht
Und sollt er doch gehänget sein
Dann hat’s der Gottseibeiuns gemacht
Der hat den Kanzler gehänget.
Bilder: Allegory in Red: What to Read; Sweaters; Jeans; Tops; Backs;
A History Lesson For Girls: A Good Book, 1. Januar 2007.
Fräulein Allegory empfiehlt mittels ihrer enthüllenden Selbstportraits:
Aurelie Sheehan: History Lesson For Girls, Viking 2006, leider nicht deutsch übersetzt.
Soundtracks: die Bach-Kantaten zu Vocem iucunditatis oder Rogate:
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, BWV 86, 1724;
Bisher habt ihr nichts gebeten in meinem Namen, BWV 87, 1725:
Nachtstück 0019: Noch weit beunruhigendere Betrachtungen
Update zu Unter sotanen Umständen:
——— Arno Schmidt:
Julianische Tage
Berichte aus der Nicht-Unendlichkeit, 1961,
Bargfelder Augabe III/4, Seite 91 f., Schluss,
in: Trommler beim Zaren, 1966:
Es gibt noch weit beunruhigendere Betrachtungen hier ! Setzen wir, daß man vom 5000. Tage an leidlich mit Verstand zu lesen fähig sei; dann hätte man, bei einem green old age von 20 000, demnach rund 15 000 Lesetage zur Verfügung. Nun kommt es natürlich ebenso auf das betreffende Buch, wie auch auf die literarische Aufnahmefähigkeit an. Das Kind schlingt seinen dicklichen MAY=Band in 2 Tagen hinunter (und die schönsten Stellen werden sogar mehrmals genossen); der Mann, tagsüber im Büro, oder hinter Pflug & Schraubstock, druckst, selbst bei bestem Willen, 3 Wochen lang über’m ‚WITIKO‘, den ihm ein sinniger Kollege empfahl. Sagen wir, durchschnittlich alle 5 Tage 1 neues Buch — dann ergibt sich der erschreckende Umstand, daß man im Laufe des Lebens nur 3000 Bücher zu lesen vermag ! Und selbst wenn man nur 3 Tage für eines benötigte, wären’s immer erst arme 5000. Da sollte es doch wahrlich, bei Erwägung der Tatsache, daß es bereits zwischen 10 und 20 Millionen verschiedener Bücher auf unserem Erdrund gibt, sorgfältig auswählen heißen. Ich möchte es noch heilsam=schroffer formulieren :
Sie haben einfach keine Zeit, Kitsch oder auch nur Durchschnittliches zu lesen :
Sie schaffen in Ihrem Leben nicht einmal sämtliche Bände der Hochliteratur !
Jaja, die ‚Julianischen Tage‘ : wieviel Sonnen haben Sie schon aufgehen sehen ? Wieviel Vollmonde unter ? Wieviel Tage trennen uns=heute von GOETHE’s Tod ? Wieviel von Christi Geburt : 1 Milliarde Morgenröten; oder nur 700 000 ?
„Des Menschen Leben währet 70 Jahre“ ? — sagen wir : 25 000 Julianische Tage.
Seelandschaft ohne Pocahontas: Arno-Schmidt-Stiftung: Recherchereise: Arno Schmidt 1953 auf dem Dümmer, via Georges Felten: Pornographie bei Arno Schmidt: Kunst oder Verbrechen? Vor sechzig Jahren geriet Arno Schmidt ins Visier der deutschen Justiz: Sein Roman „Seelandschaft mit Pocahontas“ stand im Verdacht, Pornographie und Gotteslästerung zu verbreiten. Ein Gastbeitrag, Frankfurter Allgemeine Zeitung 28. Juli 2016:
(‚Tag der Deutschn Einheit‘? : unvergleichlich geeignet zum Paddln !)
Zettel’s Traum, Seite 538, 1970.
Und bloß nicht den Namen dieses Nachbardorfes einprägen; jetzt noch nicht; mit 55 muß man das Gedächtnis für’s Notwendigste reservieren.
Kühe in Halbtrauer, 1961.
So wird das freilich nix.
Pass auf, der Schreiner hobelt jetzt und grad an deinem Schrein:
Hannes Wader, Reinhard Mey & Klaus Hoffmann: So trolln wir uns [Lied 21], aus: Liebe, Schnaps, Tod, 1996:
Rosa Lübeck-Luxemburg
Update zu Es endet ohne Schlusspunkt.
und Bierchen aus alter Zeit:
Es gibt da ein paar Unstimmigkeiten. In Ordnung, dass ein Gedicht Fragment bleibt (mein Gesamtwerk besteht aus Fragmenten), obskur bleibt mitsamt allen auffindbaren Erklärungen die Überlieferung.
Angenehm eindeutig ist die Datierung 1952 für die Entstehung. Aber dann: Wer 1981 oder kurz danach nicht den allgegenwärtigen Knuffel Die Gedichte in einem Band von Brecht gekauft hat, war entweder zu jung oder dringender mit Fußballspielen und Mofafrisieren beschäftigt. „Die“ Gedichte — das erhebt durchaus einen Anspruch auf Vollständigkeit, wobei es in Ordnung geht, wenn das eine oder andere Fragment der Aufnahme entwischt, weil es schlicht (noch) verschollen ist. Die Wiederentdeckung wird fast eine Generation später, in der Zeit vom 5. September 1997 unter der Rubrik Zeitmosaik gefeiert. Der Nachsatz der unscheinbaren Zeitungsspalte erscheint im Oiriginal — siehe Bild — kursiv:
Diesen bisher unveröffentlichten Text von Bertolt Brecht finden wir im neuen Heft, Nr. 6, der vom Berliner Ensemble herausgegebenen Schriftenreihe Drucksache. Er ist Teil eines hier zum ersten Mal publizierten, Fragment gebliebenen Werkes von 1952 über Rosa Luxemburg, verheiratet mit Gustav Lübeck (Alexander Verlag, Berlin; 56 Seiten, 14,90 Mark)
Im Herbst 1997 war demnach die eher dünne Drucksache Nr. 6 im (traditionell Ost-)Berliner Alexander Verlag das „neue“ Heft. Wäre es da sehr engherzig anzumerken, dass Nr. 6 schon 1993 erschienen ist? Und es zog ein Jahrzehnt ins Land, das ein ganzes Jahrtausend, den NEMAX, das World Trade Center und meine letzten wenigstens potenziell guten Jahre mühelos wegfraß. Plötzlich war es 2007, und von dem 1981er Knuffel erschien eine vollständige Neuausgabe von Jan Knopf.
In einem den Bedürfnissen der neuen Zeiten fröhlicherem Rot, immer noch ohne Lesebändchen, aber mit 1648 statt 1392 Seiten und immer noch mit dem dezent Alleingültigkeit verheißenden bestimmten Artikel: nicht „Sämtliche“, nicht „Alle“, schon gar nicht, was alles und nichts heißen könnte, „Gesammelte“ — nein: „Die“ Gedichte.
Wir, die wir in der durchwachsen glücklichen Lage sind, dass wir uns 1981 kein Mofa zum Frisieren, sondern nur einen Band Brecht-Gedichte zum schamlosen Ausschlachten leisten konnten, um Mädchen zu beeindrucken, können deshalb direktvergleichen: O ja, auf den zusätzlichen 256 sind einige Gedichte dazugekommen, woher auch immer. Brecht soll ja eine besonders heikle Erbengemeinschaft hinterlassen haben, die bis 2007 nun wirklich nicht mehr länger auf irgendwelchen zerknüllten Manuskriptschnipseln herumsitzen konnte, ohne sie endlich der literaturwissenschaftlichen Auswertung auszusetzen, da kann schon was zusammenkommen. Der umgekehrte Vergleich lehrt aber auch: Gegenüber der Ausgabe von 1981 sind auch Gedichte entfallen.
Und niemand weiß warum. Was natürlich Quark ist: Der Herausgeber heißt 2007 nicht mehr „Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann“, sondern Jan Knopf und ist der Leiter der Arbeitsstelle Bertolt Brecht (ABB) am Karlsruher Institut für Technologie, vormals Universität Karlsruhe, Fridericiana (TH) und kann zweifellos jede einzelne seiner 1648 Seiten lückenlos begründen.
Bevor sich ein im Leben nie so richtig aufgehalfterter Germanist (Linguistik, Leute, nix da Literaturwissenschaft!), der bereit ist, sich aller 26 Jahre das gleiche Buch nachzukaufen, zu einer freundlichen Nachfrage aufrafft, wird er sich aller Einschätzung nach wohl doch eher damit abfinden, dass er jetzt alle zwei Ausgaben aufbewahren muss. Der bringt es fertig und freut sich noch, dass er zusätzlich noch den Zeitungssausriss von 1997, der weder in der alten noch der neuen Version vorkommt, als Lesezeichen aufgehoben hat.
——— Bertolt Brecht:
„frau lübeck“
Fragment 1952, gedruckt in: Heiner Müller und Holger Teschke (Redaktion):
Drucksache 6. Berliner Ensemble 1993,
in: Zeitmosaik, Die Zeit 37/1997, 5. September 1997, Seite 58:
kleine frau, etwas fett geworden, wackelnder
gang, augen klein, blick abschätzend.
mund träge, lippen nicht gut geschlossen,
geschmacklos gekleidet, schleifen und maschen.
nicht ganz schlicht.
ein energischer geschäftssinn und (…),
mit befreiter sexualität (St. Großmann)
am tag vor ihrer ermordung ruft sie Rosenberg an,
die lage der gefängnisbeamten zu bessern. (erleichtern)
sie hatte es ihren wärtern beir entlassung versprochen.
der blick in das gesicht eines menschen, dem geholfen ist, ist der blick in eine schöne gegend, freund.
die hechtin im karpfenteich (Bebel)
ich bin steinreich.
und laßt mir das hinken (wackeln)
mir jetzt, in diesem feurigen rausch,
als hätten wir schampagner im blut,
>den dicken schinken< schrieb ich in einem rausch.b) ich, die ich „auf einem besen durch die ökonomie ritt“ sie schickt Liebknecht vor, daß er nicht nur „eine frau sagt“.
Bilder: Bücherregal mit zweimal Brecht;
Die Zeit (verrinnt), 5. September 1997, Stand 9. Januar 2019.
Ja, mach nur einen Plan: Das Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens,
aus: Die Dreigroschenoper, 1928:
Was ich habe, wo ich bin
Update zu Was zusamengehört,
Imbolc Blessings: My heart is as black as the blackness of the sloe
und Da entkomm ich aller Not, die mich noch auf der Welt gebunden:
Um den feierwürdigsten Feiertag des Jahres zu begehen – Unser Lieben Frauen Lichtweihe, vulgo Mariä Lichtmess, Purificatio Mariae (Mariä Reinigung), Praesentatio Jesu in Templo (Jesu Opferung im Tempel), Darstellung des Herrn, Imbolc (Imbolg), Samhain oder Groundhog Day, was sonst? –, bietet sich an, ein siebenzeiliges Gedicht in die Sammlung zu holen.
Das Reimschema ist diesmal besonders schlicht, nämlich sechsmal trivial mit einer Waise — was aber nichts ausmacht, weil das merklich so beabsichtigt ist. Ohne literaturwissenschaftliches Studium kann ich Gründe anführen, warum es freie Rhythmen sind, und auch fürs Gegenteil.
——— Thomas Brasch:
Lied
aus: Kargo. 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff
aus der eigenen Haut zu kommen, Suhrkamp 1977:
Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber
die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber
die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber
wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.
Bild: Tayla and Lena: the world spins madly on, 31. Januar 2010:
Everything that I said I’d do
Like make the world brand new
And take the time for you
I just got lost and slept right through the dawn
And the world spins madly on
Soundtrack: The Weepies: World Spins Madly On, aus: Say I Am You, 2006:
Indessen Pasternak
Update zu Russika aus vier Jahren: O komm ein Engel und rette mich!,
Mephista,
Bei den Gebildeten ein gewisses Aufsehen (starke Beachtung in der Gelehrtenwelt)
und Ein Nichts, ein Zwischenraum (Jedenfalls sie hattens nicht):
Byti snamenitom nekrassiwo.
(Berühmtheit kann nichts Schönes bieten.)Wo wssiom mne chotschetssa dojti.
(In allem möchte ich zutiefst den Kern ergründen.)Boris Pasternak, deutsch: Mary von Holbeck, a. a. O.
Boris Leonidowitsch Pasternak ist möglicherweise der Russe, bestimmt aber der russische Künstler, der in Amerika beliebter war als in Russland. Wer schon mal die berüchtigte Verfilmung seines Doktor Schiwago von 1956 durch David Lean 1965 gesehen hat – also jeder –, weiß auch davon, dass Pasternak für seine Buchvorlage den Literatur-Nobelpreis 1958 hat, der gerne allzuschnell der Einfachheit halber zu den fünf Osacars für den Film dazugerechnet wird. Das ist für eine Reaktion der Nobelpreisstifter auf Literaturströmungen ungewohnt zügig. Pasternak bekam den Nobelpreis zugesprochen, musste ihn jedoch auf vielfachen und besonders nachdrücklich geäußerten Wunsch der russischen Regierung ablehnen.
Doktor Schiwago erschien nicht 1956 auf Russisch, wie es reibungslos geschehen wäre, sondern auf Italienisch 1957. Die russische Originalausgabe wurde – und das ist ungewohnt – von der CIA beim Den Haager Mouton Verlag gefördert.
Seinen trotz alledem und alledem selbst gewünschten Verbleib in der Sowjetunion verdiente sich Pasternak mit ungebrochener Disziplin in Dichtung und Übersetzung aus mehreren Sprachen – unter anderem aus dem Deutschen, wozu ihn ein Studium in Marburg im Übermaß qualifizierte: 1950 hatte er sich mit der seinerzeit noch regierungstreuen Literaturzeitschrift Nowy Mir angelegt, indem er angeblich Goethes progressive Implikationen im Faust zugunsten der reaktionären Theorie der reinen Kunst verzerrte, trotzdem lag 1952 der Tragödie zweiter Theil fertig vor.
Wobei die Jahreszahlen 1950 und 1952 Informationen der englischen Wikipedia in den Abschnitten „Translating Goethe“ und „Selected books“ sind; Die Zeit Nr. 44 vom 30. Oktober 1958 gibt, aktueller am Zeitgeschehen, erst 1957 an). Jedenfalls kam es in den 1950 Jahren für Pasternak ziemlich geballt: Herzinfarkt, starke Magenblutungen und dann noch einen Lungenkrebs im Anfangsstadium überlebte er am 30. Mai 1960 nicht mehr, da war er zarte 60.
Nach russischen Faust-Übersetzungen unter anderem von Shukowskij, Gribojedow, Tjutchew, A.K.Tolstoj, Huber, Fet und Brjussow war die von Pasternak keineswegs die erste, ist aber die beliebteste geblieben, sogar in Russland selbst: Nach seiner offiziellen Rehabilitation nebst Wiederaufnahme in den Schriftstellerverband der UdSSR am 23. Februar 1987 durfte er durch Vertretung seines Sohnes Jewgeni Pasternak 1989 sogar posthum den Nobelpreis noch annehmen und den Doktor Schiwago in Zeitungsform veröffentlichen.
An Pasternaks Vorarbeiten zu faustischen Themen finde ich nur ein denkbar obskures Gedicht aus einem frühen, noch typisch lebensfroh gestimmten Gedichtband in einem weitgehend verschollenen deutschen Auswahlbändchen. Die Anmerkungen darin beschränken sich auf vage zeitliche Einordnung und Übersetzernamen, in werkimmanenter Interpretationsweise ist dem Gedicht kaum beizukommen:
——— Boris Pasternak:
Mephistopheles
Mefistofel, aus: Themen und Variationen (Temy i wariaziji), 1917–1923,
deutsche Übersetzung: Christel Pesch,
cit.: Gedichte, Erzählungen, „Sicheres Geleit“, Fischer Bücherei 271, März 1959, Seite 29:
Sie alle strömten aus den Massen
Von Staub am Sonntag vors Tor hinaus,
Indessen der Regen, alleine gelassen,
Durch Schlafzimmerfenster dringt in das Haus.Bei allen wars üblich, zum Mittagessen
Als Nachtisch spätestens Regen zu nehmen,
Indessen — ein Veloziped — wie besessen
Windwirbel die Zimmerkommoden durchfegen.Jetzt wurden dort bis an die Decke
Die Seidenvorhänge durchgerüttelt,
Indessen draußen, an Teichen und Hecken
Der Sturm die Philister zusammenrüttelt.Als überlanger Zug von Kremsern
Gegen die Wälle sie heimwärts strebten,
Wo rosseschreckende Schattengespenster
Sich allabendlich neu belebten.In Strümpfen aus Blut mit großen Schnallen,
– Troddeln, die an der Trommel hingen –
Hört man des Teufels Beine hallen,
Die über rotgoldne Wege gingen.Es schien, daß der Hochmut des Federhuts,
Der durch das Laub Überheblichkeit
In Wellen strömte, in einem Nu
Die Welt hinwegfegt für alle Zeit.Er grüßt sie nur lässig, die neben ihm zogen,
Und zählt sie wie Meilensteine aus.
Den Kopf im Lachen zurückgebogen,
Stapft er gleichmäßig dem Freund voraus.
Bilder: Gedichte, Erzählungen, „Sicheres Geleit“ via Siniamaus auf Ebay;
Leonid Pasternak: Boris Pasternak Writing, 1919,
Kreidezeichnung auf Papier, 318 mm x 260 mm, London Tate Gallery;
Luis Ricardo Falero: Faust und Mephisto, via The Laughing Heresiarch, 10. Mai 2015.
Jetzt bloß kein Lara Theme: Über dem Versuch zu unterscheiden, ob auf YouTube gerade der Erste oder Zweite Mephisto-Walzer erklingt – was, siehe unten, selbst in hochoffiziellen Einspielungen mit Katia Buniatishvili verwechselt wird –, ersteht die schöne Erkenntnis, dass Franz Liszt deren sogar vier komponiert hat. Darum als populäre Referenz gleich alle viere, allesamt von slawischer Seite interpretiert:
3. Katzvent: „du schaffst es“, sagte ich, „du bist ein Guter …“
Update zu Her Father Didn’t Like Me Anyway (Das Liebesleben der Hyäne):
Im heurigen Katzvent befassen wir uns nach Inhalten über Katzen 2015 und Inhalten von Katzen 2016 mit Inhalten über tote Katzen.
Das ist erfreulicher, als man spontan glaubt — Kunststück. Wer die Morbidität nicht aushält, darf sich damit trösten, dass Katzen sieben Leben haben, in angelsächsischen Kulturen sogar neun.
——— Charles Bukowski:
Manx
ca. 1981,
aus: Abel Debritto, Hrsg.: Charles Bukowski: Katzen, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018;
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch: Jan Schönherr:
das ist nur ein langer Ruf
aus kurzem Raum.
es erfordert keinerlei
besondere Brillanz
zu wissen, dass
wir wieder mal auf Abwege geraten.
wir lachen immer weniger,
werden vernünftiger.
Wünschen uns nichts als
die Abwesenheit anderer.
sogar die klassische Musik
wurde zu oft gehört,
die guten Bücher sind
gelesen.
wieder kommt uns der Verdacht
wie schon am Anfang
wir seien
sonderbar, abartig, passten
hier nirgendwo hin …
während wir das schreiben
ein hässliches Brummen, etwas
landet in unserem
Haar
verheddert sich.
wir fassen hin
zupfen es frei
und es sticht uns in den Finger.
was hat dieses dahergeflogene
Nichts
denn hier zu suchen, mitten
in der Nacht?
es ist fort …dort ist eine Schiebe-
tür aus Glas
und draußen
sitzt ein weißer Manx
mit einem schiefen Auge.
die Zunge hängt ihm seitlich
aus dem Maul.
wir schieben die Tür auf
und er huscht herein
die Vorderbeine wollen
in die eine Richtung
die Hinterbeine
in die andere.
jämmerlich gekrümmt
kommt er auf uns zu
flitzt uns die Beine rauf
und auf die Brust
legt uns die Vorderbeine
wie Arme
an die Schultern
streckt die Schnauze
dicht an unsere Nase
und blickt uns an
so gut er kann;
ebenso verdattert
blicken wir zurück.eines Abends,
alter Junge,
irgendwann,
irgendwie.
zusammen
stecken wir hier fest.wir lächeln wieder
so wie früher.
plötzlich springt der Manx
mit einem Satz davon und
wuselt seitwärts über den
Teppich, auf der
Jagd nach irgendwas
das keiner von uns sieht.
~~~\~~~~~~~/~~~
Ein internationaler Dieb hat am Montag meinen LIeblingskater überfahren (den Manx). Das Vorderrad ist komplett über ihn drüber. Jetzt ist er in der Klinik. Der Arzt meint, er kann vielleicht nie wieder gehen. Lässt sich noch nicht sagen. Auf dem Röntgenbild sieht man, das Rückgrat ist im Arsch. Eine tolle Katze. Richtig Charakter. Vielleicht kann man operieren, oder ihm Räder anbauen. Auf dem Röntgenbild sieht man auch, dass irgendwer irgendwann auf ihn geschossen hat. Er hatte es nicht leicht.
~~~\~~~~~~~/~~~
Der Manx geht wieder, wenn auch etwas schief. 7 Tage war er in der Klinik. Ein Wunder, meint der Arzt, dass der Manx wieder geht. Außerdem ist er kein Manx, den Schwanz hat ihm einer abgeschnitten. Siam ist dadrin. Verdammt eigenartiges Tier, höllisch clever. Der Typ, der ihn überfahren hat, kam gestern Abend vorbei, der Manx hat ihn gesehen und flitzte sofort die Treppe rauf und oben hinter die Klotür. Er wusste, wer da am Steuer gesessen hatte.
~~~\~~~~~~~/~~~
Das ist mal ein schöner Kater. Zunge hängt raus, er schielt. Der Schwanz ist gekappt. Schön ist er, hat was im Kopf. Wir brachten ihn zum Tierarzt, zum Röntgen — ein Auto hatte ihn erwischt. Der Arzt meinte: „Diesen Kater hat man zweimal überfahren, angeschossen, ihm den Schwanz abgeschnitten.“ Ich sagte: „Dieser Kater bin ich.“ Fast totgehungert stand er vor meiner Tür. Wusste genau, wohin er muss. Wie sind beide Straßenpenner.
~~~\~~~~~~~/~~~
Der Manx stand eines Tages halbtot vor der Tür. Wir nahmen ihn auf, fütterten ihn fett, dann kam ein besoffener Freund vorbei und überfuhr ihn mit dem Auto. Ich hab’s gesehen. Der Kater sah mir dabei direkt in die Augen. Wir brachten ihn zum Tierarzt. Röntgen. In Wahrheit ist er gar kein Manx. Jemand hat ihm den Schwanz abgeschnitten, meint der Arzt. Geschossen hat man auch auf ihn, das Schrot steckt noch im Fleisch, und er kam nicht zum ersten Mal unter die Räder — verheilte Stelle am Rückgrat auf dem Röntgenbild. Ein schiefes Auge hat er auch. Wahrscheinlich wird er nie mehr laufen können, hieß es. Jetzt rennt er umher, schielend, raushängende Zunge. Ein zäher Spinner.
~~~\~~~~~~~/~~~
Der schwanzlose, schielende Kater stand eines Tages vor der Tür, und wir ließen ihn rein. Alte rosa Augen. Was für ein Kerl. Tiere ind inspirierend. Sie können nicht lügen. Sind Naturgewalten. Vom Fernsehen werde ich nach fünf Minuten krank, ein Tier kann ich stundenlang betrachten und sehe nichts als Pracht und Anmut, das Leben, wie es sein sollte.
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geschichte eines zähen Motherfuckers
eines Abends stand er vor der Tür, nass, dürr,
geprügelt und
verängstigt.
ein weißer, schiefäugiger Kater ohne Schwanz
ich ließ ihn rein, gab ihm zu fressen und er blieb,
fasste Vertrauen, bis ein Freund in die Einfahrt
bog und ihn überfuhr.
was übrig blieb, trug ich zum Tierarzt, und der
meinte: „sieht nicht gut aus … Vielleicht mit
diesen Pillen … das Rückgrat ist gebrochen,
nicht zum ersten Mal, aber damals irgendwie
geheilt, wenn er überlebt, kann er nie wieder
laufen, hier, die Röntgenbilder, jemand hat auf ihn
geschossen, das Schrot steckt noch im Fleisch …
und er hatte einen Schwanz, den hat ihm einer
abgeschnitten …“ich brachte ihn nach Hause, es war ein heißer
Sommer, einer der heißesten seit Jahrzehnten,
ich setzte ihn im Badezimmer ab, gab ihm
Wasser und die Pillen, er wollte nicht fressen
und ließ auch das Wasser stehen, ich tauchte
den Finger ein und benetzte ihm das Maul
und sprach mit ihm, ich ging nicht aus dem
Haus, blieb viel im Badezimmer und redete ihm
zu, streichelte ihn, und er sah mich bloß mit
diesen blassen blauen schiefen Augen an, und
nach einigen Tagen rührte er sich zum ersten Mal
zog sich mit den Vorderbeinen vorwärts
(die Hinterbeine wollten einfach nicht)
er schaffte es zum Katzenklo
kletterte über den Rand hinein,
das war, als schallten die
Fanfaren möglichen Triumphs
vom Badezimmer
durch die Stadt, ich fühlte mit ihm — auch ich
war übel dran gewesen, nicht ganz so übel, aber
schlimm genug …eines Morgens stand er auf, blieb stehen, fiel
wieder hin und
sah mich an.„du schaffst es“, sagte ich, „du bist ein Guter …“
er versuchte es immer wieder, stand auf, fiel hin,
bis er endlich ein paar Schritte ging, torkelnd,
wie betrunken, die Hinterbeine wollten einfach
nicht, er fiel, ruhte kurz aus und rappelte sich
wieder hoch …ihr kennt den Rest: Jetzt geht’s ihm besser
denn je, schielend, fast keine Zähne, die Anmut
ist zurück, und dieses Etwas in den Augen war
nie weg …
manchmal interviewt man mich, fragt mich
nach Leben und Literatur, und ich besaufe mich
und halte meinen schielenden angeschossenen
überfahrenen entschwanzten Kater hoch und sage
„schaut, schaut euch das an.“aber sie verstehen nicht, sagen Dinge wie „sie
sind also beeinflusst von Céline …“„nein.“ ich halte die Katze hoch. „von dem,
was passiert, von
so was wie dem hier, dem hier, dem hier! …“ich schwenke den Kater hin und her, halte ihn ins
verrauchte, betrunkene Licht; er nimmt’s locker, er
kennt sich aus …ungefähr da ist’s mit den meisten Interviews vorbei.
allerdings bin ich manchmal ganz schön stolz,
wenn ich sie später gedruckt sehe, und da bin ich
und da ist der Kater, wir beide, zusammen auf dem
Foto …was das für Bullshit ist, das weiß er auch, aber
es bringt Futter in den Napf,
stimmt’s?
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eins für den alten Knaben
er war bloß ein
Kater
schielend
schmutzig weiß
mit blassen blauen Augenich erspare euch seine
Geschichte
nur so viel:
er hatte jede Menge Pech
und war ein guter
Kerl
und er ist gestorben
wie Menschen sterben
Elefanten sterben
Ratten sterben
Blumen sterben
wie Wasser verdunstet
und der Wind sich legtletzten Montag hat
die Lunge schlappgemacht.jetzt liegt er im Rosen-
garten
und in mir wurde
ein anrührender
Marsch für ihn gespielt
was sicher nicht viele
aber bestimmt manche
von euch
interessiert.das
war’s.
Bilder: Cover Abel Debritto, Hrsg.: Charles Bukowski: Katzen, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018;
Charles und Linda Bukowski: ca. Juni 1981, via Elena Kuzmina: Charles Bukowski — On Cats, 20. April 2016
und Guillermo Galvan’s Reviews: On Cats, 18. Januar 2017.
Anrührender Marsch: 2. Satz: Marcia funebre — das bedeutet: Begräbnismarsch — (Adagio assai) aus: Beethoven: 3. Sinfonie „Eroica“, Es-Dur, opus 55, 1803,
Wiener Philharmoniker unter Leonard Bernstein im Musikverein Wien, 1978:
nichts gegen
Beethoven:für einen Mensch
war der
nicht übeltrotzdem möchte ich
ihn
nicht auf dem Teppich haben
ein Bein über
dem Kopf und
die Zunge an
den Eiern.Charles Bukowski: eine Katze ist eine Katze ist eine Katze ist eine Katze, a. a. O., Seite 99.
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Bonus-Gedicht: Charles Bukowski: Cats and You and Me:
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And all I got’s a pocketful of flowers on my grave: Tom Waits: Back In The Good Old World (Gypsy),
aus: Night on Earth, 1991 f.:
2. Katzvent: Über ein kleines werden wir alle tot sein
Im heurigen Katzvent befassen wir uns nach Inhalten über Katzen 2015 und Inhalten von Katzen 2016 mit Inhalten über tote Katzen.
Das ist erfreulicher, als man spontan glaubt — Kunststück. Wer die Morbidität nicht aushält, darf sich damit trösten, dass Katzen sieben Leben haben, in angelsächsischen Kulturen sogar neun.
Was Ihren abschließenden Grußwunsch „Glückliche Mäusejagd!“ betrifft, so können Sie bei seiner Niederschrift nicht ganz nüchtern gewesen sein. Katzen meines Geblüts jagen keine Mäuse.
Taki Chandler an Mike Gibbud, Esq., einen Siam-Kater nicht ganz reiner Blutlinie:
Antwort auf einen überraschend erhaltenen Weihnachtsglückwunsch,
Weihnachten 1948, a. a. O.
Die simple Kunst des Mordes von Raymond Chandler wollte ich mir schon kurz nach seiner Neuveröffentlichung 1975 von meiner Frau Mutter, lang soll sie leben, spendieren lassen, was sie mir aus pädagogischen Gründen bis heute versagt. Heute, wo man sich das Ding aus dem Magazin der großen Stadtbüchereifiliale etwas umständlich, aber gratis herauskramen lassen kann, erhellt, dass der Siebenjährige, der ich einst war, damit ohnehin nicht viel hätte anfangen können.
Die deutsche Erstausgabe, auch damals schon bei Diogenes, hieß noch Chandler über Chandler, neu waren 1975 (außer der Übersetzung von Hans Wollschläger, die wohl als eine Art Fingerübung praktisch gleichzeitig mit seiner Ulysses-Übersetzung erschien) die Teilsammlungen Chandler über berühmte Verbrechen — und Chandler über Katzen.
Zu den Briefadressaten: Charles W. Morton war als Herausgeber des Atlantic Monthly Chandlers New Yorker Verleger; James „Hamish“ Hamilton war in ähnlicher Funktion bei der Hamish Hamilton Limited Chandlers Buchverleger und Freund; H. N. Swanson war Chandlers Literaturagent in Hollywood; James Sandoe war Kriminalromankritiker der New York Herald Tribune und Professor für Klassische Literatur und Bibliographie an der University of Colorado.
——— Raymond Chandler:
19. März 1945
An Charles W. Morton
in: Die simple Kunst des Mordes. Briefe, Essays, Notizen, eine Geschichte und ein Romanfragment. Herausgegeben von Dorothy Gardiner und Katherine Sorley Walker [als Raymond Chandler Speaking, Helga Greene Literary Agency 1962]. Neu übersetzt von Hans Wollschläger, Diogenes 1975:
… Ein Mann namens Engstead hat vor einiger Zeit für Harper’s Bazaar ein paar Fotos von mir aufgenommen (warum, ist mir bis heute schleierhaft), und eins davon, das mich mit meiner Sekretärin auf dem Schoß zeigt, ist wirklich gut gelungen. Wenn das Dutzend Abzüge da ist, das ich bestellt habe, bekommen Sie einen. Die besagte Sekretärin, das sollte ich vielleicht hinzufügen, ist eine schwarze Angorakatze, 14 Jahre alt, und ich nenne sie so, weil sie, seit ich mit dem Schreiben angefangen habe, um mich gewesen ist. Gewöhnlich saß sie auf dem Papier, das ich grad benutzen wollte, oder auf dem Manuskript, das ich überarbeiten wollte; manchmal lehnte sie sich an die Schreibmaschine, und manchmal blickte sie auch nur ruhig von einer Ecke des Tisches aus dem Fenster, so als wollte sie sagen: „Das Zeug, was du da machst, ist reine Zeitverschwendung, mein LIeber.“
Sie heißt Taki (ursprünglich Take, aber wir kriegten es satt, immer wieder zu erklären, daß das ein japanisches Wort sei, das Bambus bedeutete und zweisilbig gesprochen werden müßte), und sie hat ein Gedächtnis, wie es sich noch kein Elefant auch nur erträumt hat. Sie ist gewöhnlich höflich distanziert, aber von Zeit zu Zeit hat sie einen polemischen Anfall, und dann kriegt man geschlagene zehn Minuten lang was zu hören. Ich gäbe einiges drum, wenn ich wüßte, was sie einem dann alles sagen will, aber ich fürchte, es läuft am Ende alles auf eine sehr sarkastische Version des Satzes „Das hätte ich nicht von dir gedacht!“ hinaus.</p
Ich bin mein Leben lang ein Katzenliebhaber gewesen (ohne damit etwas gegen Hunde zu haben, außer daß sie soviel Unterhaltung beanspruchen), und doch war ich nie richtig imstande, sie zu verstehen. Taki ist ein vollkommen ausgeglichenes Wesen und weiß immer, wer Katzen mag; mag einer sie nicht, so kommt sie nie auch nur in seine Nähe, und mag sie einer wirklich, so geht sie stracks auf ihn zu, ganz gleich ob sie ihn erst seit kurzem kennt oder gar überhaupt nicht … Sie hat noch eine andere sonderbare Eigenart (die selten sein mag oder auch nicht), die nämlich, daß sie niemals etwas tötet. Sie bringt, was sie gefangen hat, lebendig an und läßt es sich dann wegnehmen. Sie hat schon mehrmals Tiere ins Haus gebracht, eine Taube etwa, einen blauen Sittich und einen großen Schmetterling. Der Schmetterling und der Sittich waren völlig unverletzt geblieben und flogen alsbald weiter, wie wenn gar nichts geschehen wäre. Die Taube hatte ihr ein bißchen Schwierigkeiten gemacht und infolgedessen einen kleinen Blutfleck auf der Brust, aber wir brachten sie zu einem Vogelmenschen, und schon ganz bald ging es ihr wieder gut. Bloß ein bißchen gedemütigt wirkte sie. Mäuse findet Taki langweilig, aber sie fängt sie, wenn sie’s denn partout nicht anders wollen, und dann muß ich sie umbringen. Ein gewisses müdes Interesse bringt sie Goffern entgegen, und ein Gofferloch nötigt ihr durchaus einige Aufmerksamkeit ab, aber Goffer beißen, und wer, zum Teufel, will schließlich überhaupt einen Goffer haben? Also gibt sie sich einfach nur den Anschein, als könnte sie jederzeit einen fangen, wenn ihr danach wäre.
