Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Archive for August 2020

Seemannsgarn & Wahrheit

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Update zu O Mädchen mein Mädchen und
Keine Geschichte über Blut, Krieg und Verwandlungen:

RetrohoundAlles Gute zum 271., Herr Geheimrat.

Woran erinnern wir uns bei Ihrem Namen? Dass Sie’s sehr mit dem Weybervolck hatten, lieber eine brave Zeitlang weitab und gründlich untergetaucht sind, bevor Sie sich einem Problem stellten, und da am liebsten in die Provinz statt unter zu viele Ihresgleichen, die Ihnen den Rang als einsames Genie streitig machen könnten — damit verbunden Ihre Italienische Reise — ferner an Ihre Erfindung des Bestsellers in Gestalt des Werther und Götz von Berlichingen, an den Faust, der Tragödie ersten und zweyten Theil, Wanderers Nachtlied (das war wirklich gut!), Wilhelm Meister, die Lehr– und Wanderjahre sowie davor die Theatralische Sendung, die erlesenen Ferkeleien in den Venezianischen Epigrammen und Römischen Elegien, das Zurückzucken davor in sotanen Marienbader, die nur von Ihnen Höchstderoselbst allzu überschätzte, dabei ganz drogenfrei wundersam weggedriftete Farbenlehre, ein bisschen Grundschulstoff (Erlkönig, Zauberlehrling), ziemlich viel Dichtung, allerhand Wahrheit — und dann noch der Versuch einer Seemannsgeschichte.

Alles kann man ihm zutrauen, dem Goethe, nur keine Seefahrergeschichten, oder nicht? — Doch, es gibt eine. Reise der Söhne Megaprazons heißt sie, ist Fragment geblieben und spärlich dokumentiert. Die Textmenge, mit Nachweis eines früher entstandenen Kapitelschemas als umfangreicher Roman angelegt, umfasst 4652 Wörter, das entspricht einem neunseitigen Word-Dokument in durchschnittlich hässlicher Arial 12-Punkt, die Frankfurter Goethe-Gesamtausgabe braucht 15½ Druckseiten. In den meisten Gesamtausgaben fehlt sie; mir selbst liegt sie in der praktisch nur für große Bibliotheken erschwinglichen Frankfurter Ausgabe vor, und auch das nur, weil die inzwischen teilweise als Taschenbuch bei Insel gemacht wird: im Band TB 11: Die Leiden des jungen Werthers [beide Fassungen als Paralleldruck!]/Die Wahlverwandtschaften/Novelle/Kleine Prosa/Epen. Herausgegeben von Waltraud Wiethölter in Zusammenarbeit mit Christoph Brecht.

RetrohoundDas ist eine ganze Menge auf den 1245 Seiten, dazu noch wegweisend durchkommentiert. Und im Teil mit der Kleinen Prosa finden sich die Söhne Megaprazons. In der Sophienausgabe, der geradezu sprichwörtlich vollständigsten von allen, sind sie selbstverständlich enthalten; in der meinigen, der Hamburger, sind sie nicht. Online komme ich auf zwei ernstzunehmende Volltexte: im Gutenberg-Projekt und — die beste und handlichste: — im Scan der Sophienausgabe bei der Harvard University — und dann noch einige „mittelzuverlässige“ Scans für Google-Books. Wer weitere Fundstellen ausmacht — ich zähle eventuell auf die Münchner Ausgabe —, kann sie gern in den Kommentaren vermelden.

Goethe selbst hat sich ein einziges Mal zu seinem Seemannsversuch geäußert: in der Kampagne in Frankreich 1792, niedergeschrieben 1819 bis 1822:

Ich hatte seit der Revolution, mich von dem wilden Wesen einigermaßen zu zerstreuen, ein wunderbares Werk begonnen, eine Reise von sieben Brüdern verschiedener Art, jeder nach seiner Weise dem Bunde dienend, durchaus abenteuerlich und märchenhaft, verworren, Aussicht und Absicht verbergend, ein Gleichnis unseres eignen Zustandes. Man verlangte eine Vorlesung, ich ließ mich nicht viel bitten und rückte mit meinen Heften hervor; aber ich bedurfte auch nur wenig Zeit, um zu bemerken, daß niemand davon erbaut sei. Ich ließ daher meine wandernde Familie in irgend einem Hafen und mein weiteres Manuskript auf sich selbst beruhen.

Eine ganz ungewohnt selbstkritische Haltung Goethes: Auf der ersten Lesung hat sein jüngstes geistiges Kind nicht den erhofften Erfolg, und darum lässt er es absichtlich, ohne Not liegen. Die erhaltenen Fragmente von Goethes Manuskript stehen auf dem Papier einer Mühle unweit von Trarbach, wo Goethes Compagnie auf dem Weg in die Champagne durchkam. Demnach schrieb er es wohl im November 1792 — in Zelt- und Zivilstenquartieren auf dem Feldzug des Weimarer Herzogs. Auch im Falle eines privilegierten Weimarer Ministers, sonst nur Seidenkissen gewohnt ist, bleibt verständlich, dass sich unter solcherlei Erlebnissen manches relativiert.

RetrohoundWoher und zu welchem Ende nun eine Goethische Seegeschichte? Lesen wir dazu tiefer in den „dicht[en], bestechend[en] und rücksichtslos formuliert[en]“ (Süddeutsche Zeitung) Kommentar der Frankfurter Ausgabe hinein:

Wie mit zahlreichen anderen Werken der 1790er Jahre bemühte sich Goethe mit der Reise der Söhne Megaprazons um eine literarische Antwort auf die Französische Revolution, wobei sich das Genre des satirischen Reiseromans für ein solches Unternehmen durchaus anbot, hatten sich doch in der Gattungstradition sowohl Verfahren einer grotesken Transformation zeitgenössischer Konstellationen als auch Möglichkeiten einer Distanzierung vom unmittelbar politischen Anlaß herausgebildet. Beides, die Analyse des Geschehens und eine kritische Stellungnahme, ließ sich auf dem Wege allegorischer Verfremdung formulieren. Goethes Referenztext erwies sich als in dieser Hinsicht als besonders einschlägig: François Rabelais‘ (1483—1553) Romanwerk Gargantua et Pantagruel, erschienen in fünf separaten Büchern zwischen 1534 und 1564.

Halten wir fest: Es sollte ein Reiseroman werden — und zwar ein satirischer — und die Satire mit der Absicht, aus sicherer Distanz das Zeitgeschehen aufzuarbeiten. Und sofort sieht es Goethen viel ähnlicher: Das große Vorbild Rabelais war auch 1792 schon lange genug verstorben, um dem gegenwärtigen Universalgenie keinen Abbruch zu tun, und mit zeitkritischen Aussagen will man sicher bei niemandem anecken, solange man bequem bei Herzogs hausen darf.

Goethe kommt spürbar nicht richtig in die Gänge, das Gargantua-Remake kommt reichlich behäbig daher: Die Hauptfiguren heißen allen Ernstes Epistemon, Panurg, Euphemon, Alkides, Alciphron und Eutyches, von deren mythologisch nicht belegtem Vater, der Titetlfigur Megaprazon ganz zu schweigen. Was soll das werden? Ausweichen in eine aufgekochte Kritik an der jahrhundertealten Lutherischen Reformation statt an der brenzligen Franzosenrevolution? Mit Verlaub: Rabelais hätte diesem Breitarsch von Roman eines Feudalistenschätzchens ein ganzes saftstrotzendes Kapitel voller französischer Vokabeln eingeflochten, die bis heute nicht im Micro Robert vorkommen.

Leider sind Goethes satirisch gemeinte Zuweisungen weder dramaturgisch noch sachlich korrekt:

Ist schon die räumliche Koexistenz des reformatorischen mit dem revolutionären Streitfall nicht unbedingt historisch einleuchtend, so zeigt sich im weiteren auf das deutlichste, daß es der Allegorie aus strukturellen Gründen nicht gelingt, den ‚Ort‘ der Revolution im Europa des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu bestimmen. Die Insel der Monarchomanen habe sich „auf und davon gemahct“, heißt es. Tatsächlich ist dieses Land im Umsturz seiner alten Ordnung zu einem vagierenden, einem effektiv ortlosen Gebilde zerfallen. Zwar lassen sich, indem das alte Märchenmotiv der schwimmenden Insel allegorisiert wird, an dem dreigeteilten Territorium aktuelle politische Prozesse um den Interventionskrieg illustrieren: Die ’steile Küste‘ — der Adel — nähert sich gleich nach der Katastrophe dem Land der Papimanen, orinetiert sich dann aber doch „etwas mehr Nordwärts“, ohne — in der Orientierung auf Habsburg — „festen Stand gewinnen“ zu können; später zeigt sich noch einmal die ‚Residenz‘ und schließt sich beinahe wieder mit der ’steilen Küste‘ zusammen.

bezeichnend für Goethes Konstruktion ist allerdings, daß die „Ebene“ als der dem dritten Stand zugeordnete Landesteil ganz außer Sicht geraten und anscheinend verschollen ist. Gerade an diesem Bruchstück der alten Ordnung — dem nachrevolutionären Frankreich selbst — wäre jedoch zu studieren, ob es nicht auch ohne ‚Residenz‘ und ’steile Küste‘ geht. Der allegorische Modus der Übersetzung politischer Ereignisse in eine räumliche Topik widerstreitet ganz offensichtlich der politischen Geographie des zeitgenössischen Europa. Durch die Revolution war die staatliche Integrität des französischen Territoriums keineswegs angefochten — das hatte Goethe im Zuge der ‚Campagne in Frankreich‘ ja hinlänglich erfahren. […] Dieser Konsequenz seiner eigenen Konstruktion zu folgen, ist der Autor der Reise offensichtlich nicht bereit. Statt dessen setzt er sich dem Verdacht aus, er wolle den Mythos gottgegebener und zeitloser Herrschaft affirmieren.

RetrohoundWas einen desto wahrscheinlicher ankommt, wenn man weiß, wie dicke sich Goethe nachmals mit Napoleon vertragen sollte. Da unternimmt Kommentatorin Wiethölter einen Versuch, Goethe in Schutz zu nehmen, den ich ihr in seiner engagierten Ausgewogenheit hoch anrechnen möchte:

Es hieße die kargen Fragmente zu einer zweifellos umfänglich konzipierten Erzählung überfordern, wollte man jeden einzelnen Zug er Allegorie auf eine politische Konzeption hin durchleuchten. […] Man würde auch dem Fragment der Einleitung nicht gerecht, in dem dialogisch der Konnex zum Roman Rabelais‘ hergestellt wird. In beiden Textstücken dominiert das komödiantische Spiel mit dem Genre des Seeabenteuers über die satirische Absicht. […] Die Reise der Söhne Megaprazons scheitert vielmehr — auf instruktive Weise — an den strukturellen Prämissen der gewählten Gattung: Der Text ist als ein literarischer Kommentar zum Zeitgeschehen angelegt, aber zugleich ist er gegen diese Aktualität als Versuch einer poetischen ‚Zerstreuung‘ zu lesen. So fehlt dem Kommentar die Entschiedenheit der polemischen Stellungnahme, jene Eindeutigkeit, mit der die auf Rabelais‘ klarer Antithetik beruhende Allegorie politisch zu fundieren wäre. Daß sich Goethe dieser Nötigung entzogen hat, zeigt der Text in Form von Widersprüchen; so ist nur konsequent, daß kein Erzählfluß zustande kommt und das Projekt schließlich abgebrochen wurde.

