Archive for November 2015
1. Katzvent: I should be stronger than weeping alone (und mit pragmatischen Messingdrähten zum Skelett zusammengeworfelt)
Das Jahr hat sehr von Katzen gehandelt: Eine ist gegangen, zwei sind gekommen und sollen lange bleiben.
Im Advent machen wir heuer, wie sich das im Internet gehört, Katzencontent mit erlesener Katzenmusik. Mein Adventskalender hat leider nur vier — für jede Woche ein — Türchen, weil ich mich nicht zerreißen kann und Advent ja irgendwie auch eine Zeit der Besinnung sein soll, aber wer meint, das reiche nicht, hat noch nie erlebt, wie weit eine Katze mit einer einzigen Katzenklappe kommt.
Die erste Katzenklappe führt in einige Düsternis: auf geradem Wege von einem lustig gemeinten Goethe-Gedicht zur verzweifeltsten Version von Stille Nacht, die sich ausdenken lässt — weil November ist und die Zeiten sowieso mehr nach gothic Patschuli als nach weihnachtlichem Zimtgebäck riechen; ab der zweiten wird’s dann fröhlicher, versprochen.
Goethe entwirft in seinem Tagebuch am 18. April 1810 ein „Kleines Gedicht: Jäger und Koch“ und probiert dafür die Überschriften „Newton als Physiker“, darüber „Mathematiker und Physiker“ aus — also vermutlich die erstere als zweiten und verbesserten Versuch. Beide wurden zugunsten der zwei deutenden Vorspruch-Strophen verworfen.
Das verwendete Bild wird von Goethe schon im März 1806 bei Riemer in einer „Anekdote von der Katzenpastete, die man für eine Hasenpastete gefressen, auf die Newtonische Farbenlehre bezogen“ überliefert. Zwei Tage nach Entwurf, am 20. April 1810, schickt Goethe das Gedicht an Sartorius, voller Freude, seine eigene Farbenlehre anzukündigen — werde er doch
mit Vergnügen in Betracht ziehen, wie sich die Newtonianer gebärden, nachdem ich ihnen die Knöchelchen dieser alten Katzenpastete wohl gebleicht und mit pragmatischen Messingdrähten zum Skelett zusammengeworfelt vorgestellt. Der Streit wird hierdurch, wie Sie sehen, in die komparierte Anatomie gespielt, und ich meine, die Herren werden ihrer hundertjährigen Manier versichern: das sei eben der rechte Hase, der sechs scharfe Schneidezähne und ein paar tüchtige Eckzähne von der Natur erhalten habe. Worauf ich dann freilich nichts zu antworten weiß.
Man sieht, dass Goethe den vor über 80 Jahren zuvor verstorbenen Newton nicht mochte, weil er seine eigene Farbenlehre, nicht etwa den Faust, als sein Hauptwerk ansah — die heute eher als Schrulle eines alternden Multitalents gilt. Dass er mit seinem Gedicht nicht gerade in Frieden kommt, merkt man der energisch vorantreibenden, etwas schnauzigen Chevy-Chase-Strophe an. Dabei hätte er es bei einiger Selbstkritik ahnen können: Das mit den „zwei Gewerben“ sagt er ja selber.
——— Johann Wolfgang von Goethe:
Katzen-Pastete
18. April 1810, aus: Parabolisch, Sammlung von 1815, gedruckt bei Cotta, Mai 1816:
Bewährt den Forscher der Natur
Ein frei und ruhig Schauen,
So folge Meßkunst seiner Spur
Mit Vorsicht und Vertrauen.Zwar mag in Einem Menschenkind
Sich beides auch vereinen:
Doch daß es zwei Gewerbe sind,
Das läßt sich nicht verneinen.———
Es war einmal ein braver Koch,
Geschickt im Appretiren;
Dem fiel es ein, er wollte doch
Als Jäger sich geriren.Er zog bewehrt zu grünem Wald,
Wo manches Wildbret haus’te,
Und einen Kater schoß er bald,
Der junge Vögel schmaus’te.Sah ihn für einen Hasen an
Und ließ sich nicht bedeuten,
Pastetete viel Würze dran
Und setzt‘ ihn vor den Leuten.Doch manche Gäste das verdroß,
Gewisse feine Nasen:
Die Katze, die der Jäger schoß,
Macht nie der Koch zum Hasen.
