Archive for Juli 2014
Krieg is nur für reiche Lajte.
An diesen Krieg werd‘ ich noch wochenlang denken.
Gefreiter a. D. Josef Schwejk, 1918/1923, Zum Kelch.
Wir trauern keine Träne nach:
dem Ersten Weltkrieg
(* 28. Juli 1914, Wien; † 11. November 1918, Compiègne).
Dem Zweiten, ich sag’s gleich, auch nicht, wenn er am nächsten achten Mai siebzig Jahre vorbei ist. Und ab sofort ist hoffentlich eine Ruhe mit dem ganzen Kriegsgetümmel, am besten für immer und überall.
Der Schwejk ist vielleicht keinen ganzen Krieg wert, aber er war noch das Beste, was man aus einem Krieg machen konnte.
Bilder: Teniente lola Sternenkind: Books series (The Good Soldier Švejk), 3. Juli 2013.
Soundtrack: Hugo Haas: Každý má ňákou chorobu, aus: Dobrý voják Švejk, 1956.
Wanderwochen 01: Goethe guckt in die Ferne
Update zum Gesang der Geister über den Wassern:
Zu den großen Fernsehmomenten der 1990er Jahre gehörte das Talkshow-Interview mit einem jungen Mann mit Glatze, Bomberjacke und Springerstiefeln mit weißen Schnürsenkeln, der für den Stolz eintrat, ein Deutscher zu sein. Auf die Nachfrage, wie er denn auf etwas stolz sein könne, das er nicht geleistet hat, zum Beispiel seine Staatsangehörigkeit, gab er zur Antwort: wegen Goethe und Schiller. Die erneute Nachfrage, was denn da sein Lieblingsbuch von Goethe sei, ergab den großen Fernsehmoment: sein verblüfftes Gesicht.
Obwohl ich keinen Wert darauf lege, junge Männer in der beschriebenen Staffage persönlich zu treffen, ja überhaupt zu erfahren, ob solche jemals außerhalb journalistischer Medien auftreten, kann hier nicht der Ort sein, über sie zu urteilen. Man liest ja allgemein viel zu wenig von und immer nur über Goethe.
Übrigens hätte Goethe gern Fernsehen geguckt. Von seinem Kumpel, dem Weimarer Herzog, mit zahlreichen Ämtern betraut, die wir nicht alle als reine Sinekuren einstufen können, als Freimaurer einer vita activa das Wort redend und als erklärter Augenmensch, wäre der Geheimrat oft heilfroh gewesen, wenn er zum Fernsehen käme: „Aber Du weißt, wie ich im Anschaun lebe“, schrieb er an seinen anderen Kumpel Johann Heinrich Merck (Weimar, 5. August 1778).
Visuelle Eindrücke musste Goethe sich deshalb holen, wo sie zu haben waren: wo Gott — mit dem er ein Leben lang leicht fremdelte — sie in seine Natur gestellt hat. Zur Erstbesteigung des Blocksbergs, vulgo Brocken, muss man immer schon dazubetonen, dass vor Goethe schon jemand oben war, und zwar auch im Winter; das galt also schon Goethes Generation nicht mehr als geradezu unmöglich, nur als unnötig schweres Unterfangen. Seine drei Reisen in die Schweiz hätten später Wandertouren geheißen, seine Ansichtskarten und Urlaubsfotos musste er noch selber zeichnen und tat es ausführlich, mit erkennbar trainierter Begabung und einem liebevollen Blick für Landschaften. Seine Graffiti in Wanderhütten genießen Weltruf, seine Naturgedichte füllen dicke Bände; da ist schon egal, dass sein Heideröslein von Herder abgeschrieben war. Seinen Doktor Faust bringt er anfangs durch einen Osterspaziergang zu gesünderem Menschenverstand.