Ja, eben: Alles kann man ihm zutrauen, dem Goethe: Bestseller, Longseller, Seefahrergeschichten, nur keine Satire. Selbst für seinen Kriegsbericht hat er sich den Kalauer „Campagne in der Champagne“, der sachlich stimmig gewesen wäre, fürnehm verkniffen. Auf gut teutsch: Da hat sich der Dichterfürst an der Satire verhoben.

Für solche philologischen Einsichten, ja: Höhenflüge wie Waltraud Wiethölters Kommentar hab ich die teuren Ausgaben der Dead White Males wirklich lieb und lasse die Kaufhofauswahlen leichten Herzens da, wo sie hingehören: bei den fehlerbehafteten, unmöblierten Plain-Text-Gratisdownloads für alles, was einen Bildschirm zum Wegwischen hat.

Kommt nun nicht der Einwand, Goethe beherrschte die Satire nicht, einem Vorwurf gleich, dass Mutter Theresa keine Pferde malen konnte oder die Usbeken nichts von Käse verstehen? Ein satirischer Seebärenroman, jetzt bitte mal. Ist Goethe vielleicht Melville? Stevenson? Conrad? Oder wenigstens Wilhelm Raabe? — Gut, er hat seinen Mangel eingesehen, das rettet ihn. „Aussicht und Absicht verbergend“, sagt er selbst, und legt den netten Versuch bereitwillig zu den Akten.

Wir, gnadenlos, wie wir sind, tun das nicht. Ungekürzt:

——— Johann Wolfgang vvon Goethe:

Reise der Söhne Megaprazons

Erstes Kapitel

Die Söhne Megaprazons überstehen eine harte Prüfung

RetrohoundDie Reise ging glücklich vonstatten, schon mehrere Tage schwellte ein günstiger Wind die Segel des kleinen wohlausgerüsteten Schiffes, und in der Hoffnung bald Land zu sehen beschäftigten sich die trefflichen Brüder ein jeder nach seiner Art. Die Sonne hatte den größten Teil ihres täglichen Laufes zurückgelegt; Epistemon saß an dem Steuerruder und betrachtete mit Aufmerksamkeit die Windrose und die Karten; Panurg strickte Netze mit denen er schmackhafte Fische aus dem Meere hervorzuziehen hoffte; Euphemon hielt seine Schreibtafel und schrieb, wahrscheinlich eine Rede, die er bei der ersten Landung zu halten gedachte; Alkides lauerte am Vorderteil, mit dem Wurfspieß in der Hand, Delphinen auf, die das Schiff von Zeit zu Zeit begleiteten; Alciphron trocknete Meerpflanzen, und Eutyches, der jüngste, lag auf einer Matte in sanftem Schlafe.

Wecket den Bruder! rief Epistemon, und versammelt euch bei mir; unterbrecht einen Augenblick eure Geschäfte, ich habe euch etwas Wichtiges vorzutragen. Eutyches erwache! Setzt euch nieder! Schließt einen Kreis!

Die Brüder gehorchten dem Worte des Ältesten und schlossen einen Kreis um ihn. Eutyches, der schöne, war schnell auf den Füßen, öffnete seine großen blauen Augen, schüttelte seine blonden Locken und setzte sich mit in die Reihe.

Der Kompaß und die Karte, fuhr Epistemon fort, deuten mir einen wichtigen Punkt unsrer Fahrt an; wir sind auf die Höhe gelangt, die unser Vater beim Abschied anzeichnete, und ich habe nun einen Auftrag auszurichten, den er mir damals anvertraute. – Wir sind neugierig zu hören, sagten die Geschwister untereinander.

Epistemon eröffnete den Busen seines Kleides und brachte ein zusammengefaltetes, buntes, seidnes Tuch hervor. Man konnte bemerken daß etwas darein gewickelt war, an allen Seiten hingen Schnüre und Fransen herunter, künstlich genug in viele Knoten geschlungen, farbig, prächtig und lieblich anzusehen.

Es eröffne jeder seinen Knoten, sagte Epistemon, wie es ihn der Vater gelehrt hat. Und so ließ er das Tuch herumgehen; jeder küßte es, jeder öffnete den Knoten, den er allein zu lösen verstand; der Älteste küßte es zuletzt, zog die letzte Schleife auseinander, entfaltete das Tuch und brachte einen Brief hervor, den er auseinander schlug und las.

RetrohoundMegaprazon an seine Söhne. Glück und Wohlfahrt, guten Mut und frohen Gebrauch eurer Kräfte! Die großen Güter, mit denen mich der Himmel gesegnet hat, würden mir nur eine Last sein, ohne die Kinder, die mich erst zum glücklichen Manne machen. Jeder von euch hat, durch den Einfluß eines eignen günstigen Gestirns, eigne Gaben von der Natur erhalten. Ich habe jeden nach seiner Art von Jugend auf gepflegt, ich habe es euch an nichts fehlen lassen, ich habe den Ältesten zur rechten Zeit eine Frau gegeben, ihr seid wackre und brave Leute geworden. Nun habe ich euch zu einer Wanderschaft ausgerüstet, die euch und eurem Hause Ehre bringen muß. Die merkwürdigen und schönen Inseln und Länder sind berühmt, die mein Urgroßvater Pantagruel teils besucht, teils entdeckt hat, als da ist die Insel der Papimanen, Papefiguen, die Laterneninsel und das Orakel der heiligen Flasche, daß ich von den übrigen Ländern und Völkern schweige. Denn sonderbar ist es: berühmt sind jene Länder, aber unbekannt, und scheinen jeden Tag mehr in Vergessenheit zu geraten. Alle Völker Europens schiffen aus Entdeckungsreisen zu machen, alle Gegenden des Ozeans sind durchsucht, und auf keiner Karte finde ich die Inseln bezeichnet, deren erste Kenntnis wir meinem unermüdlichen Urgroßvater schuldig sind; entweder also gelangten die berühmtesten neuen Seefahrer nicht in jene Gegenden, oder sie haben, uneingedenk jener ersten Entdeckungen, die Küsten mit neuen Namen belegt, die Inseln umgetauft, die Sitten der Völker nur obenhin betrachtet und die Spuren veränderter Zeiten unbemerkt gelassen. Euch ist es vorbehalten, meine Söhne, eine glänzende Nachlese zu halten, die Ehre eures Ältervaters wieder aufzufrischen und euch selbst einen unsterblichen Ruhm zu erwerben. Euer kleines, künstlich gebautes Schiff ist mit allem ausgerüstet, und euch selbst kann es an nichts fehlen: denn vor eurer Abreise gab ich einem jeden zu bedenken, daß man sich auf mancherlei Art in der Fremde angenehm machen, daß man sich die Gunst der Menschen auf verschiedenen Wegen erwerben könne; ich riet euch daher, wohl zu bedenken, womit ihr außer dem Proviant, der Munition, den Schiffsgerätschaften euer Fahrzeug beladen, was für Waren ihr mitnehmen, mit was für Hülfsmitteln ihr euch versehen wolltet. Ihr habt nachgedacht, ihr habt mehr als eine Kiste auf das Schiff getragen, ich habe nicht gefragt was sie enthalten. – Zuletzt verlangtet ihr Geld zur Reise, und ich ließ euch sechs Fäßchen einschiffen, ihr nahmt sie in Verwahrung und fuhrt unter meinen Segenswünschen, unter den Tränen eurer Mutter und eurer Frauen, in Hoffnung glücklicher Rückkehr, mit günstigem Winde davon.

RetrohoundIhr habt, hoffe ich, den langweiligsten Teil eurer Fahrt durch das hohe Meer glücklich zurückgelegt, ihr naht euch den Inseln, auf denen ich euch freundlichen Empfang, wie meinem Urgroßvater, wünsche.

Nun aber verzeiht mir, meine Kinder, wenn ich euch einen Augenblick betrübe – es ist zu eurem Besten.

Epistemon hielt inne, die Brüder horchten auf.

Daß ich euch nicht mit Ungewißheit quäle, so sei es gerade herausgesagt: Es ist kein Geld in den Fäßchen. – Kein Geld! riefen die Brüder wie mit einer Stimme. – Es ist kein Geld in den Fäßchen, wiederholte Epistemon mit halber Stimme und ließ das Blatt sinken. Stillschweigend sahen sie einander an, und jeder wiederholte in seinem eignen Akzente: Kein Geld! kein Geld?

Epistemon nahm das Blatt wieder auf und las weiter: Kein Geld! ruft ihr aus und kaum halten eure Lippen einen harten Tadel eures Vaters zurück. Faßt euch! Geht in euch und ihr werdet die Wohltat preisen die ich euch erzeige. Es steht Geld genug in meinen Gewölben, da mag es stehen, bis ihr zurückkommt und der Welt gezeigt habt, daß ihr der Reichtümer wert seid, die ich euch hinterlasse.

RetrohoundEpistemon las wohl noch eine halbe Stunde, denn der Brief war lang; er enthielt die trefflichsten Gedanken, die richtigsten Bemerkungen, die heilsamsten Ermahnungen, die schönsten Aussichten; aber nichts war im Stande die Aufmerksamkeit der Geschwister an die Worte des Vaters zu fesseln; die schöne Beredsamkeit ging verloren, jeder kehrte in sich selbst zurück, jeder überlegte was er zu tun, was er zu erwarten habe.

Die Vorlesung war noch nicht geendigt, als schon die Absicht des Vaters erfüllt war: jeder hatte schon bei sich die Schätze gemustert, womit ihn die Natur ausgerüstet, jeder fand sich reich genug, einige glaubten sich mit Waren und andern Hülfsmitteln wohl versehen; man bestimmte schon den Gebrauch voraus, und als nun Epistemon den Brief zusammenfaltete, ward das Gespräch laut und allgemein; man teilte einander Plane, Projekte mit, man widersprach, man fand Beifall, man erdachte Märchen, man ersann Gefahren und Verlegenheiten, man schwätzte bis tief in die Nacht, und eh‘ man sich niederlegte mußte man gestehen, daß man sich auf der ganzen Reise noch nicht so gut unterhalten hatte.