Lisa Hannigan: Silent Night, der zweite von zwei Hidden Tracks auf Damien Rice: O, 2002;
Bonus Track: Bluer Face: Experimental Lisa Hannigen cover: Silent Night, 24. Dezember 2008.
Silent night, broken night
All is fallen when you take your flight
I found some hate for you
Just for show
You found some love for me
Thinking I’d go
Don’t keep me from crying to sleep
Sleep in heavenly peaceSilent night, moonlit night
Nothing’s changed
Nothing is right
I should be stronger than weeping alone
You should be weaker than sending me home
I can’t stop you fighting to sleep
Sleep in heavenly peace
Katzenbilder: Anais the Strange: A-catholic Cemetery in Rome, 9. Mai 2008.
Totensonntag
Update und Übersetzung zur bairischen Version:
[Vielleicht doch das Beste,was ich je geschrieben hab. Am Totensonntag 2011 stand es in Moby-Dick™ und dem freitag!-Logbuch, 2012 vorsichtig überarbeitet hier, aber weiterhin auf Bairisch.
Genau darüber häufen sich die Beschwerden. Deshalb erscheint es heuer endlich ins Hochdeutsche übersetzt, diesmal nicht zum Gedenken der Heiligen Katharina von Alexandrien, vielmehr zum Gedenktag des heiligen Korbinian, seiner Bestimmung und Berufung nach der erste Bischof von Freising — im Vergleich zu seiner Kollegin Katharina ein mit Patronaten eher unterforderter, dafür grundbayerischer Heiliger. Außerdem hat er einen Bären gezähmt und seitdem immer dabei.
Die Dialektversion konnte ich mir zur Überprüfung der Effekte und des Timings selbst halblaut vorlesen, für diesen Zweck funktioniert Bairisch genügend ähnlich wie mein angeborenes Fränkisch. Für die hochdeutsche Version bin ich auf „Dritte“ angewiesen, wobei ein durchschnittlich sauberes Deutsch vollauf reicht und eine leichte Färbung in egal welchem Dialekt sowieso immer wünschenswert ist.
Erforderlich sind weiterhin ein oder drei Sprecher (Erzähltext und Ich-Figur, Petrus, Jesus); nichts einzuwenden bleibt gegen einen Mädchensprechchor, der im Hintergrund dezent frohlockt. Die Aussage bleibt unverändert: ähnlich der von Lessings Ringparabel, bloß existenzieller.
Wie die bairische gebe auch die folgende Version frei zur Aufführung, bitte mit Quellenangabe. Wer eine Sound-Datei davon zugänglich macht, kriegt ein Buch von mir geschenkt. Ein schönes! — Fade in.]
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Der Eingang sieht aus wie die Stufen zur Glyptothek. Nicht das, was man einladend nennt, oder was man normalerweise träumt. Aber einmal muss da jeder durch. Wenn schon nicht einmal im Leben, dann eben jetzt, wo ich gestorben bin. Jedenfalls vermute ich das.
Wie immer in solchen großklassizistischen Einschüchterungsbauten darf ich nicht durch eine Flügelpforte, die sich vor der Majestät meiner Person beiseite schiebt, sondern muss durch den unspektakulären Windfang hinter den Säulen. An einem marmornen Tisch, an dem man in der Glyptothek Eintritt bezahlen würde, sitzt ein Rauschebart in einer Art Bademantel und tippt zehnfingrig in einen Laptop. Kein Apple, stelle ich fachmännisch fest. Links daneben ein Stapel unausgefüllter Formulare, rechts ein Stapel ausgefüllter.
„Grüß Gott.“ Beim Reinkommen grüßt man. Schon rein vorsichtshalber.
„Grüß Sie Gott. Moment, ich mache noch schnell die Seele vor Ihnen fertig.“
Tipp, tipp, tipp. — Klack!
„So! Grüß Gott!“
„Ich soll hier anscheinend vorsprechen oder so.“
„Jaja, das hat schon seine Richtigkeit. Was führt Sie zu uns? Wissen Sie das, können Sie das sagen?“ Petrus nimmt ein Blatt vom unausgefüllten Stapel und einen Zimmermannsbleistift.