——— Goethe an Johann Christian Kestner, Frankfurt, 25. Dezember 1772,
nach der Weimarer Ausgabe, Abteilung IV Band 2, Seite 48 f.:
Der Türner hat sich wieder zu mir gekehrt, der Nordwind bringt mir seine Melodie, als blies er vor meinem Fenster. Gestern lieber Kestner war ich mit einigen guten Jungens auf dem Lande, unsre Lustbarkeit war sehr laut, und Geschrey und Gelächter von Anfang zu Ende. Das taugt sonst nichts für die kommende Stunde, doch was können die heiligen Götter nicht wenden wenns Ihnen beliebt, sie gaben mir einen frohen Abend, ich hatte keinen Wein getruncken, mein Aug war ganz unbefangen über die Natur. Ein schöner Abend, als wir zurückgingen es ward Nacht. Nun muss ich dir sagen das ist immer eine Sympathie für meine seele wenn die Sonne lang hinunter ist und die Nacht von Morgen herauf nach Nord und Süd umsich gegriffen hat, und nur noch ein dämmernder Kreis von abend heraufleuchtet. Seht Kestner wo das Land flach ist ists das herrlichste Schauspiel, ich habe jünger und wärmer Stunden lang so ihr zugesehn hinabdämmern auf meinen Wandrungen. Auf der Brücke hielt ich still. Die düstre Stadt zu beyden Seiten, der Still leuchtende Horizont, der Widerschein im Fluß machte einen köstlichen Eindruck in meine Seele, den ich mit beyden Armen umfasste.
——— Goethe an Auguste Gräfin zu Stolberg, Frankfurt, 13. Februar 1775,
nach der Weimarer Ausgabe, Abteilung IV Band 2, Seite 233 f.:
Wenn Sie sich, meine liebe, einen Goethe vorstellen können, der im galonirten Rock, sonst von Kopf zu Fuse auch in leidlich konsistenter Galanterie, umleuchtet von vom unbedeutenden Prachtglanze der Wandleuchter und Kronenleuchter, mitten unter allerley Leuten, von ein Paar schönen Augen am Spieltische gehalten wird, der in abwechselnder Zerstreuung aus der Gesellschafft, ins Conzert, und von da auf den Ball getrieben wird, und mit allem Interesse des Leichtsinns, einer niedlichen Blondine den Hof macht; so haben Sie den gegenwärtigen Fassnachts Goethe, der Ihnen neulich einige dumpfe tiefe Gefühle vorstolperte, der nicht an Sie schreiben mag, der Sie auch manchmal vergißt, weil er sich in Ihrer Gegenwart ganz unausstehlich fühlt.
Aber nun giebts noch einen, den im grauen Biber-Frack mit dem braunseidnen Halstuch und Stiefeln, der in der streichenden Februarluft schon den Frühling ahndet, dem nun bald seine liebe weite Welt wieder geöffnet wird, der immer in sich lebend, strebend und arbeitend, bald die unschuldigen Gefühle der Jugend in kleinen Gedichten, das kräfftige Gewürze Lebens in mancherley Dramas, die Gestalten seiner Freunde und seiner Gegenden und seines geliebten Hausraths mit Kreide auf grauem Papier, nach seiner Maase auszudrücken sucht, weder rechts noch links fragt: was von dem gehalten werde was er machte? weil er nach keinem Ideale springen, sondern seine Gefühle sich zu Fähigkeiten, kämpfend und spielend, entwickeln lassen will.
Wäre das Fernsehprogramm um 1775 aus naheliegenden Gründen nicht noch indiskutabler gewesen als heute, wären wir nicht reicher, sondern ärmer. So muss das der stolze deutsche junge Mann im Fernsehen gemeint haben.
Texte zeichentreu aus: Goethe wandert. Ausgewählt, herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Jochen Klauß, Hain Verlag, Rudolstadt und Jena 1988. Leider nur 64 Seiten im Briefumschlagformat DIN-Lang C6, daher mehr als Geschenkbuch geeignet.
Bilder: Goethe: Tuschzeichnung Waldlandschaft mit Wasserfall, 17. Juni 1775.
Auf der Rückseite bezeichnet: „17 Juni 75 Rigi“. (Koetschau / Morris, Tafel 3; Corpus I, Nr. 112; Maisak, Nr. 27);
Auf der Rückseite, nicht von Goethes Hand, bezeichnet: „Goethe den 18. Jun. 1775“. Kapelle, an einem bewaldeten Berghang gelegen, rechts seitlich ein Bauernhaus. Wahrscheinlich bezieht sich auf dieses Blatt die Bemerkung im Tagebuch: „18. Sontags früh gezeichnet die Capelle vom Ochsen aus“. (Koetschau / Morris, Tafel 4).
Beide via Jutta Assel und Georg Jäger: Goethes Schweizerreise 1775. Alpenwanderung in Wort und Bild, Januar 2011
Barfußwochen 08: Danne ich wüete fluot des rîfen nû mit füezen bar
Update zu Dein pöschelochter roter mund:
Für die freundliche Lanzhoverin vom Bodensee, die theoretisch geholfen hätte.