Zweites Kapitel

Man entdeckt zwei Inseln;
es entsteht ein Streit, der durch Mehrheit der Stimmen beigelegt wird

RetrohoundDes andern Morgens war Eutyches kaum erwacht und hatte seinen Brüdern einen guten Morgen geboten, als er ausrief: Ich sehe Land! – Wo? riefen die Geschwister. – Dort, sagte er, dort! und deutete mit dem Finger nach Nordosten. Der schöne Knabe war vor seinen Geschwistern, ja vor allen Menschen, mit scharfen Sinnen begabt und so machte er überall wo er war ein Fernrohr entbehrlich. Bruder, versetzte Epistemon, du siehst recht, erzähle uns weiter, was du gewahr wirst. – Ich sehe zwei Inseln, fuhr Eutyches fort, eine rechts, lang, flach, in der Mitte scheint sie gebirgig zu sein; die andre links zeigt sich schmäler und hat höhere Berge. – Richtig! sagte Epistemon und rief die übrigen Brüder an die Karte. Sehet, diese Insel rechter Hand ist die Insel der Papimanen, eines frommen wohltätigen Volkes. Möchten wir bei ihnen eine so gute Aufnahme als unser Altervater Pantagruel erleben. Nach unsers Vaters Befehl landen wir zuerst daselbst, erquicken uns mit frischem Obste, Feigen, Pfirsichen, Trauben, Pomeranzen, die zu jeder Jahrzeit daselbst wachsen; wir genießen des guten frischen Wassers, des köstlichen Weines; wir verbessern unsre Säfte durch schmackhafte Gemüse: Blumenkohl, Brokkoli, Artischocken und Karden; denn ihr müßt wissen, daß durch die Gnade des göttlichen Statthalters auf Erden nicht allein alle gute Frucht von Stunde zu Stunde reift, sondern daß auch Unkraut und Disteln eine zarte und säftige Speise werden. – Glückliches Land! riefen sie aus, wohlversorgtes, wohlbelohntes Volk! Glückliche Reisende die in diesem irdischen Paradiese eine gute Aufnahme finden! – Haben wir uns nun völlig erholt und wiederhergestellt, alsdann besuchen wir im Vorbeigehn die andre leider auf ewig verwünschte und unglückliche Insel der Papefiguen, wo wenig wächst und das wenige noch von bösen Geistern zerstört oder verzehrt wird. Sagt uns nichts von dieser Insel! rief Panurg, nichts von ihren Kohlrüben und Kohlrabis, nichts von ihren Weibern, ihr verderbt uns den Appetit, den ihr uns soeben erregt habt.

Und so lenkte sich das Gespräch wieder auf das selige Wohlleben, das sie auf der Insel der Papimanen zu finden hofften; sie lasen in den Tagebüchern ihres Ältervaters was ihm dort begegnet, wie er fast göttlich verehrt worden war, und schmeichelten sich ähnlicher glücklicher Begebenheiten.

Indessen hatte Eutyches von Zeit zu Zeit nach den Inseln hingeblickt, und als sie nun auch den andern Brüdern sichtbar waren, konnte er schon die Gegenstände genau und immer genauer darauf unterscheiden, je näher man ihnen kam. Nachdem er beide Inseln lange genau betrachtet und miteinander verglichen, rief er aus: Es muß ein Irrtum obwalten, meine Brüder. Die beiden Landstrecken, die ich vor mir sehe, kommen keineswegs mit der Beschreibung überein die Bruder Epistemon davon gemacht hat; vielmehr finde ich gerade das Umgekehrte, und mich dünkt, ich sehe gut.

Wie meinst du das, Bruder? sagte einer und der andere.

Die Insel zur rechten Seite auf die wir zuschiffen, fuhr Eutyches fort, ist ein langes flaches Land mit wenigen Hügeln und scheint mir gar nicht bewohnt; ich sehe weder Wälder auf den Höhen, noch Bäume in den Gründen; keine Dörfer, keine Gärten, keine Saaten, keine Herden an den Hügeln, die doch der Sonne so schön entgegen liegen.

Ich begreife das nicht, sagte Epistemon –

Eutyches fuhr fort: Hier und da seh‘ ich ungeheure Steinmassen, von denen ich mich nicht zu sagen unterfange, ob es Städte oder Felsenwände sind. Es tut mir herzlich leid, daß wir nach einer Küste fahren die so wenig verspricht.

Und jene Insel zur Linken? rief Alkides. – Sie scheint ein kleiner Himmel, ein Elysium, ein Wohnsitz der zierlichsten häuslichsten Götter. Alles ist grün, alles gebaut, jedes Eckchen und Winkelchen genutzt. Ihr solltet die Quellen sehen, die aus den Felsen sprudeln, Mühlen treiben, Wiesen wässern, Teiche bilden. Büsche auf den Felsen, Wälder auf den Bergrücken, Häuser in den Gründen, Gärten, Weinberge, Äcker und Ländereien in der Breite wie ich nur sehen und sehen mag.

Man stutzte, man zerbrach sich den Kopf. Endlich rief Panurg: Wie können sich ein Halbdutzend kluge Leute so lang bei einem Schreibefehler aufhalten! Weiter ist es nichts. Der Copiste hat die Namen der beiden Inseln auf der Karte verwechselt, jenes ist Papimanie, diese da ist Papefigue, und ohne das gute Gesicht unsers Bruders waren wir im Begriff einen schnöden Irrtum zu begehen. Wir verlangen nach der gesegneten Insel und nicht nach der verwünschten; laßt uns also den Lauf dahin richten wo uns Fülle und Fruchtbarkeit zu empfangen verspricht.

RetrohoundEpistemon wollte nicht sogleich seine Karten eines so großen Fehlers beschuldigen lassen, er brachte viel zum Beweise ihrer Genauigkeit vor; die Sache war aber den übrigen zu wichtig, es war die Sache des Gaumens und des Magens, die jeder verteidigte. Man bemerkte, daß man mit dem gegenwärtigen Winde noch bequem nach beiden Inseln kommen könne, daß man aber, wenn er anhielte, nur schwer von der ersten zur zweiten segeln würde. Man bestand darauf, daß man das Sichre für das Unsichre nehmen und nach der fruchtbaren Insel fahren müsse.

Epistemon gab der Mehrheit der Stimmen nach, ein Gesetz, das ihnen der Vater vorgeschrieben hatte.

Ich zweifle gar nicht, sagte Panurg, daß meine Meinung die richtige ist und daß man auf der Karte die Namen verwechselt hat. Laßt uns fröhlich sein! Wir schiffen nach der Insel der Papimanen. Laßt uns vorsichtig sein und die nötigen Anstalten treffen.

Er ging nach einem Kasten, den er öffnete und allerlei Kleidungsstücke daraus hervorholte. Die Brüder sahen ihm mit Verwunderung zu und konnten sich des Lachens nicht erwehren, als er sich auskleidete und, wie es schien, Anstalt zu einer Maskerade machte. Er zog ein Paar violettseidne Strümpfe an, und als er die Schuhe mit großen silbernen Schnallen geziert hatte, kleidete er sich übrigens ganz in schwarze Seide. Ein kleiner Mantel flog um seine Schultern, einen zusammengedrückten Hut mit einem violett- und goldnen Bande nahm er in die Hände, nachdem er seine Haare in runde Locken gekräuselt hatte. Er begrüßte die Gesellschaft ehrbietig, die in lautes Gelächter ausbrach.

Ohne sich aus der Fassung zu geben besuchte er den Kasten zum zweiten Male. Er brachte eine rote Uniform hervor mit weißen Kragen, Aufschlägen und Klappen; ein großes weißes Kreuz sah man auf der linken Brust. Er verlangte, Bruder Alkides solle diese Uniform anziehen, und da sich dieser weigerte, fing er folgendergestalt zu reden an: Ich weiß nicht was ihr übrigen in den Kasten gepackt und verwahrt haltet, die ihr von Hause mitnahmt, als der Vater unsrer Klugheit überließ, womit wir uns den Völkern angenehm machen wollten; so viel kann ich euch gegenwärtig sagen, daß meine Ladung vorzüglich in alten Kleidern besteht, die, hoffe ich, uns nicht geringe Dienste leisten sollen. Ich habe drei bankrotte Schauspielunternehmer, zwei aufgehobne Klöster, sechs Kammerdiener und sieben Trödler aufgekauft, und zwar habe ich mit den letzten nur getauscht und meine Doubletten weggegeben. Ich habe mit der größten Sorgfalt meine Garderobe komplettiert, ausgebessert, gereinigt und geräuchert –

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RetrohoundDie Brüder saßen friedlich beieinander, sie unterhielten sich von den neusten Begebenheiten die sie erlebt, von den neusten Geschichten, die sie erfahren hatten. Das Gespräch wandte sich auf einen seltsamen Krieg der Kraniche mit den Pygmäen; jeder machte eine Anmerkung über die Ursachen dieser Händel, und über die Folgen, welche aus der Hartnäckigkeit der Pygmäen entstehen könnten. Jeder ließ sich von seinem Eifer hinreißen, so daß in kurzer Zeit die Menschen, die wir bisher so einträchtig kannten, sich in zwei Parteien spalteten, die aufs heftigste gegeneinander zu Felde zogen. Alkides, Alciphron, Eutyches behaupteten: die Zwerge seien eben ein so häßliches als unverschämtes Geschöpf; es sei in der Natur doch einmal eins für das andere geschaffen: die Wiese bringe Gras und Kräuter hervor, damit sie der Stier genieße, und der Stier werde wie billig wieder vom edlern Menschen verzehrt. So sei es denn auch ganz wahrscheinlich, daß die Natur den Zwergen das Vermögen zum Heil des Kranichs hervorgebracht habe, welches sich um so weniger leugnen lasse, als der Kranich durch den Genuß des sogenannten eßbaren Goldes um so viel vollkommener werde.

Die andern Brüder dagegen behaupteten, daß solche Beweise, aus der Natur und von ihren Absichten hergenommen, sehr ein geringes Gewicht hätten, und daß deswegen ein Geschöpf nicht geradezu für das andere gemacht sei, weil eines bequem fände sich des andern zu bedienen.

Diese mäßigen Argumente wurden nicht lange gewechselt, als das Gespräch heftig zu werden anfing und man von beiden Seiten mit Scheingründen erst, dann mit anzüglichem bitterm Spott die Meinung zu verteidigen suchte, welcher man zugetan war. Ein wilder Schwindel ergriff die Brüder, von ihrer Sanftmut und Verträglichkeit erschien keine Spur mehr in ihrem Betragen; sie unterbrachen sich, erhuben die Stimmen, schlugen auf den Tisch, die Bitterkeit wuchs, man enthielt sich kaum jählicher Schimpfreden, und in wenigen Augenblicken mußte man fürchten das kleine Schiff als einen Schauplatz trauriger Feindseligkeiten zu erblicken.

Sie hatten in der Lebhaftigkeit ihres Wortwechsels nicht bemerkt, daß ein anderes Schiff, von der Größe des ihrigen, aber von ganz verschiedener Form, sich nahe an sie gelegt hatte; sie erschraken daher nicht wenig, als ihnen, wie mitten aus dem Meere, eine ernsthafte Stimme zurief: Was gibt’s, meine Herren? Wie können Männer, die in einem Schiffe wohnen, sich bis auf diesen Grad entzweien?