Wenn wir eine Reise machen, geht sie immer mit, egal wohin, behält alle Orte, an denen sie schon gewesen ist, im Gedächtnis und fühlt sich normalerweise überall wie zu Hause. Nur ein oder zwei gehen ihr gegen den Strich — ich weiß nicht, wieso. Sie hat sich da einfach nie eingewöhnen wollen. Nach einiger Zeit wußten wir genug, um den Wink zu verstehen. Es besteht die Möglichkeit, daß da einmal ein Axtmord verübt worden ist, und wir wären anderswo viel besser aufgehoben. Der Kerl könnte wiederkommen. Manchmal sieht sie mich mit einem ganz eigenartigen Ausdruck an (sie ist die einzige Katze meines Bekanntenkreises, die einem gerade und offen in die Augen sieht), und dann habe ich den Verdacht, daß sie ein Tagebuch führt, weil der Ausdruck zu besagen scheint: „Bruder, du glaubst wohl, du bist die meiste Zeit ziemlich gut, was? Ich überlege, wie dir wohl zumute wäre, wenn ich mich entschlösse, mal was von dem Zeug zu veröffentlichen, das ich so gelegentlich zu Papier gebracht habe.“ Zu bestimmten Zeiten hat sie die Angewohnheit, eine Pfote locker in die Höhe zu halten und sie grübelnd zu betrachten. Meine Frau glaubt, sie will uns damit zu verstehen geben, daß sie eine Armbanduhr haben möchte; zwar hat sie die praktisch nicht nötig — ihr Zeitgefühl ist besser als meins — aber schließlich muß man ja auch etwas Schmuck haben.
Ich weiß gar nicht, wieso ich das alles hier schreibe. Es muß wohl daran liegen, daß ich im Moment an schlechthin nichts anderes denken konnte, oder — also jetzt wird die Sache doch unheimlich — bin überhaupt nicht ich es, der es schreibt? Könnte es sein, daß — nein, es muß doch ich sein. Sagen Sie, daß ich es bin. Mir wird bange.
~~~\~~~~~~~/~~~
26. Januar 1950
An Hamish Hamilton
Ich habe da wohl irgendwas gesagt, was Dich auf den Gedanken gebracht hat, Katzen seien mir verhaßt. Aber um Gott, Sir, einen so fanatischen Katzenliebhaber wie mich gibt es in der ganzen Branche nicht wieder! Wenn sie Dir verhaßt sind, werde ich unter Umständen Dich hassen lernen. Falls Deine Allergien daran schuld sind, will ich die Situation, so gut ich’s kann, tolerieren. Wir haben eine schwarze Angorakatze, die jetzt fast 19 Jahre alt ist und die wir nicht für einen der riesigen Türme von Manhattan hergeben würden.
~~~\~~~~~~~/~~~
15. Dezember 1950
An H. N. Swanson
Unsere kleine schwarze Katze mußte gestern morgen eingeschläfert werden. Wir sind ganz gebrochen davon. Sie war fast 20 Jahre alt. Wir sahen es kommen, natürlich, hofften aber immer noch, sie könnte neue Kraft finden. Aber als sie zu schwach wurde, um sich noch auf den Beinen zu halten, und praktisch aufhörte zu essen, blieb nichts anderes mehr pbrig. Man macht das jetzt auf eine wunderbare Art. In eine Vene des Vorderlaufs wird Nembutal injiziert, und das Tier ist einfach nicht mehr da. Es schläft in zehn Sekunden ein. Schade, daß man es mit Menschen nicht ebenso machen kann.
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9. Januar 1951
An Hamish Hamilton
… Unser Weihnachten war nicht besonders froh, da wir unsere schwarze Angorakatze verloren haben, die fast zwanzig Jahre bei uns gewesen war und so zu unserem Leben gehörte, daß wir uns jetzt geradezu fürchten, in das stille leere Haus zu kommen, wenn wir abends fort waren. Zufälltig traf es sich, daß Elmer Davis, den Du vielleicht kennst, kurz vorher seine weiße Angorakatze verlor, General Gray. Und ich konnte mich so gut in ihn hineinfühlen (obwohl Taki damals gar nicht so krank war, daß wir uns wirkliche Sorgen um sie machten), daß ich ihm schreiben und mein Mitgefühl ausdrücken mußte. Ich habe mein Leben lang Katzen gehabt und immer gefunden, daß sie fast so unterschiedlich sind wie die Menschen auch und daß sie, ganz wie Kinder, großenteils so werden, wie man sie behandelt, höchstens daß es hier und da ein paar wenige gibt, die nicht verzogen werden können. Aber vielleicht gilt das für Kinder ebenso. Taki war von absoluter Ausgeglichenheit, was bei Tieren wie bei Menschen eine seltene Eigenschaft ist. Und sie war völlig frei von Grausamkeit, was noch seltener ist bei Tieren. Ich habe nie Leute gemocht, die keine Katzen mochten, weil in ihrer Gemütsanlage immer ein Element greller Selbstsucht zu finden war. Zugegeben, eine Katze bringt einem nicht die Art Liebe entgegen, die ein Hund einem schenkt. Eine Katze führt sich nie so auf, als ob man der einzige Lichtblick in ihrem sonst ganz trüben Dasein wäre. Aber damit ist nur auf andere Weise gesagt, daß die Katze kein sentimentales Wesen ist, was keineswegs bedeutet, daß sie etwa keine herzlichen Gefühle hätte.
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10. Januar 1951
An James Sandoe
Dank für Ihren Brief und die Weihnachtskarte. Ich habe in diesem Jahr nichts verschickt. Wir waren ein bißchen mitgenommen vom Tod unserer schwarzen Angorakatze. Wenn ich sage, ein bißchen mitgenommen, dann ist das konventionelle Distanz. In Wirklichkeit war es eine Tragödie für uns …
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5. Februar 1951
An Hamish Hamilton
Danke für alles, was Du über Katzen geschrieben hast und über Deine Freunde, die Katzenliebhaber sind. Nach einer Weile werden wir uns, denke ich, eine neue Katze zulegen oder lieber noch gleich zwei. Elmer Davis sagt, seine Frau und er haben sich entschlossen, keine neue mehr zu nehmen, weil sie wahrscheinlich länger leben würde als sie beide. Das scheint mir doch ein wunderlicher Gesichtspunkt zu sein. Er muß sich recht alt fühlen. Wenn es danach ginge, dürften Kinder nie Eltern haben, Frauen nie Männer heiraten, die zehn Jahre älter sind als sie selbst, niemand dürfte dem Wunsch nachgeben, ein Pferd zu besitzen oder überhaupt irgendwas, von dem ihm eines Tages Verlust droht. Wehe, wehe, wehe (ich glaube, ich zitiere da mehr oder weniger Ezra Pound), über ein kleines werden wir alle tot sein. Lasset uns deshalb so tun und handeln, als wären wir’s bereits.
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31. Oktober 1951
An James Sandoe
… Wie geht’s denn Ihren sämtlichen Katzen? Wir haben eine neue schwarze Angora, die genau so aussieht wie unsere letzte, so aufs Haar genau, daß wir ihr auch denselben Namen gegeben haben, Taki. Er — denn es ist diesmal ein Er — wird ein großer Bursche werden, glaube ich, wenn er voll ausgewachsen ist, denn er wiegt schon jetzt mit sieben Monaten acht Pfund. Ich hatte vorher eine Zeitlang ein Siam-Kätzchen, aber der kleine Kerl krallte und biß alles in Fetzen, und seine Behandlung brachte soviel Schwierigkeiten mit sich, daß ich ihn dem Züchter zurückbringen mußte. Mir war dabei ziemlich schlimm zumute, denn er war ein liebevoller kleiner Teufel und steckte voller Leben. Aber er zerriß mir die Anzüge und hätte am Ende wohl noch die gesamte Einrichtung ruiniert. Wir konnten ihn einfach nicht frei herumlaufen lassen, und eine Katze, die nicht frei laufen kann in unserm Haus, ist darin fehl am Platze. Auf der Straße lassen wir sie nie frei laufen, aber im Haus gehört ihnen alles.
Bilder: Raymond Chandler: Die simple Kunst des Mordes, Diogenes Verlag, Zürich 1975,
via Schlei-Buch, 24376 Kappeln, in Booklooker, 3. Juli 2018;
„Ein Mann namens Engstead“: für Harper’s Bazaar, ca. 1945.
Soundtrack: Exposition zu Robert Altman: The Long Goodbye, 1973,
nach Raymond Chandler: The Long Goodbye, 1953:
Wie Hippo und ich uns einmal Siegfried Lenz geschenkt haben (Träum die nächsten hundert Jahre)
Update zu And all I got’s a pocketful of flowers on my grave
und Rotkäppchen und der Penishase:
Vor Zeiten hatte ich eine Brieffreundin. Sie hieß — nicht standesamtlich, nur im richtigen Leben — Hippo und war die Herbergstochter des Hauses Evangelische Jugend-, Freizeit- und Bildungsstätte Koppelsberg in Plön. Zu der war ich durch die Vermittlung eines Baums gekommen, namentlich der Bräutigamseiche im Dodauer Forst, der sich bei Eutin unweit von Plön erstreckt.
Hippo und ich hatten viel Freude miteinander. Um 1990 war es niemandes Vorsatz, je zu heiraten, obwohl Hippo mich aus dem Astloch einer Bräutigamseiche gefischt hatte, aber sie war meine längste Brieffreundschaft — und ich hatte viele, um unter dem Vorwand des Schreibens an einsamen Samstagabenden die Nürnberger Kneipen leerzusaufen und vollzuqualmen, was seinerzeit eine erschwingliche und gesellschaftlich voll akzeptierte Beschäftigung für einen Studenten war.
Ein Wochenende lang war ich sogar zu Gast in Hippos Jugend-, Freizeit- und Bildungsstätte Koppelsberg. Dort wurde ich als Umzugshilfe und zum Pastinakenschälen eingespannt und zu Yogi-Tee, dem Bio-Bier einer norddeutschen Kleinbrauerei, das heute als Hipsterbrühe durchginge, und zum spätherbstlichen Barfußlaufen am nächtlichen, windgepeitschten, grobkieseligen Ostseestand eingeladen und war noch wochenlang illuminiert von der Freundlichkeit und dem schönen, ungetrübten Deutsch der Menschen.
Hippo machte „was mit Jugendlichen“, ich studierte irgendwas mit Lesen und Schreiben ohne jegliche Aussicht auf eine bezahlte Anschlussverwendung. Von ihr gab es zu lernen, dass man für soziale Berufe nicht allein ein Praktikum, sondern gar ein Vorpraktikum braucht, gegen eine Bezahlung, die an offene Verhöhnung arbeitender Menschen grenzt; von mir, wie viel Bier in einen schlaksigen Studenten von 1,96 Metern lichter Höhe passt. Sie war zuverlässig jeden neuen Monat in einen anderen jungen Mann aus ihrem ehemaligen schulischen oder ihrem jetzigen sozialen Umfeld verliebt, und ich versuchte immer noch zum ersten Mal, mit meinem Liebesleben abzuschließen. Ihr verwies ich, allzuoft zu behaupten, ihr sei langweilig, weil mir das Hinfortwünschen von Zeit blasphemisch und somit einer Geistlichentochter unwürdig vorkommt, und sie mir, ständig mehrere A4-Seiten lang über Bücher zu quatschen, denn ich hatte mir eine portofreundlich kleine Handschrift antrainiert, die ich bis in hohe Promillebereiche gestochen leserlich halten konnte, und Weblogs waren Science-Fiction.
„Ich mag Lakritze“, schrieb sie einmal, „magst du auch Lakritze?“
„Das heißt Bärendreck“, schrieb ich zurück, „und ist aus ‚So zärtlich war Suleyken‚.“
„Nein, es heißt: ‚Willst noch Lakritz?'“, schrieb sie wieder, „hab ich in der Sendung mit der Maus gesehen. Ha! Und deine ewigen Bücher kenn ich nicht.“
„Sehr richtig“, schrieb ich, und es sagt der Joseph Waldemar Gritzan am Schluss von ‚Die achtzehnte der Masurischen Geschichten: Eine Liebesgeschichte‘. Und ob das ein ewiges Buch ist, das uns alle überleben wird. Und wenn du’s nicht kennst, siehe das beiliegende Angebinde.“
Das ließ ich mir nie nehmen, ihr gelegentlich ein Buch zu schenken, wenn sie wieder von meinem Auslassungen darüber besonders genervt war. Ich hatte nämlich bis kurz zuvor eine Buchhändlerin gekannt, die mir am Rande der Legalität ihren Buchhandelsrabatt weiterreichte, und rechnete aus Gewohnheit immer noch die verbleibenden 60 Prozent meiner Erwerbungen, die in den jeweils folgenden Wochen fällig wurden, in meine Kneipenzechen mit ein. Ein verlagsfrisches So zärtlich war Suleyken war damals für 6,80 D-Mark zu haben. Das sind, liebe Kinder, ungefähr 3,48 Euro, weniger als heute ein Bier in München, und was das abzüglich 40 Prozent für den Buchhandel macht, könnt ihr millennialen Bologna-Opfer gefälligst selber im Kopf, und Briefe waren eine Art Low-time-Chat, der einem Zeit ließ, bis zur nächsten Antwort ein ganzes Buch zu kaufen. Bis zum nächsten Werktag waren die auch vor dem Internet schon im zuständigen Buchladen, wie sie das auch immer gemacht haben.
„Du mit deinen ewigen Büchern“, schrieb sie gegen Ende der nächsten Woche, „jetzt hab ich dir auch eins geschickt.“
„Was sagt dir,“ fragte ich brieflich an, als ich am selben Tag, da Hippo ihre Büchersendung mit dem Suleyken im Briefkasten finden musste, eine Büchersendung von Hippo mit einer älteren Ausgabe davon in meinem Briefkasten fand, „was“, schrieb ich, „sagt dir, dass ich das noch nicht hab, wenn ich sogar weiß, wer ‚Willst noch Lakritz?‘ sagt?“
„Weil du sowas halt weißt“, schrieb Hippo, „und weil die Sendung mit der Maus nicht lügt. Außerdem war klar, dass du mir sofort eins schickst, und ich nicht zulassen kann, dass du keins mehr hast.“
So war Hippo: klein, knuffig und klug und eine große Barfußmädchenseele (Ringelnatz, 1929).
Dieser Tage ist mir ein alles Lesezeichen in die Finger gefallen: eine Karte von der grundguten Hippo aus Plön, deren Wege und Tage der evangelische und der katholische und der weltgeistliche Herr schirmen mögen. Offenbar hatten wir’s wieder mal über Gedichte und Märchen und ihre Liebesgeschichten gehabt, und sie verwendete eigene Fotoabzüge als Ansichtskarten.
Das Gedicht, das Hippo im April 1995 aus dem Gedächtnis zitierte, habe ich lange nicht nachverfolgt: Ich kannte es von Hippo und fertig. Erst jetzt, wo ich es verbloggen will, erhellt, was für eine Rarität das ist. Der Dichter Josef Wittmann ist allem Anschein nach derselbe, der unter einer österreichischen Domain im bayerischen Tittmoning an der Salzach, also Österreich gegenüber wohnt — das ist ganz gegen Hippos sonstige nordische Art und Gewohnheiten.
Es war auch nicht einfach, den korrekten Text herbeizuschaffen: Das von Hippo erwähnte Daumesbreit („oder so ähnlich“) ist nicht nachweisbar, schon gar nichts, worüber man absichtslos im internetfreien Finnland des späten 20. Jahrhunderts gestolpert wäre. Eine Version davon steht in der dänischen Bearbeitung eines schwedischen Lesebuchs für Deutschlernende, das bairische Original dieses Originals nur in einem — mit Verlaub — nicht gerade maßgebenden Weblog. Hippo macht ja — so jedenfalls mein letzter Stand über ihre Lebenswege — „was mit Jugendlichen“ und würde verstehen oder wenigstens hinnehmen, dass ich in ihre extemporierte Ansichtskarte unbefugt zwei annäherungsweise korrigierte Gedichttexte einflicke.
——— Hippo, Anfang April 1995:
Du siehst, Wolfgang, ich muß dich enttäuschen, das Gedicht ist nicht von mir — aber immerhin kann ich Dir die Ergänzung (fehlende Fototeile) anbieten. Ich habe es in Finnland im Buch „DAUMESBREIT“ (oder so ähnlich) gefunden + es hat mich — PENG — total angesprochen. Komischer Weise: Als ich aus dem Urlaub wiederkam, war’s aus mit Florian — ich habe ihm dann das Gedicht (auf Post-It-Zettel notiert) zu lesen gegeben. Er: „Ja.“ Alles ziemlich komplex. Fortsetzung folgt, irgendwann.
——— Josef Wittmann: Dornröschen
aus: Grimms Märchen — modern,
Philipp Reclam Jun., 1979,
cit. nach: Karen Dollerup, Lotte Nielsen (Hrsg.): Alles klappt! im neuen Jahrtausend. Tekstbog 3, 1991; Dansk udgave: Gyldendalske Boghandel, Nordisk forlag A/S, Kopenhagen 1994,
2. udgave, 4. oplag 2010:Schlaf weiter:
Ich bin kein Prinz,
ich hab kein Schwert
und keine Zeit
zum Heckenschneiden
Mauerkraxeln
Küsschengeben
und Heiraten …Morgen früh
muss ich zur Arbeit gehen
(sonst flieg ich raus)Ich muss zum Träumen
auf den Sonntag wartenund zum Denken auf den Urlaub
Schlaf weiter
und träum die nächsten hundert Jahre
vom Richtigen …——— Josef Wittmann: dornresal
möglicherweise aus:
Hansl, Grädl & Co.
Märchen in bairischer Mundart,
Friedl Brehm Verlag, Feldafing 1977,
cit. nach: Ironical Life:
Ein neues Gedicht :-),
19. August 2007:schlaf zua:
i bin koa brinz
i hob koa schweat
& hob koa zeid
zum heggnschneidn
mauergraxln
busslgeem
& heiradn …..i muas moang fruah
in d arward geh
(sunsd fliage naus)i muas zum dramma
aufn sonndog wartn
& zum denga aufn urlaubschlaf zua
& draam de näxdn
hundad johr
vom richdignP.S.: Bist Du jeden Samstag im Bela Lugosi? Wer ist dieser Kneipenstammtisch?
P.P.S.: Habe gerade Antwortkarte an Florian geschrieben — ich glaube ich liebe Karsten.
(JANOSCH:)
— „Stellt der erste Flaum sich ein,
— Soll der Bauer ein Mädel frein.“Titelbild: Barfuß-Ex-Claudi
Schöne Grüße,
HIPPO
Im übrigen würde Hippo sich kaputtlachen, dass sie einst von einem bairischen — das ist doch in Süddeutschland! — Gedicht so weggeweht wurde. Und nein, Bärendreck ist nicht so meins, ich war nicht jeden Samstag im Bela Lugosi, weil ich manchmal auch die Weißgerbergasse abklappern musste (alle Unternehmen erloschen), Bestandteil eines Stammtisches war ich nie. Und nach einer Barfuß-Ex-Claudi zu googeln, fang ich vorsichtshalber gar nicht erst an.
Brieffreundschaften sind nie fürs ganze Leben, im Idealfall sind sie eine bereichernde Lebensabschnittsbegleitung. Irgendwann hören sie auf, und niemand weiß mehr zu sagen, wer als erstes nicht mehr zurückgeschrieben hat. Von Hippo aus dem Astloch gefischt zu werden, war ein großer Zufall, ein Segen und ein Privileg. Wer auch mal sowas will: An die Postadresse
Bräutigamseiche
Dodauer Forst
23701 Eutin
wird ungebrochen Montag mit Samstag ausgeliefert.
Bilder: Hippo, Juni 1994 bis April 1995, featuring ABC (Annika, Beate, Claudia) ca. 1991. Meine damalige Adresse ist nicht missbrauchbar: Das ist die vom Bahnhof Röthenbach an der Pegnitz, in dem schon lange keiner mehr drin wohnt;
Siegfried Lenz: So zärtlich war Suleyken, 1955, Auflage 1986 (meine), via Tauschgnom, 25. Juli 2017.
Soundtracks:
- Eins, das ich von Hippo gelernt hab. Das ist bei meinem einzigen Besuch bei ihr auf dem Weg zum Ostseestrand in ihrem Auto auf Kassette gelaufen:
They Might Be Giants: I Hope That I Get Old Before I Die,
aus: They Might Be Giants, The Pink Album, 1986: - Eins, das Hippo von mir gelernt hat. Das müsste immer noch ein Lieblingslied von ihr sein,
sowas geht nicht weg:
Marius Müller-Westernhagen: Wir waren noch Kinder, aus: Das erste Mal, 1975:
Zwetschgenzeit (zu spät)
Update zu Willkomm und dervoo:
Es ist nötig geworden, der Zwetschgenzeit vom Oktober 2013 ein knallhart inhaltliches Update zu verpassen. Inzwischen ist mir nämlich eine weitere Übersetzung des ganz und gar nicht einzigen Gedichts von William Carlos Williams aufgefallen, die zwingend in die Reihe gehört: noch eine oberostfränkische — das sind jene weithin als bäuerlich schwerfällig wahrgenommenen, dabei höchst leistungsfähigen Mundarten, die man als „Fränkisch“ zusammenfasst — von Fitzgerald Kusz, glatte elf Jahre vor Helmut Haberkamm.
Vor dem Vorwurf des Plagiats rettet ihn, dass es bei ihm statt Zwetschgen Käsekuchen gibt, der ebenfalls frisch aus einem Kühlschrank am besten groovt. — Hans Magnus Enzensberger ist übrigens aus Kaufbeuren gebürtiger bayerischer Schwabe.
——— William Carlos Williams:
This Is Just To Say1962:
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——— Hans Magnus Enzensberger:
Nur damit du Bescheid weißt1991:
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——— Fitzgerald Kusz:
blouß daßders waßd(nach william carlos williams) aus: kehrichdhaffn, in: wennsdn sixd dann saxdersn.
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——— Helmut Haberkamm:
Bloß daßders waßdaus: Frankn lichd nedd am Meer,
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Bild: Married to Theresa via The Bibliophile Files, 8. Oktober 2013.
Soundtrack, um die oberdeutschen Dialekte zu vervollständigen:
Frauendreigsang Pomp-A-Dur: Zwetschgendatschi,
aus: Trachtler- und Musikantentreffen, 2020:
Sommergewinnspiel: Meine Frau, die Kinder, die Katze und ich (und die Soleier!)
Update zu Der Weise aus dem Mörchenland und
Aber nun sangen die Gäste „Stille Nacht, Heilige Nacht“:
Berlin (das bei Polen mein ich) kann durchaus Kultur aufweisen. Glaubt man oft gar nicht. Peter Frankenfeld war da her und ließ seine Katze frei mausen, und in den Kneipen zur Zeit von Heinrich Zille standen Hungertürme.
——— Peter Frankenfeld:
Meine Katze
praktisch nicht nachweisbar:
Hier ist mein Geständnis in einem Satze:
Ich habe zu Haus eine kleine Katze!
Sie schnurrt und schmeichelt zu allen Zeiten
und wartet ergeben auf Zärtlichkeiten.Nur geht sie leider auf eig’ne Faust
zu Nachbarsleuten und stiehlt und maust.
Die Wurst, das Fleisch — und darin ist sie eigen —
schleppt sie ins Haus, um stolz es zu zeigen.Ob Brötchen, Gemüse, Sardinen, Salat,
ob Hering, Zitronen, Geflügel, Spinat,
ob Soleier, Fische, ob Käse, ob Speck,
das maust sie den Nachbarn vom Küchentisch weg.Ich bete, daß nie ein Bestohl’ner aus Wut
dem Kätzchen etwas zuleide tut.
Denn davon leben wir königlich:
meine Frau, die Kinder, die Katze — und ich.
Soleier! Die gibt’s ja auch noch:
Suchbild: Wo ist der Hungerturm mit den Soleiern?:
Heinrich Zille: Hungerturm, 1911, via Margit Kunzke: Soleier: Ein Klassiker vom Kneipentresen,
in: Kochbuch für Max und Moritz, 15. April 2015.
Und dann noch das Gewinnspiel: Wer auf dem Bild die Soleier findet, gewinnt ein einwandfreies Buch von eime zugezogenen Berliner: Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band, Erstausgabe, Suhrkamp 1981! Das ist ein ausnehmend einnehmender Knuffel von knapp 1400 Seiten, den ich seit 1985 fleißig nutze, der aber neuerdings um über 140 Seiten erweitert ist, weswegen ich einen neuen brauche. Doch, wirklich, brauch ich unbedingt. Der alte sieht benutzt aus, aber nach Patina, nicht wie ein überjähriges Solei oder so.
Aus der finanziellen Situation meiner dahingegangenen 17-jährigen Existenz heraus kann ich leider nur einen einzigen Gewinn austeilen — und weil diese überschaubare Menge aus einem einzigen wunderschönen Exemplar besteht, sollte es in gute Hände gelangen. Solange der Vorrat reicht, sollten Sie also das Zille-Bild aufmerksam betrachten und etwas antworten, das mich geneigt macht, meine Jugenderinnerung dranzugeben. Brillanz, Freundlichkeit und zwingende Begründungen sind Vorteile. An wen das feine Stück dann geht oder ob es gar bei mir bleibt, unterliegt meiner selbstherrlichen Willkür.
Lösungsversuche bitte in den Kommentarteil unten. Das Angebot gilt, sagen wir, zwei Wochen: bis 3. August 2018 um Mitternacht, ist das okay? Das mach ich rein gaudihalber, Rechtsweg schließen wir aus.
Soundtrack: Natürlich Middle of the Road: Soley Soley, aus: Acceleration, 1972, was denn sonst?
Der poetische Act
——— H. C. Artmann:
Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes
Gründungsmanifest der Wiener Gruppe, April 1953:
Es gibt einen Satz, der unangreifbar ist, nämlich der, daß man Dichter sein kann, ohne auch irgendjemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben.
Vorbedingung ist aber der mehr oder minder gefühlte Wunsch, poetisch handeln zu wollen. Die alogische Geste selbst kann, derart ausgeführt, zu einem Act von ausgezeichneter Schönheit, ja zum Gedicht erhoben werden. Schönheit allerdings ist ein Begriff, welcher sich hier in einem sehr geweiteten Spielraum bewegen darf.
- Der poetische Act ist jene Dichtung, die jede Wiedergabe aus zweiter Hand ablehnt, das heißt, jede Vermittlung durch Sprache, Musik oder Schrift.
- Der poetische Act ist Dichtung um der reinen Dichtung willen. Er ist reine Dichtung und frei von aller Ambition nach Anerkennung, Lob oder Kritik.
- Ein poetischer Act wird vielleicht nur durch Zufall der Öffentlichkeit überliefert werden. Das jedoch ist in hundert Fällen ein einziges Mal. Er darf aus Rücksicht auf seine Schönheit und Lauterkeit erst gar nicht in der Absicht geschehen, publik zu werden, denn er ist ein Act des Herzens und der heidnischen Bescheidenheit.
- Der poetische Act wird starkbewußt extemporiert und ist alles andere als eine bloße poetische Situation, die keineswegs des Dichters bedürfte. In eine solche könnte jeder Trottel geraten, ohne es aber jemals gewahr zu werden.
- Der poetische Act ist die Pose in ihrer edelsten Form, frei von jeder Eitelkeit und voll heiterer Demut.
- Zu den verehrungswürdigsten Meistern des poetischen Actes zählen wir in erster Linie den satanistisch-elegischen C. D. Nero und vor allem unseren Herrn, den philosophisch-menschlichen Don Quijote.
- Der poetische Act ist materiell vollkommen wertlos und birgt deshalb von vornherein nie den Bazillus der Prostitution. Seine lautere Vollbringung ist schlechthin edel.
- Der vollzogene poetische Act, in unserer Erinnerung aufgezeichnet, ist einer der wenigen Reichtümer, die wir tatsächlich unentreißbar mit uns tragen können.
Bild: Junge Frau im Café Hawelka in Wien, Photographie um 1956 via Getty Images.
Soundtrack: Anton Karas: The Third Man. Closing Theme, 1949:
Solch ein Gewimmel möcht ich sehn
Update zu Trotzki, Fauser und die Goetheforschung:
Wenn mal Schinkenspeck nicht da ist
Den ein Kunde haben muß
Dann sagt sie nicht voller Freude:
Ham wa nich! — und damit Schluß
Sondern preist ihm an die Wurst
Und ein Fläschchen für den Durst
Fehlt mal Wurst, gibt es Speck
Und kein Mensch geht wütend wegWolf Biermann, a. a. O., 1962.
Mit Wolf Biermann bin ich nie richtig warm geworden. Dabei sollte ich ihn mögen: Wir sind nicht weit entfernte Namensvettern, wir haben auf die eine oder andere Art Wurzeln in Mitteldeutschland (wobei mein Vater freiwillig von Leipzig rübergemacht ist), wir haben schon mal im Nebenjob John Donne übersetzt, ich hege weder gegen seine Denk- noch Sing- noch Ausdrucksweise einen Einwand, und solche, die schon mal ein paar nach antiken Patschouliresten müffelnde LPs von ihm ausrangiert haben, sind bass erstaunt, dass ich nicht sein Gesamtwerk horte. Es hat einfach nicht gefunkt.
Einmal hätte es sogar fast gezündet. Wie ein Blick ins Archiv lehrt, schrieb man das Tschernobyl-Jahr 1986, als Wolf Biermann fürs Nürnberger Bardentreffen gebucht war, auf ein Konzert im Burggraben, der eine wunderschöne Spielstätte abgibt.
Für Biermann wollte ich mal lieber beizeiten erscheinen und traf den Künstler etwa eine halbe Stunde vor dem nachmittäglichen Konzertbeginn abseits der Bühne hinter einem hohen Bauzaun, wie sie damals wohl in Mode waren, auf der Wiese umherschlendernder- und rauchenderweise persönlich an.
Nun war mein frisch volljährig gewordenes Ich unter Bekannten ein berüchtigter Witzbildchenmaler, der immer Schreibzeug einstecken hatte, und unter Berühmten ein berüchtigter Autogrammsammler, der alles unternahm, um das Rückporto für die Autogrammpost zu umgehen. Daher schien es mir natürlich, das Schreibzeug durch die Maschen des Bauzauns zu zwängen und zu sagen:
„Herr Biermann?“
Herr Biermann blies Zigarettenrauch durch die Nase und schaute auf in meine Richtung. Gar nicht mal so unfreundlich.
„Krieg ich bitte ein Autogramm?“
Herr Biermann blies Zigarettenrauch durch die Nase, überlegte kurz und blaffte:
„Nein!“
Laut, mit Körpereinsatz und katerhaft gesträubtem Schnurrbart. Damit verschwand er mit halbgerauchter Zigarette entschlossenen Geschwindschrittes unter das Bühnengestänge und ward nicht mehr gesehen. Jedenfalls nicht von mir, denn den Nachmittag verbrachte ich dann doch nicht auf dem Burggrabenkonzert mit Wolf Biermann, sondern im Altstadthof mit ungespundetem Bier, und dieser harsche Patron sollte sich fortan seine selbergestrickten Klampfenliedchen gefälligst selber anhorchen.
Das war nie wieder gutzumachen — von meiner Seite aus, mein ich. Sollte ich entgegen meiner Erinnerung tatsächlich das „Bitte“ aus meinem unverschämten Ansinnen weggelassen haben, kann Herr Biermann zweifellos gut mit seinem Benehmen leben, aber er hätte gern sofort damit anfangen können und nicht … Ach, ist ja wurscht seit über dreißig Jahren.
Biermann-Platten hab ich aus diesem traumatischen Vorfall heraus nicht mal angeschafft, als die CDs für zweifünfundneunzig auf dem Ramsch lagen, und dieser Tage hat es mich mehr als die 1,50 Euro gekostet, als sein Buch Wie man Verse macht und Lieder. Eine Poetik in acht Gängen in der Fußgängerbremse vorm Oxfam stand. Am Anfang kommt der Faust vor, da kann ich’s ja nicht einfach stehen lassen. Für den Preis.
Übrigens sind die Konzerte auf dem Bardentreffen bis heute gratis, die Liter-Bügelflasche „Bier von hier“ aus dem Altstadthof — damals noch eine einzige Sorte — kostete vier Mark. Da können sie mit seinen Büchern umsonst den Gehsteig pflastern, was dem Herrn Gebrauchslied-Proletarier ja nur recht sein müsste, der Biermann schuldet mir ungefähr drei- bis fünfmal 2,0451 Euro. Ohne Pfand, das hab ich schon selber wieder eingetrieben.
Spätestens seit letzter Woche, in der ich seine Poetik quergelesen hab, weiß ich, was ich vierzig Jahre nur ahnte: Ich verpasse was.
——— Wolf Biermann:
Politisch Lied, privates Lied
Erste Vorlesung, 11. November im Wintersemester 1993/94 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf,
aus: Wie man Verse macht und Lieder. Eine Poetik in acht Gängen, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1997, Auszüge aus Seite 8 bis 33:
[…] Die Heine-Professur in Düsseldorf soll mich nicht professorale Erstarrung locken. Profssor Klaus hat mit mir in meiner Jugend auf der Humboldt-Universität zu Berlin das mathematische Schlittschuhlaufen trainiert. Wolfgang Heise hat mir den doppelt marxistischen Rittberger beigebracht. Ja, ich kann sogar die hegelsche Pirouette drehn. Aber ich bin kein gelehrter Esel geworden und will bei Ihnen nicht aufs Düsseldorfer Glatteis zum Tanzen.
Das heißt noch lange nicht, daß ich Ihnen nichts mitgebracht hätte. Ich komme hier bei Ihnen vorbeigelaufen wie früher auf den Straßen der Kleiderhändler mit ein paar abgewetztenLumpen auf der Stange. Viel Neues werde ich Ihnen also nicht liefern können. Aber ein paar abgetragene Hosen könnte die geistige Blöße des einen oder anderen intellektuell abgerissenen Zuhörers doch bedecken.
„Politisch Lied, privates Lied“, steht bei Ihnen auf dem Zettel. Nicht „politisches“, sondern kurz politisch Lied — daran erkennen Sie schon das versteckte Zitat. Also fangen wir mit dem FAUST an. Sie kennen die Szene, sie spielt in Auerbachs Keller des Frankfurter Weimarianers Klein Paris, in der Stadt Leipzig. Da stimmt ein schmerbäuchiges Altsemester ein Lied an, als wärs ein Stück von mir. Sein Song klingt wie ein heutiges Spottlied über den Zerfall des kommunistischen Weltreichs: „Das liebe heil’ge röm’sche Reich,/Wie hält’s nur noch zusammen?“ Dann unterbricht ein andrer akademischer saufkumpan die Singerei mit dem geflügelten Wort: „Ein garstig Lied! Pfui! ein politisch Lied / Ein leidig Lied! …“ Nun treten auch schon Faust und Mephistoles auf. Der Teufel, bevor er seine große Zaubernummer mit den verschiedenen Weinsorten abzieht, gibt der lustigen Gesellschaft ein kleines böses Lied zum besten, ein Pasquill über einen König und dessen Floh, auch ein garstiges, ein sehr politisches Lied:
Es war einmal ein König,
Der hatt‘ einen großen Floh,
Den liebt‘ er gar nicht wenig,
Als wie seinen eig’nen Sohn.
Da rief er seinen Schneider,
Der Schneider kam heran:
Da, miß dem Junker Kleider
Und miß ihm Hosen an!In Sammet und in Seide
War er nun angetan,
Hatte Bänder auf dem Kleide,
Hatt‘ auch ein Kreuz daran,
Und war sogleich Minister,
Und hatt‘ einen großen Stern.
Da wurden seine Geschwister
Bei Hof‘ auch große Herrn.Und Herrn und Fraun bei Hofe,
Die waren sehr geplagt,
Die Königin und die Zofe
Gestochen und genagt,
Und durften sie nicht knicken,
Und weg sie jucken nicht.