——— Klaus Cäsar Zehrer: Die Stiftung Lyriktest informiert, „Ausgang“ zu: Hell und Schnell. 555 komische Gedichte aus 5 Jahrhunderten, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2004, Seite 515 f.:
Bei älteren Sprachspielen, die ihre Reifezeit bereits überschritten haben, können wir eine andere Tendenz feststellen. ist ihre Regel bis zum Äußersten ausgereizt, läßt sich ein komischer Effekt nur noch durch Regelbruch erzielen. So erging es dem Schüttelreim, einem Kunstgriff, den schon Konrad von Würzburg im 13. Jahrhundert kannte [Hervorhebungen in Zehrers Vorlage]:
Jârlanc vrîjet sich diu grüene linde
loubes unde blüete guot;
wunde güete bluot des meien ê der werlte bar.
gerner ich dur liehte bluomen linde
hiure in touwes flüete wuot,
danne ich wüete fluot des rîfen nû mit füezen bar.Am Ende des 19. Jahrhunderts brach, von den humoristischen Zeitschriften „Fliegende Blätter“ und „Ulk“ ausgehend und bald auf die breite Bevölkerung übergreifend, das Schüttelreimfieber aus. Jedes erdenkliche mehrsilbige Wort wurde durch Konsonantenumstellung auf die Probe gestellt, wobei erstaunlich viele Wendungen gefunden wurden. […]
Allerdings war die Regel so leicht anwendbar und führte zu einer solch enormen Trefferzahl, daß das ursprünglich recht lebendige und lustige Spiel schnell ins mechanische Abklappern von Buchstabenkombinationen umkippte. Bald mußte ein Schüttelreim schon außergewöhnlich zündend sein, um nicht zu langweilen. Als es endlich und endgültig keinen Schritt mehr voranging an der Schüttelfront, besann sich F. W. Bernstein der alten Faustregel von Henri Bergson, wonach das Lächerliche dort zutage tritt, „wo etwas Lebendiges von etwas Mechanischem überdeckt wird“. Systematisch vollzog er, was Erich Mühsam […] zuvor bereits beiläufig und zufällig gelungen war: Er dekonstruierte die banal gewordene Kunst der Wortschüttelei, indem er exemplarisch verhauene Vierzeiler verfaßte, die die erste Regel des Schüttelreimens (Kreuztausch der Konsonanten) penibel einhalten, aber ihre zweite (es dürfen dadurch ausschließlich sinnvolle Wörter entstehen) grob mißachten. So entstanden Meta-Schüttelreime […], deren Komik dadurch entsteht, daß sie den leeren Automatismus konventioneller Schüttelreime aufdecken, und darin wiederum liegt die Ursache füe die Erkenntnis, warum es unmöglich ward, nach Bernstein einen Schüttelreim zu schreiben.
Ninette, die stark ins Mittelalter orientierte und im Mittelhochdeutschen fortgeschrittene Lanzhoverin, meint angesichts Konrads von Würzburg: „Hihi, da geht’s um eine Barfüßige.“ — Stimmt fast: Es geht um einen Barfüßigen, weil das sprechende Ich zumindest in der zweiten Strophe nur entweder männlich oder lesbisch sein kann — womit in dieser Entstehungszeit nicht zu rechnen ist.
Nun zeichnen sich barfüßige Figuren in der Kunst gewöhnlich entweder durch besondere Armut, Verletzlichkeit oder Friedfertigkeit aus. Durch eine bestimmte Art der Schönheit glänzen sie erst in einer so neuen Zeit, in der Fußbekleidung so selbstverständlich geworden ist, dass ihr Mangel auffällt — also funktioniert das auch nur in wohlhabenden Kulturen, in denen freiwillig und nicht, um an den Schuhen zu sparen, barfuß gegangen wird. Überraschend deshalb, dass genau das im Hochmittelalter funktioniert haben muss.
In den Barfußwochen auf DFWuH erscheint deshalb Konrads vollständige dreistrophige Kanzone mit der Übersetzung von Max Wehrli aus: Deutsche Lyrik des Mittelalters, 100. Band der Manesse Bibliothek der Weltliteratur, Zürich 1955, 7., durchgesehene Auflage 2001.