Ihre Streitsucht machte einen Augenblick Pause. Allein weder die seltsame Erscheinung noch die ehrwürdige Gestalt dieses Mannes konnte einen neuen Ausbruch verhindern. Man ernannte ihn zum Schiedsrichter, und jede Partei suchte schon eifrig ihn auf ihre Seite zu ziehen, noch ehe sie ihm die Streitsache selbst deutlich gemacht hatten. Er bat sie alsdann lächelnd um einen Augenblick Gehör, und sobald er es erlangt hatte, sagte er zu ihnen: Die Sache ist von der größten Wichtigkeit, und Sie werden mir erlauben, daß ich erst morgen früh meine Meinung darüber eröffne. Trinken Sie mit mir vor Schlafengehn noch eine Flasche Madeira, den ich sehr echt mit mir führe, und der Ihnen gewiß wohl bekommen wird. Die Brüder, ob sie gleich aus einer Familie waren, die den Wein nicht verschmähte, hätten dennoch lieber Wein und Schlaf und alles entbehrt, um die Materie nochmals von vorn durchzusprechen; allein der Fremde wußte ihnen seinen Wein so artig aufzudringen, daß sie sich unmöglich erwehren konnten ihm Bescheid zu tun. Kaum hatten sie die letzten Gläser von den Lippen gesetzt, als sie schon alle ein stilles Vergessen ihrer selbst ergriff, und eine angenehme Hinfälligkeit sie auf die unbereiteten Lager ausstreckte. Sie verschliefen das herrliche Schauspiel der aufgehenden Sonne und wurden endlich durch den Glanz und die Wärme ihrer Strahlen aus dem Schlaf geweckt. Sie sahen ihren Nachbar beschäftigt an seinem Schiffe etwas auszubessern, sie grüßten einander und er erinnerte sie lächelnd an den Streit des vorigen Abends. Sie wußten sich kaum noch darauf zu besinnen und schämten sich, als er in ihrem Gedächtnis die Umstände wie er sie gefunden nach und nach hervorrief. Ich will meiner Arzenei, fuhr er fort, nicht mehr Wert geben als sie hat, die ich Ihnen gestern in der Gestalt einiger Gläser Madeira beibrachte; aber Sie können von Glück sagen, daß Sie so schnell einer Sorge los geworden sind, von der so viele Menschen jetzt heftig, ja bis zum Wahnsinn angegriffen sind.

Sind wir krank gewesen? fragte einer, das ist doch sonderbar. – Ich kann Sie versichern, versetzte der fremde Schiffer, Sie waren vollkommen angesteckt, ich traf Sie in einer heftigen Krisis.

Und was für eine Krankheit wäre es denn gewesen? fragte Alciphron, ich verstehe mich doch auch ein wenig auf die Medizin.

RetrohoundEs ist das Zeitfieber, sagte der Fremde, das einige auch das Fieber der Zeit nennen und glauben sich noch bestimmter auszudrücken; andere nennen es das Zeitungsfieber, denen ich auch nicht entgegen sein will. Es ist eine böse ansteckende Krankheit, die sich sogar durch die Luft mitteilt, ich wollte wetten Sie haben sie gestern abend in der Atmosphäre der schwimmenden Inseln gefangen.

Was sind denn die Symptome dieses Übels? fragte Alciphron.

Sie sind sonderbar und traurig genug, versetzte der Fremde, der Mensch vergißt sogleich seine nächsten Verhältnisse, er mißkennt seine wahrsten, seine klarsten Vorteile, er opfert alles, ja seine Neigungen und Leidenschaften einer Meinung auf, die nun zur größten Leidenschaft wird. Kommt man nicht bald zu Hülfe, so hält es gewöhnlich sehr schwer, so setzt sich die Meinung im Kopfe fest und wird gleichsam die Achse um die sich der blinde Wahnsinn herumdreht. Nun vergißt der Mensch die Geschäfte die sonst den Seinigen und dem Staate nutzen, er sieht Vater und Mutter, Brüder und Schwestern nicht mehr. Ihr, die ihr so friedfertige, vernünftige Menschen schienet, ehe ihr in dem Falle waret – – –

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Der Papimane erzählt, was in ihrer Nachbarschaft vorgegangen

So sehr uns diese Übel quälten, schienen wir sie doch eine Zeitlang über die wunderbaren und schrecklichen Naturbegebenheiten zu vergessen, die sich in unserer Nachbarschaft zutrugen. Ihr habt von der großen und merkwürdigen Insel der Monarchomanen gehört, die eine Tagreise von uns nordwärts gelegen war.

Wir haben nichts davon gehört, sagte Epistemon, und es wundert mich um so mehr, als einer unserer Ahnherrn in diesem Meere auf Entdeckungen ausging. Erzählt uns von dieser Insel, was ihr wißt, damit wir beurteilen ob es der Mühe wert ist selbst hin zu segeln und uns nach ihr und ihrer Verfassung zu erkundigen.

Es wird schwer sein sie zu finden, versetzte der Papimane.

Ist sie versunken? fragte Alciphron.

Sie hat sich auf und davon gemacht, versetzte jener.

Wie ist das zugegangen? fragten die Brüder fast mit einer Stimme.

RetrohoundDie Insel der Monarchomanen, fuhr der Erzähler fort, war eine der schönsten, merkwürdigsten und berühmtesten Inseln unsers Archipelagos; man konnte sie füglich in drei Teile teilen, auch sprach man gewöhnlich nur von der Residenz, der steilen Küste und dem Lande. Die Residenz, ein Wunder der Welt, war auf dem Vorgebirge angelegt, und alle Künste hatten sich vereinigt dieses Gebäude zu verherrlichen. Sahet ihr seine Fundamente, so waret ihr zweifelhaft ob es auf Mauern oder auf Felsen stand: so oft und viel hatten Menschenhände der Natur nachgeholfen. Sahet ihr seine Gebäude, so glaubtet ihr alle Tempel der Götter wären hier symmetrisch zusammengestellt, um alle Völker zu einer Wallfahrt hierher einzuladen. Betrachtetet ihr seine Gipfel und Zinnen, so mußtet ihr denken, die Riesen hätten hier zum zweiten Mal Anstalt gemacht den Himmel zu ersteigen; man konnte es eine Stadt, ja man konnte es ein Reich nennen. Hier thronte der König in seiner Herrlichkeit, und niemand schien ihm auf der ganzen Erde gleich zu sein.

Nicht weit von da fing die steile Küste an sich zu erstrecken; auch hier war die Kunst der Natur mit unendlichen Bemühungen zu Hülfe gekommen, auch hier hatte man Felsen gebauet um Felsen zu verbinden, die ganze Höhe war terrassenweis eingeschnitten, man hatte fruchtbar Erdreich auf Maultieren hingeschafft. Alle Pflanzen, besonders der Wein, Zitronen und Pomeranzen, fanden ein glückliches Gedeihen, denn die Küste lag der Sonne wohl ausgesetzt. Hier wohnten die Vornehmen des Reichs und bauten Paläste; der Schiffer verstummte, der sich der Küste näherte.

Der dritte Teil und der größte war meistenteils Ebene und fruchtbarer Boden, diesen bearbeitete das Landvolk mit vieler Sorgfalt.

Es war ein altes Reichsgesetz, daß der Landmann für seine Mühe einen Teil der erzeugten Früchte wie billig genießen sollte; es war ihm aber bei schwerer Strafe untersagt sich satt zu essen, und so war diese Insel die glücklichste von der Welt. Der Landmann hatte immer Appetit und Lust zur Arbeit. Die Vornehmen, deren Magen sich meist in schlechten Umständen befanden, hatten Mittel genug ihren Gaumen zu reizen, und der König tat oder glaubte wenigstens immer zu tun was er wollte.

Diese paradiesische Glückseligkeit ward auf eine Weise gestört die höchst unerwartet war, ob man sie gleich längst hätte vermuten sollen. Es war den Naturforschern bekannt, daß die Insel vor alten Zeiten durch die Gewalt des unterirdischen Feuers sich aus dem Meer emporgehoben hatte. So viel Jahre auch vorüber sein mochten, fanden sich doch noch häufige Spuren ihres alten Zustandes: Schlacken, Bimsstein, warme Quellen und dergleichen Kennzeichen mehr; auch mußte die Insel von innerlichen Erschütterungen oft vieles leiden. Man sah hier und dort an der Erde bei Tage Dünste schweben, bei Nacht Feuer hüpfen, und der lebhafte Charakter der Einwohner ließ auf die feurigen Eigenschaften des Bodens ganz natürlich schließen.

RetrohoundEs sind nun einige Jahre, daß nach wiederholten Erdbeben an der Mittagsseite des Landes, zwischen der Ebene und der steilen Küste, ein gewaltsamer Vulkan ausbrach, der viele Monate die Nachbarschaft verwüstete, die Insel im Innersten erschütterte und sie ganz mit Asche bedeckte.

Wir konnten von unserm Ufer bei Tag den Rauch, bei Nacht die Flamme gewahr werden. Es war entsetzlich anzusehen, wenn in der Finsternis ein brennender Himmel über ihrem Horizont schwebte; das Meer war in ungewöhnlicher Bewegung und die Stürme sausten mit fürchterlicher Wut.

Ihr könnt euch die Größe unsers Erstaunens denken, als wir eines Morgens, nachdem wir in der Nacht ein entsetzliches Gepraß gehört und Himmel und Meer gleichsam in Feuer gesehen, ein großes Stück Land auf unsere Insel zuschwimmend erblickten. Es war, wie wir uns bald überzeugen konnten, die steile Küste selbst die auf uns zukam. Wir konnten bald ihre Paläste, Mauern und Gärten erkennen, und wir fürchteten daß sie an unsere Küste, die an jener Seite sehr sandig und untief ist, stranden und zu Grunde gehen möchten. Glücklicherweise erhub sich ein Wind und trieb sie etwas mehr nordwärts. Dort läßt sie sich, wie ein Schiffer erzählt, bald da bald dorten sehen, hat aber noch keinen festen Stand gewinnen können.

Wir erfuhren bald, daß in jener schrecklichen Nacht die Insel der Monarchomanen sich in drei Teile gespalten, daß sich diese Teile gewaltsam einander abgestoßen, und daß die beiden andern Teile, die Residenz und das Land, nun gleichfalls auf dem offenen Meere herumschwämmen, und von allen Stürmen wie ein Schiff ohne Steuer hin- und widergetrieben würden. Von dem Lande, wie man es nennt, haben wir nie etwas wieder gesehen; die Residenz aber konnten wir noch vor einigen Tagen im Nordosten sehr deutlich am Horizont erkennen.