Wir knicken und ersticken
Doch gleich, wenn einer sticht.Bravo! Bravo! Das war schön! brüllen begeistert die angesoffenen Spätsemester. So soll es jedem Floh ergehn! … Spitzt die Finger und packt sie fein! … Es lebe die Freiheit! Es lebe der Wein! — Ja, denke ich, solche Freiheitskämpfer von der Flasche kannte Heinrich Heine auch. Er schrieb den Vers:
Der Knecht singt gern ein Freiheitslied
Des Abends in der Schenke
Das stärket die Verdauungskraft
Und würzet die Getränke.Und damit sind wir mittendrin in meinem Thema. Politisch Lied, privates Lied. Welcher Knecht singt für welche Knechte, und welche Freiheit meint er? Und was ist eigentlich politisch, was ist privat an Liedern. Ist ein Lied politisch zu nennen, wenn es von politischen Dingen handelt? Oder wäre politisch an einem Lied, daß es politische Wirkungen ausübt? Und dann noch die Haltung, die Richtung, die Tendenz: War etwa das Horst-Weseel-Lied der Nazis auch ein politisches Lied? Bedeutet also das Beiwort politisch eigentlich fortschrittlich oder sogar revolutionär? Und wenn ja, wer entscheidet, welches Fortschreiten Fortschritt wäre?
Wer bestimmt, was in der Geschichte Revolution genannt wird und was Konterrevolution? War Lenin ein Revolutionär? War Stalin ein Konterrevolutionär? Was könnte politisch sein an einem Schlagerlied wie diesem: „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn …“ Ist mit dem Wunder, das da beschworen wird, Hitlerdeutschlands Endsieg mit der Wunderwaffe V2 gemeint oder eine Befreiung vom deutschen Faschismus, die, was Wunder! — das deutsche Volk selbst nicht zustande brachte. Oder meint die Schnulze nur das Wunder einer berauschenden Liebesnacht in nicht gerade berauschenden Zeiten?
Ich werde Ihnen später ein absolut privates Chanson aus Frankreich zeigen, das zum wichtigsten und berühmtesten Lied der Commune de Paris 1871 wurde: „Le temps des cerises.“
Die hochnotpeiniche Anfrage, ob denn meine Lieder politisch genug sind oder ob sie schon allzu privat wurden, kenne ich sei dreißig Jahren. Was da als besorgte Frage daherkommt, ist im Grunde ein Vorwurf; er wird mir gelegentlich von wohlmeinenden Freunden gemacht und von revolutionären Schöngeistern. Von beamteten Weltverbesserern und von verhinderten Inquisitoren wird er mir immer wieder unter die Nase gerieben. Ob nun aus Sorge oder aus Mißgunst und Häme — immer steckt dahinter die Gretchenfrage: Wie hältst du es mit der Revolution? Genosse, kämpfst du noch tapfer im vordersten Schützengraben, oder hast du dich ins Private verpißt?
Hiermit sind wir schon auf Seite 11. Im folgenden hangelt Biermann, der ebensoviele garstige wie politische Lieder kennt, auch in seiner Prosa nicht ohne stilistische Brillanz von einer etymologischen Herleitung der Wörter „privat und „politisch“ samt Bekenntnissen, was er in seiner Eigenschaft als Liedermacher, das ist: berufsmäßiger Verfertiger von Liedern, mit beiden immer anstellen und erreichen wollte, über sein Verhältnis zu Stephan Hermlin samt persönlich wie gesellschaftlich — ja, privat wie politisch — bedeutsamer Anekdoten, in denen zahlreiche DDR-Größen und literarische Anspielungen vorkommen, zu seinen prägenden Erlebnissen mit Hanns Eisler. Das „Faustische“ in dieser Vorlesug kehrt wieder auf Seite 32 — im Bericht über eine öffentliche Veranstaltung mit „junger Lyrik“, die Stephan Hermlin in seiner Eigenschaft als Leiter der Sektion Dichtung und Sprachpflege bei der Akademie der Künste am Robert-Koch-Platz „gegen Ende des Jahres 1962“ begründete, organisierte und moderierte:
Wohl keiner von uns merkte damals, daß wir mit Volker Brauns Freude-durch-Kraft-Gedichte bei Goethe gelandet waren, diesmal am Ende des „Faust“. Mancher hier könnte die berühmten Verse auswendig hersagen: „Ein Sumpf zieht am Gebirge hin … / solch ein Gewimmel möcht ich sehn …“ Die Lemuren, diese Halbteufel, schaufeln des verteufelten Doktor Fausts Grab. Der Sterbende bildet sich ein, es seien Meliorisationsarbeiten. Der blinde Greis glaubt, es seien so was wie Moorsoldaten mit ihren Spaten oder Männer vom Reichsarbeitsdienst mit ihren Handbaggern, die da Entwässerungsgräben schaufeln für die nationale, pardon, will sagen für die sozialistische Buterproduktion. Bei Goethe betrügt Faust am Ende raffiniert den Teufel mit einem Konjunktiv:
Solch ein Gewimmel möcht ich sehn,
auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
Zum Augenblicke dürft‘ ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön! …Wir aber genossen diesen Augenblick in der Akademie ohne vorsichtigen Konjunktiv, wir waren jung und arglos. Als Hermlin uns damals mit noblem Pathos Volker Brauns nationale Butter aufs sozialistische Brot schmierte, da klingelte bei mir kein Warnglöckchen. Dieses liebliche Geläut ging mir so angenehm durchs Gemüt wie Heinrich Heines Frühlingslied. Das Tor zur Dichterkarriere war uns nun weit aufgestoßen. Freiheit, Demokratie, Tauwetter.
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß‘ ich jetzt den höchsten Augenblick.
Und wie Faust im Abendlicht der Sterbeszene die Situation mißdeutet, genau so mißverstanden wir die Situation. Für uns war diese Akademielesung eine Sternstunde vor dem Morgenrot. Stephan Hermlin zog jeden einzelnen von uns, jedes neu entdeckte Sternchen am deutschen demokratischen Lyrikhimmel hoch wie eine gelbrote Buttersonne im Emblem der FDJ.
So sonnten wir uns im Licht des Mondes. Zum Glück ist Hermlin kein Zupfgeigenhansel: Der würdige Mann spielt nicht Gitarre, und so durfte ich zum Schluß einige meiner Lieder selbst vortragen. Dabei sang ich vier bänkelhafte Kinderlieder. Wir loben die guten Sozialisten, erstens den Hausarzt, zweitens die Verkäuferin, dann den Verkehrspolizisten und zu gutzer Letzt den Funktionär, der gut funktioniert. Gutmütig-harmloser Spott zwischen den Zeilen, ich war wirklich ein braves Kind der Republik.
Im folgenden arbeitet Biermann noch ausführlich durch Lyrikzitate belegt diese Veranstaltung auf. Das eigene Fazit aus seiner ersten Vorlesung — wir sind inzwischen auf Seite 37 — geht:
Ich suchte immer noch Verständigung, ich liebäugelte immer wieder mit der Chance, den Drachen mit der sanften Gewalt der Vernunft zu überzeugen, ohne daß er die List der Aufklärung merkt und ohne daß er mich packt. Aber mit jedem neuen Lied, mit jedem neuen Gedicht verbaute ich mir die Fluchtwege in den falschen Frieden. Ich schrieb immer etwas mutiger, als ich war, und dichtete dabei immer etwas tiefer, als ich wußte — das sind eben die Gratisgeschenke der Musen.
Ein so braves Kind der Bundesrepublik war Biermann also auch 1993 noch, um im Faust ganz nebenbei die sozialistische Tendenz nachzuweisen: an exponierter Stelle der Wunsch — ja, der letzte Wunsch — der Hauptfigur: „auf freiem Grund mit freiem Volke stehn“, das muss einem erst mal auffallen.
Sehr geehrter Herr Biermann, wenn Sie das hier lesen, können wir uns gerne noch spät einigen: Mögen die Musen ihre Gratisgeschenke verteilen, wie ihnen beliebt, Gratisfreibier gibt’s nicht. Warten wir also nicht auf bessre Zeiten und Sie geben diesmal das Bier aus, dafür will ich kein Autogramm, wie wär’s?
Bilder: Barbara Klemm: Wolf-Biermann-Konzert in Köln, 13. November 1976,
via Barbara Klemm: Mama, die können mir doch nichts wollen?,
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. November 2016:
Nach Jahren des Auftrittsverbots in seiner Heimat, der DDR, stand Wolf Biermann am 13. November 1976 in Köln auf der Bühne. Und durfte nicht mehr zurück. Die Geschichte einer historischen Nacht – und eines historischen Bildes
Das mit der Zunge: Barbara Klemm bei gleicher Gelegenheit via dpa für Till Stoppenhagen: Wolf Biermann wid 80. Wortgewalting und umstritten, Hamburger Morgenpost, 15. November 2016:
Noch ist Wolf Biermann auf seinem legendären Köln-Konzert 1976 gut gelaunt – drei Tage später wird er aus der DDR ausgebürgert.“
Soundtrack: Wolf Biermann: Vier Kinderlieder (Wir loben die guten Sozialisten),
aus: VEB — Volkseigener Biermann (Kennt keiner: uralte Lieder vom jungen Wolf), 1988:
Wenn er vom Blocksberg kehrt
Update zu Bocksgestöhn und freche Lieder:
Ja, singe, singe nur, und lob‘ und rühme sie!
Ich will zu meiner Zeit schon lachen.
Sie hat mich angeführt, dir wird sie’s auch so machen.
Zum Liebsten sey ein Kobold ihr bescheert!
Der mag mit ihr auf einem Kreuzweg schäkern;
Ein alter Bock, wenn er vom Blocksberg kehrt,
Mag im Galopp noch gute Nacht ihr meckern!
Ein braver Kerl von echtem Fleisch und Blut
Ist für die Dirne viel zu gut.
Ich will von keinem Gruße wissen,
Als ihr die Fenster eingeschmissen!Auerbachs Keller in Leipzig: Siebel, Vers 2108 bis 2118.
Zeche lustiger Gesellen: Jamiri: Anja, doppelseitige Version in: Marabo, 1993. Spätere Versionen ließen das erste Bild weg und verwendeten „Schlampe“.
Singe, singe nur, und lob‘ und rühme sie: Aerosmith: Cryin‘, aus: Get a Grip, April 1993:
Das ist, wie die Lagerfeuermusikanten unter uns schon vor 25 Jahren bemerkt haben, ein Dreiertakt. Und wo wir schon dabei sind, als Bonus Track noch den anderen Walzer aus der einzigen Platte der 1990er, die für gleich zwei Walzer als Sommerhits gut war, das Video zusätzlich zur selben Alicia Silverstone sogar noch mit Liv Tyler: Crazy:
Wie man sich eine Schrift besieht
Update zu Ach Himmel, wie sich die Menschen täuschen können!:
——— Goethe:
Über den Granit
Januar 1784, aus dem Nachlass gedruckt 1878 in:
Goethes Werke. Nach den vorzüglichsten Quellen revidierte Ausgabe,
Hempel, Berlin, o. J. (1868–1879), Band 33–36: Zur Naturwissenschaft:
So einsam, sage ich zu mir selber, indem ich diesen ganz nackten Gipfel hinabsehe, und kaum in der Ferne am Fuße ein geringwachsendes Moos erblicke, so einsam, sage ich, wird es dem Menschen zu Mute, der nur den ältesten, ersten, tiefsten Gefühlen der Menschheit seine Seele eröffnen will. Ja, er kann zu sich sagen: Hier auf dem ältesten ewigen Altare, der unmittelbar auf die Tiefe der Schöpfung gebaut ist, bring ich dem Wesen aller Wesen ein Opfer. Ich fühle die ersten, festesten Anfänge unsers Daseins, ich überschaue die Welt, ihre schrofferen und gelinderen Täler und ihre fernen fruchtbaren Weiden, meine Seele wird über sich selbst und über alles erhaben und sehnt sich nach dem nähern Himmel. Aber bald ruft die brennende Sonne Durst und Hunger, seine menschlichen Bedürfnisse, zurück. Er sieht sich nach jenen Tälern um, über die sich sein Geist schon hinausschwang, er beneidet die Bewohner jener fruchtbareren quellreichen Ebnen, die auf dem Schutte und Trümmern von Irrtümern und Meinungen ihre glücklichen Wohnungen aufgeschlagen haben, den Staub ihrer Voreltern aufkratzen und das geringe Bedürfnis ihrer Tage in einem engen Kreise ruhig befriedigen. Vorbereitet durch diese Gedanken, dringt die Seele in die vergangene Jahrhunderte hinauf, sie vergegenwärtigt sich alle Erfahrungen sorgfältiger Beobachter, alle Vermutungen Feuriger Geister. Diese Klippe, sage ich zu mir selber, stand schroffer, zackiger, höher in die Wolken, da dieser Gipfel noch als eine meerumfloßne Insel in den alten Wassern dastand, um sie sauste der Geist, der über den Wogen brütete, und in ihrem weiten Schoße die höheren Berge aus den Trümmern des Urgebirges und aus ihren Trümmern und den Resten der eigenen Bewohner die späteren und ferneren Berge sich bildeten. Schon fängt das Moos zuerst sich zu erzeugen an, schon bewegen sich seltner die schaligen Bewohner des Meeres, es senkt sich das Wasser, die höheren Berge werden grün, es fängt alles an, von Leben zu wimmeln. – –
Moose sind einnehmende Wesen. Sie ernähren sich von praktisch überhaupt nichts — außer ein paar spektakulären Ausbüchsern wie die fleischfressenden Arten namens Colura zoophaga, die maximal Wimperntierchen schafft, und Pleurozia purpurea, die nicht verdaut —, machen nichts kaputt — nein, nicht einmal Ihr Gartenpflaster, und wenn doch, war’s eine Flechte, weil Rhizoide sich nicht wie Wurzeln in Stein festfressen —, haben nichts und niemanden zum Fressfeind außer der Zeit, und dass sie tot sind, merkt man erst an der Änderung ihres Aggregatzustands.
Manche von ihnen leben ihre Sexualität erst dann aus, wenn sie gestorben sind: Einige der bescheidensten Ackermoose setzen ihre Sporen frei, indem sie verwesen. Wer jetzt spontan ins Überlegen kommt, soll sich nicht zu früh freuen: Alle 16000 bekannten Moosarten unterliegen einem Generationswechsel, der nichts einfacher macht. Bei uns selbst wohnten einst zwei genügsame Laubmoose von feuchter Luft und Liebe, weil sie die Menschen verbinden können:
Die Rolle der sexuellen Vermehrung zur Erhöhung der genetischen Vielfalt ist bei den Moosen erheblich eingeschränkt. Rund die Hälfte der Moose ist monözisch und überwiegend selbstbefruchtend (keine Selbstinkompatibilität). Zudem kommen viele diözische Arten nur in rein weiblichen oder rein männlichen Populationen vor und können sich nicht sexuell vermehren.
Verstorben sind sie dann vermutlich nicht an Liebesentzug, sondern am Mangel frischer Waldluft, weil ich dachte, schön grün sind sie ja selber. Na gut, die meisten in Deutschland (eine botanisch interessante, sehr eigenständige Moosfauna hat Amerika entwickelt). Dennoch erscheint einem so eine entspannte Bedürfnislosigkeit, mit der man seit 450 Millionen Jahren i Ruhe gelassen wird, mit fortschreitendem Lebenslauf immer erstrebenswerter.
Ohne genau hinzuschauen, kann einer darauf verfallen, Moos gäbe es eigentlich gar nicht. Die bekannten Isländisch und Eichenmoos sind Flechten (Cetraria islandica und Evernia prunastri):
Wenn, trifft es, Moos und Flechten
Scharf miteinander fechten,
Stets wird die Flechte siegen,
Das Möslein unterliegen.Karl Friedrich Schimper, 1857, siehe unten.
Spanisches Moos ist sogar eine blühende Ananas — jedenfalls eine Bromeliacea —, das Zeug in den Pflasterritzen sind Kreuzblütler (Sagina) und das an Bäumen und alten Fensterrahmen Grünalgen. Ohne einen Trick, mit dem man einfache und doppelte Chromosomensätze nachzählen kann, ist man bei der Bestimmung aufgeschmissen. Im Felde eine Lupe, zu Hause ein Miskroskop und die wichtigsten Reagenzien aus der Apotheke helfen aber schon weiter.
Zu Ehren dieser stillen Gewächse rette ich (nicht zum ersten Mal) aus dem Netz zwei Gedichte: eins von Karl Friedrich Schimper und eins von Siegfried von Vegesack.
Das Gedicht von Schimper umfasst vermutlich 143 Strophen, wurde nie vollständig gedruckt und existiert nur in teilweisen Abschriften. Prof. Dr. Karl Mägdefrau stellt es am 1. Mai 1968 kurz in seiner Festschrift zu Schimpers 100. Todestag vor. Besonders Vers 30 atmet für 1857 eine eigentümliche Aktualität:
——— Karl Friedrich Schimper:
Mooslob
ungedruckte Auszüge, aus: Auszug, Stücke aus dem noch ungedruckten Mooslob, oder die schönsten Geschichten der Moose, alte und neue, in Versen für eine junge Dame zu einer eleganten Moossammlung von Dr. Karl Friedrich Schimper. Festgabe für Bonn. Mainz, September 1857:
[Vers 30:]
Was hält uns im Geleise?
Was rettet uns vom Eise?
Vor drohender Versteppung
Und Länderstaubverschleppung?
Was wärmt und bringt den Regen?
Was fesselt seinen Segen?
Was spart und nähret Flüsse?
Was sichert uns Genüsse?
Die Kleinsten und der Große,
der Golfstrom und die Moose![Vers 125:]
Empfindlich für das Feuchte
Wie für des Ortes Leuchte,
Was Wurz- und Stengel leisten
Gleich siehst Du bei den meisten,
Was Die geheim auch mischen,
Sie können nicht erfrischen,
Die kargen Wasserfasser — :
Moos welkt im Glase Wasser!
Die Blätter sind die Leiter
und außen geht es weiter!
Das Gedicht von Vegesack wird auf Fach- und Besinnungsseiten öfter zitiert, leider grundsätzlich mit den üblichen kleineren Fehlerchen gespickt: Versaufteilung, Großschreibung, Zeichensetzung, Sie kennen dergleichen.
Der Wechsel des Metrums erscheint darin lebhaft genug, dass er als absichtsvoll um der poetischen Wirkung willen durchgehen darf, nicht als Stümperei. Wenn Vegesack nur noch die ständigen bedeutungsvoll raunenden „…“ weglassen wollte, hieße so ein Gewoge in den besten Mephistopheles-Monologen Madrigalvers.
Nachstehend bringe ich eine maßgeblich gemeinte Version, penibel abgetippt und korrigiert. Das Original liegt in der Bibliothek des Botanischen Instituts der Universität München — von mir aus mit Bus 62 und Tram 17 eine halbe Stunde entfernt, mit dem Herzen eine halbe Ewigkeit.
Wenn Ihnen noch übrige Fehler auffallen, müssen Sie Ihren begründeten Verbesserungsvorschlag nicht für sich behalten. Sie sind ja kein Moos.
——— Siegfried von Vegesack:
Moos
in: Simplicissimus, 21. Juni 1936:
Hast du schon jemals Moos gesehen?
Nicht bloß so im Vorübergehen,
so nebenbei von oben her
so ungefähr —
nein, dicht vor Augen, hingekniet,
wie man sich eine Schrift besieht?
O Wunderschrift! O Zauberzeichen!
Da wächst ein Urwald ohnegleichen
Und wuchert wild und wunderbar
im Tannendunkel Jahr für Jahr,
mit krausen Fransen, spitzen Hütchen,
mit silbernen Trompetentütchen,
mit wirren Zweigen, krummen Stöckchen,
mit Sammethärchen, Blütenglöckchen,
und wächst so klein und ungesehen —
ein Hümpel Moos.
Und riesengroß
die Bäume stehen…Doch manchmal kommt es wohl auch vor,
daß sich ein Reh hierher verlor,
sich unter diese Zweige bückt,
ins Moos die spitzen Füße drückt,
und daß ein Has‘, vom Fuchs gehetzt,
dies Moos mit seinem Blute netzt.
Und schnaufend kriecht vielleicht hier auch
ein sammetweicher Igelbauch,
indes der Ameis‘ Karawanen
sich unentwegt durchs Dickicht bahnen.
Ein Wiesel pfeift — ein Sprung und Stoß —
und kalt und groß
gleitet die Schlange durch das Moos.Wer weiß, was alles hier geschieht,
was nur das Moos im Dunklen sieht:
Gier, Liebesbrunst und Meuchelmord —
kein Wort
verrät das Moos.
Und riesengroß
die Bäume stehen…Hast du schon jemals Moos gesehen?
Fachliteratur:
- Keiren: Moss Art mit Helen Nodding’s Moss Graffiti Recipe,
- Volkmar Wirth, Ruprecht Düll: Farbatlas Flechten und Moose, Verlag Eugen Ulmer, 2000.
Bilder: Green Sarah: Nothing in Nature Blooms All Year, 23. Oktober 2016;
Ansichtskarte von Siegfried von Vegesacks Doppelheimat: auf dem Blumbergshof, heute lettisch Lohbergi, und in Weißenstein/Niederbayern auf Kohouti kriz via Seniorentreff.
Soundtrack: Gunter Gabriel: Ohne Moos nichts los, aus: Damen wollen Kerle, 1978:
Die Lust des Mittelstands
Update zu Siehst du,
Frames in Zitaten (in Frames) und
Die Brahmsianer können ja derweil aufs Klo:
Da ist uns der Alfred Kerr letzten ersten Weihnachtsfeiertag 150 geworden und keiner hat’s gemerkt. Jedenfalls nicht viele, die wenigstens theoretisch noch Freude an seiner Brillanz haben könnten.
Der 17 Jahre jüngere Thomas Mann hatte nicht immer seine Freude an Alfred Kerr, das alte Lied zwischen Literaten und Literaturkritikern — und zwischen Thomas Mann und ihm übergeordneten Vaterfiguren. Beiderlei Verhältnisse wird man zweifellos in der monumentalen Thomas-Mann-Biographie von Peter de Mendelssohn aufgedröselt finden, über die man Wunderdinge hört.
Leider konnte ich das selbst noch nicht näher nachlesen. Wir reden über drei keineswegs schmächtige Bände, die dabei immer noch Fragment geblieben sind: Bis zu de Mendelssohns Tod 1982 sind nur zwei Bände erschienen. Sein Vorteil war, Thomas Mann persönlich zu kennen — so intim wie kaum sonst jemand, weil er für den S. Fischer Verlag seine Tagebücher herausgab. Mit Thomas Mann gut auskommen und ihn zu größeren Projekten überreden, das war nicht jedem vergönnt. Da muss man nur seine Kinder fragen, deren er sechse hatte, von denen im Laufe der Schicksale mindestens drei an den Selbstmord und „ungeklärte Umstände“ verloren gingen. Rein quantitativ ein tragisch bewegtes Familienleben für eine ungeouteten Schwulen. Natürlich muss das nichts heißen.
Hellhörig wird man über den auffindbaren Auszügen aus obgenannter Biographie angesichts der Beschreibung eines Gedichts von Alfred Kerr. Sie besteht aus einem denkbar kurzen Absatz, in dem alles steht, was man über ein Gedicht wissen will. Jedenfalls hat das Nachgoogeln auch nicht mehr ergeben als dieses Nebenthema aus einer Biographie von 1975. Wenn sie überall so dicht gewoben ist: Respekt, da hätte Thomas Mann vielleicht doch noch an seinem eigenen Spottgedicht ein bisschen Freude haben können.
——— Peter de Mendelssohn:
Der Zauberer — Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann
Erster Teil: 1875 bis 1918, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1975:
Es gibt ein Spottgedicht von Alfred Kerr auf Thomas Mann, betitelt Thomas Bodenbruch. Es hat sich nicht ermitteln lassen, wann es entstand und wo Kerr es erstmals veröffentlichte; wir kennen es nur aus dem Gedichtband Caprichos, den er 1926 herausgab. Es ist jedoch mit seiner Anspielung auf Buddenbrooks [erschienen 1901] zweifellos viel früheren Datums und stammt möglicherweise aus dieser Zeit, in der Kerrs Animosität gegen Thomas Mann, anläßlich der Berliner Fiorenza-Aufführung [Erstdruck 1906, Uraufführung 1907], ihren Höhepunkt erreichte. Thomas Mann hat, soweit ersichtlich, dieses Spottgedicht nirgends erwähnt, aber er hat es gewiß gekannt; es ist ihm spätestens bei der Veröffentlichung in Kerrs Gedichtband zur Kenntnis gelangt.
Besser hätte ich’s nicht sagen können. Im Gegenteil. — Die zuverlässigste Version des Gedichts:
——— Alfred Kerr:
Thomas Bodenbruch
aus: Caprichos. Strophen des Nebenstroms,
I. M. Spaeth Verlag, Berlin 1926, Seite 168 bis 170:
I.
Als Knabe war ich schon verknöchert;
Ob knapper Gaben knurr-ergrimmt.
Hab dann die Littratur gelöchert
Mit Bürger- und Patrizierzimt.
Sprach immer stolz mit Breite
Von meiner Väter Pleite.II.
Ich dichte nicht — ich drockse.
Ich träume nicht — ich ochse.
Ich lasse Worte kriechen,
Die nach der Lampe riechen,
Ich ledernes Kommis’chen.Ich kenne keine Blitze,
Kein Feuer, das erhitzt.
Ich schreibe mit dem Sitze,
Auf dem man sitzt.Im Grund bin ich nicht bös —
Nur skrophulös.III.
Voll hemmender Bedenklichkeit
Und zaudernder Entfaltung,
Staffier‘ ich meine Kränklichkeit
Als „Haltung“.IV.
Meist hock‘ ich, ein gereiztes Lamm.
Musiklos, aber arbeitsam.Mein Zustand zeugt geheime Tücke
(Man ist nicht eben ein Genie) —
Romane werden …. Schlüsselstücke:
„Das geht auf Den!“, „Das geht auf Die!“
Ich male zur Genüge
(Ach, mühsam, teigig, tonig)
Die körperlichsten Züge —
Mich selbst verschon‘ ich …V.
Und bin doch ein ganz armer Hase,
Im Busenwinkel bang und trist:
Mich giftet meine Kolbennase,
Die mißgeschaffen ist.
Der Schlüssel, der die Schlüsselwerke
In ihrem letzten Grund erschließt,
Ist meine eigne Rüsselstärke,
Die mich verdrießt.Bald meint‘ ich unsren Arzt „damit“,
Igittigitt!
Bald war es meine Tante,
Nöch, von der Wasserkante.Ich habe manchmal still geplärrt
Und starrte stier auf meinen Stecher —Dann mal‘ ich andre dick verzerrt:
So Holitscher als schiechen Schächer
(Zahnstockiges Jammerbild) — —
Und wüte, wenn ein heitrer Rächer
Mit gleichen Mitteln es vergilt …
(Wie scheußlich, wenn mein dünnes Gift
Mich selber trifft!)VI.
Ein Trost: ich schlage den Rekord
Im Gründlichen, Langstieligen,
Ich bleibe nach wie vor ein Hort
Gebildeter Familien.
Sie äußern keinen Widerspruch
Und schätzen Thomas Bodenbruch.
Ich bin doch voll und ganz
Die Lust des Mittelstands.
Bilder: dpa/picture alliance: Der Theaterkritiker Alfred Kerr (1867–1946) in einer undatierten Karikatur,
via Christian Blees: Die zwei Gesichter des Alfred Kerr: „Ich sage, was zu sagen ist“,
Deutschlandfunk Kultur, Zeitfragen, 29. Dezember 2017;
Lovis Corinth: Alfred Kerr, 1907,
via Jeremy Adler: The culture pope, The Times Literary Supplemet, 26. Juli 2017;
Judith Kerr/dpa via Peter von Becker: Sein erster Weltkrieg:
Ein Foto von Alfred Kerr hängt 1961 im Münchner Theatermuseum, Der Tagesspiegel, 7. Mai 2014.
Soundtrack: Mischa „Arno Billing“ Spoliansky (Musik)/Kurt Schwabach (Text),
Orchester Marek Weber: Das lila Lied, 1921:
Was will man nur?
Ist das Kultur,
dass jeder Mensch verpönt ist,
der klug und gut,
jedoch mit Blut
von eigner Art durchströmt ist,
dass grade die
Kategorie
vor dem Gesetz verbannt ist,
die im Gefühl
bei Lust und Spiel
und in der Art verwandt ist?
5. Stattvent: Schnell – in dulci jubilo (denn es raucht sich schlecht entleibt)
Wer an dieser Stelle ernstzunehmende Adventsinhalte wünscht, sei innerhalb des Weblogs freundlich auf die Sammlung über Weihnachtsengel (Dezember 2013), die Einschläferungsgedichte von Friedrich Rückert (Dezember 2014), das künstlerische Schaffen über Katzen (Dezember 2015) sowie das künstlerische Schaffen von Katzen (Dezember 2016) verwiesen.
Etwas Herzerwärmendes gehört bei allem Kulturpessimismus in diese eiseskalte Jahreszeit — jedenfalls ist gute Laune auch nicht kontraproduktiver als schlechte.
Heute noch erklingt auf Reinhard Meys Original-LP Ankomme Freitag den 13. von 1969 leider entschieden zu überarrangiert; zu seiner höchsten Form und vollen Aussage gelangt erst die gültige Version für Konzertgitarre und Barhocker auf seiner ersten Live-Doppel-LP Reinhard Mey live von 1971 — vielleicht die beste Live-Doppelte überhaupt, jedenfalls die beste aus meinem Besitz, die den Kauf weiterer, allesamt minderer Tonträger des Genres anregte. Die LP existiert heute auch in allen digitalen Formen und als YouTube-Playlist, nur schade, dass am 12. Dezember 1970 niemand mitgefilmt hat. Nach Heute noch fühlt man sich immer wie frisch geduscht und als ob die Welt vielleicht doch nicht ganz verrottet wäre.
——— Reinhard Mey:
Heute noch
aus: Ankomme Freitag den 13., 1969,
in: Reinhard Mey live, 1971, aufgenommen am 12. Dezember 1970 in Berlin:
Oft, wenn ich ans Fenster gehe,
Nachseh‘, ob noch alles steht,
Den Schuster drüben schustern sehe,
Hör‘ ich, wie die Welt sich dreht.
Dann füllt sich mein Kopf mit Wasser,
Wie aus einem Quell so frisch,
Drinnen schwimmt ein großer nasser
Trunk’ner lila Fisch.
Und der guckt aus meinen Augen,
Fängt an, weil er nichts vermißt,
Sich vor Freude vollzusaugen,
Weil die Welt noch nicht zertöppert ist.Wie an südlichen Gestaden
Steh‘ ich über Moabit.
Kann im Strom der Menschen baden,
Der an mir vorüberzieht.
Noch habe ich Kopf und Kragen,
Beide sind noch unverletzt.
Kann noch meine Mütze tragen,
Ausgebeult und abgewetzt.
Drunter kann ich überlegen,
Und mir bleibt noch eine Frist
Zum Spazierengeh’n im Regen,
Der bislang nur Wasser ist.Draußen riecht es gut nach Erde,
Nach Benzin, Asphalt und Staub.
Drinnen duftet es vom Herde,
Nach Rosmarin und Lorbeerlaub.
Noch ragt meine Nase frei und
Unbewehrt in der Natur.
Keine Gasmaske vor meinem Mund
Stört mich bei der Rasur.
Kann noch trinken: „Hoch die Tassen“,
Schnell geschluckt, denn darauf kommt’s an.
Ich kann mich nicht drauf verlassen,
Daß ich’s morgen auch noch kann.Kann noch schwarzen Tabak rauchen,
Daß kein Krümel übrigbleibt,
Den könnt‘ ich doch nicht mehr brauchen,
Denn es raucht sich schlecht entleibt.
Laßt uns heut‘ Weihnachten feiern,
Schnell – in dulci jubilo –
Mit Neujahrspunsch und Ostereiern,
Mit Honig für den Bär im Zoo.
Mein Testament ist geschrieben,
Und mir bleibt noch etwas Zeit,
Vielleicht ein Tag nur, dich zu lieben,
Vielleicht ist morgen schon Ewigkeit.Leucht‘ uns dann der Götterfunke, Funke aus Plutonium!
In diesem Sinne sehen wir uns 2018.
Bild: Reinhard Mey: Mey vor GoIn, Fotos: der 60er Jahre, 2016.
4. Stattvent: Aber nun sangen die Gäste „Stille Nacht, Heilige Nacht“
Wer an dieser Stelle ernstzunehmende Adventsinhalte wünscht, sei innerhalb des Weblogs freundlich auf die Sammlung über Weihnachtsengel (Dezember 2013), die Einschläferungsgedichte von Friedrich Rückert (Dezember 2014), das künstlerische Schaffen über Katzen (Dezember 2015) sowie das künstlerische Schaffen von Katzen (Dezember 2016) verwiesen.
Mein Haus-, Hof-, Leib- und Magenheiliger Joachim Ringelnatz, der alte Seebär, tat ja immer sowas von unsentimental. Walter Giller, mit dem mich nicht viel außer den Initialen verbindet, hat diese Ballade, gegen die sich die gleichnamige Kategorie von Goethe & Schiller wie eine Sammlung Büttenreden ausnimmt, mal im Fernsehen vorgetragen. Das war in den Siebzigern, als es noch große Fernsehmomente zu erleben gab — und den Rekonstruktionen nach am 15. November 1975 in der Mainzer Rheingoldhalle. Man mag jene Zeiten bedauern und belächeln, in denen unter Fernsehunterhaltung verstanden wurde, dass ein Anzugträger ein Gedicht aufsagt — Herrn Gillers leicht kratziger Bierbass aber war hier genau richtig. Hinterher war wieder Fernsehballett.
Halleluja mitsammen.
Soundtrack 1 für den Seebärenteil:
Rio Reiser: Übers Meer, aus: Blinder Passagier, 1987:
——— Joachim Ringelnatz:
Die Weihnachtsfeier des Seemanns Kuttel Daddeldu
aus: Kuttel-Daddeldu, Kurt Wolff Verlag, München 1924:
Die Springburn hatte festgemacht
Am Petersenkai.
Kuttel Daddeldu jumpte an Land,
Durch den Freihafen und die stille heilige Nacht
Und an dem Zollwächter vorbei.
Er schwenkte einen Bananensack in der Hand.
Damit wollte er dem Zollmann den Schädel spalten.
Wenn er es wagte, ihn anzuhalten.
Da flohen die zwei voreinander mit drohenden Reden.
Aber auf einmal trafen sich wieder beide im König von Schweden.Daddeldus Braut liebte die Männer vom Meere,
Denn sie stammte aus Bayern.
Und jetzt war sie bei einer Abortfrau in der Lehre,
Und bei ihr wollte Kuttel Daddeldu Weihnachten feiern.Im König von Schweden war Kuttel bekannt als Krakehler.
Deswegen begrüßte der Wirt ihn freundlich: „Hallo old sailer!“
Daddeldu liebte solch freie, herzhafte Reden,
Deswegen beschenkte er gleich den König von Schweden.
Er schenkte ihm Feigen und sechs Stück Kolibri
Und sagte: „Da nimm, du Affe!“
Daddeldu sagte nie „Sie“.
Er hatte auch Wanzen und eine Masse
Chinesischer Tassen für seine Braut mitgebracht.Aber nun sangen die Gäste „Stille Nacht, Heilige Nacht“,
Und da schenkte er jedem Gast eine Tasse
Und behielt für die Braut nur noch drei.