Konrads durchtriebene Frühformen des Schüttelreims — in den zweiten Strophenhälften sind jeweils auch Binnenreime dabei —, die im Original durch vergrößerte Wortabstände deutlich werden, sind in Wehrlis Übersetzung leider völlig vernachlässigt; es ist eine reine Übertragung der Inhalte, was den Vorteil hat, dass sie keine sinneingreifenden Zugeständnisse an die Form machen muss:
——— Konrad von Würzburg: Lied 13, 13. Jahrhundert:
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——— Konrad von Würzburg: Lied 13, neuhochdeutsch 1955:
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Bilder: Cover Max Wehrli, Hrsg.: Deutsche Lyrik des Mittelalters. Mit 36 Abbildungen aus der Manessischen Liederhandschrift, 100. Band der Manesse Bibliothek der Weltliteratur, Zürich 1955;
Ninette von Lanzhoven, die gleich durch Armut, Verletzlichkeit, Friedfertigkeit und eine bestimmte Art der Schönheit glänzt, fertigt ein Nestelband, 22. Juni 2014.
Barfußwochen 07: Wenn man Schuh anhat
Update zu Barfußläufte:
Deiner Phrasen leeres Was | Treibet mich davon,
Abgeschliffen hab ich das | An den Sohlen schon.Divan, Buch des Sängers: Derb und tüchtig, 1819 ff.
Sag’ mir das nicht, du hast’s in alten Tagen
Längst an den Sohlen abgetragen;
Doch jetzt, dein Hin- und Wiedergehn
Ist nur um mir nicht Wort zu stehn.Faust II, Vers 6177 f., 1832.
Das ist jetzt ein Fundstück, auf das ich mir nicht wenig einbilde. Wirklich zugänglich ist es erst geworden, seit der Deutsche Klassiker Verlag in breitenwirksamer Auswahl bei Insel in Taschenbücher übergeht, darunter Teile der Frankfurter Goethe-Ausgabe. Und selbst darin steht die unten folgende Skizze im Band 5 mit den klassischen Dramen ganz hinten, kurz vor dem Kommentar — übrigens von Dieter Borchmeyer — unter „Kleinere dramatische Fragmente“, als erste von vieren, von denen keine die Stärke einer ganzen Druckseite erreicht. Vorher stand sie nur in der Frankfurter und natürlich in der Weimarer Ausgabe, in der alles von Goethe steht, die aber nicht gleich jemand daheim stehen hat.
Für Goethes Begriffe ist das eine ungewöhnlich volksnahe, aus dem Leben gegriffene Szene, die er zur eventuellen weiteren Verwendung 1774 zusammen mit weiteren Gedanken und Notizen auf einem Konzeptpapier in Quartformat festgehalten hat. Dasselbe wanderte mit Goethes Nachlass ins Archiv und wurde erst 1897 mit dem Abdruck im Lesartenverzeichnis zu Band 38 der Weimarer Ausgabe publik — Rubrik „Späne“.
Auf diesem Quartbogen fehlt die Überschrift „Magd Frau Bäurin“, allerdings existiert ein älteres Notizblatt — mit der Überschrift (ohne die Kommata), die allerdings auch nur als Szenenanweisung gedacht sein kann, mit kleinen Abweichungen und ohne die ersten zwei Sätze. Nach den Grundsätzen der Frankfurter Ausgabe gehören die Überschrift und diese zwei Sätze zur Fassung letzter Hand.
Der apokryphe Quartbogen ist laut Borchmeyers Kommentar datiert mit „(1)4. 10. 1774“, die Niederschrift muss deshalb diesem Datum vorausgehen, ein ausgesprochener Glücksfall fürs Eingrenzen der Entstehungszeit. Ein weiterer Hinweis führt uns auf einem nicht unspannenden Weg zu Goethes Mutter und vorweimarischen Biographie:
Goethe erzählt im 18. Buch von Dichtung und Wahrheit […]:
Zu meiner Mutter machte sich ein eigenes Verhältnis; sie wußte in ihrer tüchtigen graden Art sich gleich ins Mittelalter zurückzusetzen um als Aja bei irgend einer Lombardischen oder byzantinischen Prinzessin angestellt zu sein. Nicht anders als Frau Aja ward sie genannt und sie gefiel sich in dem Scherze.