RetrohoundEs läßt sich denken daß unsere Reisenden durch diese Erzählung sehr ins Feuer gesetzt wurden. Ein wichtiges Land, das ihr Ahnherr unentdeckt gelassen, ob er gleich so nahe vorbeigekommen, in dem sonderbarsten Zustande von der Welt stückweise aufzusuchen, war ein wichtiges Unternehmen, das ihnen von mehr als einer Seite Nutzen und Ehre versprach. Man zeigte ihnen von weitem die Residenz am Horizont als eine große blaue Masse, und zu ihrer größten Freude ließ sich westwärts in der Entfernung ein hohes Ufer sehen, welches die Papimanen sogleich für die steile Küste erkannten, die mit günstigem Wind, obgleich langsam, gegen die Residenz zu ihre Richtung zu nehmen schien. Man faßte daher den Schluß gleichfalls dahin zu steuern, zu sehen ob man nicht die schöne Küste unterwegs abschneiden und in ihrer Gesellschaft, oder wohl gar in einem der schönen Paläste, den Weg nach der Residenz vollenden könne. Man nahm von den Papimanen Abschied, hinterließ ihnen einige Rosenkränze, Skapuliere und Agnus Dei, die von ihnen, ob sie gleich deren genug hatten, mit großer Ehrfurcht und Dankbarkeit angenommen wurden. –

~~~\~~~~~~~/~~~

Kaum befanden sich unsere Brüder in dem leidlichen Zustande in welchem wir sie gesehen haben, als sie bald empfanden, daß ihnen gerade noch das Beste fehlte um ihren Tag fröhlich hinzubringen und zu enden. Alkides erriet ihre Gesinnungen aus den seinigen und sagte: So wohl es uns auch geht, meine Brüder, besser als Reisende sich nur wünschen dürfen, so können wir doch nicht undankbar gegen das Schicksal und unsern Wirt genannt werden, wenn wir frei gestehen, daß wir in diesem königlichen Schlosse, an dieser üppigen Tafel, einen Mangel fühlen, der desto unleidlicher ist, je mehr uns die übrigen Umstände begünstigt haben. Auf Reisen, im Lager, bei Geschäften und Handelschaften und was sonst den unternehmenden Geist der Männer zu beschäftigen pflegt, vergessen wir eine Zeitlang der liebenswürdigen Gespielinnen unsres Lebens, und wir scheinen die unentbehrliche Gegenwart der Schönen einen Augenblick nicht zu vermissen. Haben wir aber nur wieder Grund und Boden erreicht, bedeckt uns ein Dach, schließt uns ein Saal in seine vier Wände, gleich entdecken wir was uns fehlt: ein freundliches Auge der Gebieterin, eine Hand die sich traulich mit der unsern zusammenschließt.

RetrohoundIch habe, sagte Panurg, den alten Wirt über diesen Punkt erst auf die feinste Weise sondiert, und da er nicht hören wollte, auf die gradeste Weise befragt, und ich habe nichts von ihm erfahren können. Er leugnet daß ein weibliches Geschöpf in dem Palaste sei. Die Geliebte des Königs sei mit ihm, ihre Frauen seien ihr gefolgt und die übrigen ermordet oder entflohen.

Er redet nicht wahr, versetzte Epistemon, die traurigen Reste, die uns den Eingang der Burg verwehrten, waren die Leichname tapfrer Männer, und er sagte ja selbst, daß noch niemand weggeschafft oder begraben sei.

Weit entfernt, sagte Panurg, seinen Worten zu trauen, habe ich das Schloß und seine vielen Flügel betrachtet und im Zusammenhange überlegt. Gegen die rechte Seite, wo die hohen Felsen senkrecht aus dem Meere hervorstehen, liegt ein Gebäude, das mir so prächtig als fest zu sein scheint, es hängt mit der Residenz durch einen Gang zusammen, der auf ungeheuern Bogen steht. Der Alte, der uns alles zu zeigen schien, hat uns immer von dieser Seite weggehalten, und ich wette, dort findet sich die Schatzkammer, an deren Eröffnung uns viel gelegen wäre.

Die Brüder wurden einig daß man den Weg dahin suchen solle. Um kein Aufsehen zu erregen ward Panurg und Alciphron abgesandt, die in weniger als einer Stunde mit glücklichen Nachrichten zurückkamen. Sie hatten nach jener Seite zu geheime Tapetentüren entdeckt, die ohne Schlüssel durch künstlich angewandten Druck sich eröffneten. Sie waren in einige große Vorzimmer gekommen, hatten aber Bedenken getragen weiter zu gehen, und kamen nun den Brüdern, was sie ausgerichtet, anzuzeigen.

Sollte ich’s vergessen haben zu erwähnen? — : Wanderers Nachtlied war dafür wirklich gut.

16 (eigentlich 18) Pin-up-Sailoretten via Retrohound, 1950er bis 1970er Jahre.

Soundtrack: Rose Polenzani with Session Americana: When the River Meets the Sea,
aus: When the River Meets the Sea, 2008:

Written by Wolf

28. August 2020 at 00:01

Veröffentlicht in Klassik, Land & See

Werkstattbericht: Da kann jeder gedenken, in was Schrecken und Forcht ich gesteckt

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Update zu Frames in Zitaten (in Frames),
Unser lieber Vatter,
Bocksgestöhn und freche Lieder,
Bitchy Lessing und
Wenn er vom Blocksberg kehrt:

Wo wir gerade so schön auf unserem Barocktrip sind (und dem Professor Zumbach bei seinem Rentnerhobby der Lykanthropie zuhören dürfen), wollte ich nur mal kurz am lebenden Beispiel damit herumgeprotzt haben, was die Textverarbeitung für diese heil’gen Hallen überhaupt für ein Aufwand ist:

Selbst wenn der Text schon von professoraler Seite vorgegeben und sogar mit den nötigen und richtigen Illustrationen illuminiert ist, kann man das nicht einfach so Strg+C abkopieren, sondern schmeißt sich erst mal den Text in ein Editor-Dokumentchen und zerrt die Illus — dankenswerter Weise überschaubare zweie an der Zahl — auf den Desktop.

Gephotoshoppt ist schnell; beim Raufdrehen des Kontrasts hat’s schon länger gedauert, bis dieses Raumschiff von Photoshop mit hundertelfzig sinnlosen „Filtern“ seinen breiten Arsch in die Höhe gefahren hat. Leider ergibt eine Stichprobe aus dem vorgefundenen Text, dass die Rechtschreibung, wozu auch immer, modernisiert wurde, was auch immer die Leute gegen Schreibweisen mit ey haben — und vor allem gegen das wendige Satzzeichen der Virgel. Das unsägliche Gutenberg-Projekt braucht man eigentlich nie zu fragen, das gewöhnlich recht zuverlässige zeno.org bringt’s populär postmodern, eins der Google-Books bringt immerhin eine zitierfähig wirkende Gesamtausgabe bei Max Niemeyer, wo die Doktoranden ihre für jedes Publikum verlorenen Orchideen auswildern, für meinen praktisch besucherfreien Weblog entschließe ich mich endlich nach dem Scan der Wolfenbütteler Digitalen Bibliothek zu korrigieren. Das ist cool, für diesen Stand des Neuhochdeutschen allemal leserlich genug und mit einiger Sicherheit nicht von einem präapokalyptischen Lektor verunreinigt, der sich am Mittag nicht mehr erinnert, was er sich in der Frühe in den Kaffee geschüttet hat. Kursive und fette Stellen mit dem eingebauten Fadenzähler im Auge aus dem Original aufspüren und mittels anno 1999 erlerntem Bauern-HTML händisch einfügen, denn wir erinnern uns: Wir erstellen Editörchen, keine Wördchen.

Die Bilder auf WordPress laden: Das hab ich viel zu lange so gehalten, dass Hotlinken über die Image-URL von sonstwoher reichen musste. Irgendjemand hat mir gesteckt, dass dergleichen einen Diebstahl an Bandbreite darstellt, was immer das ist, und selber hab ich gemerkt, dass die Websites ihre Bilder umsortieren und umbenennen, wie sie lustig sind, und zwar viel zu schnell, die Buchverlage auch schon gern mehrmals im Jahr. Nicht viel besser ist, eigenen Gratis-Online-Speicherplatz zu „nutzen“, weil die sich rausreden, dass sie gratis sind, und meine Bilder umsortieren und umbenennen, wie sie lustig sind. Also wirklich auf WordPress laden, wo auch der dazugehörige Text liegt, und die Bilder verrotten erst mit dem Rest, und dann wird es egal sein.

Im übrigen betreibe ich seit ungefähr 2002, oder wann immer diese alle Chronologie auf den Kopf stülpende Software erfunden wurde, die letzten Weblogs mit handgeschriebenem HTML der Welt. Bis 2006, als ich Moby-Dick™ aufgemacht hab, bestand noch Hoffnung, dass es irgendwann wieder so cool wird wie die Basteleien auf Etsy, danach war mein häufigsten geschriebenes Wort — target=“_blank“ — eine unverzichtbare Zäsur zum Nachdenken. Für rel=“noopener“ war ich von Anfang an zu faul, und kursiv heißt bei mir immer noch <i>, nicht <em>, und fett <b> und nicht <strong>, falls sich jemand erinnert.

Einen Soundtrack aussuchen: einen thematisch relevanten oder einen schönen? Am besten beides, aber steck da mal drin. Klassik und hochstehende official videos verschwinden auf YouTube sehr viel schneller als unseriöser Raffelkram, dabei bin ich jede Woche wieder dankbar, dass diese missratene Wörterpresse irgendwann den Embedding-Code für Videos ins Idiotensichere vereinfacht hat.

Den Soundtrack mit Quelle, Jahr, Album und Opuszahl nachweisen und verlinken, die Bilder beim Photographen anfragen und drei Wochen warten, bis er antwortet: „Yea why feel free lol“, was er glücklicherweise meistens bleiben lässt, aber man kann rezente Bilder ja nicht einfach nicht anfragen. Am besten sind Gekritzel von über siebzig Jahre lang Toten und leicht geschürzte Weiber aus Tumblr: Was sich dort zwei-, dreimal weiterverbloggt hat, ist so gründlich von jedem nachweisbaren Copyright abgeschnitten, dass nicht mal Tineye weiterhilft. Zum Beispiel bei den zwei Bildern, die ich beim Professor Zumbach aufgegabelt hab, bestand die auffindbare Information im Dateinamen. Schade und künstlerschädigend, aber für mich arbeitssparend; fürs Gegenteil könnte ich genauso wenig. — Müssen Links auf die Bilder? Ja, aber auf entweder alle oder auf keins, nicht durcheinander. Wenn ja: title-Tags gegenüber dem Vorkommen im Textfluss abändern. Und zwar so verteilt, dass die Bilder nicht dem Link widersprechen; skurrile Überraschungseffekte muss man nicht anstreben, die entstehen von selber im Übermaß. Die Bildersuche samt Nachweis-Odyssee nimmt übrigens, if someone was wondering, die meiste Zeit von jedem Artikel ein.