„Na, weil ich gestorben bin, nehm ich doch an.“
„Jaja, das ist die Voraussetzung dafür, dass Sie vorgelassen werden. Aber woran Sie gestorben sind, können Sie das auch sagen?“
„Ich glaub, ich hab einen Kalauer zuviel gerissen. Über die Namen von Gottfried Benn und Ben Cartwright.“
„Ach du heiliger Gott. Da können Sie von Glück sagen, dass Sie in so einem Fall überhaupt noch zu mir raufkommen. Normalerweise gehen solche Bestände gleich nahtlos zum Kollegen zwei Stockwerke tiefer, wenn Sie mir folgen können. Ohne lange Fegefeuerzuteilung.“
„Ich weiß es zu schätzen.“
„Das ist schon in Ordnung. Das kann nur daher kommen, dass Sie sowieso dran gewesen wären — wenn Sie noch von der Generation übrig sind, die Ben Cartwright kannte.“
„Ja … Was machen wir dann jetzt mit mir? Komm ich jetzt in den Himmel oder wofür genau hab ich mich die ganzen Jahrzehnte um die Ohren gehauen, Herr Petrus?“
„Da schauen wir jetzt, dann sehen wir’s gleich. Aber Petrus. Einfach Petrus. Ohne Herr oder Sir oder Sahib oder -san, wir legen hier oben keinen großen Wert auf Titel und Dienstgrade.“
„Dann könnten wir zur Not durchaus zusammenkommen …“
„Netter Versuch, Herr Dings. Aber Sie sind doch aus Europa, wenn ich Ihren Dialekt richtig einordne, stimmt’s? Irgendwas Nördliches bestimmt. Österreich, Irland, Lappland oder was da alles liegt.“
„Deutschland“, sag ich. „München, ursprünglich aber Nürnberg, bloß den Zungenschlag nie los geworden.“
„Ach, hören Sie mir bloß auf. Franken oder Frankreich, Wales oder Wallis, Galizien oder Gallizien, und das dritte von den zweien habt ihr schon wieder eingestampft, und euer München in der Oberpfalz ist nach sonstwas für einem Dingenskirchen eingemeindet.“
„Nach Hirschbach. Das kenn ich, da wollten sie mal eine Brauerei eröffnen. Die Geschäftsidee war: Münchner Bier aus der Oberpfalz, dass ich nicht lache. Für den Baugrund wollte der Investor fast noch Geld rauskriegen.“
„Aber Sie! In der Oberpfalz, da haben sie aber oft richtig feines Bier! Bei Etzelwang in der Nähe, da hab ich mal …“
„Ja, schon. Aber bei den zweieinhalb Hektolitern Ausstoß pro Jahr hält sich ja kein Brauer, der davon leben will. Als Logistik haben Sie da die B 14 aus Nürnberg nach Tschechien, die hat wahrscheinlich Brücken unter zwei Meter vierzig, und dann erst wieder die Amberger A 6. Das grenzt bei denen immer an Schwarzbrennerei als Hobby.“
„Manchmal bin ich direkt froh, dass ich nicht mehr so viel rauskomme. Bei euch kommt man schon mit dem Zuschauen nicht mehr nach.“
„Wo Sie Galizien erwähnen. Mein Urgroßvater war, soviel ich weiß, noch aus Czernowitz.“
„Ist das nicht neulich explodiert?“
„Nein, das war Tschernobyl, 1986, glaub ich. Czernowitz müsste schon noch irgendwo herumstehen.“
„Ach Gott ach Gott, was ihr andauernd für ein Durcheinander veranstaltet. Na Hauptsache, ihr selbst kennt euch aus.“
„Och, auch nicht so richtig.“
„Aber Deutschland, wo Sie herkommen, ist gut. Die Deutschen kann man fast ganz ohne bürokratischen Aufwand von der einen auf die andere Autorität umgewöhnen, das haben wir anno 510, 820 und zuletzt 1945 mit euch probiert. Dankbares Publikum, da in Deutschland.“
„Und 1918?“
Petrus denkt nach. „Nein, das war kein echter Autoritätenwechsel. Da haben wir nur andere Titel verteilen lassen. Umgekehrt wie später 1989, verstehen Sie?“
„Ich glaub schon, so ungefähr.“
„Glauben ist auch gut, Glauben kann man gut brauchen im Himmel. München, München, München … Da seid ihr doch gern dieses katholisch und evangelisch und wie das alles bei euch heißt, oder?“ Petrus rudert mit den Händen nach den Wörtern und amüsiert sich ein Loch in die Toga.
„Ausgetreten, aber ich hab die katholische Grundausbildung“, knurre ich durchs Gebiss.