Nun steht diese Äußerung zwar im Umkreis des Besuchs der beiden Stolberg–Brüder vor der Schweizer Reise. Die Zeit, von der erzählt wird, ist demnach der Mai 1775; aber es besteht keine Notwendigkeit, die erstmalige Bezeichnung von Goethes Mutter als „Frau Aja“ auf dieses Datum zu fixieren, wie es in der Weimarer Ausgabe geschieht, die deshalb trotz des oben angegebenen Datums die Entstehungszeit des Fragments wesentlich später ansetzt. tatsächlich wurde die Mutter bereits am 20. 7. 1774 im Ausgabenbuch des Vaters [d. h. sogar von ihrem eigenen Mann] „Frau Aja“ genannt. Dies paßt genau zur Datumsangabe auf dem Quartbogen. Da es sich bei der Szene aber bereits um eine Übertragung von einer älteren Vorlage handelt, muß der Entstehungszeitpunkt noch um einiges nach vorn verlegt werden, wahrscheinlich auf den späten August 1774 [d. h. um Goethes 25. Geburtstag], wo Goethe — soeben von der Lahn-Rhein-Reise nach Frankfurt heimgekehrt — angesichts seiner Fußmärsche mit Lavater und Basedow die Feststellung Dorthes [aus dem Fragment] wohl am eigenen Leib verspürt hat: „Es ist kurios, daß man sich die Füß aufgeht, wenn man schuh anhat und nit wenn man barfüßig geht.“ Geht man von der hier vorgeschlagenen Datierung aus, gehört das Fragment also zu den vorweimarischen Dichtungen.
Es ist eine stark für den sonst so unnahbar olympischen Dichter einnehmende Vorstellung, wie er barfuß durch die Schweiz tapst. Der mütterliche Spitzname „Frau Aja“ bezeichnet, aus dem Spanischen oder Italienischen übernommen, eine Erzieherin oder Hofmeisterin. Geläufig war er der Familie Goethe am wahrscheinlichsten aus dem Volksbuch Die vier Haimonskinder, in dem ebenfalls die gütige, vermittelnde Mutter so heißt.
Der sachte sozialkritische Akzent, den man in dem Fragment wahrnehmen mag, ist auch eher für den Stürmer und Dränger, nicht den klassischen Weimaraner Goethe typisch, als er sich noch gern über den Kommerzialismus in seiner Vaterstadt mokierte. Ich gebe es nach der Frankfurter Ausgabe, die ihrerseits nach der Weimarer Ausgabe zitiert, so vollständig wieder, wie ein Fragment sein kann.
——— Johann Wolfgang Goethe:
Magd, Frau, Bäurin
kurz vor 4. oder 14. Oktober 1774, cit. Frankfurter Ausgabe, Band 5, 1988:
Frau Aya Herr Jes Maidel ihr lauft bei dem Wetter in bloßen Füßen werdt ihr nicht krank
Bäurin Ja meine andern sind zer[rissen] beim Schuhflicker ich hab nur ein Paar
Dorthe Es ist kurios daß daß man sich die Füß aufgeht wenn man Schuh anhat und nit wenn man barfüßig geht.
Frau A ihr nach auf die Füße sehend: Wenn ihr die zerreißt so laß ich euch ein Paar neue machen
Baur Vergel[ts Gott] das wird ihnen Gott vergelten
Dorthe Und wenn mer barfüßig geht so geht mer sie nit auf.
Bäurin Ihr lauft eure Sohlen ab, Wir laufen uns Sohlen an. — Ja so was hat eben unser Herr Gott für die armen Leut erfunden
Marmorbilder: Nick Endegor im Louvre, Paris: Мрамор Лувра, Mai 2013.
Barfußwochen 06: Laß mich die Aschengruttel sein in deinem Märchen
Update zu Wer fühlt den Krampf der Freuden und der Schmerzen nicht:
Sollten Geistliche Literatur schaffen? Da haben wir wieder was zum Diskutieren. (Ist aber langweilig, reden wir lieber von schönen Mädchen.)
Wenn es so hinausläuft wie beim biedermeierlichen Dorfgeistlichen Eduard Mörike, sollten sie es wenigstens dürfen: Die Geistlichen der Christenheit haben in ihrer Geschichte weit Schlimmeres angerichtet als schlechte Gedichte – wobei man Mörike heute noch nicht rundum schlecht finden muss. Vielmehr würde ohne seine lyrischen Experimente und liebevollen Landgeschichten einiges fehlen.