Aber als er sich später mal darauf setzte,
Gingen auch diese versehentlich noch entzwei,
Ohne daß sich Daddeldu selber verletzte.Und ein Mädchen nannte ihn Trunkenbold
Und schrie: er habe sie an die Beine geneckt.
Aber Daddeldu zahlte alles in englischen Pfund in Gold.
Und das Mädchen steckte ihm Christbaumkonfekt
Still in die Taschen und lächelte hold
Und goß noch Genever zu dem Gilka mit Rum in den Sekt.
Daddeldu dacht an die wartende Braut.
Aber es hatte nicht sein gesollt,
Denn nun sangen sie wieder so schön und so laut.
Und Daddeldu hatte die Wanzen noch nicht verzollt,
Deshalb zahlte er alles in englischen Pfund in Gold.Und das war alles wie Traum.
Plötzlich brannte der Weihnachtsbaum.
Plötzlich brannte das Sofa und die Tapete,
Kam eine Marmorplatte geschwirrt,
Rannte der große Spiegel gegen den kleinen Wirt.
Und die See ging hoch und der Wind wehte.Daddeldu wankte mit einer blutigen Nase
(Nicht mit seiner eigenen) hinaus auf die Straße.
Und eine höhnische Stimme hinter ihm schrie:
„Sie Daddel Sie!“
Und links und rechts schwirrten die Kolibri.Die Weihnachtskerzen im Pavillon an der Mattentwiete erloschen.
Die alte Abortfrau begab sich zur Ruh.
Draußen stand Daddeldu
Und suchte für alle Fälle nach einem Groschen.
Da trat aus der Tür seine Braut
Und weinte laut:
Warum er so spät aus Honolulu käme?
Ob er sich gar nicht mehr schäme?
Und klappte die Tür wieder zu.
An der Tür stand: „Für Damen“.Es dämmerte langsam. Die ersten Kunden kamen,
Und stolperten über den schlafenden Daddeldu.
Soundtrack 2 für den Weihnachtsteil:
Kris Kristofferson: Jesus Was A Capricorn, 1972:
Jesus was a Capricorn
He ate organic food
He believed in love and peace
And never wore no shoesLong hair, beard and sandals
And a funky bunch of friends
Reckon we’d just nail him up
If he came down again.
Er habe sie an die Beine geneckt: Daniela „Paszportowa“ Paß, Berlin,
mit nackigen knackigen drei’n’dreißich für Moby-Dick™:
Kwal, der: Daniela tanzt auf einem Walbein, 19. Oktober 2006.
3. Stattvent: Sie haben kein Geld nicht besessen
Wer an dieser Stelle ernstzunehmende Adventsinhalte wünscht, sei innerhalb des Weblogs freundlich auf die Sammlung über Weihnachtsengel (Dezember 2013), die Einschläferungsgedichte von Friedrich Rückert (Dezember 2014), das künstlerische Schaffen über Katzen (Dezember 2015) sowie das künstlerische Schaffen von Katzen (Dezember 2016) verwiesen.
Das bekannte Heilige Nacht. Eine Weihnachtslegende von Ludwig Thoma stammt vom Dezember 1915 bis März 1916, als er Sanitäter an der galizischen Front war, und erschien 1917 im Druck Im Münchner Albert Langen Verlag. Sein gleichnamiges Gedicht von 1913 unter dem Pseudonym Peter Schlemihl hat technisch nichts damit zu tun, erscheint aber wie eine thematische Fingerübung dazu — und sein Gedicht Christmette wiederum wie eine Fingerübung dazu. Da war er allerdings Chefredakteur beim Simplicissimus und bestimmte selber, wer wann womit gedruckt wird.
Jedenfalls schaffen die fünf Vierzeiler Heilige Nacht die gleiche Aussage wie das Versepos in sechs Hauptstücken plus Gesangseinlagen. Ab 1917, als der Weltkrieg verloren zu gehen drohte, kippte der linksliberale Simplicissimus-Verantwortliche mit seinen Lausbubengeschichten und sechs Wochen Stadelheim wegen gedruckter Beleidigung von niederrheinischen Sittlichkeitsaposteln — alles noch in seiner linken Periode — in Nationalismus und Antisemitismus.
Es fällt seit jeher leicht, Thoma (1867–1921) zu unterstellen, aus ihm wäre noch ein guter Nazi geworden, aber es ist komplizierter: 1917 schrieb er noch außer den üblichen judenfeindlichen Artikeln in den Miesbacher Anzeiger hinein: „Warum muß gerade der Bauer die Kriegsanleihe zeichnen?“ mit „Unser Vaterland muß den Krieg durchführen bis zum siegreichen Ende“, 1921 füllte er den Aufnahmeantrag zur NSDAP dann doch nicht aus — im tiefsten Bayern in seiner hässlichsten Erscheinungsform nicht viel anders als eine Generation zuvor in Preußen bei Theodor Fontane (1819–1898) — siehe hierzu vor allem Prof. Dr. Dr. Herbert Grziwotz: Ludwig Thomas Heilige Nacht. Weihnachtsgeschichte eines umstrittenen Juristen, Legal Tribune Online, 24. Dezember 2012. Das reicht offenbar dem postmodernen Markt, von der Heiligen Nacht ungefähr so viele Einspielungen anzubieten wie sonst allenfalls von Peter und der Wolf, Russland 1936.
——— Ludwig Thoma:
Heilige Nacht
Simplicissimus-Gedichte von Peter Schlemihl, Dezember 1913:
So ward der Herr Jesus geboren
Im Stall bei der kalten Nacht.
Die Armen, die haben gefroren,
Den Reichen war’s warm gemacht.Sein Vater ist Schreiner gewesen,
Die Mutter war eine Magd.
Sie haben kein Geld nicht besessen,
Sie haben sich wohl geplagt.Kein Wirt hat ins Haus sie genommen;
Sie waren von Herzen froh,
Dass sie noch in Stall sind gekommen.
Sie legten das Kind auf Stroh.Die Engel, die haben gesungen,
Dass wohl ein Wunder geschehn.
Da kamen die Hirten gesprungen
Und haben es angesehn.Die Hirten, die will es erbarmen,
Wie elend das Kindlein sei.
Es ist eine G’schicht‘ für die Armen,
Kein Reicher war nicht dabei.
Oder weitgehend deckungsgleich:
——— Ludwig Thoma:
Christmette
Simplicissimus-Gedichte von Peter Schlemihl, 1901 ff.:
So wissen wir, daß Jesus Christ
In einem Stall geboren ist
Zu Bethlehem bei kalter Nacht.
Kein Reicher hat nicht aufgemacht.Die lagen all im weichen Bett.
Daß auf der harten Liegerstätt‘
Das Kindlein in der Krippe fror,
Kam ihnen nicht betrübsam vor.Sie hielten es für gar gering,
Wie daß es kleinen Leuten ging.
Was geht sie heut‘ das Wunder an?
Nur Armen ward es kundgetan.
Und, weil’s so schön war, endet das große Verepos Heilige Nacht nach ausreichend Kritik an sozialer Ungleichheit:
Und geht’s ös in d‘ Mett’n, ös Leut,
Na roat’s enk de G’schicht a weng z’samm!
Und fragt’s enk, ob dös nix bedeut‘,
Daß ’s Christkind bloß Arme g’sehg’n hamm.
Soundtrack: Tarquin Britten and the City Boyz: Credit Crunch Christmas, 2008:
Bonus Track: Franziska Well: Christoph Well: Che-Guevara-Landler,
aus: Gerhard Polt und die Well-Kinder: Fröhliche Frohheit, 2010:
Buidl: Dirk Walter: Porträt über Ludwig Thoma: Geburtstag eines Widerspenstigen. Zum 150. des gefallenen Star-Autors, Münchner Merkur, 20. Januar 2017.
1. Stattvent: Traudl (Mütter, euch sind alle Feuer, alle Sterne aufgestellt)
Eigentlich ist niemand auf den Advent angewiesen, um Weihnachten zu feiern; ich zum Beispiel streite das ganze Jahr mit meiner Verwandtschaft, schmeiße das Geld zum Fenster raus und höre Musik, für die jemand Noten lesen lernen musste. Wenn’s endlich das Marzipan ganzjährig gibt, kann ich meine Sissi-DVDs auch Pfingsten anschauen. Das kann jeder.
Wer an dieser Stelle ernstzunehmende Adventsinhalte wünscht, sei innerhalb des Weblogs freundlich auf die Sammlung über Weihnachtsengel (Dezember 2013), die Einschläferungsgedichte von Friedrich Rückert (Dezember 2014), das künstlerische Schaffen über Katzen (Dezember 2015) sowie das künstlerische Schaffen von Katzen (Dezember 2016) verwiesen.
Traudl. Es wird ein Stern aufgehen über Bethlehem. Verso: 1. Adventssonntag 1935.
——— Jutta Assel und Georg Jäger:
Weihnachtsgaben
Eine Dokumentation zu Weihnachten 2010
aus: Goethezeitportal, Dezember 2010:
Traudl war acht Jahre alt, als sie ihren Wunschzettel nicht an das Christkind oder den Weihnachtsmann schrieb, sondern diesen nur mit ihrem Namen bezeichnete, weil ihre Schwester nichts von den schönen Sachen erhalten sollte. Die klein gezeichneten Tannenzweige mit Zuckerkringel, Apfel, Baumbehang und Kerze „kriegte man sowieso“. Ihr größter Wunsch war ein elektrischer Stern als Beleuchtung für ihr Zimmer; ferner eine handkurbelbetriebene Puppen-Nähmaschine und ein Puppenherd, den sie bekam. Obschon diese Geräte in eine künftige Hausfrauenrolle nach Art der Mutter einüben sollten, wurde Traudl Chemikerin und blieb Junggesellin. (Nach persönlichen Mitteilungen)
Stattweihnachtslied: Hans Baumann: Hohe Nacht der klaren Sterne, 1936:
In dem Lied wird auf alle christlichen und weihnachtlichen Begriffe verzichtet, stattdessen werden in Abkehr davon die im Nationalsozialismus forcierten Mythen der Nacht (1. Strophe), das Wintersonnenwendfeuer (2. Strophe) und (entsprechend dem nationalsozialistischen Mütterkult) die Mütter (3. Strophe) in den Mittelpunkt gestellt.
The clock may stop, the hand be broken, then Time be finished unto me!
Update zu Show me a guy that doesn’t want to come down off the cross
und Dieses treffliche Märchen vom Schmidt:
Werd‘ ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zu Grunde gehn!
Dann mag die Todtenglocke schallen,
Dann bist du deines Dienstes frey,
Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen,
Es sey die Zeit für mich vorbey!Faust I, Vers 1699 bis 1706.
Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.
Und so verbringt, umrungen von Gefahr,
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
Solch ein Gewimmel möcht‘ ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
Zum Augenblicke dürft‘ ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdetagen
Nicht in Aeonen untergehn. –
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß‘ ich jetzt den höchsten Augenblick.Faust II, Vers 11574 bis 11586.
That Hell-Bound Train von Robert Bloch bedeutet Menschen seit 1958 etwas. Es ist die einzige genuin faustische amerikanische short story, die aufzutreiben war, dafür gleich eine der besten überhaupt. Nicht zwingend deswegen, weil der „Faust“ bei Bloch wörtlich ein Waisenknabe und kein unterforderter Unidozent ist und der „Mephisto“ immer noch mit einem einzigen ebenso durchschaubaren wie unausweichlichen Trick arbeitet — dafür wird auf kaum 20 Druckseiten sehr viel klarer als bei Goethe, wer gewonnen hat und warum.
Egal was der gestrenge Deutsche Brecht sagt, ist es immer wieder ein kulinarisches Vergnügen, einem ausgebufften Schreibhandwerker bei der Arbeit zuzuschauen. Robert Bloch, das ist einer von den sattelfesten Haudegen, der einen Hitchchock so beeindruckt hat, dass er ihm die Vorlage für seinen Überklassiker Psycho (1960) abnahm. Das will einiges heißen und musste zuvor mit jahrelang lückenlos nachweisbarer Zuverlässigkeit bewiesen werden.
Zum Beispiel anhand That Hell-Bound Train, der annähernd gleichzeitig zu Blochs Romanvorlage Psycho (1959) den Hugo Award als beste Short Story 1959 gewann. Der Hugo Award ist vor allem den Science-Fiction-Fans unter uns ein Begriff, innerhalb der phantastischen Literatur fällt Blochs Story eher in die Kategorie Fantasy, wenn nicht gar eine moderne Form des Märchens: Die faustischen Anklänge im Teufelspakt sind so deutlich, dass sie wohl so beabsichtigt waren.
Die erste deutsche Übersetzung erschien erst 1982 als Der Zug zur Hölle von Irene Holicki in einer Anthologie der Hugo-Preisträger von Isaac Asimov (Hrsg.): Das Forschungsteam. Die Hugo-Gernsback-Preisträger 1955–1961 in der Bibliothek der Science Fiction Literatur bei Heyne und noch einmal 1985 in Terry Carr und Martin Harry Greenberg (Hrsg.): Traumreich der Magie: Höhepunkte der modernen Fantasy in derselben Reihe. Dergleichen fiel damals noch unter Schundheftchen, anerkannt seriöse Verbreitung erfuhr erst die Übersetzung von Kurt Bracharz als Expreß zur Hölle in der fünften Folge von Dolly Dolittle’s Crime Club bei Diogenes 1988. Die fünf Folgen Dolly Dolittle sind bis heute eine der erlesensten Sammlungen „schrecklicher Geschichten“ — so der Untertitel — die eine eigens erfundene Kunstfigur, die nur für diese fünf Bände Edelkrimigeschichten bei Diogenes auffindbar ist, auf Deutsch zusammengetragen hat. Von Anfang an hat die Sammlung stolz behauptet: „Alle Texte sind Erstveröffentlichungen oder erscheinen hier erstmals deutsch“. Entweder hat sie sich also schon immer als wegweisend begriffen, oder es kann damit nach den zwei Veröffentlichungen bei Heyne nur die Bracharz-Übersetzung gemeint sein.
Ab und zu trifft man sie noch vergilbenderweise in den Stadtbibliotheken des Landes, solange tätige Büchereileiter noch an ihr das Krimilesen gelernt haben. Diese Fassung liegt mir immer noch vor, weil sie mich als Welpe mindestens so vom Hocker geweht hat wie das Original einst Alfred Hitchcock, angesichts heutiger Übersetzerleistungen erspare ich sie uns (abgesehen davon, dass ich sie abtippen müsste). — Das Thema ist mit der Variation über den Fauststoff höchst traditionell, das Setting mit dem ländlichen Amerika wirksam und anschaulich modernisiert, der Gang der Handlung nahe an den besten Momenten von Poe. Aber der hat uns nie so eine herzerwärmende, wirklich unerwartete Schlusswendung gegönnt.
Kurioserweise ist das handlungstragende Lied aus der Story, das als traditioneller Folksong vorzustellen ist, nicht ausfindig zu machen. Mich tröstet allein, dass ich das nicht aus interkultureller Ignoranz nicht schaffe, weil auch der Muttersprachler RyallTime darüber klagt. Anscheinend gibt es keine musikalische Vorlage, nur einige Lieder in umgekehrter Anlehnung und als Hommagen an die Story.
Das Bildmaterial besteht, weil hochformatige Bilder von Eisenbahnen selten sind, aus PR-Footage von Dave Wachter zu einer Comic-Miniserie von Joe and John Lansdale von 2011, die im jungen Jahrtausend unerwartet eine getreue Comic-Umsetzung eines Fantasy-Reißers von 1958 bringt. Die Tonart der Bilder finde ich allerdings entschieden zu dämonisch für eine unmittelbare Umsetzung; Blochs Original klingt mir doch viel stärker nach leichtfüßigen Filmen wie Paper Moon (Peter Bogdanovich, 1973) oder O Brother, Where Art Thou? (Coen Brothers, 2000).
Lesedauer: ca. 34 Minuten:
——— Robert Bloch:
That Hell-Bound Train
in: The Magazine of Fantasy & Science Fiction, September 1958:
When Martin was a little boy, his daddy was a Railroad Man. Daddy never rode the high iron, but he walked the tracks for the CB&Q, and he was proud of his job. And every night when he got drunk, he sang this old song about That Hell-Bound Train.
Martin didn’t quite remember any of the words, but he couldn’t forget the way his Daddy sang them out. And when Daddy made the mistake of getting drunk in the afternoon and got squeezed between a Pennsy tank-car and an AT&SF gondola, Martin sort of wondered why the Brotherhood didn’t sing the song at his funeral.
After that, things didn’t go so good for Martin, but somehow he always recalled Daddy’s song. When Mom up and ran off with a traveling salesman from Keokuk (Daddy must have turned over in his grave, knowing she’d done such a thing, and with a passenger, too!). Martin hummed the tune to himself every night in the Orphan Home. And after Martin himself ran away, he used to whistle the song softly at night in the jungles, after the other bindlestiffs were asleep.
Martin was on the road for four-five years before he realized he wasn’t getting anyplace. Of course he’d tried his hand at a lot of things — picking fruit in Oregon, washing dishes in a Montana hash-house, stealing hubcaps in Denver and tires in Oklahoma City — but by the time he’d put in six months on the chain gang down in Alabama he knew he had no future drifting around this way on his own.
So he tried to get on the railroad like his daddy had and they told him that times were bad. But Martin couldn’t keep away from the railroads. Wherever he traveled, he rode the rods; he’d rather hop a freight heading north in sub-zero weather than lift his thumb to hitch a ride with a Cadillac headed for Florida. Whenever he managed to get hold of a can of Sterno, he’d sit there under a nice warm culvert, think about the old days, and often as not he’d hum the song about That Hell-Bound Train. That was the train the drunks and the sinners rode — the gambling men and the grifters, the big-time spenders, the skirt-chasers, and all the jolly crew. It would be really fine to take a trip in such good company, but Martin didn’t like to think of what happened when that train finally pulled into the Depot Way Down Yonder. He didn’t figure on spending eternity stoking boilers in Hell, without even a Company Union to protect him. Still, it would be a lovely ride. If there was such a thing as a Hell-Bound Train. Which, of course, there wasn’t.
At least Martin didn’t think there was, until that evening when he found himself walking the tracks heading south, just outside of Appleton Junction. The night was cold and dark, the way November nights are in the Fox River Valley, and he knew he’d have to work his way down to New Orleans for the winter, or maybe even Texas. Somehow he didn’t much feel like going, even though he’d heard tell that a lot of those Texas automobiles had solid gold hub-caps.
No sir, he just wasn’t cut out for petty larceny. It was worse than a sin — it was unprofitable, too. Bad enough to do the Devil’s work, but then to get such miserable pay on top of it! Maybe he’d better let the Salvation Army convert him.
Martin trudged along humming Daddy’s song, waiting for a rattler to pull out of the Junction behind him. He’d have to catch it — there was nothing else for him to do.
But the first train to come along came from the other direction, roaring toward him along the track from the south.
Martin peered ahead, but his eyes couldn’t match his ears, and so far all he could recognize was the sound. It was a train, though; he felt the steel shudder and sing beneath his feet.
And yet, how could it be? The next station south was Neenah-Menasha, and there was nothing due out of there for hours.
The clouds were thick overhead, and the field mists rolled like a cold fog in a November midnight. Even so, Martin should have been able to see the headlight as the train rushed on. But there was only the whistle, screaming out of the black throat of the night. Martin could recognize the equipment of just about any locomotive ever built, but he’d never heard a whistle that sounded like this one. It wasn’t signaling; it was screaming like a lost soul.
He stepped to one side, for the train was almost on top of him now. And suddenly there it was, looming along the tracks and grinding to a stop in less time than he’d believed possible. The wheels hadn’t been oiled, because they screamed too, screamed like the damned. But the train slid to a halt and the screams died away into a series of low, groaning sounds, and Martin looked up and saw that this was a passenger train. It was big and black, without a single light shining in the engine cab or any of the long string of cars; Martin couldn’t read any lettering on the sides, but he was pretty sure this train didn’t belong on the Northwestern Road.
He was even more sure when he saw the man clamber down out of the forward car. There was something wrong about the way he walked, as though one of his feet dragged, and about the lantern he carried. The lantern was dark, and the man held it up to his mouth and blew, and instantly it glowed redly. You don’t have to be a member of the Railway Brotherhood to know that this is a mighty peculiar way of lighting a lantern.
As the figure approached, Martin recognized the conductor’s cap perched on his head, and this made him feel a little better for a moment — until he noticed that it was worn a bit too high, as though there might be something sticking up on the forehead underneath it.
Still, Martin knew his manners, and when the man smiled at him, he said, „Good evening, Mr. Conductor.“
„Good evening, Martin.“
„How did you know my name?“
The man shrugged. „How did you know I was the Conductor?“
„You are, aren’t you?“
„To you, yes. Although other people, in other walks of life, may recognize me in different roles. For instance, you ought to see what I look like to the folks out in Hollywood.“ The man grinned. „I travel a great deal,“ he explained.
„What brings you here?“ Martin asked.
„Why, you ought to know the answer to that, Martin. I came because you needed me. Tonight, I suddenly realized you were backsliding. Thinking of joining the Salvation Army, weren’t you?“
„Well — “ Martin hesitated.
„Don’t be ashamed. To err is human, as somebody-or-other-once said. Reader’s Digest, wasn’t it? Never mind. The point is, I felt you needed me. So I switched over and came your way.“
„What for?“
„Why, to offer you a ride, of course. Isn’t it better to travel comfortably by train than to march along the cold streets behind a Salvation Army band? Hard on the feet, they tell me, and even harder on the eardrums.“
„I’m not sure I’d care to ride your train, sir,“ Martin said. „Considering where I’m likely to end up.“
„Ah, yes. The old argument.“ The Conductor sighed. „I suppose you’d prefer some sort of bargain, is that it?“
„Exactly,“ Martin answered.
„Well, I’m afraid I’m all through with that sort of thing. There’s no shortage of prospective passengers anymore. Why should I offer you any special inducements?“
„You must want me, or else you wouldn’t have bothered to go out of your way to find me.“
The Conductor sighed again. „There you have a point. Pride was always my besetting weakness, I admit. And somehow I’d hate to lose you to the competition, after thinking of you as my own all these years.“ He hesitated. „Yes, I’m prepared to deal with you on your own terms, if you insist.“
„The terms?“ Martin asked.
„Standard proposition. Anything you want.“
„Ah,“ said Martin.
„But I warn you in advance, there’ll be no tricks. I’ll grant you any wish you can name — but in return, you must promise to ride the train when the time comes.“
„Suppose it never comes?“
„It will.“
„Suppose I’ve got the kind of a wish that will keep me off forever?“
„There is no such wish.“
„Don’t be too sure.“
„Let me worry about that,“ the Conductor told him. „No matter what you have in mind, I warn you that I’ll collect in the end. And there’ll be none of this last-minute hocus-pocus, either. No last-hour repentances, no blonde frauleins or fancy lawyers showing up to get you off. I offer a clean deal. That is to say, you’ll get what you want, and I’ll get what I want.“
„I’ve heard you trick people. They say you’re worse than a used-car salesman.“
„Now, wait a minute — “
„I apologize,“ Martin said, hastily. „But it is supposed to be a fact that you can’t be trusted.“
„I admit it. On the other hand, you seem to think you have found a way out.“
„A sure-fire proposition.“
„Sure-fire? Very funny!“ The man began to chuckle, then halted. „But we waste valuable time, Martin. Let’s get down to cases. What do you want from me?“
Martin took a deep breath. „I want to be able to stop Time.“
„Right now?“
„No. Not yet. And not for everybody. I realize that would be impossible, of course. But I want to be able to stop Time for myself. Just once, in the future. Whenever I get to a point where I know I’m happy and contented, that’s where I’d like to stop. So I can just keep on being happy forever.“
„That’s quite a proposition,“ the Conductor mused. „I’ve got to admit I’ve never heard anything just like it before — and believe me, I’ve listened to some lulus in my day.“ He grinned at Martin. „You’ve really been thinking about this, haven’t you?“
„For years,“ Martin admitted. Then he coughed. „Well, what do you say?“
„It’s not impossible, in terms of your own subjective time-sense,“ the Conductor murmured. „Yes, I think it could be arranged.“
„But I mean really to stop. Not for me just to imagine it.“
„I understand. And it can be done.“
„Then you’ll agree?“
„Why not? I promised you, didn’t I? Give me your hand.“
Martin hesitated. „Will it hurt very much? I mean, I don’t like the sight of blood, and — “
„Nonsense! You’ve been listening to a lot of poppycock. We already have made our bargain, my boy. I merely intend to put something into your hand. The ways and means of fulfilling your wish. After all, there’s no telling at just what moment you may decide to exercise the agreement, and I can’t drop everything and come running. So it’s better if you can regulate matters for yourself.“
„You’re going to give me a Time-stopper?“
„That’s the general idea. As soon as I can decide what would be practical.“ The Conductor hesitated. „Ah, the very thing! Here, take my watch.“
He pulled it out of his vest-pocket; a railroad watch in a silver case. He opened the back and made a delicate adjustment; Martin tried to see just exactly what he was doing, but the fingers moved in a blinding blur.
„There we are.“ The Conductor smiled. „It’s all set, now. When you finally decide where you’d like to call a halt, merely turn the stem in reverse and unwind the watch until it stops. When it stops, Time stops, for you. Simple enough?“ And the Conductor dropped the watch into Martin’s hand.
The young man closed his fingers tightly around the case. „That’s all there is to it, eh?“
„Absolutely. But remember — you can stop the watch only once. So you’d better make sure that you’re satisfied with the moment you choose to prolong. I caution you in all fairness; make very certain of your choice.“
„I will.“ Martin grinned. „And since you’ve been so fair about it, I’ll be fair, too. There’s one thing you seem to have forgotten. It doesn’t really matter what moment I choose. Because once I stop Time for myself, that means I stay where I am forever. I’ll never have to get any older. And if I don’t get any older, I’ll never die. And if I never die, then I’ll never have to take a ride on your train.“
The Conductor turned away. His shoulders shook convulsively, and he may have been crying. „And you said I was worse than a used-car salesman,“ he gasped, in a strangled voice.
Then he wandered off into the fog, and the train-whistle gave an impatient shriek, and all at once it was moving swiftly down the track, rumbling out of sight in the darkness.
Martin stood there, blinking down at the silver watch in his hand. If it wasn’t that he could actually see it and feel it there, and if he couldn’t smell that peculiar odor, he might have thought he’d imagined the whole thing from start to finish — train, Conductor, bargain, and all.
But he had the watch, and he could recognize the scent left by the train as it departed, even though there aren’t many locomotives around that use sulphur and brimstone as fuel.
And he had no doubts about his bargain. That’s what came of thinking things through to a logical conclusion. Some fools would have settled for wealth, or power, or Kim Novak. Daddy might have sold out for a fifth of whiskey.
Martin knew that he’d made a better deal. Better? It was foolproof. All he needed to do now was choose his moment.
He put the watch in his pocket and started back down the railroad track. He hadn’t really had a destination in mind before, but he did now. He was going to find a moment of happiness…
*
Now young Martin wasn’t altogether a ninny. He realized perfectly well that happiness is a relative thing; there are conditions and degrees of contentment, and they vary with one’s lot in life. As a hobo, he was often satisfied with a warm handout, a double-length bench in the park, or a can of Sterno made in 1957 (a vintage year). Many a time he had reached a state of momentary bliss through such simple agencies, but he was aware that there were better things. Martin determined to seek them out.
Within two days he was in the great city of Chicago. Quite naturally, he drifted over to West Madison Street, and there he took steps to elevate his role in life. He became a city bum, a panhandler, a moocher. Within a week he had risen to the point where happiness was a meal in a regular one-arm luncheon joint, a two-bit flop on a real army cot in a real flophouse, and a full fifth of muscatel.
There was a night, after enjoying all three of these luxuries to the full, when Martin thought of unwinding his watch at the pinnacle of intoxication. But he also thought of the faces of the honest johns he’d braced for a handout today. Sure, they were squares, but they were prosperous. They wore good clothes, held good jobs, drove nice cars. And for them, happiness was even more ecstatic — they ate dinner in fine hotels, they slept on innerspring mattresses, they drank blended whiskey.
Squares or no, they had something there. Martin fingered his watch, put aside the temptation to hock it for another bottle of muscatel, and went to sleep determined to get himself a job and improve his happiness-quotient.
When he awoke he had a hangover, but the determination was still with him. Before the month was out Martin was working for a general contractor over on the South Side, at one of the big rehabilitation projects. He hated the grind, but the pay was good, and pretty soon he got himself a one-room apartment out on Blue Island Avenue. He was accustomed to eating in decent restaurants now, and he bought himself a comfortable bed, and every Saturday night he went down to the corner tavern. It was all very pleasant, but —
The foreman liked his work and promised him a raise in a month. If he waited around, the raise would mean that he could afford a second-hand car. With a car, he could even start picking up a girl for a date now and then. Other fellows on the job did, and they seemed pretty happy.
So Martin kept on working, and the raise came through and the car came through and pretty soon a couple of girls came through.
The first time it happened, he wanted to unwind his watch immediately. Until he got to thinking about what some of the older men always said. There was a guy named Charlie, for example, who worked alongside him on the hoist. „When you’re young and don’t know the score, maybe you get a kick out of running around with those pigs. But after a while, you want something better. A nice girl of your own. That’s the ticket.“
Martin felt he owed it to himself to find out. If he didn’t like it better, he could always go back to what he had.
Almost six months went by before Martin met Lillian Gillis. By that time he’d had another promotion and was working inside, in the office. They made him go to night school to learn how to do simple bookkeeping, but it meant another fifteen bucks extra a week, and it was nicer working indoors.
And Lillian was a lot of fun. When she told him she’d marry him, Martin was almost sure that the time was now. Except that she was sort of — well, she was a nice girl, and she said they’d have to wait until they were married. Of course, Martin couldn’t expect to marry her until he had a little more money saved up, and another raise would help, too.
That took a year. Martin was patient, because he knew it was going to be worth it. Every time he had any doubts, he took out his watch and looked at it. But he never showed it to Lillian, or anybody else. Most of the other men wore expensive wristwatches and the old silver railroad watch looked just a little cheap.
Martin smiled as he gazed at the stem. Just a few twists and he’d have something none of these other poor working slobs would ever have. Permanent satisfaction, with his blushing bride — Only getting married turned out to be just the beginning. Sure, it was wonderful, but Lillian told him how much better things would be if they could move into a new place and fix it up. Martin wanted decent furniture, a TV set, a nice car.
So he started taking night courses and got a promotion to the front office. With the baby coming, he wanted to stick around and see his son arrive. And when it came, he realized he’d have to wait until it got a little older, started to walk and talk and develop a personality of its own.
About this time the company sent him out on the road as a trouble-shooter on some of those other jobs, and now he was eating at those good hotels, living high on the hog and the expense-account. More than once he was tempted to unwind his watch. This was the good life… Of course, it would be even better if he just didn’t have to work. Sooner or later, if he could cut in on one of the company deals, he could make a pile and retire. Then everything would be ideal. It happened, but it took time. Martin’s son was going to high school before he really got up there into the chips. Martin got a strong hunch that it was now or never, because he wasn’t exactly a kid anymore.
But right about then he met Sherry Westcott, and she didn’t seem to think he was middle-aged at all, in spite of the way he was losing hair and adding stomach. She taught him that a toupee could cover the bald spot and a cummerbund could cover the pot-gut. In fact, she taught him quite a lot and he so enjoyed learning that he actually took out his watch and prepared to unwind it.
Unfortunately, he chose the very moment that the private detectives broke down the door of the hotel room, and then there was a long stretch of time when Martin was so busy fighting the divorce action that he couldn’t honestly say he was enjoying any given moment.
When he made the final settlement with Lil he was broke again, and Sherry didn’t seem to think he was so young, after all. So he squared his shoulders and went back to work.
He made his pile, eventually, but it took longer this time, and there wasn’t much chance to have fun along the way. The fancy dames in the fancy cocktail lounges didn’t seem to interest him anymore, and neither did the liquor. Besides, the Doc had warned him off that.
But there were other pleasures for a rich man to investigate. Travel, for instance — and not riding the rods from one hick burg to another, either. Martin went around the world by plane and luxury liner. For a while it seemed as though he would find his moment after all, visiting the Taj Mahal by moonlight. Martin pulled out the battered old watch-case, and got ready to unwind it. Nobody else was there to watch him —
And that’s why he hesitated. Sure, this was an enjoyable moment, but he was alone. Lil and the kid were gone, Sherry was gone, and somehow he’d never had time to make any friends. Maybe if he found new congenial people, he’d have the ultimate happiness. That must be the answer — it wasn’t just money or power or sex or seeing beautiful things. The real satisfaction lay in friendship.
So on the boat trip home, Martin tried to strike up a few acquaintances at the ship’s bar. But all these people were much younger, and Martin had nothing in common with them. Also they wanted to dance and drink, and Martin wasn’t in condition to appreciate such pastimes. Nevertheless, he tried.
Perhaps that’s why he had the little accident the day before they docked in San Francisco. „Little accident“ was the ship’s doctor’s way of describing it, but Martin noticed he looked very grave when he told him to stay in bed, and he’d called an ambulance to meet the liner at the dock and take the patient right to the hospital.
At the hospital, all the expensive treatment and the expensive smiles and the expensive words didn’t fool Martin any. He was an old man with a bad heart, and they thought he was going to die.
But he could fool them. He still had the watch. He found it in his coat when he put on his clothes and sneaked out of the hospital.
He didn’t have to die. He could cheat death with a single gesture — and he intended to do it as a free man, out there under a free sky.
That was the real secret of happiness. He understood it now. Not even friendship meant as much as freedom. This was the best thing of all — to be free of friends or family or the furies of the flesh.
Martin walked slowly beside the embankment under the night sky. Come to think of it, he was just about back where he’d started, so many years ago. But the moment was good, good enough to prolong forever. Once a bum, always a bum.
He smiled as he thought about it, and then the smile twisted sharply and suddenly, like the pain twisting sharply and suddenly in his chest. The world began to spin and he fell down on the side of the embankment.
He couldn’t see very well, but he was still conscious, and he knew what had happened. Another stroke, and a bad one. Maybe this was it. Except that he wouldn’t be a fool any longer. He wouldn’t wait to see what was still around the corner.
Right now was his chance to use his power and save his life. And he was going to do it. He could still move, nothing could stop him. He groped in his pocket and pulled out the old silver watch, fumbling with the stem. A few twists and he’d cheat death, he’d never have to ride that Hell-Bound Train. He could go on forever. Forever.
Martin had never really considered the word before. To go on forever — but how? Did he want to go on forever, like this; a sick old man, lying helplessly here in the grass?
No. He couldn’t do it. He wouldn’t do it. And suddenly he wanted very much to cry, because he knew that somewhere along the line he’d outsmarted himself. And now it was too late. His eyes dimmed, there was a roaring in his ears…
He recognized the roaring, of course, and he wasn’t at all surprised to see the train come rushing out of the fog up there on the embankment. He wasn’t surprised when it stopped, either, or when the Conductor climbed off and walked slowly toward him.
The Conductor hadn’t changed a bit. Even his grin was still the same.
„Hello, Martin,“ he said. „All aboard.“
„I know,“ Martin whispered. „But you’ll have to carry me. I can’t walk. I’m not even really talking anymore, am I?“
„Yes you are,“ the Conductor said. „I can hear you fine. And you can walk, too.“ He leaned down and placed his hand on Martin’s chest. There was a moment of icy numbness, and then, sure enough, Martin could walk after all.