„Recht haben Sie, guter Mann, recht haben Sie! An Ihre Seligkeit glauben können Sie genausogut zuhause.“
„Also, das hätte ich jetzt als letztes geglaubt, dass aus der Kirche austreten bei Ihnen ein Bonus sein könnte.“
„Warum denn nicht? Was der Junior vor zweitausend Jahren in eurem Judäa da unten spaßeshalber für einen Fischerverein gegründet hat, das spielt heute keine so große Rolle mehr.“
„Jesus ist spaßeshalber am Kreuz gestorben?“
„Was dachten denn Sie? Der Mann ist ein Drittel Dreifaltigkeit, der ist allmächtig. Der lebt und stirbt, wann und wie er will.“
„Da haben Sie wieder recht.“
„Aber waren Sie bei einer parakirchlichen Vereinigung? Seien Sie bitteschön gleich ehrlich, in diesem Punkt werden Ihre Angaben leider überprüft. Scientology und Opus Dei wären jetzt schlecht, Freimaurer wären positiv. Ach, die Freimaurer, meine speziellen Freunde. Seit ein paar hundert Jahren werden die allerdings immer weniger.“
„Freimaurer? Um Gottes willen, ich war doch in keinem Geheimbund.“
„Die Freimaurer?“ Petrus ist aufrichtig erstaunt. „Wo sind die denn geheim, die Freimaurer, wenn ich fragen darf? Die missionieren bloß nicht, das rechnen wir hier durchaus an. Und die halten auch Friede auf Erden, das dient unserem Wohlgefallen, wenn Sie meine Redeweise gestatten.“
„O ja, ich kann schon folgen, Petrus.“
„Jaja, ich sehe gerade, Sie sind ein Gelehrter. Das hätten Sie bei den Freimaurern geltend machen können, das ist bei denen richtig erwünscht, sogar so kuriose Studienfächer wie Ihre, die Sie da betrieben haben. Aber wenn Sie nicht hin wollten … Ihre Entscheidung.“
„Kann ich ja nicht wissen.“
„Natürlich können Sie das nicht wissen, deswegen heißt es ja Glauben.“
„Wenn Sie das so sagen, klingt es auf einmal richtig logisch. Doch, ja, Freimaurer, wäre vielleicht was gewesen …“
„Wie haben Sie sich ernährt? Vegan, vegetarisch, zoophag, kannibalisch?“
„Ich bitte Sie, Petrus. Ich war aus Franken.“
„Ja, schon klar. Fragen muss ich eben danach. Da haben Sie sich bestimmt auch regelmäßig unter Drogen gesetzt?“
„Ach was. Ganz selten war ich mal besoffen. Und wenn, dann mit Bier, schlimmstenfalls eine, zwei Flaschen Schnaps.“
„Ach so? Ja, warum denn? Was meinen Sie denn, wofür der Senior das ganze Zeug wachsen lässt? Bier und Schnaps ist schon in Ordnung, und was ist mit all den anderen Gottesgaben? Haben Sie dann wenigstens jeden Tag anständig was weggevögelt?“
„Bitte??“
„Hatten Sie regelmäßig Geschlechtsverkehr?“
„Jetzt lappt’s aber eventuell ein bisschen ins Persönliche …“
„Ja. Und?“
„Eminenz, ich bin verheiratet. War.“
„Ach du lieber Gott …“ Petrus macht mit seinem Zimmermannsbleistift einen energischen Strich über ein ganzes Blatt.