Landgeschichten bedeutet auch, dass Mörike am meisten auf dem Gebiet der Idylle geleistet hat – einer Gattung, die sich eher inhaltlich denn formal definiert; Idyllen sind Gedichte in allen Formen und Farben oder Prosa von der Anekdote bis zum Roman. Gerade Mörikes Kunstmärchen in Novellenstärke vom Stuttgarter Hutzelmännlein besticht durch seinen naiv altschwäbischen Tonfall nicht nur in den Dialogen, sondern auch der Erzählinstanz. Salopper und verständlicher gesagt, klingt das ganze Ding durchgehend so hinreißend danach, als ob ein gut gelaunter schwäbischer Opa hochdeutsch zu reden versucht, dass man aus dem Grinsen gar nicht rauskommt.
Idylle bedeutet wiederum, dass Mörike dem zu Recht vergessenen Salomon Geßner nicht nur geographisch sehr viel näher steht als, sagen wir, Quentin Tarantino. Und trotzdem: Gucken wir mal genauer.
Im Stuttgarter Hutzelmännlein bringt Mörike eine eigenständige Binnenerzählung unter, wie in Novellen recht gängig: Die Historie von der schönen Lau. Die besagte Lau ist eine Nixe nicht im großen weiten Weltmeer, sondern damit es schwäbisch bleibt, im Blautopf, mithin ein regionales Zugeständnis an die seit Fouqué grassierenden Geschichten von Melusinen, Sirenen und sonstigen Wasserweibern, unter denen heute noch am bekanntesten die Kleine Seejungfrau von Andersen in ihren zahllosen Bearbeitungen ist: eine ausführliche Parabel über die erotische Bedeutsamkeit menschlicher Beine und Füße.
Andersens Seejungfrau war deshalb eine genuine Nixe, um in einem Fischschwanz zu enden und sich ihr Paar Füße erst mühsam zu verdienen und damit vor Liebesschmerz unglücklich zu werden. Alle anderen weiblichen Wasserwesen, allen voran die besonders sexuell konnotierten Sirenen, sind nicht mit einer hässlichen, obendrein für Liebespraktiken unter Säugetieren ungeeigneten Fischhälfte inkommodiert, sondern selbstverständlich mit den wunderschönsten Beinen gesegnet.
Die schöne Lau zum Beispiel ist allgemein ein „Wasserweib“, weil sich eine „Undine“ im Blautopf wohl ausnähme wie Paris Hilton in Glonn (nicht der beste Vergleich, weil Paris Hilton sich die gottverliehene Schönheit ihrer Zehen wahrscheinlich von klein auf mit zu engen Stöckelschuhen ruiniert hat). Was macht Mörike daraus? Er nutzt die Anatomie seiner leuchtend hübschen Hauptfigur, um sie von ihren Füßen aus zu charakterisieren.
Und genau das trägt uns jetzt doch zu Tarantino. Zum 20. Jahrestag ist mal wieder Gelegenheit, sein Pulp Fiction anzuschauen. Und diesmal achten wir besonders darauf, wie Uma Thurman eingeführt wird: barfuß von unten, ihre Wohnung herrschaftlich beschreitend, in einer aufwändigen Kamerafahrt über den Teppich. Nicht die einzige Stelle, an der er seinen Filmfrauen offensiv die Füße abfilmt, aber eine, an der das alte Spielkind Tarantino nicht allzu offensichtlich seine eigenen erotischen Vorlieben verfolgt – weil Umas Thurmans Füße nämlich vorher in der Handlung Gegenstand eines sprichwörtlich gewordenen Dialogs über Fußmassagen waren und außerdem gebraucht werden, um ihre Person in einer Art Schlangentanz und ihr kleopatrisches Wesen – sie trägt sogar die Frisur der Kleopatra im Asterix – zu verdeutlichen, was in Schuhen nicht halb so gut funktioniert hätte.
Mörikes schöne Lau ist als unbezweifelte, konkurrenzlose Königin des Blautopfs weniger darauf angewiesen, ständig ihr Herrschertum hervorzukehren, bewegt sich ohnedies an Land unter lauter niederem, obrigkeitstreuem Bauern- und Handwerkervolk und darf deswegen ungleich entspannter dargestellt werden. Zugleich idyllisch und tarantinisch anhand ihrer Füße:
——— Eduard Mörike: Die Historie von der schönen Lau
in: Das Stuttgarter Hutzelmännlein, 1853:
Zuunterst auf dem Grund saß ehmals eine Wasserfrau mit langen fließenden Haaren. Ihr Leib war allenthalben wie eines schönen, natürlichen Weibs, dies eine ausgenommen, daß sie zwischen den Fingern und Zehen eine Schwimmhaut hatte, blühweiß und zärter als ein Blatt vom Mohn.