He got up and followed the Conductor along the slope, moving to the side of the train.
„In here?“ he asked.
„No, the next car,“ the Conductor murmured. „I guess you’re entitled to ride Pullman. After all, you’re quite a successful man. You’ve tasted the joys of wealth and position and prestige. You’ve known the pleasures of marriage and fatherhood. You’ve sampled the delights of dining and drinking and debauchery, too, and you traveled high, wide, and handsome. So let’s not have any last-minute recriminations.“
„All right,“ Martin sighed. „I can’t blame you for my mistakes. On the other hand, you can’t take credit for what happened, either. I worked for everything I got. I did it all on my own. I didn’t even need your watch.“
„So you didn’t,“ the Conductor said, smiling. „But would you mind giving it back to me now?“
„Need it for the next sucker, eh?“ Martin muttered.
„Perhaps.“
Something about the way he said it made Martin look up. He tried to see the Conductor’s eyes, but the brim of his cap cast a shadow. So Martin looked down at the watch instead.
„Tell me something,“ he said, softly. „If I give you the watch, what will you do with it?“
„Why, throw it into the ditch,“ the Conductor told him. „That’s all I’ll do with it.“ And he held out his hand.
„What if somebody comes along and finds it? And twists the stem backward, and stops Time?“
„Nobody would do that,“ the Conductor murmured. „Even if they knew.“
„You mean, it was all a trick? This is only an ordinary, cheap watch?“
„I didn’t say that,“ whispered the Conductor. „I only said that no one has ever twisted the stem backward. They’ve all been like you, Martin — looking ahead to find that perfect happiness. Waiting for the moment that never comes.“
The Conductor held out his hand again.
Martin sighed and shook his head. „You cheated me after all.“
„You cheated yourself, Martin. And now you’re going to ride that Hell-Bound Train.“
He pushed Martin up the steps and into the car ahead. As he entered, the train began to move and the whistle screamed. And Martin stood there in the swaying Pullman, gazing down the aisle at the other passengers. He could see them sitting there, and somehow it didn’t seem strange at all.
Here they were; the drunks and the sinners, the gambling men and the grifters, the big-time spenders, the skirt-chasers, and all the jolly crew. They knew where they were going, of course, but they didn’t seem to give a damn. The blinds were drawn on the windows, yet it was light inside, and they were all living it up — singing and passing the bottle and roaring with laughter, throwing the dice and telling their jokes and bragging their big brags, just the way Daddy used to sing about them in the old song.
„Mighty nice traveling companions,“ Martin said. „Why, I’ve never seen such a pleasant bunch of people. I mean, they seem to be really enjoying themselves!“
The Conductor shrugged. „I’m afraid things won’t be quite so jazzy when we pull into that Depot Way Down Yonder.“
For the third time, he held out his hand. „Now, before you sit down, if you’ll just give me that watch. A bargain’s a bargain—“
Martin smiled. „A bargain’s a bargain,“ he echoed. „I agreed to ride your train if I could stop Time when I found the right moment of happiness. And I think I’m about as happy right here as I’ve ever been.“
Very slowly, Martin took hold of the silver watch-stem.
„No!“ gasped the Conductor. „No!“
But the watch-stem turned.
„Do you realize what you’ve done?“ the Conductor yelled. „Now we’ll never reach the Depot! We’ll just go on riding, all of us — forever!“
Martin grinned. „I know,“ he said. „But the fun is in the trip, not the destination. You taught me that. And I’m looking forward to a wonderful trip. Look, maybe I can even help. If you were to find me another one of those caps, now, and let me keep this watch—“
And that’s the way it finally worked out. Wearing his cap and carrying his battered old silver watch, there’s no happier person in or out of this world — now and forever — than Martin. Martin, the new Brakeman on That Hellhound Train.
Bilder: Dave Wachter für Joe and John Lansdale: That Hell-Bound Train, Comic-Miniserie, Juni 2011,
via RyallTime, 24. März 2011.
Soundtrack: Johnny Cash: Wabash Cannonball, ca. 1882, Aufnahme 1966:
Meine Urgroßmutter und die Wolken
Update zu Der Frühling liebt das Flötenspiel, doch auch auf der Posaune
und Vnd ist auff eim vnfruchtpern vnnd sandigen erdpoden erpawen:
The first time it was fathers,
the last time it was sons,
and inbetween your husbands
marched away with drums and guns.
And you never thought to question,
you just went on with your lives,
‚cause all they taught you who to be was mothers, daughters, wives.Judy Small (Australia), 1982.
Die Geschichte muss ich ungefähr 1994 geschrieben haben, ich erinnere mich an die Kneipe. Trotzdem ist das dermaßen lange her, dass ich es als Zitat setzen muss. Bei meiner eigenen Wiederentdeckung hab ich gestaunt, wie anschaulich ich vor — geschmeichelt — einem halben Leben schreiben konnte.
Meine Urgroßmutter und die Wolken
Marie Wohlrab, 1898–1972.
Meine Urgroßmutter? Jaja, ich hab meine noch gekannt. An viel kann ich mich heute nicht mehr erinnern, aber ich glaub, das war eine ganz brauchbare Frau.
Es gibt eine auffallend kleine Fotografie von ihr mit mir an der Hand, ein altertümliches Hochformat von gerade mal vier auf sechs Zentimeter, unten mit breitem Rand wie bei einem Polaroid, aus einer Zeit, in der eine Polaroid-Anmutung noch ganz ironiefrei angestrebt wurde, nur dass die Farben sich etwas abgedämpft erhalten haben. Darauf grinst sie so aufmüpfig mit sämtlichen Falten, guckt aber noch ziemlich helle. Selbstverständlich hat sie einen pickelhart geflochtenen Haarknoten hinten und so eine lange Kittelschürze an, dunkelgrün oder blau mit großen Blumen, wie sich das gehört für eine Urgroßmutter. Das Foto ist in ihrem Bauerngarten gemacht, wahrscheinlich von meinem Vater, weil immerhin ich noch mit einem Vater aufgewachsen bin. Und wie sie mich so an ihrer Hand hält, sieht sie aus, als ob sie richtig stolz ist auf alles, was da in ihrem Garten wächst und gedeiht.
Zu Hause hieß sie für uns die Alte Oma, im Unterschied zur Jungen Oma, die ihre Tochter war und gleichzeitig die Mutter von meiner Mutter. Klar? Klar.
Alle drei Frauen haben in den zwei Weltkriegen ihre Väter und ihre Männer verloren. Söhne kamen nicht vor. Der Mann von der Jungen Oma, mein Opa also, hat nur gerade noch per Feldpost erfahren, dass er eine Tochter kriegt, und musste sich noch Anfang Mai fünfundvierzig in Frankreich füsilieren lassen. Sein Grab muss unter einem von verwirrend vielen anonymen kleinen weißen Kreuzen auf einem Soldatenfriedhof liegen, in einer gottgesegneten Gegend im Elsass, ich bin mal in den Urlaub durchgefahren, dort sieht man die Kriegsgräber von der Autobahn aus, ohne Aussicht, je ein bestimmtes Grab ausfindig zu machen.
Den Brief hab ich im Nachlass der Jungen Oma gesehen: Er fiel an den Knickstellen in seine Viertel auseinander und war schon dunkelgelb; immer noch voller Wörter wie „im Felde der Ehre gefallen“ und als Schlussformel keine Freundlichen Grüße oder wenigstens Hochachtungsvoll, sondern ungelogen: Heil Hitler. Hakenkreuz und Eichenlaub, demütigend perfide vor lauter Vaterlandstreue. Da hab ich mit meinen Dreizehn Rotz geheult vor Wut. Im Juli nach dem Brief kam meine Mutter zur Welt.
Meine Urgroßmutter hat sich also knapp ihr halbes Leben lang mit ihrer Tochter und ihrer Enkelin durchgeschlagen. Keine von den dreien hat mir je allzuviel aus der Zeit erzählen wollen, als in ihrer Familie die Männer ausstarben. Aber man darf annehmen, dass das alles nicht ganz einfach war. Ich glaube nicht, dass es damals so stinknormal war wie heute, wenn eine Frau ohne Mann in einer fremden Stadt eine Wohnung nahm, und dann noch gleich drei Frauen zusammen. Die Leute werden ganz schön getuschelt haben. Aber ich kannte sie alle drei als unheimlich lebenslustige Weiber, die viel gelacht haben und meistens freundlich waren. Irgendwie haben sie’s geschafft. Von daher war von vornherein ausgemacht, dass ich ein Mädchen werden musste, als meine Mutter Mutter wurde.
Meine Urgroßmutter war, soviel ich weiß, Fließbandarbeiterin in einer Garnspinnerei, die Mädchen haben damals ja nichts Qualifiziertes lernen können. Das hat sie praktisch ein Leben lang gemacht, weil auch die Kriegswitwenrente nicht weit gereicht hat und die Junge Oma nie richtig arbeiten und genug dazuverdienen konnte. Die hatte von jung auf eine mysteriöse Krankheit, die sie von den Beinen aufwärts stückweise aufgefressen hat und die sie nicht einmal beim Vornamen gekannt haben, bis sie gestorben ist. Solange ich sie kannte, ist sie immer kleiner geworden, weil sie ihr alle paar Jahre wieder ein Stück von unten weg amputieren mussten.
Ich wusste es nicht anders und bin erst viel, viel später auf die Idee gekommen, dass meine Junge Oma eigentlich eine Behinderte war. Sie konnte halt einfach nur nicht laufen. Zuerst schwang sie sich auf Krücken durch die kleine Wohnung, in der sie bis lange nach dem Krieg zu dritt gehaust hatten, war viel größer als die Alte Oma und konnte mir noch selber Kekse aus der bunten Dose auf dem Küchenbüffet angeln. Auf der Dose war die Nürnberger Burg drauf und Albrecht Dürer. Später karrte die Junge Oma ganz geschickt mit dem Rollstuhl herum, das hab ich sehr bewundert als Kind. Und noch später saß sie im Altersheim wie ein freundlicher Buddha auf ihrem Bett und klatschte vor Freude in die Hände, wenn wir sie besuchen kamen. Ich wüsste überhaupt nicht, dass sie je traurig oder motzig oder mit ihrem Schicksal unzufrieden war, jedenfalls nicht für lange. Bis heute kann ich es mir im Ernst nicht anders vorstellen, als dass sie sich ihr Lebtag nur in geschlossenen Räumen aufhielt, darunter viele Krankenhäuser, und meistens in Nachthemden.
Meine Urgroßmutter war da anders: Die hatte dauernd was zu tun. Im Garten, im Wald, auf der Wiese, und wenn sie dort fertig war, in der Küche. Sie roch immer nach irgendwas zu essen, auch im Freien. Mich hatte sie oft dabei. Ich glaub, sie hatte mich sehr lieb.
Zu meinen ersten Erinnerungen gehört, wie meine Urgroßmutter mich im Kinderwagen durch die Straßen von unserer verpennten Kleinstadt schob, über die Feldwege, wo es in den Wald ging. Ich konnte schon sitzen und guckte mit riesiger Begeisterung den Autos nach, die unterwegs vorbeibrummten.
„Auto!“ rief ich und zeigte darauf.
„Auto“, bestätigte die Alte Oma und nickte mir von oben aufmunternd zu.
Wenn es nichts zu gucken gab, haute ich meine Urgroßmutter oft mit der flachen Hand auf den Bauch. Nur so aus Spaß, weil er in Reichweite lag und weil es so lustig patschte.
„Macht man das?“ sagte sie dann ungeheuer ernst, auch im Spaß und in ihrem weitgehend verklungenen Dialekt. Die Alte Oma verstand schon, wie’s gemeint war.
Im Wald brachte sie mir bei, wo man Pilze findet und wie man die „schönen“ von den giftigen unterscheidet. Stunden und Tage lang, wirklich von Sonnenauf- bis -untergang, konnten wir im Spätsommer Schwarzbeeren zupfen. Ich wusste praktisch alles über möglichst effizientes Beerenzupfen und die Lebensweise der Beerenwanzen.
Wenn wir wieder zu ihr nach Hause kamen, tat uns beiden das Kreuz rechtschaffen weh, und es gab immer eine große Salatschüssel voll Schwarzbeerkompott, das noch warm von der Altweibersommersonne war und nach Landnürnberger Kiefernwald roch. Wenn man es in Milch zerquetschte, wurde es immer ganz plötzlich dunkellila. Dann schaute mir meine Urgroßmutter wohlwollend zu, wie ich mit dem Suppenlöffel in null Komma nix das ganze Kompott vertilgte, und machte schon mal ihren größten Topf und die Einmachgläser fertig für den Putzeimer voll Schwarzbeeren, den wir den Tag über gesammelt hatten.
Meine Urgroßmutter sang gern. Sie hatte eine Stimme, die ein bisschen wie eine leicht eingerostete Tür knarzte, und sie gab immer alles, damit sie wie ein Sopran klang. Sie kannte immer noch alle Lieder, die sie in der Schule gelernt hatte, Sachen wie Wem Gott will rechte Gunst erweisen und Hohe Tannen weisen die Sterne. Am häufigsten sang sie das vom Rehlein im Walde, aber es kann sein, dass ich mir das nur einbilde. Vielleicht hat sie es auch nur ein einziges Mal gesungen, und es hat sich mir nur mehr aus Versehen am besten eingeprägt. Das war eine richtig schöne, uralte Schnulze, die vor Wald und Jägerromantik nur so getrieft hat, und mit einer unheimlich wehmütigen Melodie; Ganghofer ist ein Unfallprotokoll dagegen. Vor ein paar Jahren hab ich versucht, den Text mal wieder zusammenzubringen, und gemerkt, dass ich ihn komplett verlernt hab. Ich würfle sogar zwei verschiedene Melodien durcheinander.
Oft saßen wir in der Wohnung meiner Urgroßmutter auf zwei Sesseln gegenüber, und sie sang mir was vor. Ich blies, so laut ich konnte, auf einer ungeheuren Seemannsmundharmonika dazu, allerdings ohne jemals irgendeine Melodie zu erwischen. Einen Höllenlärm müssen wir zwei geschlagen haben. So sah meine musikalische Früherziehung aus.
Das Ding vom Rehlein muss ernsthaft das erste Lied sein, das ich auswendig konnte. Als ich nämlich vier war, wie sich nachrechnen lässt, da ist meine Urgroßmutter gestorben.
Sie war zum erstenmal in ihrem Leben in einem Krankenhaus. Sogar die Junge Oma hatte sie in ihrem Schlafzimmer, damals noch in den Sudeten, auf die Welt gebracht. Mit einem Schlaganfall kam sie jetzt „zur Beobachtung“ rein und keine Woche später mit den Beinen voran wieder raus. Ich hab davon nicht viel kapiert. Ich hab’s erst geschnallt, als die Alte Oma mich so lange nicht mehr abholen kam.
Heute habe ich noch zwei Bilder von meiner Urgroßmutter. Das eine ist das kleine Hochformat in ihrem Garten mit mir an der Hand, so ein grobkörniges, offensichtlich gestelltes mit einer stolzen, tapferen Frau irgendwo aus Sudetendeutschland drauf. Ich komme auch darauf vor, falle aber nicht so auf und bin mehr Kulisse oder Requisit.
Auf dem anderen Bild höre ich zuerst nur ihre Stimme. Über mir sehe ich langsam und stetig zwei Streifen Baumwipfel vorbeigleiten, weil meine Urgroßmutter mich im Kinderwagen durch einen Waldweg schiebt.
Zwischen den Baumwipfeln ziehen Wolken am Himmel entlang, aber das wusste ich damals noch nicht, dass das so heißt. Und irgendwo hinter mir fing die Alte Oma an zu singen. Vielleicht sogar das Rehlein im Walde.
In dem Lied, das Oma sang, kam nämlich – und das weiß ich bestimmt – eine Stelle vor, die hieß: „Die Wolken ziehen“. Mit einem besonders hohen, gedehnten Ton auf „zie-hen“. Der Satz ging noch weiter und sprach sicher davon, wohin denn die Wolken in dem Lied jetzt ziehen oder was für eine Stimmung sie dabei irgendwohin tragen, aber ich weiß tatsächlich nur noch die eine Stelle, die sich ganz kurz über die Baumwipfel um uns herum erhob und dann wieder ganz unauffällig in die Melodie schmiegte: „Die Wolken ziehen …“
Ich hatte mich im Kinderwagen aufgesetzt und schaute meiner Urgroßmutter zu, wie sie, wahrscheinlich wie immer in ihrer geblümten Kittelschürze und mit Dutt, hier im Wald dastand und vielleicht das Lied vom Rehlein im Walde sang. Falls darin eine Stelle von ziehenden Wolken vorkommt, war es das ganz sicher.
„Wolken ssiehen?“ fragte ich verdutzt, als meine Urgroßmutter fertiggesungen hatte.
„Ja“, lächelte sie, „Wolken ziehen!“ Und: „Da, schau!“
Und sie deutete in den Himmel zwischen den dürren Kiefernwipfelreihen hinauf, über den in einem Mordstempo ganz viele bunte Wolken zogen. Links orange, in der Mitte weiß, rechts dunkelgrau: Es wurde Abend. Heute noch sehen ziehende Wolken für mich unweigerlich genau so aus, wenn ich mir welche vorstelle.
„Wolken ssiehen“, sagte ich und deutete auch in den Himmel. Wir reckten die Hälse.
Dann fing meine Urgroßmutter noch einmal die Strophe zu singen an, wo die Stelle mit den Wolken vorkommt, weil sie ihr selber so gefiel.
Und dieses Bild von ihr gibt es noch, jedesmal wenn ich den Wolken zuschaue oder auch nur an die Wortwendung denken muss: wie die alte Dame, meine Urgroßmutter, im Wald neben meinem Kinderwagen steht und uns beiden vorsingt, wie die Wolken ziehen.
Wenn sie mich jetzt von ihrer eigenen Wolke herunter hier sitzen und niedrigpreisiges Bier schlucken sieht, wird sie weise verschmitzt dazu nicken und einem Engel, der ihr Kumpel geworden ist, davon erzählen, dass aus Kindern Leute werden. – Und ich? Hab so lange in Wolken geguckt und obskure Lieder gesungen, dass ich’s zu keiner Tochter gebracht hab.
Seit das Internet kein Science-fiction mehr ist, weiß man, dass in dem handlungsrelevanten Lied kein Wort von Wolken vorkommt, geschweige denn von ziehenden. Soviel zu meiner Erinnerung.
Bilder: R. Richard E. Carlson, Dept. of Agronomy, Iowa State University:
Cool Clouds for „Kids“ of all Ages, ca. 1997:
- Guess #22: Time for you to Guess!!;
- Guess #27: A short-legged, short-tailed, weiner dog in a hurry ???;
- A Time of Hope for the Future: It is said that every cloud has a silver lining, but this one is really bright and vivid. I love it! It gives me encouragement to do well.
Bonus Track: The McCalmans: Mothers. Daughters, Wives, aus: Peace & Plenty, 1986:
The boys and girls are one tonight (I marry the bed)
Update zu I am, I am, I am (your barefoot wench for a whole week):
Das Sexualverhalten von Frauen wird nie aufhören, mich zu faszinieren. Damit meine ich nicht ausdrücklich oder gar ausschließlich ihr Paarungsverhalten, das schon lange aufgehört hat, mich etwas anzugehen. Wie bitteschön können aber gerade die unbeobachteten Momente, in denen eine Lebensform, die sich weitgehend der Forschung und vor allem dem Verständnis entzieht, ihren hexenhaften Weiberkünsten nachgeht, einen fühlenden Menschen jemals kalt lassen?
Anne Sexton hat im Alter von 39 Jahren (und sieben Jahre vor ihrem Selbstmord) in ihren Love Poems 1967 eine Offenheit an den Tag — noch öfter wahrscheinlich: an die Nacht — gelegt, die erst drei Jahrzehnte später im Internet fällig war. Wer bis dahin aus seinen Erfahrungen schließen musste, dass Frauen gegen sexuelle Erregung ebenso immun sind wie gegen jene Form der Verliebtheit, deren Symptome sich eher ums Zwerchfell herum äußern, musste bei Anne Sexton lernen, dass die wahnsinnige Zeitspanne von 18 Tagen ohne ihren — angetrauten — Liebhaber Grund genug für ein Gedicht auf dem Weg zum Klassiker ist: Eighteen Days Without You.
Egal was man über Frauen im allgemeinen und die freiwillig verstorbene Anne Sexton im besonderen mutmaßen will, ist es kein Wunder, dass ihre Fans — jedenfalls solche, die sich als Fans bemerkbar machen — in der Überzahl weiblich sind. Dennoch beobachtet der bekennende Gedichtefreund Jamie H. sehr fein einen untergeordneten Gedichtzyklus innerhalb der Sammlung ihrer Love Poems: Poem(s) o’the Day: Anne Sexton, „For My Lover, Returning to His Wife,“ „The Ballad of the Lonely Masturbator“, Moments of Being, 10. Februar 2010:
„Barefoot“ (immediately after „Ballad“) begins anew and leads on the next affair until the final, powerful poem „Eighteen Days Without You“ remarks again upon grief after the souring of love.
Achtzehn Tage. Das sind keine drei Wochen. In der Zeit haben andere Leute noch gar nicht angefangen zu überlegen, ob vielleicht irgendwas fehlen könnte. Achtzehn Tage. Und das mit gesetzten 39, Frau Sexton. Lachhaft. Achtzehn Tage. Anfängerin.
——— Anne Sexton:
The Ballad of the Lonely Masturbator
from: Love Poems, 1967:
The end of the affair is always death.
She’s my workshop. Slippery eye,
out of the tribe of myself my breath
finds you gone. I horrify
those who stand by. I am fed.
At night, alone, I marry the bed.Finger to finger, now she’s mine.
She’s not too far. She’s my encounter.
I beat her like a bell. I recline
in the bower where you used to mount her.
You borrowed me on the flowered spread.
At night, alone, I marry the bed.Take for instance this night, my love,
that every single couple puts together
with a joint overturning, beneath, above,
the abundant two on sponge and feather,
kneeling and pushing, head to head.
At night alone, I marry the bed.I break out of my body this way,
an annoying miracle. Could I
put the dream market on display?
I am spread out. I crucify.
My little plum is what you said.
At night, alone, I marry the bed.Then my black-eyed rival came.
The lady of water, rising on the breach,
a piano at her fingertips, shame
on her lips and a flute’s speech.
And I was the knock-kneed broom instead.
At night, alone, I marry the bed.She took you the way a woman takes
a bargain dress off the rack
and I broke the way a stone breaks.
I give back your books and fishing tack.
Today’s paper says that you are wed.
At night, alone, I marry the bed.The boys and girls are one tonight.
They unbutton blouses. They unzip flies.
They take off shoes. They turn off the light.
The glimmering creatures are full of lies.
They are eating each other. They are overfed.
At night, alone, I marry the bed.
Bilder: Ellis Marell, Berlin, für Vogue, 2016, via Polki;
Anne Sexton at her home in Massachusetts via Alissa Fleck: The Protagonist: Was Sexton’s Suicide Preventable? A talk on poet Anne Sexton’s therapy tapes, Straus Media. Your Neighbourhood News Source, Manhattan, New York, 6. Juni 2013.
Soundtrack: Paradoxerweise ein Duett: Philippe Gaubert: Nocturne et allegro scherzando, 1906,
„a piano at her fingertips […] and a flute’s speech“: Karolin & Friederike Stegmann als Zwillingsduo, 2013:
Bonus Track: Cyndi „She Bop“ Lauper: True Colors, aus: True Colors, 1986
(„Es war das einzige Lied des gleichnamigen Albums, das nicht von Lauper zumindest mitverfasst wurde.“
Schade, das war eigentlich ganz ordentlich):
Krabbelröschen
Update zu Dein pöschelochter roter mund
Spitz wie Wetzlarer Karotte
und Die Litaneien des Körpers:
Die Liebe war jung.
Und sie war eine Fernbeziehung. Als erstes ist mir beim Herumstrolchen in der neuen, fremden Stadt der Karton mit vergilbten Taschenbüchern aufgefallen: auf dem Fensterbrett eines Antiquitätenladens in der Ludwigstraße, unweit des Geburtshauses von Sissi, mit dem Schild: „Jedes Buch 1 DM“.
Als zweites ist mir in dem Karton Dein Leib ist mein Gedicht mit dem nicht unraffinierten Cover aufgefallen, als drittes in dem Buch das lockere Layout der fünf Seiten O Rösi du Nuß von Kurt Marti. Allein dafür hätte man die 1 DM bezahlt.
Als viertes — dann schon zu Hause mit meinem ersten in der neuen, fremden Stadt erstandenen Buch — ist mir aufgefallen, dass Kurt Marti für einen Schweizer Geistlichen des Jahrgangs 1921 eine ganz schön offenherzige Sexualität pflegt, und das so halböffentlich in obskuren Erotik-Anthologien; als fünftes: und zwar sehr wahrscheinlich mit der namentlich, nur leider nicht bildlich bekannten Johanna „Hanni“ Marti-Morgenthaler, die er 1950 geheiratet hatte und die auch 1970 noch, als er 49 war, als unmittelbares Vorbild für seine lyrische „Rösi“ gelten darf. Hochwürden Martis „Zyklus zärtlicher Albernheiten“ über das Zusammensein mit seiner bewunderten Gespielin erzählt in — sinnigerweise — wechselnden Rhythmen von unverbrauchter Liebe, ja richtiggehend frischer Verliebtheit, und sehr explizit, aber ohne pornographisch zu werden, von fröhlichem Sex. In seinem beneidenswerten Übermut hat es das Zeug zu einem Lieblingsgedicht, für das man sich — keine Selbstverständlichkeit bei erotischen Themen — nicht des Schundes schämen muss. Hanni starb 2007.
Als sechstes: Kurt Marti ist 2017 gestorben, als ich 49 war. Die Liebe, wie man aus Martis Spätwerk weiß, war jung.
Als siebtes, was ich nicht gerne sage, hab ich über Dein Leib ist mein Gedicht den ehemals gleichfalls Schweizer, nämlich Züricher Haffmans Verlag bei einem Konzeptklau erwischt — aber 7a) nicht sicher und 7b) wenn doch, dann 7c) bei einem lässlichen und 7d) bei einem von sich selbst, denn wer wäre ich 7e) denn, dem verdienstreichen Haffmans Verlag, Gott hab ihn selig, Sachen zu unterstellen. Sachen wie:
Dein Leib ist mein Gedicht wurde 1970 von Heinz Ludwig Arnold herausgegeben. Als Motto für seine Deutsche erotische Lyrik aus fünf Jahrhunderten benutzt er eine Stelle von Günter Grass: den Schlussvers von März aus: Ausgefragt, Luchterhand 1967:
Ich hab genug. Komm. Zieh dich aus.
Komm. Zieh dich aus. heißt wiederum das Handbuch der lyrischen Hocherotik deutscher Zunge, mehrere Zeitenwenden später, nämlich 1991 bei Haffmans herausgegeben von — Überraschung — Heinz Ludwig Arnold. 1986 war vom selben Verlag schon Die klassische Sau. Das Handbuch der literarischen Hocherotik mit gleicher Thematik und in ähnlicher Aufmachung veranstaltet worden, nur eben mit säuischen Stellen in Prosa und herausgegeben von Hermann Kinder — die etliche Nachfolgerinnen hat, die direkten herausgegeben von „Eva Zutzel“ und „Adam Zausel“, die indirekten gerne ganz unabhängig von der Muttersau in anderen Verlagen. Aktuell von 2016 ist Die literarische Sau. Ein Aufkärungsbuch der Hocherotik beim Nachfolgeverlag Haffmans & Tolkemitt, herausgegeben von „Viktor & Viktoria“, und überhaupt hat sich das Konzept seit 1986 als recht tragfähig erwiesen. Meine persönlich empfohlenes Derivat ist das bibliophil gehaltene Liederlich! Die lüsterne Lyrik der Deutschen, bei Eichborn Berlin 2008 herausgegeben von Steffen Jacobs.
Inzwischen sind die klassische Sau und ihre Ferkel in die Erbmassen gealterter Bibliothekenbesitzer übergegangen und müssen von den Kindern, die unter ihrer Inspiration entstanden sind, an die Antiquariate des deutschen Sprachraums verscherbelt werden. Dort tauchen derzeit überraschend viele Exemplare auf. Nachdem die Bibliothekenbesitzer nie mit der erfreulichen Vollständigkeit ihrer klassischen Sau, neuen klassischen Sau und allerneuesten klassischen Sau plus Komm. Zieh dich aus hausieren gegangen sind, sie vielmehr in der zweiten Regalreihe verborgen haben, erhellt erst jetzt, was das für ein Verkaufserfolg für den alten Haffmans Verlag gewesen sein muss.
Ich war 1986 ff. nicht so verklemmt und hab mir von einer sehr lieben Freundin dankbar das Original zum Geschenk machen lassen, das von ihr ganz bestimmt nicht anzüglich gemeint war. Das Staunen darüber, dass ein Original ein übergeordnetes Original mit einem so schönen Namen wie Dein Leib ist mein Gedicht haben kann, hat sich selbst erst für heute aufgehoben, wo man aus dem Alter schon wieder raus ist.
Als achtes ist mir aufgefallen, dass sich auf „Krabbelröschen“ etwas Sinnvolles reimt. — Ab hier bis runter zu den Soundtracks: NSFW.
——— Kurt Marti:
O Rösi du Nuß
Zyklus zärtlicher Albernheiten
Erstveröffentlichung: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Dein Leib ist mein Gedicht. Deutsche erotische Lyrik aus fünf Jahrhunderten, Ullstein 1970, Seite 161–163:
1
rösi
du
nuß
du
fee
du
feenuß
seit
je2
o
rösi
du
eros
ion
meiner
ruh
du3
rösi
wie
bohrst du
uns doch
in den zahn
dieser zeit
manch zeitloses
loch4
blühst
im zehrosenteich
palamür
rösi
als schönste
zehrose
mir5
rösi
du rilke-fan
rilkest doch viel zu schön
um immerzu brav
und allein
niemandes schlaf
unter so viel lidern
zu sein6
mir wässert
o rösi
der mund
nach deinen
rund
hundert
rosigen
pfund7
rösi
o spass
du wendig
und schnappenden munds
bis dass
wir vierhändig
spielen
mit uns8
o rösi
wie rund
dein körper
mir aalt
damit
mein mund
ihn zärtlich
bemalt9
AUU
ich bin
doch kein
schnitzel
rösi
zügle
die zähne
ein bitzel10
welch ein gebimmel
o rösi
wenn du
dich selbst
lustig
als himmel
über mich
wölbst11
küsse
die küssen begegnend
in deinem gesicht sich verloren
o rösi
wie schlägst du
die schenkel mir segnend
und weich um die ohren12
im
ekstasen
fieber
wie süss
die rösigen
nasen
stüber
des knies13
überstrahlst
die gewohnte
prosa
der triebe
o rösi
du monte
rosa
der liebe14
hätte
nur jeder
ein krabbelröschen
wie dich
mit lustigem
zappelmöschen
bei sich —
ich glaube die leute
wären besser als heute15
wer
o rösi
beschriebe
die wohllust
des wolllauts
der liebe?16
ganz
von dir
durchdut
rösi
ruht
sich
gut17
ach
wie weisst du
zärtlich durchtrieben
mit binnenmuskeln
den muskel der liebe
für und für
zu lieben
in dir18
mit deinem
körper fühlen
zu können
rösi
ach wunderbare
das wäre
erst die wahre
liebe zu nennen19
o rösi
wie hat mir
liebe sublim
ihr sehr schönes bein
gestellt —
die härchen an ihm
sind fein
die feinsten
der welt20
komm
wir zwei
wir gründen
eine partei
deren parole
programmt:
WERDET MITEINANDER
ZÄRTLICH
WIE SAMT21
stolzer
als ein monarch
wache ich
rösi
über dein
sanftes
geschnarch22
leuchtender noch
trat der vollmond
herfür
rösi
ach träumte ich doch
deine träume
mit dir23
so traut da
umbeint
wenn atem
und schlaf
uns hautnah
vereint24
morgenstund
hat
blond
im mund25
o rösi
wie zappelst
du bäuchlings
und streckst
mir den po
damit
ich dich so26
ein tag
mit liebesakt
begonnen
ist
rösi
schon so gut
wie ganz gewonnen
Bilder:
- Garden of Venus: O., 30. Mai 2014;
- A Wolfe’s Love: The screaming orgasm is the ultimate reassurance,
Wolfe Sole Productions, 11. November 2015; - Let Me Do This to You;
- Luci Marti: Algazara, 26. Mai 2015.
Soundtrack: The Kinks: Strangers, aus: Lola Versus Powerman and the Moneygoround, Part One, 1970,
mit Bildern aus Wes Anderson: The Royal Tenenbaums, 2001:
Strangers on this road we are on:
We are not two, we are one.
Bonus Track: dasselbe nochmal als anrührend verliebtes, häusliches Live-Cover
von Christina Bowers und Henry Toland, 6. Dezember 2015. Man beachte den Hund:
Am selben Tag, da ich erfuhr, man habe mich entmündigt
Update zu den beiden Mädchen auf dem Felde:
Erstens feiern wir am 7. August 2017 den 134. Geburtstag von Joachim Ringelnatz. Das ist am Montag, der sich zum Feiern etwas ungünstig ausnimmt, daher schon heute.
Zweitens sammle ich, wie wiederholt ausgerufen, Gedichte mit siebenzeiligen Strophen. Wenn jemandem in der Richtung was Schönes auffällt: Die Kommentarfunktion ist offen.
Die Idee kam mir drittens dermaleinst angesichts von Das Mädchen mit dem Muttermal, Ringelnatz 1928. Das ist für Ringelnatzische Verhältnisse schon verstörend streng komponiert — am Reimschema erkennbar in Lutherstophe — und herzanrührend schön. Außerdem das einzige Gedicht, das ich mal auf einer besoffenen Geburtstagsfeier (weder Ringelnatz‘ noch meiner eigenen) auswendig hersagen konnte, ohne mich zu blamieren oder Dritte zu langweilen, ich sollte ihm also dankbar sein.
Viertens war es Zeit, das Gedicht angemessen zu illustrieren. Bis 2013 hat es gedauert, dass die seinerzeit noch studierende Hamburger Illustratorin Katarina Kühl mit der Arbeitskraft eines ganzen Semesters eine Broschüre mit zwei Gedichten von Joachim Ringelnatz: Ein Liebesbrief & Das Mädchen mit dem Muttermal durchgestaltete. Das betreffende Mädchen hab ich mir sogar immer in diesem schwarzhaarlackierten Garçonne-Stil vorgestellt.
——— Joachim Ringelnatz:
Das Mädchen mit dem Muttermal
Chanson
aus: Allerdings, Ernst Rowohlt Verlag, Berlin 1928:
Woher sie kam, wohin sie ging,
Das hab‘ ich nie erfahren.
Sie war ein namenloses Ding
Von etwa achtzehn Jahren.
Sie küßte selten ungestüm.
Dann duftete es wie Parfüm
Aus ihren keuschen Haaren.Wir spielten nur, wir scherzten nur;
Wir haben nie gesündigt.
Sie leistete mir jeden Schwur
Und floh dann ungekündigt,
Entfloh mit meiner goldnen Uhr
Am selben Tag, da ich erfuhr,
Man habe mich entmündigt.Verschwunden war mein Siegelring
Beim Spielen oder Scherzen.
Sie war ein zarter Schmetterling.
Ich werde nie verschmerzen,
Wie vieles Goldene sie stahl,
Das Mädchen mit dem Muttermal
Zwei Handbreit unterm Herzen.