Vorveröffentlichen: Jeden Freitag um 00.01 Uhr, ob’s stürmt oder schneit, hat ein Artikel zu erscheinen. Meistens warten sechse bis achte in der Pipeline, ab fünf abwärts werde ich nervös. Das Layout anpassen: Die Zeilenbreite hab nicht ich bestimmt, darum ordentliche harte Umbrüche ohne Hurenkinder und Schusterjungen, ich „komme“ ja von der Lyrik her. Darum sitzen meine Hochformate auch grundsätzlich rechtsbündig: weil ich keine übriggebliebenen Einzelzeilen am Bürzel meiner Illustrationen herumschüchtern brauchen kann. Die Wölfin, das heißt: meine Frau, die von der Graphik, unter anderem der Typographie her „kommt“, weigert sich mitzulesen, weil sie ihrem Berufsethos entsprechend die Illustrationen linksbündig sehen will. Da sieht man wieder, wovon Kultur abhängt. Und in der geschedulten Vorschau fallen einem erst die Tippfehler auf, also pro Fehlerchen den kompletten Text (Obacht, ohne Überschrift) drüberkopieren und bis es endlich gnädig erscheinen darf, um die zehnmal aktualisieren.

Insgesamt sitze ich an jedem Artikel irgendwas um drei bis zwölf Stunden; die 24-stündigen sind die lustigsten. Beim gegenwärtigen waren es, wo ich vage mitstoppe, fünf Stunden eines Wochentages im Zustand der Kurzarbeit, und da musste ich praktisch nix und wieder nix machen (okay, außer eine andere als die professorale Version rausgoogeln und einrichten und an den Bildern den Kontrast aufblasen und den Soundtrack dings und alles… und zwischendurch Lebensmittel einkaufen, was ich rausgerechnet hab). Am schnellsten geht’s, wenn ich Nachtstück oder sowas drüberschreiben kann, andere angefangene Editor-Dateien hab ich seit mehreren Jahren auf dem Desktop liegen, und alte Screenshots sagen mir: Es werden mit der Zeit mehr. Alles für die Kunst.

Es folgt ein Bravourstück der Schauerliteratur von etwa 150 Jahre avant la lettre. Und zwar in einer begründbar richtigen Orthographie, jawoll:

——— Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen:

Simplex sieht Hexen zum Tanz hinwegfahren,
Kommt auch zu ihren verteufelten Scharen.

Erster Teil. Zweites Buch. Das XVII. Capitel,
aus: Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch / Das ist: Die Beschreibung deß Lebens eines seltzamen Vaganten / genant Melchior Sternfels von Fuchshaim / wo und welcher gestalt Er nemlich in diese Welt kommen / was er darinn gesehen / gelernet / erfahren und außgestanden / auch warumb er solche wieder freywillig quittirt. Überauß lustig / und männiglich nutzlich zu lesen, 1668:

Witches' Sabbat, Gaetano Previati, 1852Einsmal zu End deß May / als ich abermal durch mein gewöhnlich / ob zwar verbottenes Mittel / meine Nahrung holen wolte / und zu dem Ende zu einem Baurn-Hof gestrichen war / kam ich in die Küchen / merckte aber bald / daß noch Leut auff waren ( Nota, wo sich Hund befanden / da kam ich wol nicht hin) derowegen sperrete ich die eine Küchenthür / die in Hof gieng / Angelweit auff / damit wann es etwan Gefahr setzte / ich stracks außreissen könte blieb also Maußstill sitzen / biß ich erwarten möchte / daß sich die Leut nidergelegt hätten: Unterdessen nam ich eines Spalts gewahr / den das Küchenschälterlein hatte / welches in die Stuben gieng; ich schlich hinzu / zu sehen / ob die Leut nicht bald schlaffen gehen wolten? aber meine Hoffnung war nichts / dann sie hatten sich erst angezogen / und an deß Liechts / ein schweflichte blaue Flamm auff der Banck stehen / bey welcher sie Stecken / Besem / Gablen / Stül und Bänck schmierten / und nacheinander damit zum Fenster hinauß flogen. Jch verwundert mich schröcklich / und empfand ein grosses Grausen; weil ich aber grösserer Erschröcklichkeiten gewohnt war / zumal mein Lebtag von den Unholden weder gelesen noch gehört hatte / achtet ichs nicht sonderlich / vornemlich weil alles so still hergieng / sondern verfügte mich / nachdem alles darvon gefahren war / auch in die Stub / bedachte was ich mit nemmen / und wo ich solches suchen wolte / und setzte mich in solchen Gedancken auff einen Banck schrittlings nider; Jch war aber kaum auffgesessen / da fuhr ich sampt der Banck gleichsam augenblicklich zum Fenster hinauß / und ließ mein Rantzen und Feur-rohr / so ich von mir gelegt hatte / vor den Schmirberlohn und so künstliche Salbe dahinden. Das Auffsitzen / davon fahren und absteigen / geschahe gleichsam in einem Nu! dann ich kam / wie mich bedünckte / augenblicklich zu einer grossen Schaar Volcks / es sey dann / daß ich auß Schrecken nicht geacht hab / wie lang ich auff dieser weiten Räis zugebracht / diese tantzten einen wunderlichen Tantz / dergleichen ich mein Lebtag nie gesehen / dann sie hatten sich bey den Händen gefast / und viel Ring ineinander gemacht / mit zusamm gekehrten Rucken / wie man die drey Gratien abmahlet / also daß sie die Angesichter heraußwarts kehrten; der inner Ring bestund etwan in 7. oder 8. Personen / der ander hatte wol noch so viel / der dritte mehr als diese beyde / und so fortan / also daß sich in dem äussern Ring über 200. Personen befanden; und weil ein Ring oder Craiß umb den andern lincks / und die andere rechts herumb tantzte / konte ich nicht sehen / wie viel sie solcher Ring gemacht / noch was sie in der Mitten / darumb sie tantzten / stehen hatten. Es sahe eben greulich seltzam auß / weil die Köpff so possierlich durcheinander haspelten. Und gleich wie der Tantz seltzam war / also war auch ihre Music, auch sange / wie ich vermeynte / ein jeder am Tantz selber drein / welches ein wunderliche Harmoniam abgab / meine Banck die mich hin trug / ließ sich bey den Spielleuten nieder / die ausserhalb der Ringe umb den Tantz herumb stunden / deren etliche hatten an der Flöten / Zwerchpfeiffen und Schalmeyen / nichts anders als Natern / Vipern und Blindschleichen / darauff sie lustig daher pfiffen: Etliche hatten Katzen / denen sie in Hindern bliesen / und auff dem Schwantz fingerten / das lautet den Sack-pfeiffen gleich: Andere geigeten auff Roßköpffen / wie auff dem besten Discant, und aber andere schlugen die Harpffe auff einem Kühgeribbe / wie solche auff dem Wasen ligen / so war auch einer vorhanden / der hatte eine Hündin underm Arm / deren leyert er am Schwantz / und fingert ihr an den Dutten / darunter trompeteten die Teuffel durch die Nase / daß es im gantzen Wald erschallete / und wie dieser Tantz bald auß war / fieng die gantze höllische Gesellschafft an zu rasen / zu ruffen / zu rauschen / zu brausen / zu heulen / zu wüten und zu toben / als ob sie alle toll und thöricht gewest wären. Da kan jeder gedencken / in was Schrecken und Furcht ich gesteckt.

Witches' Sabbat, Martin van Male, 1911Jn diesem Lermen kam ein Kerl auff mich dar / der hatte ein ungeheure Krott unterm Arm / gern so groß als eine Heerpaucke / deren waren die Därm auß dem Hindern gezogen / und wieder zum Maul hinein geschoppt / welches so garstig außsahe / daß mich darob kotzerte; Sehin Simplici, sagte er / ich weiß / daß du ein guter Lautenist bist / laß uns doch ein fein Stückgen hören: Jch erschrack daß ich schier umbfiel / weil mich der Kerl mit Nahmen nennete / und in solchem Schrecken verstummte ich gar / und bildete mir ein / ich lege in einem so schweren Traum / bat derowegen innerlich im Hertzen / daß ich doch erwachen möchte / der mit der Krott aber / den ich steiff ansahe / zog seine Nasen auß und ein / wie ein Calecutscher Han / und stieß mich endlich auff die Brust / daß ich bald darvon erstickte; derowegen fienge ich an überlaut zu Gott zu ruffen / da verschwand das gantze Heer. Jn einem Huy wurde es stockfinster / und mir so förchterlich umbs Hertz / daß ich zu Boden fiele / und wol 100. Creutz vor mich machte.

Hexensabbat: Gaetano Previati, 1852; Martin van Male, 1911,
via Frank T. Zumbach: Meshes of Hell: Gaetano Previati/ Martin van Male, Witches‘ Sabbath / Grimmelshausen: Aus dem ‚Simplicissimus‘.

Soundtrack: Nicht weil es irgendwie auf eine zur Unzeit veröffentlichte walpurgisnächtliche Hexensabbaterie passen würde, sondern weil es während des Tippens auf Spotify aus meinem „Mix der Woche“ angenehm herausstach: Steve Earle, Del McCoury Band & Emmylou Harris: Pilgrim, aus: The Mountain, 1999:

Written by Wolf

21. August 2020 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Vier letzte Dinge: Hölle

Seht, wie, was lebt, zum Ende leufft (gegen-hüpfendes Lied)

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Update zu Wir rechnen jahr auff jahre / in dessen wirdt die bahre vns für die thüre bracht
Drum dein Stimmlein lass erschallen
Das Angedenken der Zuckerlust
und Lästu dich zum Freien bitten?:

Deß Bücherschreibens ist so viel/ man schreibet sie mit hauffen;
Niemand wird Bücher schreiben mehr/ so niemand sie wird kauffen.

Friedrich von Logau: Bücher=menge,
aus: Deutscher Sinn-Getichte Drey Tausend, Deß Dritten Tausend Sechstes Hundert, 1654.

1979 hat Das Treffen in Telgte kaum jemanden interessiert. Was Bestseller angeht, hatte Günter Grass vorher (1977) Der Butt und nachher (1980) Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus, beide zu ihrer Zeit 1. Plätze auf der Spiegel-Bestsellerliste. Fun Fact: Die 1999 nobelpreiswürdige Die Blechtrommel von 1959 stand da nie drauf.

Von diesem Desinteresse kann ich mich nicht ausnehmen, dabei hab ich Grass von Anfang an — was für meine Generation üblicherweise heißt: seit der Blechtrommel-Verfilmung 1979 — gemocht. Das Treffen in Telgte lag irgendwie unter dem Radar der Öffentlichkeit, jedenfalls unter dem eines Elfjährigen, der in den Buchabteilungen von Hertie und Karstadt — damals noch gut zugänglich, weil viel aufgesucht, im Erdgeschoss — im Stehen, dafür kostenneutral die Comics auslesen will.

Günter Grass, Das Treffen in Telgte, Sammlung Luchterhand, 1985, annmeu auf Ebay, 2020Dort hing auch jede Woche aktuell die Spiegel-Bestsellerliste aus, durchaus mit Grass — dazu Heinrich Böll (Fürsorgliche Belageriung) und Martin Walser (Seelenarbeit) gleichzeitig — für 24 D-Mark bei Luchterhand, und die ganze Zeit hindurch abgeschlagen hinter dem Dauerbrenner Der Herr der Ringe für seine unerschwinglichen 39,80 und neben Ilse Gräfin von Bredow: Kartoffeln mit Stippe, Ephraim Kishon: Paradies neu zu vermieten, Johannes Mario Simmel: Zweiundzwanzig Zentimeter Zärtlichkeit und in der Sparte Sachbuch Christiane F.: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Da ging der unspektakuläre Nachname mit etwas in der Überschrift, das wohl eine Stadt in Deutschland bezeichnen sollte, aber zur unter drohendem Zungenbruch auszusprechen war, allzuleicht unter.