[…]
Die Schwiegermutter hatte ihr zum Dienst und Zeitvertreib etliche Kammerzofen und Mägde mitgegeben, so muntere und kluge Mädchen, als je auf Entenfüßen gingen (denn was von dem gemeinen Stamm der Wasserweiber ist, hat rechte Entenfüße); die zogen sie, pur für die Langeweile, sechsmal des Tages anders an – denn außerhalb dem Wasser ging sie in köstlichen Gewändern, doch barfuß –, erzählten ihr alte Geschichten und Mären, machten Musik, tanzten und scherzten vor ihr.
[…]
Einsmals an einem Nachmittag im Sommer, da eben keine Gäste kamen, der Sohn mit den Knechten und Mägden hinaus in das Heu gefahren war, Frau Betha mit der Ältesten im Keller Wein abließ, die Lau im Brunnen aber Kurzweil halben dem Geschäft zusah und nun die Frauen noch ein wenig mit ihr plauderten, da fing die Wirtin an: „Mögt Ihr Euch denn einmal in meinem Haus und Hof umsehn? Die Jutta könnte Euch etwas von Kleidern geben; ihr seid von einer Größe.“
„Ja“, sagte sie, „ich wollte lange gern die Wohnungen der Menschen sehn, was alles sie darin gewerben, spinnen, weben, angleichen auch wie Eure Töchter Hochzeit machen und ihre kleinen Kinder in der Wiege schwenken.“ Da lief die Tochter fröhlich mit Eile hinauf, ein rein Leintuch zu holen, bracht‘ es und half ihr aus dem Kasten steigen, das tat sie sonder Mühe und lachenden Mundes. Flugs schlug ihr die Dirne das Tuch um den Leib und führte sie bei ihrer Hand eine schmale Stiege hinauf in der hintersten Ecke des Kellers, da man durch eine Falltür oben gleich in der Töchter Kammer gelangt. Allda ließ sie sich trocken machen und saß auf einem Stuhl, indem ihr Jutta die Füße abrieb. Wie diese ihr nun an die Sohle kam, fuhr sie zurück und kicherte. „War’s nicht gelacht?“ frug sie selber sogleich. – „Was anders?“ rief das Mädchen und jauchzte: „gebenedeiet sei uns der Tag! ein erstes Mal wär‘ es geglückt!“ – Die Wirtin hörte in der Küche das Gelächter und die Freude, kam herein, begierig, wie es zugegangen, doch als sie die Ursach‘ vernommen – du armer Tropf, so dachte sie, das wird ja schwerlich gelten! – ließ sich indes nichts merken, und Jutte nahm etliche Stücke heraus aus dem Schrank, das Beste was sie hatte, die Hausfreundin zu kleiden. „Seht“, sagte die Mutter: „sie will wohl aus Euch eine Susann Preisnestel machen.“ – „Nein“, rief die Lau in ihrer Fröhlichkeit, „laß mich die Aschengruttel sein in deinem Märchen!“ – nahm einen schlechten runden Faltenrock und eine Jacke; nicht Schuh noch Strümpfe litt sie an den Füßen, auch hingen ihre Haare ungezöpft bis auf die Knöchel nieder. So strich sie durch das Haus von unten bis zu oberst, durch Küche, Stuben und Gemächer. Sie verwunderte sich des gemeinsten Gerätes und seines Gebrauchs, besah den rein gefegten Schenktisch und darüber in langen Reihen die zinnenen Kannen und Gläser, alle gleich gestürzt, mit hängendem Deckel, dazu den kupfernen Schwenkkessel samt der Bürste und mitten in der Stube an der Decke der Weber Zunftgeschmuck, mit Seidenband und Silberdraht geziert, in dem Kästlein von Glas.
[…]
Indem der Spinnerinnen eine diesen Schwank erzählte, tat die Wirtin einen schlauen Blick zur Lau hinüber, welche lächelte; denn freilich wußte sie am besten, wie es gegangen war mit dieser Messerei; doch sagten beide nichts. Dem Leser aber soll es unverhalten sein.