Den Liebesbrief von Katarina Kühl 2013 kriegen wir fünftens später, wie das sechstens so ist mit Liebesbriefen.
Siebtens endlich: Alles Gute, Ringel.
Bilder: Katarina Kühl: Ein Liebesbrief & Das Mädchen mit dem Muttermal, 25. September 2013.
Eine sehr würdevolle Vertonung, die Ringelnatz einschließlich seiner hinterkünftig verhuschten Pointe verstanden hat (nur leider nicht die sehr wohl sangbare Lutherstrophe), stammt ebenfalls 2013 von Notenix, nachdem seit 1928 der Untertitel notorisch vernachlässigt wurde: Chanson:
Chanson bonus: Carla Bruni: Quelqu’un m’a dit, aus: Quelqu’un m’a dit, 2002:
Mais qui est-ce qui m’a dit que toujours tu m’aimais?
Je ne me souviens plus, c’était tard dans la nuit.
J’entends encore la voix, mais je ne vois plus les traits:
„Il vous aime, c’est secret. Lui dites pas que je vous l’ai dit.“
Nachtstück 0009: Dieselben Finger
Update zu Japanischer Frühling (Hammer):
Nach keiner Idee von Kathrin Bach von Anakoluth:
——— 谷川俊太郎: ポルノ・バッハ1996:
|
——— Shuntaro Tanikawa: Porno-Bachnach Bach in Arts — Hommage a Bach, 1996:
|
Bild:David Ramirer: Collage #107, 2004;
Wohltemperiertes Clavier, Buch 1: HJ Lim, 22. September 2014:
Verreißi zerreißi
Update zu Seht, Ehrenbreitstein mit gesprengter Mauer
und Hipsteros:
Ringelnatz war mein erster Herzensdichter als Welpe. Alles, was man von dem hörte, war so eingängig und genial vielsagend, dass man darauf kommen musste: Wow, von dem will ich alles wissen. Die Gesamtausgabe war die erste, die ich mir vom Taschengeld absparte und zu Weihnachten und Geburtstagen zusammenwünschte; sieben Bände plus einer mit Briefen, jeder zwischen 55 und 75 D-Mark (28,12 und 38,35 Euro) war doch irgendwie Geld für einen 14-Jährigen. Heute gibt es nicht einmal mehr den Originalverlag Henssel, die Ausgabe ist seit dessen Konkurs bei Diogenes und schon seit Jahren auf dem Ramsch angekommen.
Fast das ganze Jahr 1932 tingelte Ringelnatz samt einer siebenköpfigen Schauspielertruppe mit seinem siebten, aber einzigen erhaltenen und noch posthum inszenierten Theaterstück Die Flasche. Eine Seemannsballade durch Deutschland. Das Tourneematerial, bestehend aus Tagebuch und Briefen an seine Frau, erschien ebenfalls schon 1932 als Mit der „Flasche“ auf Reisen im Sammelband Die Flasche und mit ihr auf Reisen.
Das Hotel Riesen-Fürstenhof an den Koblenzer Rheinanlagen wurde im Zweiten Weltkrieg zerbombt. Joachim Ringelnatz, den ein mittelgnädiges Schicksal schon 1934 ins Grab senkte, hat noch darin übernachtet. Und sich gelegentlich aufgeführt wie … nun ja: wie ein Hotelgast.
——— Joachim Ringelnatz:
Koblenz und Abstecher
aus: Die Flasche und mit ihr auf Reisen, Rowohlt, Berlin 1932:
Riesenfürsten entdeckte ich nicht in meinem Hotel, aber einmal saß, nach Aussage des Besitzers, Reichskanzler Brüning dort in meiner Nähe.
Eine Dame, die sich auf ihrer Visitenkarte „wissenschaftliche Astrologin und Schauspielerin“ nannte, schickte mir einen Band ihrer ersten lyrischen Gedichte. Ich überflog diese ernste Poesie und muß gestehen, daß ich dann den Band in der Mitte einriß und ihn unter den Schminktisch warf. Sitty zog ihn wieder hervor. Er fand, daß die Gedichte sehr unterhaltend wären, zumal, wenn man das eingerissene Heft wie ein Vexierbuch handhabte und die eine halbe Seite des einen Gedichtes über die entsprechende Hälfte des nächsten deckte. So gelesen ergab sich in diesem „Blühen und Verwelken“ betitelten Buch z. B. folgendes Poem:
Mein Junge
Ich döste in leeren Straßen
Und du begegnetest mir.
Fasziniert über alle Maßen,
Lockte ich dich wie ein Tier.
Du bist ein Junge wie andre auch
Mit blonden Locken und trotziger Stirne;
Nur hast du schon ein klein wenig Bauch
Und – es ist möglich – eine weiche Birne.
Blüten bring ich dir von rotem Mohn.
Rot wie Mohn soll deine Neigung brennen.
Alles Gefühl wird Dein Atem mir nennen.
Du: – von plötzlicher Glut beglückt:
Ein japanischer Dolch auf deinen Leib gezückt,
Mach ich mit diri Harakiri.
O verführi, verführi, verführi!
Herausfinden lässt sich: Die Dame, Astrologin und Schauspielerin hieß Ingrid Svanström; ihr Lyrikband Blühen und Verwelken war bei Bachmair in München-Pasing 1931 erschienen und umfasste 30 Seiten, mithin sollte er sich mühelos zerreißen lassen. Wiedergegeben und geradezu exklusiv für die Nachwelt gerettet hat Ringelnatz den Anfang des Gedichts Mein Junge auf Seite 7 und — oben ab Vers 9 — den Schluss des Gedichtes Spiel auf Seite 9. Herausgeber Walter Pape meint dazu in der großen Ringelnatz-Gesamtausgabe, Band 5: Vermischte Schriften, 1983, in seinen Anmerkungen:
Es ist unklar, ob die Verse von Ingrid Svanström ernst gemeint oder parodistisch sind.
Mit Verlaub, das ist nicht unklar. Beim schallend lächerlichen letzten Vers mag ein Interpret noch unterstellen, dass mit der Dichterin da eine poetische oder sonstige Leidenschaft durchgegangen sei, aber so offensichtliche Fehlbildungen wie „mit diri Harakiri“ unterlaufen niemandem, der gut genug Deutsch kann, dass etwas ihn zum Verfertigen von Gedichten nötigt, die immerhin saubere Reime und Rhythmus aufweisen, aus Versehen. Wir reden hier nicht über den Schlesischen Schwan Friederike Kempner, deren Gesamtwerk schon bedeutend mehrdeutiger schillert. Und inhaltlich wollen wir nicht unterschätzen, was für eine gesellschaftliche und kulturelle Neuheit das war, dass eine Frau sich bekennend begehrlich und offensiv verführerisch an eine Mannsperson wendet.
Mich hätte interessiert, worauf sich „Blüten bring ich dir von rotem Mohn“ auf der Seite 9 reimt, wenn man sie nicht gerade als Vexierbild nutzt. Und einen anvertrauten Gedichtband durch Zerreißen verreißen, das gehört sich schon mal überhaupt nicht.
Bilder: Kunstanstalt Kornsand & Co., Frankfurt am Main: Ansichtskarte/Postkarte ungelaufen, sehr guter Zustand, bei akpool 7,20 Euro:
Hotel Riesen-Fürstenhof, Koblenz a. Rhein. H. Kämpfer-Hansen. — Telephon 57, 58, 162. Telegramm-Adresse: Riesen-Koblenz. Große Garage. Neue Marmorhalle. Tägl. Konzert. Große Rheinterrassen.
Bilderbuch Koblenz: Hotel Riesen-Fürstenhof, 1920, Hotels am Rheinufer:
von rechts: Hotel Riesen-Fürstenhof, Hotel Traube, Hotel Koblenzer Hof mit dem charakteristischen Dreieckgiebel. Die Türme am Ende der Häuserreihe gehören zum ehemaligen Amtssitz der preußischen Bezirksregierung.
Soundtrack: Nicki Minaj: Anaconda, aus: The Pinkprint, 2014 in der grundrenovierten, revolutionär neu-alt interpretierten Version der warm empfohlenen Scott Bradlee’s Postmodern Jukebox,
aus: Selfies on Kodachrome, 2014; Gesang: die bezaubernde Robyn Adele Anderson:
I’m high as hell, I only took a half a pill,
I’m on some dumb shit, by the way, what he say?
He can tell I ain’t missing no meals,
Come through and fuck him in my automobile.
Bierchen aus alter Zeit
Update zu B:
——— Bertolt Brecht:
Liedchen aus alter Zeit
(nicht mehr zu singen!)
1950, in: Kinderlieder, 1956:
Eins. Zwei. Drei. Vier.
Vater braucht ein Bier.
Vier. Drei. Zwei. Eins.
Mutter braucht keins.
BierBildBestand: Bertolt Brecht: BettelBrief an Radeberger, 5. April 1956,
via Sieben Briefe von Bertolt Brecht aus den fünfziger Jahren, Die Zeit, 29. Januar 1998:
Berlin, den 5. April 1956
An den
VEB Radeberg
Exportbierbrauerei
RADEBERGSehr geehrte Herren,
Ich bin Bayer und gewohnt, zum Essen Bier zu trinken. Nun ist das Bier in der Deutschen Demokratischen Republik im Augenblick wirklich nicht mehr gut ausser Ihrem RADEBERGER PILSNER (EXPORT). Können Sie mir vielleicht ausnahmsweise, eine Zeit lang im Monat zwei Kästen über VLK Getränke, Abteilung Import und Spezialbiere, Berlin N 4, Brunnenstr. 188, liefern.
Mit bestem Dank
(Bertolt Brecht)
Bertolt Brecht und Oskar Maria Graf beim Stammtisch in New York 1943,
via Oskar Maria Graf Gesellschaft e. V.: Lebensdaten.
Soundtrack: Kris Kristofferson: To Beat the Devil, aus: Kristofferson, 1970:
I ain’t saying I beat the devil,
But I drank his beer for nothing,
Then I stole his song.
Dunkeldeutschland
Update zu Polizistenschatten im Laternenschein,
Von den beiden Mädchen auf dem Felde
und Der Arzt von Münster in Salzkotten:
Mein Vater, ohne schlecht über ihn zu reden, hat kein Abitur. Mein Vater ist stolz darauf, wie er es nennt, mit „bloß Volksschul'“ ausgekommen zu sein und noch nie im Leben „so ein Kombuderdings“ angefasst zu haben. Wenn jemand englisch redet oder gar singt oder sonst auf eine Weise insinuiert, mein Vater könnte eine andere Sprache als sein abgelegtes Leipziger Sächsisch und in der Folge nicht ganz lückenlos angenommenes Landnürnberger Fränkisch verstehen, wird er ernstlich unwillig. Ganz schlimm sind Fremdwörter, weil man alles „aa-r-af Deidsch soong“ kann.
Mit dieser Einstellung konnte man tatsächlich einst ein Arbeits- und ein Pensionistenleben bestreiten, es war eine schöne Zeit. Mein Vater hat es in der mittleren Beamtenlaufbahn meines Wissens bis zu A 9 gebracht, dabei war er noch einer im Publikumsverkehr: erst Fahrtdienstleitung, danach telephonische Zugauskunft. Andere haben das durch bloßes Ausharren mit regelmäßiger Anwesenheit in einer unkündbaren Beamtenposition geschafft, aber das will weder er noch die anderen hören. Damit konnte man eine Familie — Frau, mehrere Kinder, Automobil, Eigenheim — ernähren und musste dabei keinen Tag „seine Frau auf den Strich schicken“ (Vater über doppelverdienende Ehepaare). Mein Vater hatte nie ein Automobil oder ein Eigenheim, er müsste also heute über ein angenehmes „Pölsterchen“ (abermals Vater) verfügen.
Nur kein Neid, liebe Kinder, ich bin selber nicht besser: War mein Vater noch ein Weißer Jahrgang, der weder von der Wehrmacht zu einem Weltkrieg noch von der Bundeswehr zum Schlammrobben herangezogen wurde, bin ich 15 Monate meiner Wehrpflicht als Urlaubssachbearbeiter bei den Kötztinger Fernmeldern nachgekommen, nur um die sonst fälligen 18 Monate Zivildienst zu vermeiden. Wenn heute meine Frau gegen Geld arbeiten muss, hat das weder mit dem Strich noch mit ihrer Selbstverwirklichung zu tun, sondern mit bitterer Not, weil ich weder mit Volksschule noch Abitur noch einem Studium Frau, Kinder, Automobile und Eigenheime erschwingen kann.
Was ich von der Lebensart meines Vaters behalten habe, waren bis zum unwiderruflichen Ende meiner Ausbildung die Freifahrscheine fürs Schienennetz der Deutschen Bahn. Damit konnte ich zwischen meinem Abitur und der bitteren Not, gegen Geld zu arbeiten, eine Zeitlang reisen wie Joachim Ringelnatz:
Aussteigen plötzlich, besonders noch spät,
Das kann ich jedem empfehlen.
Ein paarmal hab ich das gemacht. Ich erinnere mich an Bahnhöfe wie aus einer Kurzgeschichte von Heinrich Böll, Kneipenwirte, die eigens wegen des unerwarteten Gastes von hinter den sieben Bergen bis in die frühen Morgenstunden den Laden geöffnet hielten und ihr Geschäft des Jahres machten, plötzlich aufblühende Omas, die ihr Fremdenzimmer mit Frühstück eigentlich „neulich“ vor zehn Jahren aufgegeben hatten, und dass es in Norddeutschland mehr Spaß macht als im Süden. In Stade könnte ich zum Beispiel ein einwandfreies hausgemachtes Labskaus empfehlen, wenn ich noch wüsste, wo mich die Bedienung damit gemästet hat.
Reichenbach im Vogtland war, wie von Ringelnatz ausdrücklich geraten, nicht dabei: Das war zuerst DDR, für die man gesonderte Freifahrscheine Monate vor Fahrtantritt beantragen musste, und später immer noch ein Minenfeld, auf dem rudelweise väterlicherseitige Verwandtschaft hauste, da wollte ich trotz Ringelnatznähe schon gleich dreimal nicht hin. Normalerweise ging ich als unfertig studierter Linguist nach Schönheit der Stationsnamen, was leicht schiefgehen konnte. Nach einer durchfluchten Herbstnacht in Grüner Hirsch hab ich mir’s abgewöhnt.
Bahnhof Reichenbach (Vogtl) ob Bf liegt als Trennungsbahnhof zu zwei inzwischen stillgelegten Nebenbahnen linear an der Bahnstrecke Leipzig–Hof, ein Knotenpunkt ist es nicht. Von 1895 bis 1974 bestand zusätzlich ein Bahnhof Reichenbach (Vogtl) unt Bf an der Bahnstrecke Reichenbach–Göltzschtalbrücke, die allerdings eine Nebenbahn ist, an keinen Fernverkehr angebunden und für derlei Abenteuer in der Fremde ungeeignet. Setzen wir also voraus, dass Ringelnatz 1925 oder nicht lange zuvor nicht an diesem idyllischen Unteren, sondern am Oberen Bahnhof ausgestiegen ist.
Auch kann auf Ringelnatz Reichenbach im Vogtland nicht allzu exotisch gewirkt haben, jedenfalls lag es auch 1925 schon in seinem heimatlichen Sachsen. Da zählte der Mann 42 Jahre und blickte auf eine sehr viel bewegtere Biographie im Krieg, zur See, als Hausdichter und als Tabakladenbesitzer zurück denn ich Studentenbürschchen, das ich zu meinen Reisezeiten war. Wo er eingekehrt ist, überliefert Ringelnatz nicht, außerdem weiß ich aus Erfahrung, dass dergleichen spontane Nachtausflüge nie sehr detailliert im Gedächtnis haften, und bezweifle, dass in der fraglichen Gaststätte, sollte sie noch existieren, Ringelnatzens gedacht wird. Eindeutig festnageln lässt sich sein nächtliches Stammlokal für Honoratioren wohl nie mehr.
Halbwegs in Bahnhofsnähe und Richtung Stadtzentrum, wohin sich ein ortsfremder, absichtsvoll planloser Stadttourist begeben würde, bestehen heute laut dem Örtlichen Branchenbuch: das Hotel Adler Vogtland in der Bahnhofstraße 101, das Killarny-Pub in der Bahnhofstraße 108 A und das Restaurant mit Pension und Biergarten Kyffhäuser in der Albertistraße 30, alle in 08468 Reichenbach/Vogtland.
Das Gedicht ist keiner von Ringelnatz‘ Smash-Hits und erscheint nicht viel in Anthologien, enthält aber als ersten und letzten Satz gleich zwei meiner Lieblingsstellen: Das Lied, das sich selber singt, ist eine angenehm surreale Vorstellung, die man gar nicht bildlich hinkriegt, und der weitgereiste Anklang an seine Seemannszeit um des lieben Reimes willen, wie es einem an solchen Nicht-Zielen idealerweise unterlaufen sollte, so schön angesäuselt.
——— Joachim Ringelnatz:
Reisebrief eines Artisten
Abstecher: Reichenbach im Vogtlande
Version der Erstveröffentlichung in: Simplicissimus, Jahrgang 30, Heft 33, 16. November 1925, Seite 474,
gesammelt in: Reisebriefe eines Artisten, 1927, Seite 122 f.:
Es sang sich ein Lied in der Nacht.
Da wurden zwei Bürger in Reichenbach
Im Vogtlande wach.Was wollte ich sonst in dieser Stadt
Als nur meine Fahrt unterbrechen;
Frug: ob sich hier ein Wirtshaus hat,
Wo Leute um die Zeit noch zechen.Am Himmel standen Zeichen.
Warum – so hatte ich mir gedacht –
Soll Reichenbach in dieser Nacht
Nicht Guatemala gleichen?Was geht mich Guatemala an,
Wenn ich daselbst nicht bin. –
Stieg aus. Bereute das. Doch ach:
Da flog mein Zug schon weiter hin.
Und ich stand nachts in Reichenbach.Vielleicht erlebe ich Rübezahl,
Den Ollen!?
Doch sicher bin ich heute einmal
Für jedermann verschollen.Aussteigen plötzlich, besonders noch spät,
Das kann ich jedem empfehlen.
Er braucht ja, wie sein Leben vergeht,
Gerade nicht Reichenbach wählen. –Es klang ein Gesang wie Männerverein
Und brachte Dachrinnen zum Schmelzen
Und roch so nach Wein. Da trat ich hinein
Und kam mir dort vor wie Lord Nelson.Im Seichtlärm eines Stammlokals
Der Honoratioren
Im Stile anno dazumals
Beneugiert und verloren – – –Gott segne die Azoren!
Bilder: Ansichten von Reichenbach im Vogtland:
- Verlag Automat AG, Dresden: Blick über Reichenbach im Vogtland und die Firma Georg Schleber AG im Vordergrund, historische Ansichtskarte, postalisch gelaufen am 19. Juli 1899;
- Ottmar Zieher Kunstanstalt, München: Ansichtskarte / Postkarte Reichenbach im Vogtland: Postamt, Albert Denkmal, Stadtpark, Moltke Denkmal, Bahnhof, ungelaufen, Ecken bestoßen, sonst guter Zustand, 6,00 Euro bei akpool;
- Dr. Margarete Meggle-Freund: Abb. 4: Bahnhof Reichenbach: eine Stadt im Umbau, aus: Vorstellung der Dissertation: Zwischen Altbau und Platte. Erfahrungsgeschichte(n) vom Wohnen. Alltagskonstruktion in der Spätzeit der DDR am Beispiel der Sächsischen Kleinstadt Reichenbach im Vogtland. Gastvortrag in der Wohn-Vorlesung von Prof. Dr. Christel Köhle-Hezinger in der FSU Jena am 14. Juli 2005;
- Die Rollbocklokomotive am Reichenbacher Annenplatz, aus: Die Geschichte der Rollbockbahn Reichenbach–Oberheinsdorf, nach 1897;
- Reinhard Klenke: Bahnhof Reichenbach (Vogtland) — gut 20 Minuten Zeit bis zum Zug gen Plauen, aus: Bahnhofstraße Reichenbach im Vogtland, ca. 2009;
- MBC (Moderator): Ein Jahr später, am 20.Juli 2002, ist der südliche Bahnhofsteil endgültig verwaist und wird bald darauf weichen.
+ Scan aus dem Simplicissimus, Jahrgang 30, Heft 33, 16. November 1925, Seite 474 mit der Erstveröffentlichung.
Soundtrack: Joy Unlimited: Go Easy Go Bahn, 1973, DB-Werbung:
Die Single hat mein Vater noch in der Sammlung. Meine Mutter hat mir mal eine gelangt, weil ich fünfjährig einen Klecks Blaubeerjoghurt auf dem Cover hinterlassen hab, der sich noch nachweisen lassen sollte.
Darum als Bonus Track noch eins mit dem Zeug zum Lieblingslied: Elizabeth Cotten: Freight Train. Das Video ist nicht etwa spiegelverkehrt, sondern Frau Cotten spielt ungelogen linkshändig auf einer für Rechtshänder bespannten Gitarre; hier in einer Filmaufnahme von 1985, etwa 92-jährig. Ihren Freight Train will sie ungefähr zwölfjährig geschrieben haben, also gegen 1905. Auf Schallplatte debütierte sie 1957, ungefähr 65-jährig. Ihre autodidaktisch erfundene und zur Perfektion getriebene Zupftechnik hat sie 1987 mit ins Grab genommen.
Ich selbst bin nie weit auf Güterzügen gereist, hab aber beim Zugfahren von jeher Ohrwurm von Freight Train.
Bocksgestöhn und freche Lieder
Update zu Mačka se vratila und
Und wenn’s im Rücken mal weh tut, wird jede Bewegung zur Qual:
Hexen im Chor.
Die Hexen zu dem Brocken ziehn,
Die Stoppel ist gelb, die Saat ist grün.
Dort sammelt sich der große Hauf,
Herr Urian sitzt oben auf.
So geht es über Stein und Stock,
Es farzt die Hexe, es stinkt der Bock.Walpurgisnacht, Zeile 3956 bis 3961.
——— Karl Paumgartten:
Walpurgisnacht.
in: Die Muskete. Humoristische Wochenschrift, 26. April 1917:
Horch: die Hexlein reiten wieder!
Doch sie reiten mit Bedacht.
Bocksgestöhn und freche Lieder
Klingen zögernd nur und sacht.Mensch, will dich die Lust auch packen,
Du gibst jetzt nur Schmerzen Raum,
Und der Faun in deinem Nacken
Lächelt wie ein toter Traum.
Zeichnung von Amadeus: Walpurgisnacht, in: Die Muskete. Humoristische Wochenschrift, 26. April 1917,
via ANNO. Historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften.
Zögernd nur und sacht: Get Well Soon: Witches! Witches! Rest Now In The Fire, aus: Songs Against The Glaciation, EP zu Rest Now, Weary Head! You Will Get Well Soon, Kaiserlich Königlich Records 2008:
Bonus Track: Felix Mendelssohn Bartholdy: Weltliche Kantate für Soli, Chor und Orchester
Die erste Walpurgisnacht, MWV D 3, 1833, Balladenvorlage: Goethe,
hr-Sinfonieorchester live unter Andrés Orozco-Estrada
auf dem Rheingau Musik Festival, Kloster Eberbach, 22. August 2014:
Was denn sonst, bei diesem Sauwetter
Update zu Hören wir das Husten einer Grille im Schnee?:
Seht! den Schirm erfaßt der Wind,
Und der Robert fliegt geschwind
Durch die Luft so hoch, so weit;
Niemand hört ihn, wenn er schreit.Dr. Heinrich Hoffmann, 1844.
You got a lotta time to waste when you ain’t getting wasted,
not a penny to spare when you ain’t getting paid.Rail Yard Ghosts, 2014.
——— Hans Magnus Enzensberger:
Der Fliegende Robertaus: Die Furie des Verschwindens. Gedichte, edition suhrkamp 1066, Neue Folge 66, Frankfurt 1980:
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Die letzte Geschichte aus der pädagogisch gemeinten Serie passiv-aggressiver Häme gegenüber Kindesmisshandlungen mit Todesfolge, die seit 1845 nie wieder aus dem Buchhandel verschwand, ist noch die versöhnlichste. Was an diesem einzigen Beispiel eines Entkommens im Struwwelpeter so warnend sein soll, hab ich nicht einmal als Vierjähriger verstanden, und seit ich über 18 bin, versteh ich sowieso jedes Jahr weniger.
Wisst ihr nämlich, liebe Kinder, warum den Robert niemand gehört hat, wenn er schreit? Weil er gar nicht geschrien, sondern sich heilfroh eins gegrinst hat, dass er da rauskommt.
Bild: Dr. Heinrich Hoffmann: Die Geschichte vom fliegenden Robert, aus: Struwwelpeter, ab 1844;
Off Road Kids: Rail Yard Ghosts: Dirty Kid Rag, aus: Medicinal Whiskey, 2014:
Me no worry
——— Friedrich Schiff:
Miss Shanghai
aus: Maskee. A Shanghai Sketchbook, Shanghai, Privatdruck um 1940:
Me no worry — me no care!
Me go marry millionaire!
If he die — me no cry!
Me go marry other guy!!
„Maskee“ heißt „never mind“.
Looks via Bauman Rare Books, New York; Rare Oriental Books, Aptos, California.
Bonus Track: Zhou Xuan, Ruan Lingyu: Ye Shang Hai, aus: Nightlife in Shanghai, ca. 1938:
Im bürgerlichen Sinne ungesellige, freundlose Subjekte
Update zu Bei Ludwig Tieck geheult vor so viel Schönheit,
Unter sotanen Umständen
und Nach einer guten Mahlzeit:
Wie immer sagt es niemand so treffend wie Arno Schmidt. Niemand rezitiert es so glaubwürdig wie Mechthild Großmann (es ergeht ernstliche Triggerwarnung für Arachnophobiker):
Wenn man mehrere große Spinnen zusammen in ein Glas setzt — so geht eine unausrottbar alte Volksweisheit — beginnen sie sogleich miteinander zu kämpfen, ja, fressen sich sogar gegenseitig auf, bis am Ende nur noch die eine, wildeste, zurückgeblieben ist. Es sind also ausgesprochen bissig=ungesellige Tiere, Liebhaber mürrischer Einsamkeit; dabei aber die unbestreitbaren Künstler märchenhafter Gewebe, so abstoßend ihre Sitten — vielmehr Unsitten — zunächst auch scheinen mögen. Ich wage das Diktum, daß alle Dichter — und zwar genau proportional ihrer Bedeutung nach wachsend — im bürgerlichen Sinne ungesellige, freundlose Subjekte waren !
Das ist aus der Arte-Doku Arno Schmidt – „Mein Herz gehört dem Kopf“ zu Schmidts 100. Geburtstag 2014. Das auch:
——— Arno Schmidt im Interview, aus Oliver Schwehm:
Arno Schmidt – „Mein Herz gehört dem Kopf“
ca. 1960, Dokumentation auf Arte, 15. Januar 2014, 22.40 Uhr:
Ein guter Schriftsteller darf weder haben Freund noch Vaterland noch Religion. Das klingt dem Leser aufs Äußerste schockierend und es besagt doch letzten Endes weiter nichts, als dass ich bei einem Freund irgendwann doch einmal im Leben in die Versuchung kommen könnte, die Wahrheit zu beugen, beziehungsweise dass es über dem Vaterland immer noch einen Begriff gibt, zumindest die Menschheit, oder dass es mir, wenn ich mich auf eine Religion einschwöre, unmöglich ist, andere, andersglaubende Völker und Zeiten zu verstehen. Mit anderen Worten, diese scheinbar schockierende Formulierung ist doch wohl der Ausdruck, dass der Schriftsteller objektiv sein muss, eine Art Spiegel der Welt.
Mit Verlaub, das Schockierendste an dieser Aussage ist doch wohl die Art, wie Herr Schmidt sie vorträgt. Würde ein Journalist eigentlich heute noch so ein Interview zulassen, in dem dem Seine Geheiligte Prominenz daherredet wie ein Radiosprecher, der sein Zeug auswendig gelernt hat, bevor er die Frage kennt?
Na gut, wenn es Arno Schmidt wäre, vielleicht schon. Die Arte-Dokumentation steht online, nur leider nicht für Deutschland verfügbar (für China, Iran, Nordkorea und Österreich schon…), und ist käuflich, der Interviewer (es ist nicht Jan Philipp Reemtsma, das wäre zu einfach und außerdem zu früh) samt Datum und Anlass des Unterfangens (Schmidt sieht noch jung aus, vor dem Fenster schaukeln schon die mutmaßlichen Bargfelder Zwetschgenzweige ab 1958, auf dem Tisch prangt als Gesprächsvorlage KAFF auch Mare Crisium — daher tippe ich ziemlich genau auf 1960) sind deswegen seit der ersten und bislang einzigen Ausstrahlung am 15. Januar 2014 nicht ohne weiteres festzunageln.
Gegen diese Diktion eines Kriegsberichterstatters aus dem ersten Weltkrieg (Schmidt ist Jahrgang 1914) lässt sich wohl wenig ausrichten; wer mag sich schon mit einem Radiosprecher anlegen. Da kann man ja erst hinterher nach einer gewissen Erholungspause draufkommen, dass Schmidt von falschen Voraussetzungen ausgeht. Was soll bitte „ein guter Schriftsteller“ sein? Schon Ernst Wiechert oder erst von Thomas Mann aufwärts (Nobelpreisträger mochte Schmidt sowieso nicht)? Und wenn er so gut ist, warum soll er sich mit nichts anderem abgeben als dem Spiegeln der Welt, was immer das ist?
Gut, Schmidt mochte halt außer Nobelpreisträgern auch keine Freunde, Vaterländer und Religionen. Bei seiner Schaffensweise kam er gut ohne dergleichen aus, und ohne Not die Wahrheit beugen (darf ich das verwenden?!) will auch keiner. „Ein guter Schriftsteller“ wäre demnach so ziemlich allein er selbst. Es ist legitim, das in einem Interview zu verbreiten, und es ist gut, heute über die geistigen Mittel zu verfügen, das so schnell zu durchschauen.
Irgendwie mag ich diesen herrlich arroganten Miesnickel ja. Man möchte ihm nach möglichst durchsoffener und -diskutierter Nacht in der sternestillen Bargfelder Heide endlich die vorletzte Flasche Bier aufhebeln und sagen: „Ach komm. Sind doch alles bloß Bücher.“
Und genau dafür würde er einem wahrscheinlich endgültig eine schallern.
Dabei konnte er so schön aus seinem eigenen Werke lesen. Zum Beispiel eine seiner unnachahmlichen Poe-Übersetzungen (übrigens apokryph, weil sie nicht in der Poe-Gesamtausgabe steht; dort steht die von Hans Wollschläger):
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Lilien räkeln schneeweiße Glieder: Charles-Amable Lenoir 1860–1926: A Nymph In The Forest,
unbekannten Datums, sinnigerweise als Narcisse via Aesthetic Time, 18. November 2014.
Trotzki, Fauser und die Goetheforschung
Update zu B und Was zusammengehört:
——— Jörg Fauser:
Trotzki, Goethe und das Glück
aus: Klaus Wagenbach und Michael Krüger, hg.: Tintenfisch. Jahrbuch für Literatur 8, Wagenbach-Verlag, Berlin 1975, gesammelt in: Trotzki, Goethe und das Glück. Gedichte 1974–1979, Rogner & Bernhard, München 1979, Abschnitt II. Geschichte von der riesigen Finnin:
Kaum war ich von der Spritze runter,
tappte ich in die nächste Falle:
die Revolution.Die Revolution hieß Louise,
hatte unglaublich schmale Hüften,
blitzende Augen, flatterndes schwarzes
Haar, kam aus Paris
und war Trotzkistin.Wir wohnten zusammen in einem
der besetzten Häuser, hielten uns
glänzend in Schuß, hielten es sogar
für Liebe, und ich palaverte,
wenn Palaver gefragt war,
schwenkte Fahnen, wenn Fahnen
gefragt waren, und frühstückte
entgegen allen Lehren
des Großen Vorsitzenden
mit einer Flasche Wermut
und einem netten dekadenten Gefühl
im Bett.Das ist Glück, dachte ich.
Das ist Glück, sagte ich zu Louise.
Warum lassen wir die Revolution nicht sausen,
das sinnlose Palaver und die Fahnen
und die endlosen Auseinandersetzungen
um die Maschinenfabrik in Shanghai,
suchen uns irgendeinen stillen Winkel
wo ich in Ruhe mein Bier trinken und
zwischendurch mal’n Gedicht schreiben kann,
et du reste l’amour?Und Trotzki? schrie Louise,
und die Genossen im Knast?
Dein bourgeoises Glück, pah! Bier
und Gedichte, während die Revolution
organisiert wird.
Von da ab ging alles schief. Als ich
im Suff mal mit einer anderen ankam,
ging Louise mit einem Messer
auf mich los. Dann mischte sie
bei einer Frauenbewegung mit und ich
mußte nehmen, was kam:
meistens nur Bier und manchmal irgendeine
neurotische Studentin, und später selbst das
nicht mehr, und dann
schmissen sie mich raus,
und ich zog woanders hin.Das alles ist etliche Jahre her, aber neulich
traf ich ein Mädchen, das noch in den Kreisen
verkehrt, und fragte sie nach Louise.Louise, sagte das Mädchen —
die ist wieder in Paris.
Sitzt sie im Zentralkomitee? fragte ich.
I wo, sagte das Mädchen, die hat irgendson
Goetheforscher geheiratet.An dem Abend trank ich alles durcheinander,
trank wie lebensmüde, aber als ich gestern
an dem Haus vorbeikam — es sieht
inzwischen ziemlich verkommen aus,
absolut deja vu —
dachte ich, naja,
vielleicht hast du doch Glück gehabt.
O-Ton Jörg Fauser in: LEBENdIGITAL, i. e. Jochen Rausch und Detlev Cremer: Trotzki, Goethe und das Glück, aus: Fausertracks, 2005; Video: Kai Dollbaum, 2008:
Bilder: Antiquariat Ketz, Münster, via ZVAB;
Der Tagesspiegel: Kampflustig. Jörg Fauser in Berlin, 1983,
in: Fausers Nächte. Zum 25. Todestag von Jörg Fauser, 17. Juli 2012.
Adorno für Blogger
4 Jahre Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt
She sends me blue valentines
All the way from Philadelphia
To mark the anniversary
Of someone that I used to be
And it feels just like there’s
A warrant out for my arrest
Got me checkin‘ in my rearview mirror
And I’m always on the run
That’s why I changed my name
And I didn’t think you’d ever find me here.Tom Waits: Blue Valentines, aus: Blue Valentine, 1978.
Vier Jahre — nicht schlecht für gerundet 0 Leser. Bei dieser Gelegenheit erinnere ich nochmal daran, dass es bei mir sogar einen materiellen Gewinn bedeuten kann, sich in blaue Strümpfe zu gewanden und so zu dokumentieren; mit Zeichnen und Malerei, das ist das Durchtriebene an solchen Analogtechniken, muss man nicht einmal sich oder andere gewanden: Einfach losskizziert, eingereicht und Buch gewonnen. Ich illustriere nochmal mit denkbar hoch gegriffenen Gestaltungsbeispielen (Kate Moss geht immer, und Lesende sind ein nimmer erschöpftes Thema) und erinnere außerdem daran, dass sogar Sparkassenkulis blau schreiben.
Als Meta-Text, passend wie nie, etwas Modernes wie selten: Adorno über Essays in seinen Noten zur Literatur. Es reicht, „Essay“ durch „Weblog“ zu ersetzen, ohne einen Strich an der Aussage zu verfälschen.