Es erforderte die Reife des Gymnasiasten, der auf dem Schulhof degoutante Details aus dem Blechtrommel-Film berichten konnte, also erkennbar bis nach 23 Uhr aufgeblieben war, und es erforderte die Ausgabe Das Treffen in Telgte. Eine Erzählung und dreiundvierzig Gedichte aus dem Barock, also im Originalverlag Jahre später um belletristisches Sondermaterial erweitert, um das Nebenwerk des nachmaligen Nobelpreisträgers — den man selbstverständlich schon immer in immer erkannt hatte — zu würdigen.

Die Handlung des Romänchens von 137 Seiten ist klar: Die überlebende Schreiber-Elite des Dreißigjährigen Krieges trifft sich kurz vor dem absehbaren Westfälischen Frieden im Wirtshaus der (kinderlosen) Mutter Courage in — eben — Telgte, zusammengetrommelt von Simon Dach und ungeladen unterstützt von Christoffel „Gelnhausen“ von Grimmelshausen, um eine Art zünftiger Gemeinschaft zu bilden und ein Manifest zu errichten. Weitere Figuren sind der später an- und früher abreisende kursächsische Hofkapellmeister Heinrich Schütz, der Dach adjuvierende Musiker Heinrich Albert(i), die drei Mägde Elsabe (füllig), Marie (zierlich) und Marthe (lang, grobknochig), fünf nur teilweise namentlich genannte Buchdrucker, das heißt: Verleger, vier Hofköter, zwei Maultiere und der teilnehmende, aber obskur bleibende Ich-Erzähler. Der Gasthof brennt ab,

Doch gelohnt habe sich der Aufwand am Ende wohl doch. Fortan könne sich jeder weniger vereinzelt begreifen.

Gängige Interpretationen, vor allem die weniger engagierten, die dem Wikipedia-Artikel folgen, nennen Das Treffen in Telgte einen Schlüsselroman über die Gruppe 47, gestützt durch Grass‘ Widmung an deren Gründer Hans Werner Richter, der sich in der Anführerfigur des Simon Dach wiedererkannt haben soll. Dagegen sprechen die Gruppenbildung von 19-, nicht 1647 erst nach einem Kriegsende und vor allem Fritz J. Raddatz in der Zeit vom 30. März 1979 und ausschnittsweise im Klappentext:

Die sind es – und sie sind es nicht: Böll und Enzensberger, Johnson und Walser. Einer ist es bestimmt: Simon Dach alias Hans Werner Richter.

Man trifft sich 1647, dreihundert Jahre vor Gründung der Gruppe 47; weil Günter Grass es so will. Seine Erzählung ist kein Kostümstück, sondern historische Fiktion, ist kein Schlüsselroman, aber eine Phantasmagorie möglicher historischer Parallelen. Ein Märchen von versäumten Möglichkeiten – literarischen und nationalen. Ja: nationalen.

Kurz: Die einen sagen so, die andern so. Nur dass ich persönlich dem wohlwollenden Raddatz immer mehr geglaubt hab als einem ramenternden Ranickel. Begründen lässt sich Schlüsselroman, verschlüsselnde oder verschlüsselte Erzählung, alles auf einmal oder nichts davon, aber es ist ein großer Spaß, ein unterschätzter allemal.

In dieser Zeit muss ich mir auch irgendwo angelesen haben, Günter Grass erzähle: „mit vollen Händen“. Mir entfällt, wer das wann wo gesagt haben soll, aber ich hab selten eine so kurze, treffende Literaturkritik für ein ganzes Œuvre gefunden. Und mir gemerkt. Es folgt das lebensfroheste Untergangsstück der Nachkriegsliteratur. Und damit, liebe Kinder, ist bis auf weiteres der Zweite Weltkrieg gemeint.

——— Günter Grass:

16

aus: Das Treffen in Telgte, 1979, Sammlung Luchterhand 1985, Seite 97 f.:

„O Nichts, o Wahn, o Traum, worauf wir Menschen bauen…“ Alles schlug in Jammer um. Die Spiegel malte das Grausen trüb. Den Wörtern war der Sinn verkehrt. Die Hoffnung darbte am verschütteten Brunnen. Auf Wüstensand gebaut, hielt kein Gemäuer. Einzig verlacht hatte die Welt noch Bestand. Ihr falscher Glanz. Des grünen Astes verheißene Dürre. Das weißgetünchte Grab. Die schöngeschminkte Leich. Der Ball des falschen Glücks… „Was ist des Menschen Leben, Der immer um muß schweben, Als eine Phantasie der Zeit!“

Solange der Krieg dauerte, doch seit den ersten, den Lissaer Sonetten des jungen Gryphius noch heilloser, war ihnen alles wie ohne Heil. So viele Lüste ihren Satzbau schwellten, so zierlich sie die Natur zu einer Schäferei, reich an Grotten und Irrgärten, frisierten, so leicht ihnen Klingwörter und Klangbilder von der Hand gingen und mehr Sinn aufhoben als gaben, es geriet ihnen die Erde in letzter Strophe immer zum Jammertal. Den Tod als Erlösung zu feiern, gelang selbst den minderen Poeten ohne Mühe. Geil nach Ehre und Ruhm sah man sie wetteifern, die Vergeblichkeit menschlichen Tuns in prächtigen Bildern zu fassen. Besonders die Jungen waren mit dem Leben in Zeilen schnell fertig. Doch auch den Älteren war der Abschied vom Irdischen und seinem Blendwerk dergestalt geläufig, daß man das Jammertalige und den Erlösungsjubel ihrer fleißig (gegen mäßigen Lohn) geschriebenen Auftragsgedichte als zeitmodisch empfinden konnte, weshalb Logau, der sich gern kühl auf Seiten der Vernunft hielt, seinen Spaß an der gereimten Todessehnsucht seiner Kollegen hatte. Mit ihm waren etliche gemäßigte Nachredner der These „Alles ist eitel“ gelegentlich bereit, einander hinter das düstere Deckblatt in die heiter bebilderten Spielkarten zu gucken.

Deshalb hielten Logau, Weckherlin und die weltgewandten Harsdörffer und Hoffmannswaldau den gegenwärtigen Glauben, es werde ohnehin demnächst der Weltuntergang kommen und einem Gutteil der ihn herbeiunkenden Poesie den Beweis nachliefern, für nichts als Aberglauben. Doch die anderen – mit ihnen die Satiriker und sogar der lebenskluge Dach – sahen den Jüngsten Tag zwar nicht allzeit, aber doch immer dann in greifbarer Nähe, wenn sich die Gegenwart was sie oft tat – politisch verdunkelte oder sobald sich die alltäglichen Schwierigkeiten zum Knoten verdickten: zum Beispiel, als nach dem Geständnis Gelnhausens das Festmahl der Poeten nur noch als Fresserei verdammt werden konnte und der Poeten Heiterkeit in Jammer verkehrt wurde.

Einzig von Gryphius, dem Meister der Düsternis, ging Frohsinn aus. Ihm war solche Stimmung üblich. Gelassen hielt er im Chaos stand. Sein Begriff menschlicher Ordnung fußte auf Trug und Vergeblichkeit.

Also lachte er: Was das Gezeter solle? Ob ihnen jemals ein Fest widerfahren wäre, das sich nicht selbsttätig in Graus ersäuft hätte?

Doch die versammelten Poeten konnten vorerst nicht aufhören, in den Höllenschlund zu starren. Das war des frommen Gerhardt Stunde. Rist nicht minder fleißig. Aus Zesen frohlockte in Hörbildern Satan. Jammervoll ging dem jungen Birken der Schmollmund über. Mehr in sich gekehrt sah man Scheffler und Czepko Heil im Gebet suchen. Der sonst immer Pläne schmiedende Mülben voran, alle Verleger sahen ihres Gewerbes Ende nahen. Und Albert erinnerte Verse seines Freundes Dach:

„Seht, wie, was lebt, zum Ende leufft,
Wisst, daß des Todes Rüssel
Mit vns aus einem Glase säufft
Vnd frisst aus einer Schüssel.“

Günter Grass, Das Treffen in Telgte, Radierung 1979

Diesem Geiste mögen einige der angehängten 43 „Gedichte aus dem Barock“ entsprechen, die nicht — wie versprochen wird — von „allen“ Teilnehmern des Treffens bei „Mutter“ Courage zu Telgte stammen, sondern von einigen davon und zusätzlich einigen in absentia präsenten, aber alle wie der postbarocke Grass: „mit vollen Händen“. Zwei, drei Lieblinge hab ich darunter gefunden: einen vom allgemein liebenswerten Philipp von Zesen, die anderen kriegen wir später.

——— Filip von Zesen:

An seine lieb- und hold-sälige Adelmund

Gegen-hüpfendes Lied.

Erstdruck: Johann Naumann, Hamburg 1651, laut Grass 1649:

1.

Wie ist es / hat Liebe mein Leben besessen?
     wie? oder befündt sie sich leiblich in mier /
o liebliches Leben? Wem sol ichs zu-messen /
     daß meine gebeine so zittern für Ihr?
Ich gehe verirret / verwirret / und trübe /
und stehe vertieffet in lieblicher liebe.

2.

die ächzenden lüfte / die seufzenden winde /
     die lächzende zunge / der augen gewirr‘ /
das böben der glieder / macht / daß ich verschwinde /
     daß ich mich in meinen gedanken verirr‘?
Ach! Schöne / Sie schone der schwächlichen seelen /
wan sie das gebrächliche herzte will kwelen.

3.

Ihr übliches lieblen / o liebliches Leben /
     der lieblenden äugelein fröhlicher blitz /
macht / daß ich verzükket herrümher mus schweben /
     ja /daß ich verlüre gedanken und witz.
das liebliche singen der zitternden zungen
hat mir das hertze durch-drungen / bezwungen.

4.

Sie lieb ich / Sie lob‘ ich / Ihr leb‘ ich zu liebe /
     Sie ehr‘ ich / sie höhr‘ ich / Ihr kehr‘ ich mich zu:
Sie machet es / daß ich im lieben mich übe /
     daß ich verschertze die hertzliche ruh.
Sie schreib‘ ich / mich treib‘ ich / Ihr bleib ich ergeben /
Sie denk‘ ich / mich kränk‘ ich / Ihr schenk‘ ich mein leben.

Andrea Van Orsouw, memento mori, 29. August 2010

Buchgraphik: Cover der Luchterhand-Ausgabe, via annmeu auf PicClick, 2020;
Günter Grass: Radierung über den Satz vom bleibenden Vers, 1979,
via Nando-Dragan Nuruddin Augener:

Kein Fürst könne ihnen gleich. Ihr Vermögen sei nicht zu erkaufen. Und wenn man sie steinigen, mit Haß verschütten wollte, würde noch aus dem Geröll die Hand mit der Feder ragen. Einzig bei ihnen sei, was deutsch zu nennen sich lohne, ewiglich aufgehoben: „Denn wilt vns, liebwerthe Freunde, noch so kurtz vergönnet die Zeit seyn, hie auf Erden zu bleiben, wird sich doch jeder Reim, wofern ihm vnser Geist nach dem Leben gesetzet, der Dauer vermengen…“

Meisterin der Düsternis: Andrea Van Orsouw: memento mori, 29. August 2010:

remember you will die

total lack of emo pictures in my status lately. TIME TO GET DEPRESSING PEOPLE.

I’ve noticed something really weird though…when there’s a majority of happy, sunshine-y pictures in my stream, I’m going through a hard time in life and I’m actually not happy at all. When I have a majority of darker pictures like this, it means I’m happy. WEIRD, HUH?

today was suuuuuuuch a good photography day. oh my gosh. I found this location today and i basically went crazy. It was like an abandoned fort built during world war 2 that’s pretty much falling to pieces and rotting away. SO COOL. Its like one of those places you just KNOW is haunted.