Die schöne Lau lag jenen Nachmittag auf dem Sand in der Tiefe, und, ihr zu Füßen, eine Kammerjungfer, Aleila, welche ihr die liebste war, beschnitte ihr in guter Ruh die Zehen mit einer goldenen Schere, wie von Zeit zu Zeit geschah.
Bilder: Alberich Matthews‘ Lieblingsmodel Hannah:
Quickstep, 25. Mai 2008; Call Her Moonchild, 4. April 2008; Sightseeing, 14. September 2008;
Moritz von Schwind: Entwürfe zur Historie von der schönen Lau, ca. 1868 via Goethezeitportal.
Barfußwochen 05: Weder Schuh und weder Strümpf (und einen Striffel um den Hals)
Update zu Wer fühlt den Krampf der Freuden und der Schmerzen nicht:
Sommer allzumal — machen wir wieder eine Gaudi und ein paar neue Barfußwochen. Die letzten haben sich nach dem vierten Teil I am, I am, I am (your barefoot wench for a whole week) … nun ja: verlaufen und waren überhaupt etwas fremdsprachlich geprägt. Inzwischen sind einige deutsche Stellen aufgefallen, die in überraschende Tiefen führen.
Die befreundete Künstlerin Sina Opalka, die der Literatur (Weil es mich morgen noch gibt, Books on Demand 2008) und dem Barfußlaufen nahe steht, wurde angefragt, für den weiteren Verlauf unserer Weheklagen und Höllenfahrten eigene Illustrationen beizusteuern. Leider zeigt sich, dass die Führung einer typisch hipströsen Berliner Existenz mehr Zeit und das regelmäßige Entkommen aus Berlin mehr Geld erfordern, als die Unterstützung eines Weblogs mit rund zwanzig Lesern pro Tag erübrigt. Das ist in Ordnung so, das sind die Dinge, die Sina ausmachen.
Besonders beeindruckt war Sina von meinem Beispiel für ein weithin vergessenes Volkslied, zu dem ich nicht einmal eine Melodie auftreiben konnte. Auch mit den Anmerkungen im Volksliederarchiv bleibt es obskur genug, das verborgene Thema sollte jedoch mindestens die Anbahnung einer unpassenden Ehe, wo nicht gar häusliche Gewalt sein — jedenfalls nichts, was sich als Hochzeitslied eignete.
Sina, die in ihrem jungen Leben nicht immer ein Schoßkind des Glücks war, wurde davon zu einem partiellen Selbstportrait inspiriert, das sich zur Wiederaufnahme unserer Barfußwochen aufdrängt. Danke, Sina, fürs Zehennägeltrimmen, Füßewaschen, Badewanneputzen und Überlassen deines getreuen Abbildes, vielleicht wird’s ja doch noch mehr mit deinen Illus!
——— Volkslied:
Komm heraus, du traurige Braut
DVA A 101419 (Heringen, Nassau): „Das Brautpaar erscheint an der Türe“,
vgl. EB .870, VI. dt. Landsch. III, Nr.86, Rölleke Wh. 9, 2, S. 25–27;
nach: Schürz dich, Gretlein:
Komm heraus, komm heraus, du traurige Braut!
Wir steh’n hier vor dem Hochzeitshaus.
0 weh, o weh! Wie weinet diese Braut so sehr!Dieses Jahr trägt sie eine Kron‘ auf ihrem Kopf;
übers Jahr werden ihr die Haare ausgeropft.Dieses Jahr trägt sie einen Striffel um den Hals;
übers Jahr hat sie weder Salz und weder Schmalz.Dieses Jahr trägt sie noch schöne Zwickelstrümpf;
übers Jahr hat sie weder Schuh und weder Strümpf.Dieses Jahr trägt sie noch schöne gewichste Schuh;
übers Jahr, da läuft sie barfuß-barfuß zu.Dieses Jahr trägt sie ein Ringlein an der Hand;
übers Jahr führt sie ein Kindlein an der Hand.
Barfuß-barfüßige traurige Braut: Sina Opalka: Lesen lassen, 19. März 2014.
Soundtrack ist aus Gründen nicht das vorgestellte Volkslied, sondern eine ganz und gar unerwartete Version von Jolene von Miley Cyrus. Das war 2012, also noch vor ihrem unnötigen „Wrecking Ball“-Gekasper. Jolene von Dolly Parton 1973 hat ein vergleichbares Thema aus der Sicht einer traurigen Braut; Frau Cyrus singt ihre Backyard Sessions barfuß.