——— Theodor Wiesengrund Adorno:
Der Essay als Form
geschrieben 1954 bis 1958, in: Noten zur Literatur, Band 1, Suhrkamp 1958:
In Deutschland reizt der Essay zur Abwehr, weil er an die Freiheit des Geistes mahnt, die, seit dem Mißlingen einer seit Leibnizischen Tagen nur lauen Aufklärung, bis heute, auch unter den Bedingungen formaler Freiheit, nicht recht sich entfaltete, sondern stets bereit war, die Unterordnung unter irgendwelche Instanzen als ihr eigentliches Anliegen zu verkünden. Der Essay aber läßt sich sein Ressort nicht vorschreiben. Anstatt wissenschaftlich etwas zu leisten oder künstlerisch etwas zu schaffen, spiegelt noch seine Anstrengung die Muße des Kindlichen wider, der ohne Skrupel sich entflammt an dem, was andere schon getan haben. Er reflektiert das Geliebte und Gehaßte, anstatt den Geist nach dem Modell unbegrenzter Arbeitsmoral als Schöpfung aus dem Nichts vorzustellen. Glück und Spiel sind ihm wesentlich. Er fängt nicht mit Adam und Eva an sondern mit dem, worüber er reden will; er sagt, was ihm daran aufgeht, bricht ab, wo er selber am Ende sich fühlt und nicht dort, wo kein Rest mehr bliebe: so rangiert er unter den Allotria. Weder sind seine Begriffe von einem Ersten her konstruiert noch runden sie sich zu einem Letzten. Seine Interpretationen sind nicht philologisch erhärtet und besonnen, sondern prinzipiell Überinterpretationen, nach dem automatisierten Verdikt jenes wachsamen Verstandes, der sich als Büttel an die Dummheit gegen den Geist verdingt. Die Anstrengung des Subjekts, zu durchdringen, was als Objektivität hinter der Fassade sich versteckt, wird als müßig gebrandmarkt: aus Angst vor Negativität überhaupt. Alles sei viel einfacher. Dem, der deutet, anstatt hinzunehmen und einzuordnen, wird der gelbe Fleck dessen angeheftet, der kraftlos, mit fehlgeleiteter Intelligenz spintisiere und hineinlege, wo es nichts auszulegen gibt. Tatsachenmensch oder Luftmensch, das ist die Alternative. Hat man aber einmal sich terrorisieren lassen vom Verbot, mehr zu meinen als an Ort und Stelle gemeint war, so willfahrt man bereits der falschen Intention, wie sie Menschen und Dinge von sich selber hegen. Verstehen ist dann nichts als das Herausschalen dessen, was der Autor jeweils habe sagen wollen, oder allenfalls der einzelmenschlichen psychologischen Regungen, die das Phänomen indiziert. Aber wie kaum sich ausmachen läßt, was einer sich da und dort gedacht, was er gefühlt hat, so wäre durch derlei Einsichten nichts Wesentliches zu gewinnen. Die Regungen der Autoren erlöschen in dem objektiven Gehalt, den sie ergreifen. Die objektive Fülle von Bedeutungen jedoch, die in jedem geistigen Phänomen verkapselt sind, verlangt vom Empfangenden, um sich zu enthüllen, eben jene Spontaneität subjektiver Phantasie, die im Namen objektiver Disziplin geahndet wird. Nichts läßt sich herausinterpretieren, was nicht zugleich hineininterpretiert wäre. Kriterien dafür sind die Vereinbarkeit der Interpretation mit dem Text und mit sich selber, und ihre Kraft, die Elemente des Gegenstandes mitsammen zum Sprechen zu bringen. Durch diese ähnelt der Essay einer ästhetischen Selbständigkeit, die leicht als der Kunst bloß entlehnt angeklagt wird, von der er gleichwohl durch sein Medium, die Begriffe, sich unterscheidet und durch seinen Anspruch auf Wahrheit bar des ästhetischen Scheins. Das hat Lukács verkannt, als er in dem Brief an Leo Popper, der die Seele und die Formen einleitet, den Essay eine Kunstform nannte. Nicht überlegen aber ist dem die positivistische Maxime, was über Kunst geschrieben würde, dürfe selbst in nichts künstlerische Darstellung, also Autonomie der Form beanspruchen. Die positivistische Gesamttendenz, die jeden möglichen Gegenstand als einen von Forschung starr dem Subjekt entgegensetzt, bleibt wie in allen anderen Momenten so auch in diesem bei der bloßen Trennung von Form und Inhalt stehen: wie denn überhaupt von Ästhetischem unästhetisch, bar aller Ähnlichkeit mit der Sache kaum sich reden ließe, ohne daß man der Banausie verfiele und a priori von jener Sache abglitte. Der Inhalt, einmal nach dem Urbild des Protokollsatzes fixiert, soll nach positivistischem Brauch gegen seine Darstellung indifferent, diese konventionell, nicht von der Sache gefordert sein, und jede Regung des Ausdrucks in der Darstellung gefährdet für den Instinkt des wissenschaftlichen Purismus eine Objektivität, die nach Abzug des Subjekts herausspränge, und damit die Gediegenheit der Sache, die um so besser sich bewähre, je weniger sie sich auf die Unterstützung durch die Form verläßt, obwohl doch diese ihre Norm selber genau daran hat, die Sache rein und ohne Zutat zu geben. In der Allergie gegen die Formen als bloße Akzidenzien nähert sich der szientifische Geist dem stur dogmatischen. Das unverantwortlich geschluderte Wort wähnt, die Verantwortlichkeit in der Sache zu belegen, und die Reflexion über Geistiges wird zum Privileg des Geistlosen.
Bilder: Kate Moss via The Quite Delightful Project;
Jennifer by Randall Hobbet: The Education of a Young Lady, 19. April 2014:
Marquis de Sade: epigraph Dialogues aimed at the education of young ladies from Philosphy in the Boudoir, 1795.
Nach einer guten Mahlzeit
Update zu Lessing aktuell,
Bei Ludwig Tieck geheult vor so viel Schönheit,
Hastig die ärmlichen Verse,
Cit. Schmidt, A.: Faust IV, 1960,
Unter sotanen Umständen und
(Vorsicht, lang:) Helmstedt-Marienborn (Mitternacht) — Arizona (noon).:
——— Arno Schmidt:
Aus dem Leben eines Fauns
Niederschrift Dezember 1952 bis Januar 1953,
Rowohlt Verlag, Hamburg 1953, cit. Bargfelder Ausgabe I/1, Seite 318:
Also Schluß ! ! : ent-güll-tich Schluß ! Ich ging in meine Stube, O., und legte mich etwas hin. (Nach einer guten Mahlzeit kann man in meinen Jahren nicht mehr denken. Arbeiten allenfalls noch. — Das Verläßlichste sind Naturschönheiten. Dann Bücher; dann Braten mit Sauerkraut. Alles andre wechselt und gaukelt.)
Fachliteratur und Bilder:
- 331 braten mit sauerkraut Rezepte (Stand 17. Mai 2016);
- Periplus: Fahrtenbuch: Gedanken und Beiträge zur Welt der Literatur: Bargfeld:
- Ein Stück Kuchen aufgeröstet oder Wurst warm gemacht.
Kulinarische Köstlichkeiten in Bargfeld; 3. Dezember 2015; - Die Umsiedler A&A Schmidt, 15. November 2015;
- Sterneküche in Bargfeld, 4. Dezember 2015.
Soundtrack: Gus Backus: Sauerkraut-Polka, aus: Unsere tollen Tanten, 1961. Ungelogen Udo Jürgens an der Trompete, Bill Ramsey am Bass, auf Gitarre und Klarinette verteilt Georges Dimou und Henning Heers, Trude „Ich will keine Schokolade“ Herr als Edeltraut.
Helmstedt-Marienborn (Mitternacht) — Arizona (noon).
Update zu Seht, Ehrenbreitstein mit gesprengter Mauer:
Arno Schmidt zählt zu den „schwierigen Autoren“ — ich kann’s nicht mehr hören.
Ist doch Kwattsch. Gut, man sollte schon vor Arno Schmidt einiges andere gelesen haben, aber unter 20 entdeckt man den doch sowieso nicht. Die gelinde gesagt eigenwillige Rechtschreibung voller „SilbmKünste & BuchstabmSchurkereien“ (Schmidt, Zettel’s Traum, 1970) und in den Typoskripten die Aufteilung in Schreibmaschinenspalten, das sind verdammte Versuche, dem Leser entgegenzukommen — um den Text geradewegs hörbar zu machen, und was soll ich sagen: Es funktioniert, da wird der Herr Schmidt sogar oft genug hörbar wahrer Rock ’n‘ Roll — oder in seinem Falle passender: schmissiger deutscher Schlager.
Wenn man nicht andauernd mit so einem distanzierten Kadaverrespekt vor der hehren Nachkriegsliteratur anfängt und sich nicht vor Schmidts ständig ausgestellten herrlichen Gelehrtenarroganz ängstigen lässt, merkt man erst, was selbst sein Opus magnum Zettel’s Traum für einen Heidenspaß macht. Dann spart man sich nebenbei die Radiomitschnitte, die inzwischen eh kaum mehr zu haben sind, und wenn, dann zu connaisseurhaft überzogenen Preisen. Schmidt hat alles unternommen, damit man ihn schon auf dem Papier hört. Das sind Erleichterungen, wie sie uns nicht gleich einer aus seiner Liga geschenkt hat.
Absichtlich außerhalb aller gesamtdeutschen Gedenktage gibt’s heute das Opus parvum Trommler beim Zaren über eine Grenzüberschreitung: im Schwierigkeitsgrad eher harmlos, mit allerhand Fernfahrerromantik und einem richtigen Spannungsbogen. Und das ist jetzt der Tipp des Jahres zur Unterrichtsgestaltung für Deutschlehrer: Es ist eine ganz und gar schulbuchmäßige Kurzgeschichte randvoller diskussionsträchtiger Bedeutungsebenen mit höchstem intredisziplinärem Potenzial, ausnahmsweise ohne Schmidts übliche Altmännerferkeleien, also durchweg jugendfrei, und mit dem Unterschied zum ewigen Heinrich Böll, dass man sie gerne liest. Kommt schon, tut eurer Mittelstufe was Gutes, für niemand anders als euch hab ich doch in nächtelanger Frickelarbeit die zuschandenkorrigierte Version in der Zeit auf die zuverlässig zeichengenaue nach der Studienausgabe zurückgeführt.
Zu den Bildern: Es kann sein, dass ich damit ein exquisites Fundstück aufgetan hab: Zuerst wollte ich ja fünf von den noch besser komponierten, weit wirksamer bedrückenden aus Karl-Heinz Stürings Grenzstreife von etwa 1958 bis 1959 — der mir aber dafür, dass er nicht auf meine Anfrage antwortet, entschieden zu gefährlich mit dem Copyright herumwedelt.
Im zweiten Gedanken bin ich so frei, mich aus der Veröffentlichung zur Heiligenseer Grenze zur DDR von Frank-Max „Postmaxe“ Polzin zu bedienen, der dazu anmerkt, die Bilder stammten „u.a. vom Heimatfreund Arno Schmidt […] und dem Heimatmuseum Hermsdorf.“ Es kann sein, sage ich, dass manche der 22 Bilder, von denen ich fünf verwende, vom Schreiber des Textes unabhängig von demselben stammen (fünf sind für die Textmenge eigentlich zu wenig, aber es gab nicht mehr Hochformate. Dafür wird nur zum aufschlussreichsten Bildmaterial zur Zonengrenze verlinkt). Es kann sein, sage ich, weil die Bilder nicht einzeln ausgewiesen sind und jemand, der vor Jahrzehnten Teile der innerdeutschen Grenze fotografiert hat, schon mal Arno Schmidt heißen und dabei ein „Heimatfreund“ sein kann, ohne nachmals Zettel’s Traum schreiben zu müssen. Es kann sein, sage ich, weil der Arno Schmidt, der das eben doch getan hat, auch mit Fotografien hervorgetreten ist, in ganz ähnlicher Machart — mit demselben Blick für die Poesie der provinziellen Tristesse. Es kann sein, sage ich, weil dann unter 5 von 22 Bildern mit 23 % Wahrscheinlichkeit eins von Arno Schmidt dabei wäre.
Aus thematischen Gründen wird der Soundtrack ausnahmsweise vorneweg ausgegeben, um einen Ohrwurm für die Geschichte zu setzen: C. W. McCall: Convoy, aus: Black Bear Road, 1975, in Sam Peckinpah: Convoy, 1978. Stellen Sie das recht gelungene Fan-Video mal spaßeshalber auf Vollbild, lesen Sie dann den Trommler beim Zaren mit sotaner Tonart im Ohr, schauen Sie mir in die Augen und sagen dann noch einmal, dass Arno Schmidt zu den „schwierigen Autoren“ zähle.
Wer — womit ich ausdrücklich nicht nur die Deutschlehrer aufrufe, die sowieso nie was merken — wer findet das Faust-Zitat bei Schmidt? Die Kommentarfunktion ist geöffnet. A-one, a-two:
——— Arno Schmidt:
Trommler beim Zaren.
Niederschrift des Typoskripts 22. August 1959, verderbt in: Die Zeit, 19. August 1960,
gültige Erstausgabe in: Trommler beim Zaren, Stahlberg Verlag, Karlsruhe 1966,
zeichengenau cit. Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe 1: Romane Erzählungen Gedichte Juvenilia,
Studienausgabe Band 4: Kleinere Erzählungen Gedichte Juvenilia, 1988, Seite 129–134:
Ich selbst hab‘ ja nichts erlebt – was mir übrigens gar nichts ausmacht; ich bin nicht Narrs genug, einen Weltreisenden zu beneiden, dazu hab‘ ich zuviel im Seydlitz gelesen oder im Großen Brehm. Und was heißt schon New York ? Großstadt ist Großstadt; ich war oft genug in Hannover, ich kenn’s, wenn morgens tausend Henkelmänner mit ihren Kännchen aus dem Hauptbahnhof geschwindschreiten, in Fächerformation, hinein ins Vergoldete Zeitalter. Einer hat’n Gang, als käm ’n Dackel hinter ihm her. Backsteinfarbene Geschöpfe mischen sich ein, Schirmpfeile in den blutigen Händen, (oder auch in totschwarzen; gleich werden ihre Schreibmaschinen hell wie Wachtelschlag erklingen. Alle die Weckergeweckten. Schon räuspert sich das Auto neben mir strafend; dabei bin ich doch wirklich, schon rein äußerlich, nicht mehr in dem Alter, daß man mich in Verdacht haben könnte, der Anblick zweier Milchdrüsen vermöchte mich noch zum Trottel zu machen !).
Also das Alles nicht. Aber Abends und Nachts spazieren geh‘ ich ganz gern – man beachte das dreifach-gaumige ‚g‘, mir ist es eben auch unangenehm aufgefallen (‚warum‘ will ich aber nicht wissen; ich halte nichts mehr von ‚psychologischen Befunden‘, seitdem ich mich einmal unter der Hand nach der Bedeutung solcher=meiner nächtlichen Gänge erkundigt habe. Ein Gutachten sagte klipp & klar, ich sei hyänenhaft=feige und eine potentielle Verbrechernatur; das sind die Meisten von uns, sicher. Das andere behauptete, ich wäre ein Mutfänomen – ach, du lieber Gott ! Es wurde mir jedenfalls sehr rasch zu viel, auch zu teuer. Ich hab‘ dann selbst längere Zeit darüber nachgedacht; der eigentliche Grund dürfte sein, daß ich so schlecht sehe und es mir am Tage zu hell und zu heiß ist.)
Jedenfalls gehe ich immer erst eine rundliche Stunde – ich hätte gebräuchlicher ‚runde‘ schreiben sollen, ich weiß; aber das hätte sich dann auf ‚Stunde‘ gereimt, und ich mag Gedichte nicht – da sieht man allerlei, und braucht sich nicht als ‚voyeur‘ vorzukommen, also ’schuldig‘ oder gar ’sündig‘ : den Meisten=von=Uns vergeht das Leben damit, die in der Jugend verkehrt eingestellten Maßstäbe mühsam wieder zu adjustieren.
Die Jahreszeit spielt dabei keine Rolle – ich kann durchaus einen winterlichen Neubau würdigen, früh um 5; und die Handwerker tauen die eingefrorene Pumpe des schon fertigen Nachbars mit lodernden Tapetenresten auf. Es darf ein Sommermeteor sein, der gegen Mitternacht seinen Nylonfaden durch die Giraffe zieht und über der DDR zerspringt; (ich wohn‘ so dicht am Zonengrenzübergang. Und erkenne also vorsichtshalber die DDR an). Es darf ein Spätherbstabend sein, wo man stehen bleibt und horcht : was war das Geräusch eben ? Eine nahe Grille, oder ein meilenferner Traktor ? (Zum Frühling fällt mir im Augenblick nichts ein, und ich bin nicht Pedant genug, mich deswegen irgendwie zu forcieren; der Herbst ist mir jedenfalls die liebste unter den Jahreszeiten.)
Anschließend gehe ich dann grundsätzlich noch in die Fernfahrerkneipe; und das kann eventuell lange dauern, denn da sitzen ja dann lauter Leute, die ‚etwas erlebt‘ haben, beziehungsweise alle noch mitten im Erleben drin sind, und zwar heftig.
Allein die ganze Atmosfäre dort : das hochoptische Gemisch aus nacktem Kunstlicht und kurz & klein gehackten Schatten. Die fleckigen Tischplatten (Decken haben davon nur die 2, links vom Eingang, wo die überwachten Vornehmen sitzen, in dünnen Fingerspiralen Eisglaskelche, auf denen Schlipsschleifen aus Zitronenschalen schwimmen : ER mit jener für öffentliche Ämter so unschätzbaren würdevollen Fadheit und leeren Ernsthaftigkeit, (dabei so doof, daß er nicht mal in der Hölle Eiskrem verkaufen könnte, wenn er selbständig sein müßte !); SIE von der Sorte, die auf Camping=Plätzen gleich Blümchen vors Zelt pflanzt und einen Tannenzapfen daneben legt.)
Die Ernstzunehmenden sind natürlich die Anderen, Männer wie Weiber. Meist breit, mit energisch=fleischverhangenen Gesichtern, die Fahrer; sämtlich fähig, ’ne abstrakte Kleinplastik notfalls als Büchsenöffner zu verwenden; (ich bin nicht für’s Moderne; man hat es vielleicht schon gemerkt). Die Frauen meist ‚Lieschen‘, mit leicht gezerrtem Defensor virginitatis, aber handfest : weder ist die Brust, vorn, Tarn & Tara, noch hinten die Porta Nigra.
Die betreffende breitschultrige Fünfzigerin hatte ich übrigens schon öfter hier gesehen; stets leicht be=bowlt, so daß die Stimme ein entzückend hoher heiserer Baß wurde. Eben erklärte sie vermittelst desselben : „Mein Vater war Trommler beim Zaren : bei mir ist Alles Natur !“. (Eine Logik, die mir zwar gewagt, ihrem heutigen Partner jedoch anscheinend legitim vorkam, denn er nickte eifrig. Seinen Beruf erkannte ich, als er dann gleich alleine abfuhr : er machte seinen Weekendausflug im Leichenauto. Und ich stellte mir das 1 Minute lang illustriert vor. Bis ich kichern mußte.)
Meine 2 Nachbarn auf der andern Seite bestellten sich erst „’ne Schachtel Zie’retten“, (der eine noch zusätzlich „Fefferminzbruch“); und dann machten sie Folgendes : Jeder tat in sein leeres Glas 2 gehäufte Teelöffel Nescafé und goß dann frisches Coca=Cola drüber : das schäumte hoch; dick & gelbbraun; Alles schien sich aufgelöst zu haben; sie schlürften und lächelten technoid. (Das muß ja auch toll aufpulvern ! Ma’probier’n.) Mit solchem Trank im Leibe hatten sie dann freilich gut ketzern lästern & erzählen :
von dem Kehlkopfoperierten, dem die Russen die silberne Kanüle aus dem Halse geklaut hatten; (dabei hatte er noch ‚Wilke‘ geheißen, was ja bekanntlich vom slawischen ‚Wlk‘, gleich ‚Wolf‘, kommt: es hatte alles nichts genützt !).
„Wat hat sich ’ne Hausanjeschtellte vadient, die 60 Jahre in een= und derselbn Famielje jearbeit‘ hat ?“ : „’ne Urkunde von’n Landrat,“ entschied der Andere pomadig. / Auch wollten sie, relata refero, Deutschland neutralisieren & entwaffnen; und dann noch ’ne solid=lose Konföderation ‚zwischen Bonn und der DDR‘; und ihre Begründung war, wie immer bei Fernfahrern, so dumm gar nicht. Sie gingen nämlich von der 5%=Klausel aus, und einem künftigen Weltstaat : in dessen Parlament wäre ‚Bonn‘ dann nämlich mitnichten vertreten ! „Denn fümf Prozent von drei Milljarden, det mußte Dir ma‘ ausrechnen, det sind hundertfuffzich Milljon‘ !“. (Und der Andere nickte, vorgeschobenen Untergelipps, à la ‚Ja bei uns schtimmt e’em ooch nich Alles‘.) / „Mensch, du liest noch Karlmay ? ! Bei dem kommt doch nich een Auto vor ! Da reiten se doch noch uff Ferden rum, wie beim Ollen Fritzen – det hat doch keene Zukumft !“ / (Und endlich fing er an, von ‚Erlebtem‘ zu erzählen – darauf hatte ich gewartet; darauf warte ich immer; ich warte ja überhaupt auf nichts anderes. Schon kam ich mir wieder vor, wie bei Homers: los: skin the goat !)
: der Betreffende – (Ich will ihn, geheimnisvoll, ‚Den Betreffenden‘ nennen. Das paßt für Viele : Dürre in Niedersachsen; dafür Überschwemmungen in Salzburg ? : ‚Der Betreffende hat wieder mal falsch disponiert !‘) – war ‚im Westen‘ zu Besuch gewesen, Jubeltrubelheiterkeit; und hatte, da seines Zeichens Omnibusunternehmer, auch hiesige Tankstellen und Autohändler frequentiert. Neidisch die besterhaltenen Gebrauchtwagen gemustert – auf einmal blitzte sein Blauauge : war das nicht dort derselbe Autobus wie ’seiner‘ ? Natürlich nur viel fescher, und fast wie neu. – : „Den müßte man haben !“
Handelseinig wurde man relativ rasch; denn der Betreffende war im Nebenberuf auch noch HO=Leiter, und da fällt ja bekanntlich immer Einiges ab. Nur hatte ’seiner‘ hinten noch 2 ovale Fenster drinne : ? : „Die schneiden wa rein !“
„Fuffzehntausend ? Na ?“. – „Ja. Aber zahlbar erst nach Empfang !“ (Und wie das Ding über die diversen Zonengrenzen kriegen; es war ja schließlich ein Objekt, das man sich nicht in den Ärmel schnipsen kann !).
: „Und denn haa’ck’n rüber jebracht !“. (Jetzt lehnte auch die Nachfahrin des Zarentrommlers ihre machtvollen Reize interessiert näher. Also zumindest ein Teil war bestimmt Natur).
: „Erst ha’m se noch det janze Verdeck innen vabrannt“; nämlich beim Einschneiden der, zur Tarnung unerläßlichen, beiden neuen Rückfenster. Bis aus Lüneburg mußte man einen Sattler ranholen : „und ick schtand wie uff Kohln ! Und et wurde Neune“ (und zwar P. M.; das dauert jetzt schon 30 Jahre, und die 24=Stunden=Zählung ist immer noch nicht volkstümlich geworden); „und et wurde Zehne : endlich, um Elwe, konnt’ick los !“
Und war eine finstere Nacht gewesen : der Regen goß in Strömen; von den Wetterfähnlein der Kirchentürme kreischte es herunter, wenn er, seinen Leviathan hinter sich, durch die schlafenden Dörfer spritzte; Paul Revere war ein Waisenknabe; bis Helmstedt.
: „Den een‘ Zollfritzen kenn’ick; der saacht: ‚Kieck ma det Pärchen; die warten ooch schonn seit drei Taachen, det se Eener mitnimmt. Die sind beschtimmt durchgebrannt und wolln jetz wieda zu Muttien.‘ Finster sahn se ja aus.“ (Kunststück : 3 Tage warten; wahrscheinlich ungewaschen; ohne Geld; und dann bei dem Wetter. Jedenfalls hatte er sie, der Bus war ja ganz leer, dann um Gottes willen bis auf die Höhe von Lehnin mitgenommen. Begreiflicherweise auch den Rückspiegel so eingestellt, daß er vorsichtshalber die beiden Zerknitterten beobachten konnte. Beschrieb auch deren intimere Evolutionen, wozu unsere ältliche Hörerin, fachfraulch gepreßten Mundes, mehrfach billigend nickte. Einmal allerdings stieß sie verächtlich Nasenluft aus : Anfänger !).
: „Hinta Braunschweig hatt’ick schonn ma’ne Weiße Maus hinter mir jehabt“, (so nennt man in solcher Umgebung, unehrerbietig, einen einzelnen Verkehrspolizisten auf seinem Motorrad); in Westberlin aber war es dann gar ein „Peterwagen“ (also ein ganzes Polizeiauto) gewesen, das ihn an den Straßenrand gedrückt, und seine Papiere kontrolliert hatte : die waren auf DBR & Westberlin via Zone ausgestellt gewesen, und ergo unanfechtbar; hier lag ja auch gar nicht die Schwierigkeit; aber
: „nu schteh ick in Berlin=Schalottenburch, und der Betreffende kommt an : mit sonner Aktentasche ! Alles Fuffzijer und Hunderter.“ Da wurde einem, beiden Teilen bekannten und ehrwürdigen, neutralen Dritten, die Kaufsumme übergeben; der schrieb im Schweiße seines Angesichtes 15 Postanweisungen à tausend Mark aus, und gab erst mal 7 davon auf bei der Post – in Berlin wundert man sich über gar nichts mehr.
: „Haste de Nummernschilder ? !“ Nämlich von des Betreffenden „alter ostzonaler Schaukel“ : die mußten erst passend gemacht werden; das heißt, die Schraubenlöcher genau aufeinander, sämtliche Muttern geölt. Und dann als erstes wirkliches Risiko
: „durchs Brandenburger Tor : und det war vielleicht enge, Mensch, wie bei ’ner Jungfrau : ‚Kieck du links raus; ich rechts.'“; so waren sie, die Wände beinahe streifend, durch jenes nicht=marmorne deutsche Wahrzeichen gesteuert; und drüben harrte schon der Volkspolizist.
Nun braucht man im inner=berlinischen Verkehr weiter keine Papiere – aber daß sich Einer zur Besichtigung des Ostsektors ausgerechnet einen leeren Omnibus wählt, befremdete den Blanken, und mit Recht, doch ein wenig. Der Dicke aber, eiserner Stirnen rundherum übervoll, hatte so lange auf seine besichtigungslustige Korpulenz, und den 1 Freund, verwiesen, bis der Beamte endlich achselzuckend sagte: „Et kost‘ ja Ihr Benzien.“ Und ihn weiterließ.
: „aber nu kam de eijentliche Schwierichkeit“; und das war der Übergang aus Ostberlin in die ‚Zone‘, also, disons le mot, die DDR : „Da hatt‘ ick nu schonn vorher meine Bekannten mobilisiert jehabt: ‚Sucht ma’n janz einsam Grenzüberjang raus'“ – er hielt den Zeigefinger effektvoll 3 Zentimeter vor die dicken Cäsarenlippen, und funkelte uns Lauschende majestätisch an (und geschmeichelt auch. Die Gebärden der Erzähler hier sind mannigfaltig.)
: „und zwar in Richtung Ludwigslust. – Ick fah da also immer an’n Kanal lank. Vor uns Keener, hinter uns Keener; et iss ja ooch bloß’n halber Feldwêch.“ Steuerbord voraus kam der Kontrollposten in Sicht : eine simple Bretterbude, ganz einfältig. Bis auf 300 Meter fuhren sie ran
: „dann wir runter. Ick saache : ‚De Schilder her : ick vorne, Du hinten !‘ Und de Muttern bloß so mit de Finger anjezogen. Rinn in’n Kanal mit de alten Schilder; und immer noch keen Aas in Sicht. Und ick richt‘ ma uff. Und ick dreh ma um. Und ick saache bloß : ‚Hier haste Dein‘ Omnibus.'“ (Und wir nickten Alle im neidischen Takt : es gibt schon noch Männer !).
: „Der konnte det jaa nich’jlooben ! Det er nu’n neuet Auto hatte.“ Hatte nur immer strahlend das neu auf West lackierte Ungetüm betrachtet, der Betreffende. Und dann wieder den mutig=Dicken. Hatte sich selig ans Steuer geschwungen; ihm noch „Hundert Ost : für’t Mittachessen !“ in die Hand hinuntergedrückt; und war dann abgebrummt.
: „ick seh ma det noch so an, wie er an det Wach=Häuseken da ran jondelt. Da kiekt een=Eenzjer raus, mi’m Kopp. Und winkt bloß so mit de Hand“ – so schwach und schläfrig winkte die seine nach, wie ich, in a long and misspent life, noch nie zuvor gesehen hatte – „und der winkt wieder – : und da iss er ooch schonn durch. Keene Kontrolle. Nischt. . . . . .“. Und breitete, leicht kopfschüttelnd, die Hände; und ließ sie wieder auf die Tischplatte sinken : geritzt.
Wir waren verpflichtet, wiederum zu nicken. Taten es auch gern. Der Andere bot ihm vor Anerkennung einen Stumpen.
„Det haa’ck übrijens ooch noch nich jewußt, det=det Brand’nburjer Tor nich massiv iß. Ick hab‘ immer jedacht, wenichstens Jranitt oder so.“ Aber der Erzähler schüttelte nur ablehnend den kundigen Kopf : nichts; gar nichts : „Überall blättert die Tünche ab.“
„Bei mir ist Alles Natur,“ sagte die Walküre, und lehnte sich voller zurück : „Mein Vater war Trommler beim Zaren !“
Dokumentation als Unterrichtsmaterial: Jac Biermann: Helmstedt und seine Grenze, 1984:
Bilder: Frank-Max „Postmaxe“ Polzin: Heiligenseer Grenze zur DDR:
Diese Bilder stammen u.a. vom Heimatfreund Arno Schmidt, Berndt Wehrmann, Knut Lehmann, Dieter Lepke sowie Sigurd Hilkenbach, Harry Schulz, Rolf Klapputh und dem Heimatmuseum Hermsdorf.
- Ende der S-Bahnstrecke nach Hennigsdorf (1989);
- Blick nach Stolpe Süd (1962);
- Wachturm in Stolpe Süd (1962);
- Wachturm bei Nacht in Stolpe Süd (1962);
- Der Grenzübergang von Heiligensee Richtung Hamburg.
Imbolc Blessings: My heart is as black as the blackness of the sloe
Update zu Nunc dimittis mit Fried und Freud
und Break in college sick bay:
Lichtmess ist der liebenswerteste Feiertag im ganzen Jahreskreis. Lichtmess bedeutet, dass die Tage schon messbar länger und heller werden. Lichtmess handelt von hoffnungsfrohem Erwachen und Zuversicht. Außerdem ist es nicht so überladen mit Feier- und Geschenkverpflichtungen: Lichtmess feiert nur, wem es am Herzen liegt.
Vor allem feiern es die heutigen Wicca- und paganischen Religionen, die ihm gern eine schwärzere Seite verleihen; bei ihnen heißt es Imbolc und gilt der Göttin Brigid — „a woman of poetry, and poets worshipped her, for her sway was very great and very noble. And she was a woman of healing along with that, and a woman of smith’s work, and it was she first made the whistle for calling one to another through the night.“
Eine heidnische, aber durchaus christlich vertretbaren Werten verpflichtete Heilige also, nicht weniger liebenswert als ihr Feiertag, der 2. Februar, im Christlichen: Lichtmess, das Fest der Darstellung des Herrn. So wird sie von der ungemein verdienstreichen Lady Augusta Gregory 1904 in Gods and Fighting Men beschrieben.
Die unmittelbare Literatur über diese woman of poetry stammt aus einer selbst schon sagenumwobenen Zeit: dem alten Irland vor der Christianisierung — und der Heilige Patrick hat die heidnische Insel schon im 5. Jahrhundert katholisch gemacht. Selbst fürs ach so christliche Abendland, in dem die meisten Völker noch mit der Völkerwanderung beschäftigt waren, um einen warmen Platz für ihre Hintern zu suchen, und noch keineswegs mit der Übernahme einer noch kürzlich unter Todesstrafe stehenden Religion aus der orientalischen Provinz, die gerade seit anno Domini 380 plötzlich die vom allgemeinen Hunneneinfall überschattete Staatsreligion war, ist das für eine erfolgreiche Missionierung recht frühzeitig. Also: alt.
Gedichte über Brigid aus der Zeit, als sie noch kanonisch verehrt wurde, sind dafür, dass sie überhaupt erhalten sind, historisch nicht genug zu würdigen, geben aber für heutige Begriffe künstlerisch nicht viel her. Lady Gregory hat aber bei ihren umfassenden folkloristischen Forschungen ein altirisches Gedicht aus dem 8. Jahrhundert ausgegraben, das einen, in eine vorsichtig modernisierte Form gebracht, heute noch umhauen kann.
Kurzzeitig bekannt wurde Lady Gregorys sehr freie Übersetzung in cinephilen Kreisen anlässlich Die Toten von John Huston, 1987. Für diese Literaturverfilmung, die mit allen Längen und Ausschmückungen ohnehin nur auf 87 Minuten kommt, wurde eigens die neue Figur des Mr. Grace eingeführt, die das Gedicht vorlesen kann; Sean McClory spielt und rezitiert.
So frei ist Lady Gregorys Übersetzung, dass sie die vorhandenen 14 irischen Strophen in neun englischen untergebracht hat. Eine weitere soll vor der Strophe „When I go by myself to the Well of Loneliness“ ausgeschieden sein, das wäre die fünfte und somit zentrale. Ich füge sie hier als Internet-Premiere an der vorgesehenen Stelle ein. — Eine deutsche Übersetzung ist mir nicht bekannt, für die Interpretation empfehle ich wärmstens die tiefgehende Folge von Carol Rumens: Poem of the week: Donal Og by Lady Augusta Gregory in The Guardian, 19. April 2010.
Das Gedicht feiert weder Lichtmess noch Imbolc ausdrücklich, Die Toten spielt bei John Huston wie bei James Joyce an Epiphanias, das ist der Dreikönigstag am 6. Januar — als formal verbindendes Element am Ende eines winterlichen Jahresabschnitts. Sein Geist passt unschlagbar auf die schwärzere Seite einer woman of poetry.
——— Lady Augusta Gregory:
Donal Og
Translated from an anonymous eighth-century Irish poem:
It is late last night the dog was speaking of you;
the snipe was speaking of you in her deep marsh.
It is you are the lonely bird through the woods;
and that you may be without a mate until you find me.You promised me, and you said a lie to me,
that you would be before me where the sheep are flocked;
I gave a whistle and three hundred cries to you,
and I found nothing there but a bleating lamb.