I was like a little kid finding plastic eggs on easter o_O

Soundtrack vom kursächischen Hofkapellmeister, SWV 53, 1625:

Noch erstaunter — und Schütz ein wenig erschrocken — waren alle im Hof, als Gelnhausen plötzlich und nachdem er sich schon dienstfertig zwischen das Gepäck des späten Gastes gestellt hatte, mit angenehmem Tenor aus den „Cantiones sacrae„, einem eher überkonfessionellen, deshalb bis in katholische Gegend verbreiteten Werk den Anfang der ersten Motette zu singen begann: „O bone, o dulcis, o benigne Jesu…“

A. a. O., Seite 46.

Bonus Track: Johnny Flynn and Laura Marling: The Water, aus: Been Listening, 2010:

Written by Wolf

14. August 2020 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Herrschaft & Revolte

Der Sommer ohne Freischütz

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Update zu Grabesdunstwitterlich,
Gespräch mit einem frischerstandenen Vampyren (was niemand hören wollte),
The admirable symmetry of her person
und I wish you were dead, my dear:

I had a dream, which was not all a dream.
The bright sun was extinguish’d, and the stars
Did wander darkling in the eternal space,
Rayless, and pathless, and the icy earth
Swung blind and blackening in the moonless air;
Morn came and went—and came, and brought no day.

Lord Byron: Darkness, 1816.

Auf diese Weise kommt man doch endlich noch zu einem Book on Demand — weil mir nur zwei Plattformpublikationen aus der ganzen Publikationsplattform auffallen, die Sinn ergeben.

Gespensterbuch Titelseite 1810Nun will ich aus dem Internet keinen bestimmten Matthias Wagner fischen müssen, um ihn zu verlinken. Einer aber dieses Namens hat nicht weniger geschafft als eine schmerzlich klaffende Lücke im Buchhandel zu schließen, für die eigentlich der Insel-Verlag zuständig gewesen wäre. Dafür kann man ihn gar nicht genug loben und preisen, ihm danken und seine zwei Books on Demand abkaufen — die werden, wie der Name sagt, erst auf Anfrage gedruckt und tauchen deshalb nie antiquarisch oder — was im Falle gleichbleibender 22,90 bzw. 18,90 Euro wenig schreckt — verbilligt auf. Bei ebenjenen Books on Demand hat Matthias Wagner sich herbeigelassen, das Gespensterbuch und das Wunderbuch von Apel und Laun, eine insgesamt siebenbändige Reihe zwischen 1810 (sic!) und 1818, erstmals vollständig in zwei benutzbaren Bänden herauszugeben. Bei Insel gibt es eine tröstliche Auswahl und bei de Gruyter ein unverständlich teures Faksimile, aber es musste erst ein Herr Wagner kommen, alles selber machen, auf ein von zitierfähiger Seite anerkanntes Lektorat verzichten und in postmoderner Eigenausbeutung auf eigene Kosten self-publishen. Das mit dem Lektorat schmerzt mich berufsbedingt persönlich, aber wir reden über das Einrichten eines nicht vollends veschütteten Textkorpus, das es historisch einzuordnen galt.

Matthias Wagners selbstverlegerische Arbeit wirkt hierin vertrauenswürdig, weil er ein eigenes Nachwort stiftet, das ich ungekürzt und um die nötigen Verlinkungen erweitert übernehmen kann: Besser kann ich’s auch nicht sagen, und man erfährt nebenher alles, was man aus dem Jahr ohne Sommer 1816 für literaturhistorische Belange behalten sollte. An dieser Stelle mal wieder special thanks an Hank Nagler für den einschlägigen einschlagenden Hinweis.

Die ansonsten immer an erste Stelle gerückte literarische Bedeutung des Gespensterbuchs erwähnt Wagner gar nicht erst: Die einleitende Geschichte Der Freischütz war 1821 die Vorlage für die gleichnamige Oper von Weber. Der ausgewiesene Autor weist sie im Untertitel als „Eine Volkssage“ aus. Die interessantere Frage ist daher: Woher bezog wiederum Apel seinen ach so originären Urstoff zur deutschesten aller Opern?

Die von Wagner erwähnte französische Auswahlübersetzung ist Fantasmagoriana 1812 von Apel, Laun, Heinrich Clauren und dem Volksmärchen-Musäus (übrigens mit seiner schon behandelten Stummen Liebe) 1816, auf Französisch herausgegeben von Jean-Baptiste Benoît Eyriès, danach ebenfalls ungedruckt bis 2017 und erst dann in den deutschen Originalen als „Geisterbarbiere, Totenbräute und mordende Porträts“ beim Berliner Ripperger und Kremers Verlag.

Die interessantere Frage ist daher: Die englische — seinerzeit anonyme — Auswahlübersetzung Tales of the Dead 1813 konnte den schauerromantisierenden Helden der Villa Dioadati im sommerlosen Jahr 1816 schon vorliegen. Insinuiert wird an mehreren Stellen, sie hätten die Inspiration zu ihrem folgenreichen Schreibwettbewerb aus den frranzösischen Fantasmagoriana gezogen, wobei nahe liegt, dass in einer Villa bei Cologny am Genfersee im französischsprachigen Kanton Genf ein französisches Buch vorrätig herumliegt. Beherrschten aber wirklich alle Beteiligten — Engländer allesamt — gut genug die Fremdsprache, um sich unter dem ausgiebigen Einfluss von Laudanum, der in den Berichten darüber nie verschwiegen wird, zu solchen auch intellektuellen Höchstleistungen beflügeln zu lassen? Forschungsauftrag an mich selbst und alle anderen, die sich an dergleichen aufspulen: Ich würde gern mal das Exemplar der Fantasmagoriana oder der Tales of the Dead sehen, in dem diese Kommune auf Zeit geblättert haben muss.

In keiner der beiden zeitgenössischen Auswahlen kommt eine Übersetzung der Freischütz-Volkssage vor; am frankophonen Genfersee mussten die Engländer ohne Vorlage zum nachträglichen Soundtrack der deutschen Romantik auskommen. Die interessantere Frage ist daher, auf welchen Wegen — als prominentes Beispiel aus dem jüngeren Musikschaffen — Tom Waits und William S. Burroughs 1990 auf ihre „musical fable“ The Black Rider: The Casting of the Magic Bullets geraten und sie im hanseatisch weltoffenen, aber grunddeutschen Thalia-Theater zu Hamburg uraufführen konnten.

——— Matthias Wagner:

Nachwort.

2017, zu: Johann August Apel & Friedrich Laun: Gespensterbuch, J. G. Göschen, Leipzig 1811–1815.
Vollständige Ausgabe, Books on Demand 2017, Seite 569 f.:

Das Gespensterbuch der beiden Literaten Johann August Apel und Friedrich Laun, ursprünglich in fünf Einzelbänden zwischen den Jahren 1811 und 1815 erschienen, war die bekannteste Sammlung deutscher Schauergeschichten der Romantik.

Ihr damaliger Bekanntheitsgrad war so groß. daß sich bald Teilübersetzungen ins Englische und Französische fanden.

Die französische Übersetzung mit dem Titel: Fantasmagoriana, ou Recueil d’histoires d’apparitions de spectres, revenans, fantômes, etc., traduit de l’allemand par un amateur, Paris 1812 von Jean-Baptiste Benoît Eyriès, erlangte im Sommer 1816 Berühmtheit, als Lord Byron, sein Leibarzt John William Polidori, Mary Wollstonecraft Shelley und ihr Mann Percy Bysshe Shelley [Anmerkung: Die Gesellschaft umfasste auch die Initiatorin der Reise, Claire Clairmont.] nach ihrer Lektüre den Entschluß faßten, eigene Schauergeschichten zu erfinden. Polidori verfaßte The Vampyre, eine kurze Novelle, welche lange Zeit Lord Byron zugeschrieben wurde. The Vampyre ist die erste literarische Verarbeitung der Sagengestalt des Vampirs in Prosaform und verändert diese so, daß daraus der diabolische Adlige mit unstillbarem Blutdurst wurde. Die Arbeiten Byrons und Percy Shelleys blieben nur Fragmente, doch Mary Shelley earbeitete ihren größten Erfolg und einen der bekanntesten Schauerromane der Weltliteratur: Frankenstein, or The Modern Prometheus, der im Jahre 1818 in erster Auflage erschien.

Das Gespensterbuch erhielt in den Jahren zwischen 1815 und 1817 einen mehrbändigen Nachfolger unter dem Titel Wunderbuch. Die Geschichten knüpfen an diejenigen des Gespensterbuches an, sind teilweise aber unter die religiös-legendenhafte Literatur zu rechnen.

Johann August Apel verstarb unvorhergesehen im Jahre 1816. Der letzte Band des Wunderbuchs erschien 1817, unter Mitherausgabe von Friedrich de la Motte Fouqué, die Reihe wurde danach nicht mehr weitergeführt.

Eine englische Teilübersetzung des Gespensterbuchs erschien unter dem Titel: Tales of the Dead, London 1813 unter der Herausgabe Sarah Elizabeth Uttersons.

Cover Apel, Die Bilder der Ahnen, HörspielSowohl die französische als auch die englische Übersetzung enthielten eine Erzählung Johann August Apels, welche eigentlich nicht im Gespensterbuch enthalten war, durch diese Übersetzungen aber immer wieder damit in Verbidung gebracht und fälschlicherweise dazugerechnet wird: Die Bilder der Ahnen. Diese Geschichte erschien in einem Sammelband mit Kurzgeschichten J. A. Apels aus dem Jahre 1810 mit dem Titel: Cicaden, ein Jahr vor Veröffentlichung des ersten Bandes des Gespensterbuchs. Da dieses schöne Stück aber immer wieder mit dem großen Werk Apels und Launs in Verbindung gebracht wird, hielt ich es für angemessen, es als einen Anhang zum Gespensterbuch beizufügen.

Des Weiteren wird in der Geschichte Die schwarze Kammer, von Hauptprotagonisten einer Erzählung aus dem Journal Der Freimüthige gedacht, nämlich: Die graue Stube von Heinrich Clauren. Es handelt sich dabei praktisch um eine Zwillingsgeschichte zur Schwarzen Kammer des Gespensterbuchs und soll der Vollständigkeit halber hier auch mitaufgenommen werden.

Nun liegt mit dieser Edition zum ersten Mal seit 200 Jahren wieder eine schonend überarbeitete Komplettausgabe des Gespensterbuchs vor, und ich hoffe, daß sich heute wieder so wie damals viele Leser finden, die sich von seinem Inhalt verzaubern lassen.

Der Herausgeber.

Gespensterbuch Titelkupfer

Bilder: Gespensterbuch: Titelseite, via Staatsbibliothek zu Berlin;
Johann August Apel: Die Bilder der Ahnen, Cover zum Hörbuch, via Thomas Rippert,
Schnorr von Carolsfeld: Titelkupfer 1810, via LeastCommonAncestor, 2010.

Soundtrack: Carl Maria von Weber: Wir winden dir den Jungfernkranz, aus: Der Freischütz, 1821,
unter Carlos Kleiber, 1972 in der Dresdner Lukaskirche („Nutzung des Ortes für national und international bekannte Musikaufnahmen“). Die ist bis heute von keiner Referenzaufnahme abgelöst worden:

Bonus Track: Tom Waits/Willam S. Burroughs: Crossroads, aus: The Black Rider, Albumversion 1993:

Written by Wolf

7. August 2020 at 00:01

Veröffentlicht in Handel & Wandel, Romantik