You promised me a thing that was hard for you,
a ship of gold under a silver mast;
twelve towns with a market in all of them,
and a fine white court by the side of the sea.You promised me a thing that is not possible,
that you would give me gloves of the skin of a fish;
that you would give me shoes of the skin of a bird;
and a suit of the dearest silk in Ireland.It is early in the morning that I saw him coming,
going along the road on the back of a horse;
he did not come to me; he made nothing of me;
and it is on my way home that I cried my fill.When I go by myself to the Well of Loneliness,
I sit down and I go through my trouble;
when I see the world and do not see my boy,
he that has an amber shade in his hair.It was on that Sunday I gave my love to you;
the Sunday that is last before Easter Sunday
and myself on my knees reading the Passion;
and my two eyes giving love to you for ever.My mother has said to me not to be talking with you today,
or tomorrow, or on the Sunday;
it was a bad time she took for telling me that;
it was shutting the door after the house was robbed.My heart is as black as the blackness of the sloe,
or as the black coal that is on the smith’s forge;
or as the sole of a shoe left in white halls;
it was you put that darkness over my life.You have taken the east from me, you have taken the west from me;
you have taken what is before me and what is behind me;
you have taken the moon, you have taken the sun from me;
and my fear is great that you have taken God from me!
Bilder: Flora Lion: Isabella Augusta (née Persse), Lady Gregory, Lithographie 1913, 356 mm x 260 mm, National Portrait Gallery, London;
Mary Cicely Barker: The Snowdrop Fairy, aus: Flower Fairies of the Spring, 1923
via Tinkerbell: Blessed Imbolc, 1. Februar 2011:
May Brighid’s fire light your path and her blessings be upon your home & hearth!
Branna Laurelin: Forest Harp Fariy, 2013.
Soundtrack: Booker Bird 66, March 17th, 2013: The Pogues: The Sickbed of Cuchulainn, from Rum Sodomy & the Lash, Stiff, MCA, 1985 — „featuring the great Irish American Buster Keaton. Buster was buried with a rosary in one pocket and a deck of cards in the other. I do not own the right to the music and is not for profit fan video.“ — Bitte laut!
Der Dr.-Faustus-Weg: Polling–Pfeiffering und wieder weg
Update zu Ein arger Gast in Trutz und Poch:
Die Zeichen mehren sich, dass ich doch spinne: Jetzt bin ich dabei hängengeblieben, den Doktor Faustus zu lesen — zum dritten Mal, und diesmal die Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, mit dem Extra-Kommentarband, der noch dicker als das Buch ist, und freu mich praktisch schon aufs vierte Mal.
Soeben macht Adrian Leverkühn mit seinem Kumpel Rüdiger Schildknapp einen Ausflug nach Pfeiffering, was ihm gar nicht besonders ähnlich sieht, aber nötig ist, um seinen späteren Wohn- und Wirkungsort kennen zu lernen. Pfeiffering soll bei Waldshut liegen und wurde von Thomas Mann laut der genannten Ausgabe Polling nachempfunden, das bei Weilheim liegt und der späte Wohn- und Wirkungsort von Manns Mutter Julia da Silva-Bruhns sein soll, die nach anderen Quellen allerdings ohne ein Wort über Weilheim oder gar Polling in Weßling verstarb.
Ein Frankfurter Kommentar, der die Münchner Ramberg-, Fürsten- und Amalienstraße wohlfeil Schwabing zuschlägt statt der Maxvorstadt, darf notfalls auch das Landkreis-Weilheim-Schongauer Polling mit dem Landkreis-Starnberger Weßling verwechseln; das stört die Aussage des Romans wenig. Der ist nämlich von Thomas Mann und nicht von seiner Mutter und offenbar genauer gearbeitet: Jedenfalls hat man ihm (dem Roman oder Thomas Mann, eben nicht dessen Mutter oder dem Kommentar) in Polling und nicht anderswo 2007 einen Dr.-Faustus-Weg eingerichtet.
Fünf Kilometer, keine nennenswerten Steigungen, ausreichend Halt für Tritt und Griff, auch für Winterausflüge und Beinevertreten nach der Einkehr geeignet, keine Spezialausrüstung erforderlich, geeignet für leichtes Schuhwerk; sommers sogar für überhaupt kein Schuhwerk. Jedenfalls ist die Stallmagd Waltpurgis auf dem Pfeifferinger Hof der Schweigestills „mit Waberbusen und emsig mistigen Barfüßen“ unterwegs.
Der Absatz, in dem Frau Hofwirtin Schweigestill erstmals von ihren vorangegangenen Logiergästen erzählt, bringt leider nur in Abwesenheit eine mondsüchtige Baronin ins Spiel, könnte aber nicht schöner ein fortschreitendes Irresein darstellen. Außerdem scheint die Dame von Anfang an dermaßen in Ordnung, dass sie allein wert ist, das ganze Ding drei-, viermal im Leben zu lesen.
——— Thomas Mann:
Doktor Faustus
Kapitel XXIII, Bermann-Fischer, Stockholm 1947:
Auch die Treppe hinauf, in den Oberstock, führte sie ihre Gäste, um ihnen ein paar von den zahlreichen Schlafzimmern zu zeigen, die sich dort an dem geweißten, moderig riechenden Korridor aneinander reihten. Sie waren mit Bettstellen und Kästen im Geschmack des bunten Spindes im Saal ausgestattet, und nur in einigen war aufgebettet: turmhoch nach Bauerngeschmack, mit plustrigen Federdeckbetten. „Wieviele Schlafzimmer!“ sagten die beiden. Ja, die stünden meistens fast alle leer, erwiderte die Wirtin. Vorübergehend nur sei eines oder das andere bewohnt gewesen. Zwei Jahre lang, noch bis vorigen Herbst, habe eine Baronin von Handschuchsheim hier gelebt und sei durch das Haus gewandelt, eine Dame, deren Gedanken, wie Frau Schweigestill sich ausdrückte, nicht recht mit denen der übrigen Welt hätten übereinstimmen wollen, und die vor dieser Unstimmigkeit hier Schutz gesucht habe. Sie selbst sei recht gut mit ihr ausgekommen, habe sich gern mit ihr unterhalten, und manchmal sei es ihr gelungen, sie über ihre abweichenden Ideen selbst zum Lachen zu bringen. Aber leider seien diese doch eben weder zu beseitigen noch im Wachstum aufzuhalten gewesen, so daß man die liebe Baronin schließlich in sachgemäße Pflege habe geben müssen.
Einkehrmöglichkeiten in Polling bei Weilheim:
- Alte Klosterwirtschaft;
- Gasthof Neuwirt;
- Zum Alten Spiegel;
- Zum Grünen Baum.
In größtmöglicher Übereinstimmung mit den Gedanken der übrigen Welt empfehle ich vorsichtshalber die Alte Klosterwirtschaft. Adrian Leverkühn, sofern dieser hyperintelligente Asperger-Kandidat in Wirtshäuser gegangen wäre, hätte nicht anders gehandelt.
Animierter Flammenkopf: Bill Domonkos nach einem Foto von Costica Acsinte, 2015;
sie sei durch das Haus gewandelt: Kristin Hersh featuring Michael Stipe: Your Ghost,
aus: Hips and Makers, 10. Januar 1994. Lieblingslied.
Tolkien im Großen Ringkrieg
Kürzlich wurde der Literatur-Nobelpreis zum ad infinitum wiederholten Male nicht an Bob Dylan verliehen. Das ist ein alter Ärger: 1961 hatte C.S. Lewis als Professor in Oxford Vorschlagsrecht ans Nobelpreiskomitee und nutzte es, um seinen besten Kumpel J.R.R. Tolkien zu nominieren. Als groß angelegte Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs, als die Der Herr der Ringe damals wie selbstverständlich galt, hatte er bestimmt sogar Chancen. J.R.R. empfahl seinerseits, schofel genug, nicht etwa Lewis, sondern E.M. Forster, sicher weil es sonst zu sehr aufgefallen wäre. Natürlich waren alle drei rettungslos verloren gegen einen Ivo Andrić.
Im Ernst: Die folgenden, ungekürzt wiedergebenen Beobachtungen erschienen schon am 13. Dezember 2014 in der Welt und schrien nach ungekürzter Wiedergabe, und zwar sofort. Mir erschien das Thema jedoch zu wichtig, um es mit mehr oder weniger unverfänglichen, jedenfalls wertfreien Bikinischönheiten zu garnieren; selbst eine Serie aus Cate Blanchett als Galadriel wäre verfehlt.
Ich musste erst abwarten, bis Tolkiens erste Skizzen zur Anlage von Mittelerde öffentlich wurden. Das ist ein so grundlegendes Ereignis, dass Text und Bild sich gegenseitig nichts wegnehmen. Wired hat am 9. Oktober 2015 acht Skizzen zugänglich gemacht. In den Welt-Artikel geflochten erscheinen sie in 50 % der Textbreite (das erste und letzte in 80 %), sind aber groß genug, um Tolkiens Handschrift zu erkennen – Sie verfügen doch noch über eine rechte Maustaste? –, und die Bildlegenden von Wired stehen, wenn Sie jemals so weit scrollen, unten vor dem Nachspannlied.
——— John Garth:
Mittelerde liegt an der Somme
„Keuchende Gruben“, „giftige Hügel“ und die „Totensümpfe“ der Schlachtfelder: 100 Jahre nach dem „Great War“ wird J. R. R. Tolkiens „Herr der Ringe“ als Roman des Ersten Weltkriegs kenntlich. Eine Spurensuche
Aus dem Englischen von Marcel Aubron-Bülles,
in: Die Welt, Samstag, 13. Dezember 2014, © Axel Springer SE 2014:
Als „Der Herr der Ringe“ zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs erschien, war sich das Feuilleton sicher, dass es sich um eine zwar verschlüsselte, dennoch allegorische Erzählung handeln musste, in der Sauron Stalin, Saruman Hitler und die Freien Völker die Alliierten darstellten. Tolkien wischte solche Interpretationen ungeduldig beiseite. Im Vorwort zur zweiten Ausgabe, die 1965 erschien, betonte er, der Ursprung der Erzählung liege in Dingen, „die mir schon lange im Sinn lagen oder in einigen Fällen schon niedergeschrieben waren, und wenig oder nichts wurde durch den Krieg, der 1939 begann, oder durch seine Folgen verändert.“ Die Epen der Angelsachsen und anderer germanischer Völker erweckten in Tolkien das Interesse am Mythos; sein Werk ist von Legenden und Volkssagen beseelt. Doch als er sich während seines Studiums in Oxford das erste Mal in diese mittelalterlichen Texte vertiefte, brach der Erste Weltkrieg aus. Ich bin davon überzeugt, dass dies einen maßgeblichen Einfluss auf sein kreatives Schaffen ausübte.
Ein erster Hinweis ist das eben erwähnte Vorwort. Nachdem er alle Interpretationen seines Werks mit einem Bezug zum Zweiten Weltkrieg als unsinnig abgetan hatte, fuhr er fort: „Man muss in der Tat persönlich in den Schatten des Krieges geraten, um zu erfahren, wie bedrückend er ist; aber im Laufe der Jahre scheint man nun oft zu vergessen, dass es ein keineswegs weniger furchtbares Erlebnis war, in der Jugend von 1914 überrascht zu werden, als 1939 und in den folgenden Jahren vom Krieg betroffen zu sein. 1918 waren bis auf einen alle meine nächsten Freunde tot.“ Er hätte es kaum deutlicher ausdrücken können: Wenn ihr schon nach dem Einfluss eines Krieges sucht, dann wendet euch dem zu, an dem ich selbst teilgenommen habe.
Tolkien kämpfte in der Schlacht an der Somme, vier Monate lang. Er hatte unheimliches Glück, dass sein Bataillon, die 11th Lancashire Fusiliers, nicht zu den Truppen gehörte, die zu Beginn der Offensive am 1. Juli nach vorn geschickt wurden. Dieser Tag gilt als der schwärzeste Tag der britischen Militärgeschichte – knapp 20.000 Tote, mehr als die Hälfte aller Offiziere. Als im selben Monat der von deutschen Truppen besetzte Ort Ovillers von den Briten erobert wurde, erlebte Tolkien zum ersten Mal am eigenen Leib das „tierische Grauen, … das der Krieg …)bedeutet.“ Ende Oktober zeichnete er als Fernmeldeoffizier bei der Eroberung einer weiteren strategisch wichtigen deutschen Stellung für die Kommunikation seines Bataillons verantwortlich. Dann geschah das, was vermutlich sein Leben rettete: Er erkrankte am Schützengrabenfieber und wurde nach England zurückgeschickt. Sein Bataillon zog weiter nach Flandern.
Bei einem so gebildeten Mann wie Tolkien, der nach seiner Rückkehr von der Somme im Krankenhaus die Gelegenheit nutzte, mit dem Schreiben zu beginnen, hätte man die schonungslos realistische Darstellung des Kriegs in Roman- oder Gedichtform erwarten können, einem Erich Maria Remarque und seinem „Im Westen nichts Neues“ gleich, oder dem britischen Dichter Wilfred Owen ähnlich, der einer verlorenen Generation mit „Anthem for Doomed Youth“ ein poetisches Denkmal setzte. In den bekanntesten Werken ist der Soldat im Schützengraben das hilflos leidende Opfer; die vor dem Weltkrieg gängigen Vorstellungen, was einen Helden ausmachte und wie er literarisch zu verewigen war, wurden durch die neue Typologie ersetzt. Der herausragendste britische Kriegslyriker Wilfred Owen weigerte sich, Helden zu beschreiben: „Die englische Dichtung ist noch nicht so weit, von ihnen zu sprechen“, so seine Worte. Und nach dem „Großen Krieg“ wandte sich die Literatur von Helden ab, als ob es sie nie gegeben hätte. Tolkien aber schrieb 1936 über das mittelalterliche Epos „Beowulf“: „Noch heute (und den Kritikern zum Trotz) findet man Menschen, … die von Helden gehört und sogar schon welche gesehen haben …“ In seinem Werk finden sich Versionen dieser traditionellen Helden, Seite an Seite mit neuen Helden, bei denen der Einfluss des Ersten Weltkriegs spürbar ist.
Versuchte Tolkien der unerträglichen Realität zu entfliehen? Ja und nein. Er schrieb, dass Märchen einen besonderen Fluchtweg aufzeigen: die Flucht des Gefangenen, nicht des Deserteurs. In den „Verschollenen Geschichten“, die er im Krankenhaus begann und aus denen später das „Silmarillion“ erwuchs, scheinen die Krieger Beren, Túrin und Tuor Tolkiens eigene Entwicklung als junger Mann nachzuvollziehen, der gegen seinen Willen in den Krieg ziehen musste. Doch bei ihnen handelt es sich um epische Charaktere, die sich selbst den gewagtesten Aufgaben stellen, und Tolkien konnte sie nicht allein aus eigener Erfahrung heraus gestalten. Die Figur, die es ihm schließlich ermöglichte, eine Erzählung mit seinen Kriegserlebnissen in Einklang zu bringen, war der wenig heldenhafte Bilbo Beutlin. „Der Hobbit“ ist die Geschichte einer Verwandlung, bei der ihr anfänglich furchtsamer Protagonist in die Schlacht zieht und dem Tod von der Schippe springt.
Tolkien schrieb sie für seine Kinder, und ihm wurde klar, dass sie einen Helden brauchten, der ihnen nicht so fremd war wie die elbischen und menschlichen Krieger, mit denen er sich bisher beschäftigt hatte. Seine eigene Kindheit diente ihm als Inspirationsquelle, und der Ursprung seiner Hobbits ist die englische Landbevölkerung, wie er sie zwischen seinem vierten und achten Lebensjahr kennengelernt hatte.
Bilbo ist ein Charakter auf dem Sprung in ein ungewisses Abenteuer in einer faszinierenden Mischung aus Furcht und Furchtlosigkeit. Er lernt unglaublich schnell und ist bald in der Lage, dem Tod entschlossen ins Antlitz zu blicken. Als er diesen Punkt erreicht, spiegelt er Tolkiens persönliche Erfahrung wieder, die er im Ersten Weltkrieg gemacht hatte. Es ist daher fast selbstverständlich, dass die Hobbits, die so eng mit dem ländlichen England seiner Jugend verbunden sind, auf Gefahr und Schrecken so gleichmütig reagieren, wie er es bei den Menschen seiner Generation erlebte. Er nehme seine „Modelle wie jeder andere auch aus dem ‚Leben‘ …, soweit ich es kenne“, schrieb er später.
Doch obwohl er sich von seinen Erfahrungen inspirieren ließ, stellen die Orks nicht die deutschen Soldaten des Ersten Weltkriegs in Fantasykostümen dar. Ein solches Schwarzweiß-Denken war Tolkien fremd. Es gibt genügend Hinweise darauf, dass er den einfachen deutschen Soldaten zu respektieren lernte, genauso wie seine britischen Untergebenen. Für ihn verkörpern die Orks das Böse, das er 1916 auf beiden Seiten der Westfront ausmachte – ein Böses, das Eroberung, Macht und Maschinen für wichtiger hält als Menschen aus Fleisch und Blut.
Als er von 1937 bis 1948 „Der Herr der Ringe“ schrieb, zeigte sich in seinen Briefen, dass der neue Krieg, in den seine Söhne gezogen waren, traurige Erinnerungen an den alten Krieg weckten, seinen Krieg. Gefahren, Angst und Unbehagen bestimmen die erzählerische Atmosphäre; vielen Charakteren droht das Exil in einer Welt, in der sie sich auf Althergebrachtes nicht mehr verlassen können. Wo lähmende Furcht und schwerste Demütigungen beschrieben werden, ist für ein klassisches Heldentum kein Platz mehr.
Die Hobbits sind engstirnig, häuslich veranlagt und streiten sich um Kleinigkeiten. Es fällt leicht, sie zu lieben und zu verspotten, aber es ist umso schwerer, sie zu bewundern. Frodo wünscht sich manchmal, dass ein Erdbeben oder ein Drache seine „dummen und langweiligen“ Mitbürger aufwecken möge. Diese Unzufriedenheit mit dem alltäglichen Leben war zu Beginn des Ersten Weltkriegs weit verbreitet, als der englische Dichter Rupert Brooke seine Landsleute als „Halbmenschen“ bezeichnete, die die lange Friedenszeit verdorben hätte. Tolkien äußerte zuweilen ähnliche Ansichten.
Doch Frodo Beutlin aus dem friedlichen Auenland wünscht sich den Krieg genauso wenig wie Tolkien im England des Jahres 1914. Er beschrieb die Katastrophe als den „Zusammenbruch meiner ganzen Welt.“ Frodo, der zu spät merkt, wie sehr er ein normales Leben liebt, sagt: „Ich wollte, es hätte nicht zu meiner Zeit geschehen müssen.“ Er will weder ein Held sein noch verspricht er, einer zu werden. Wie Tolkien, ein „junger Mann mit zu viel Phantasie“, der in seinem letzten Jahr an der Universität wusste, dass er wahrscheinlich in den Krieg ziehen musste, fürchtet Frodo die Gefahr und die Pflicht, die ihm auferlegt ist. Frodo wird wie die Freiwilligen aus Tolkiens Generation zum Helden, weil er ein unbedeutendes Individuum ist, dass sich zum Wohle aller einer viel zu großen Aufgabe stellt und den Mut und die Kraft findet durchzuhalten.
Frodo zieht diese Kraft aus der Kameradschaft mit seinen Freunden. Er und die anderen Hobbits – „Anführer Frodo und seine Mannen“ nennen sie sich – gehen mit der Gefahr und dem Unbehagen um, wie es auch bei Soldaten üblich ist. Ihr Marsch wird begleitet oder unterbrochen von gemeinsamem Gesang, ordentlichen Mahlzeiten oder einem Bad – die Freuden des gemeinen Soldaten. Ihr gelassener Humor und das völlige Ausblenden ihrer Vorstellungskraft helfen, furchterregende Situationen auf ein normales Maß herunterzubrechen, wie Sam im Kampf mit der teuflischen Spinne Kankra beweist. Er redet mit ihr, als ob er einem vorlauten Hobbit ein paar Ohrfeigen verpassen wollte: „Nun komm, du Scheusal!“
„Mein Sam Gamdschie“, schrieb Tolkien, „ist in der Tat ein Bild des englischen Soldaten, der Gemeinen und Burschen, wie ich sie im Krieg von 1914 und als mir selbst so hoch überlegen erkannt habe.“ Die Beziehung zwischen Frodo und Sam spiegelt die Hierarchie zwischen einem Offizier und seinem Burschen deutlich wieder. Ein Offizier hatte in der Regel eine universitäre Ausbildung genossen und stammte aus der Mittelschicht. Der einfache Arbeiter blieb einfacher Soldat oder schaffte es vielleicht, sich zum Sergeant hochzuarbeiten. Zwischen dem gebildeten und wohlsituierten Frodo und Sam, seinem früheren Gärtner, der ihn nun weckt, die Mahlzeiten zubereitet und seine Sachen zusammenpackt, erstreckt sich ein sozialer Abgrund. Die gemeinsam durchlebte Not bereitet der typisch männlichen Zurückhaltung und den klassenbedingten Unterschieden ein Ende, und schließlich kann Sam zu Frodo sagen: „Herr Frodo, mein Lieber.“
Zu diesem Zeitpunkt ist Frodo von der ständigen Last des böswilligen Rings so zermürbt, dass die Hierarchie zwischen den beiden Hobbits praktisch auf den Kopf gestellt ist. Frodos Rolle entwickelt sich zu einer kindlichen Abhängigkeit: Er hat die Probleme, Sam die Lösungen. Im Ersten Weltkrieg war dieser Vorgang üblich. Die Aufnahme als Offizier in die britische Armee erfolgte als klassenbedingte Entscheidung, nicht weil diese jungen Männer erfahrene Soldaten oder geborene Anführer waren. Die einfachen Soldaten und Unteroffiziere verfügten in der Regel über das notwendige Alter, die Erfahrung und das Wissen, das ihren Vorgesetzten fehlte. Sams simples Geplapper bringt Frodo selbst an der Grenze nach Mordor zum Lachen. „Ein solcher Klang war in diesen Gegenden nicht gehört worden, seit Sauron nach Mittelerde gekommen war“, hält Tolkien fest. Dabei handelt es sich um ein Lachen, wie der Kriegskorrespondent Philip Gibbs glaubte, das als „Flucht vor dem Schrecken diente, als seelischer Befreiungsschlag durch eine geistige Explosion, die die Gefängnismauern der Verzweiflung und des Nachgrübelns überwand.“
Drängende Eile charakterisiert Frodos Reise von Anfang an, und der Erzählrhythmus spielt sich schnell ein. Er besteht aus vier aufeinanderfolgenden, sich stets wiederholenden Abschnitten: der mühsame, angstvolle Kampf, voranzukommen; eine brutale, grauenhafte Auseinandersetzung mit dem Tod oder denen, die ihn bringen; die Flucht vor der Gefahr und ein kurzes Zwischenspiel, in dem sich die Hobbits erholen und ausruhen können. Dies sind nicht nur die Elemente der archetypischen Heldenreise, sie entsprechen auch den tatsächlichen, alltäglichen Erfahrungen des Soldatenlebens im Ersten Weltkrieg: Marsch an die Front, Schützengraben, Rückzug und eine Verschnaufpause.
Auf ihrer Verfolgungsjagd sind Frodos Gefährten Aragorn, Legolas und Gimli mit einer Ausdauer gesegnet, die „in so mancher Halle besungen werden“ sollte, wie Éomer anmerkt: Mann, Elb und Zwerg sind heldenhafte Gestalten an der Schwelle zum Mythos. Wo ihre Schritte flink sind, kämpfen sich die weniger heldenhaften Füße der Hobbits mühsam voran, und nur ihr eiserner Wille lässt sie weitergehen, „ihre Rücken … gebeugt unter ihren Lasten.“ Das klingt wie die Beschreibung der Weltkriegssoldaten in Wilfred Owens Gedicht: „Zweifach gebeugt wie alte Bettler unter ihrem Sack, / X-beinig … Trunken vor Erschöpfung …“ Das Gewicht eines Rucksacks ist die physische Entsprechung der Last, die die Pflicht und das Schicksal einem auferlegen – ebenso wie Frodos besondere Verantwortung, nämlich den Ring zu tragen, der „Folter für die Seele“ bedeutet und eine nahezu unerträgliche „Last für den Körper“.
Doch eine noch größere Belastung für Frodo ist die Erkenntnis, dass das Auge nach ihm suchte: „Es war mehr als das Zerren des Ringes, was bewirkte, dass er sich beim Gehen duckte und bückte.“ Eine so umfassende Überwachung hat in einem mittelalterlichen Epos keinen Platz, und sie fällt auch im 20. Jahrhundert nicht in dieselbe Kategorie wie der Große Bruder aus „1984“. Sauron ist nicht der staatliche Kerkermeister, sondern der militärische Feind. Das Auge lässt seinen Blick über das Land schweifen, um jede Bewegung zu beobachten, und aus der Luft überwachen die Ringgeister, was unter ihnen geschieht. Bei der Durchquerung der Totensümpfe, den „Niemandslanden“ und den „keuchenden Gruben und giftigen Hügeln“ vor dem Schwarzen Tor von Mordor wird die Angst, entdeckt zu werden, immer größer. Tolkien gab später zu, dass die Beschreibung dieser Landschaft von seiner Erinnerung an das Schlachtfeld der Somme inspiriert worden war.
In „Der Herr der Ringe“ besteht stets die Notwendigkeit, sich zu verbergen. Die Helden alter Epen konnten mit wehenden Bannern und lautem Hornstoß in die Schlacht ziehen, und Tolkien bewahrt mit der Schlacht auf den Pelennor-Feldern die Erinnerung an diese Denkweise. Er selbst aber sah sie in den Schützengräben seiner Zeit sterben. Für moderne Helden und für Frodo ist Überraschung der Schlüssel zum Erfolg; sich vor dem Feind zu verbergen, sichert das Überleben.
Der schlimmste Kampf, den ein Soldat im Ersten Weltkrieg zu führen hatte, war nicht gegen feindliche Truppen, sondern gegen Angst und Verzweiflung. Als sich die Briten 1914 bei Mons zurückziehen mussten, entstand aus der Not, der Demoralisierung entgegenzutreten, sogar der Mythos, die Engel selbst hätten in den Konflikt gegen die Deutschen eingegriffen. Mit dem Anführer der Ringgeister erschafft Tolkien ihr Gegenstück. Dieser „große schwarze Reiter, ein dunkler Schatten unter dem Mond“ löst Panik aus: „Nicht durch die Überzahl wurden wir besiegt“, betont Boromir. Als Frodo durch die Klinge des Ringgeists verletzt wird, durchlebt er einen dunklen Traum aus Verzweiflung und Teilnahmslosigkeit.
Tolkiens persönliche Kriegserlebnisse hinterlassen bei den Ringgeistern unverkennbare Spuren. Die frühen, formlosen Gasmasken, die 1916 zum Einsatz kamen, verdeckten das Gesicht ihres Trägers genauso vollkommen, wie es die Kapuzen der Schwarzen Reiter taten, und in ihnen zu atmen verursachte schnüffelnde Geräusche; wer in ihnen zu reden versuchte, sprach zischelnd. Ihr „langgezogenes Wehklagen“, das in einem „hohen, durchdringenden Ton“ endete, erinnert stark an die „schrillen Wahngesänge der Granaten“, so Wilfred Owen, und ein anderer Schriftsteller beschrieb sie als „ein ohrenbetäubendes Kreischen“.
Ich würde behaupten, dass der Ursprung der fliegenden Ringgeister an der Somme zu suchen ist, in der Erinnerung an das Grauen: Doppeldecker und Fesselballons, die das Schlachtfeld überwachten, und die Artilleriegeschosse, die unaufhörlich einschlugen. Der Kriegskorrespondent der „Times“ schrieb über die Somme am Vorabend von Tolkiens erstem Einsatz: „Geschosse pfiffen laut flatternd, in der Dunkelheit von unsichtbaren Flügeln getragen, durch den Himmel und über unsere Köpfe hinweg.“ Der Soldat Frederic Manning schrieb, dass während des Artilleriebeschusses „das Geräusch hektisch geschlagener Flügel die Luft erfüllte, nur um vom Kreischen heranfliegender Granaten übertönt zu werden.“
Es gibt auch Anlass zu vermuten, dass Tolkien auf der Suche nach einer symbolischen Umsetzung für Schlachtfeldtraumata, Demoralisierung und Verzweiflung auf seine Kriegserfahrungen mit Kampfgasen zurückgriff. Ein unsichtbarer „Schwarzer Atem“ wird dafür verantwortlich gemacht, wie die Ringgeister die Moral ihrer Gegner untergraben. Auch Frodo trifft auf eine Wolke der Angst bei der Spinne Kankra. Dem Pfad der Toten entströmt ein „grauer Dunst“, und als Frodo und seine Kameraden auf den Hügelgräberhöhen von einem Nebel überrascht werden, haben sie das Gefühl, „in einer Falle gefangen zu sein.“
An dieser Stelle, in dieser verfluchten Grabstätte, ist Frodo zum ersten Mal von der Realität abgeschnitten, in einem Albtraum gefangen, und muss seine Lähmung abschütteln, um die geisterhafte Hand abzuhacken, die nach der Opferklinge zu greifen versucht, die über die Hälse seiner schlafenden Freunde gelegt worden war. Die hier beschriebene Szene erinnert an eine Orientierungslosigkeit, wie sie durch hohes Fieber, tiefsitzende Furcht oder die nahende Schlacht hervorgerufen wurde. Wer über den Ersten Weltkrieg schrieb, betonte den „ungeheuren Kraftakt“, den es brauchte, um endlich in Aktion zu treten. Ein Augenzeuge beobachtete seinen Trupp, allesamt „gute Männer …, die wie in Trance über das Niemandsland blickten und augenscheinlich nicht mehr in der Lage waren, sich auch nur einen Schritt zu bewegen.“ Frodos Versagen, seinen Freunden aus der Notlage helfen zu können, das Gefühl zu Stein verwandelt worden zu sein, das fahle grünliche Licht – das alles erinnert an Wilfred Owens Beschreibung eines Gasangriffs, der Anblick eines vergasten Soldaten, durch die grün gefärbten Gasmaskensichtscheiben: „Undeutlich, durch die beschlagene Scheibe und trübes grünes Licht / Wie in einem grünen Meer …“ Eine nahezu identische Beschreibung findet sich bei der bekanntesten albtraumartigen Begegnung mit den Toten im „Herrn der Ringe“: In den Totensümpfen erkennt Frodo die unter Wasser liegenden Leichen, wie durch „ein Fenster, mit einer schmutzigen Scheibe verglast.“
Die Totensümpfe sind Sinnbild erbärmlicher, sinnloser Verschwendung, und die Krieger in ihren feuchten Gräbern nur Trugbilder, wohl durch die finsteren Kräfte des Dunklen Herrschers beschworen. Die geisterhaften Erscheinungen beziehen sich aber eindeutig auf tatsächlich Erlebtes, selbst wenn Tolkien diese Beobachtung nicht bestätigt hätte. Die Toten der Schlachtfelder blieben allen Überlebenden in Erinnerung, sie verfolgten den Soldaten und Schriftsteller Siegfried Sassoon bis in die Heimat: Er sah sie auf sein Krankenhausbett zukriechen oder auf den Bürgersteigen liegen, als er durch London ging.
Tolkien fasste sein Dasein in den Schützengräben in zwei Worten zusammen: „tierisches Grauen“. Beklemmende, ansteckende Angst verwandelt Menschen in wilde Tiere; der Schrei der Ringgeister bringt Krieger dazu, „nicht mehr an den Krieg (zu denken), sondern nur daran, sich zu verstecken und wegzukriechen, und an den Tod.“ Einer der Kriegskorrespondenten beschrieb es ähnlich, als er sagte, dass sich die Soldaten in der Schlacht zu „primitiven Wesen entwickelten, menschlichen Tieren.“
Der Maßstab des langsamen Verfalls, der Verwandlung in etwas Unmenschliches, ist Gollum. Ein Mythos von der Somme, der unter den gemeinen Soldaten weit verbreitet war, spielte bei seiner Charakterentwicklung unter Umständen eine Rolle. Ein Soldat erinnerte sich später an deutliche Warnungen, dass niemand allein einen bestimmten Punkt in den Schützengräben überqueren sollte, weil ihm dort die „wilden Menschen“ drohten, „die dort lebten, tief im Erdreich, leichenfressende Dämonen, die inmitten der verrottenden Toten hausten und nur des Nachts hervorkamen, um zu plündern und zu morden.“ In einer anderen Erzählung wird ebenso von diesen halb wahnsinnigen Deserteuren berichtet, die allen Armeen entstammten: Sie waren leichenblass, stanken nach moderigem Keller und brachen plötzlich aus „Höhlen und Grotten unter bestimmten Frontabschnitten hervor, um die Sterbenden ihrer Habseligkeiten zu berauben.“
Tolkien beschrieb nur wenige seiner Charaktere so ausführlich wie Gollum: Sein Kopf ist zu groß für den mageren Hals, seine Zunge hängt ihm aus dem Mund, er hat eine „kollernde Kehle“ und seine feuchtkalten, grapschenden Finger knacken vernehmlich. Er wechselt ständig zwischen Kichern und Schluchzen und zuckt zusammen, krümmt sich wie unter unsichtbaren Schlägen. Jedes dieser Symptome lässt sich auch bei Opfern posttraumatischer Belastungsstörungen beobachten. Als die ersten Tausenden Soldaten an der Somme diese Symptome aufwiesen, sprach man noch von „Kriegszitterern“.
Auch bei Frodo tauchen diese Symptome immer häufiger auf. Einzelne Granateinschläge waren für die Erkrankung nicht verantwortlich; schlimmer waren die unaufhörlichen, schweren Bombardements und die langen Einsätze in den vordersten Gräben. Wer sich wie Frodo andauernden Gefahren ausgesetzt sieht, gewöhnt sich nicht an das Grauen, sondern wird mit jedem Tag schwächer. Nur dank Sams unerschütterlicher Kameradschaft ist er überhaupt in der Lage, dem Wahnsinn so lange zu widerstehen, doch als sein treuer Begleiter ihm anbietet, seine Last abzunehmen, verwandelt er sich vor Frodos Augen in einen Ork, der nach seinem Ring grapscht. Der Ring bestimmt nun seine Wahrnehmung, und Frodo weist erste Anzeichen einer gespaltenen Persönlichkeit auf, wie ein weiterer Gollum.
Als Frodo während eines Gewitters den durchdringenden Schrei der Ringgeister hört, lässt ihn das schiere Entsetzen, das von ihm Besitz ergreift, für eine kurze Zeit blind werden. Dieser brutale Angriff auf die Sinne ähnelt in seiner Beschreibung dem, was Soldaten des Ersten Weltkriegs bei Artilleriebeschuss durchlebten. In diesem Fall scheint es sich um ein ungewöhnliches Phänomen zu handeln, aber Blindheit gehörte zu den zahlreichen Symptomen der posttraumatischen Belastungsstörung. Ein Artikel in The Times beschrieb 1915 das Opfer dieses neuen Nervenleidens wie folgt: „Er mag derartig betroffen sein, dass sich selbst seine Sinneswahrnehmungen wandeln; er wird blind oder taub, und oft ist er nicht einmal mehr in der Lage zu riechen oder schmecken. Sein eigenes Ich ist ihm fremd, alle Zusammenhänge, aus denen er selbst besteht … Des Nachts kann er nicht mehr schlafen, und wenn er es doch vermag, so trüben wüste Träume seine Erholung, und bis ins kleinste Detail durchlebt er erneut die Schlachtfelder, auf denen er gekämpft hat.“
Frodo zuckt unkontrolliert, sein Schlaf ist „unruhig …, voller Träume von Feuer“. Die Erinnerung an alles Schöne im Leben ist ausgelöscht.