„Ihnen ist schon klar, guter Mann: Für jeden Tag ohne Vögeln muß ich Ihnen … na, was sagen wir in Ihrem Fall … seien wir gnädig … sagen wir: fünfzig Jahre Fegefeuer zusätzlich berechnen.“
Ich schlucke. „Das werden Sie schon passend machen.“
„Lebt Ihre Frau noch, so als Witwe, die sich ab jetzt fröhlich an Ihre ehelichen Pflichten erinnern kann? Ja? Na, die muss leider dann später das gleiche, logisch …“
Petrus schreibt in meiner Akte herum, sucht im beistehenden Aktenreiter unter meinem Buchstaben eine weitere heraus, notiert vorne drauf herum, schaut wieder hoch zu mir und schüttelt betrübt das Haupt:
„Ach, ich kann Ihnen sagen: Das ist alles so eine sinnlose Verschwendung von Seligkeit.“
„Ein keuscher Lebenswandel zählt nichts?“
Langsam wird Petrus unwillig: „Keuscher Lebenswandel, keuscher Lebenswandel, gleich kann ich Ihnen ein paar Jährchen verschaffen von Ihrem keuschen Lebenswandel. Herrgott Sakrament, ich kann’s bald nicht mehr hören von euch christlichen Abendländern, mit eurer Keuschheit und Enthaltsamkeit und Monogamie und gar keine Gamie und Zölibat und Sublimierung und Filzläuse und hunderttausend wichtigere Sachen als das Vögeln! Das seid immer nur ihr, die ihre Frauen im Bett neben sich herumschimmeln lassen und die ganze Woche nicht anfassen! Ja, Kreuzteufel halleluja nochmal, die geschlechtliche Fortpflanzung, die war ein Geschenk! Unser größtes! Dafür haben wir lange an der Windbestäubung herumgeschraubt, bis wir das in der Evolution überhaupt möglich gemacht haben. Machen Sie sich eine Vorstellung, was das allein für eine logistische Konzeptarbeit für unsere Demiurgen war, von der spontanen Zellteilung aus gesehen, bis eure Balz das ganze Jahr lang durchdauert? Haben Sie das schon mal von einem anderen Tier gehört? Ein Privileg ist das! Ja, tut denn das Vögeln weh oder was?!“
„Da hab ich schon von Möglichkeiten gehört …“
„Jajaja, nichts da von wegen in dem Internetdings Bildchen von erlesenem Dekadenzkram anschauen. Ich rede davon, dass ihr endlich mit eurer Frau vögelt. Da hätten Sie Ihrer Frau zeigen können, wie lieb Sie sie haben, oder wie deutlich hätten Sie’s denn gebraucht? Da hätten Sie eine Möglichkeit gehabt, einen Ausdruck Ihrer Persönlichkeit zu finden, Sie Schreibhansel, Sie windiger.“
„‚WEnn ich mit Menschen vnd mit Engel zungen redet / vnd hette der Liebe nicht / So were ich ein donend Ertz oder eine klingende Schelle.‘ So war das gemeint?“
„Sehen Sie? Sie wissen doch alles! Und durchschauen es sogar, das können die wenigsten, die sich hier vor mich hinstellen. Und Sie nutzen es nicht. Sie entschuldigen, wenn ich da so drastisch werde, Sie können da persönlich wahrscheinlich nicht mal was dafür, aber das ist eben so allgemein geworden, die letzten zwei-, dreihundert Jahre.“
„Das tut mir ja dann auch leid, Petrus.“ Ich meine es ehrlich.
„Jaja, das glaub ich Ihnen sogar. Wissen Sie, in ein paar Jahren hab ich ja in diesem Job mein Zweitausendjähriges, das haben Sie als Kathole vielleicht mitgekriegt. Seitdem seh ich täglich tausend da hereinkommen, wo Sie hereingekommen sind, und davon sind neunhundert der festen Meinung, sie hätten im Leben alles richtig gemacht. Und wenn man einen fragt, ja was haben Sie denn so gemacht? Ich sag Ihnen, was sie gemacht haben: Nichts haben sie gemacht.“
„Das kenne ich aus meinem Job auch“, versuche ich zaghaft.
„Ja, genau das sagen alle, wenn man nachfragt. Einen Job hätten sie doch gehabt. Oder noch besser: eine Arbeit. Oder das Beste ist immer: einen Beruf. Wenn ich das immer schon höre. Berufen wird einer immer noch von uns.“
„Da versteh ich Sie gut. Da müssen Sie jetzt aber auch mal unsere Position einnehmen, Petrus. Das Vögeln kann falsch sein, auf einmal kann das Gegenteil genauso falsch sein. Das ist so mit allem, was man macht. Tun oder unterlassen, ruckzuck hat man sich schon wieder Schuld aufgeladen.“
„Ach, das mit der Schuld.“ Petrus winkt ab. „Was glauben Sie, wer wir sind? Ihr Kindermädchen, Ihr Religionslehrer an der Grundschule oder was? Wir sind doch auf Ihrer Seite. Wir erschaffen Sie doch nicht, nur damit Sie hinterher schuldbeladen durch Ihr Leben schleichen, da hätten wir doch selber keine Freude dran. Bei uns zählt gern schon der Versuch.“
„Das ist ja dann auch generös von Ihnen und erleichternd für uns und alles. Aber unter den eigenen Leuten und gerade bei der Arbeit und der eigenen Frau, da zählen doch oft die Resultate aus dem Versuch. Ich kann doch nicht hergehen und vögeln wollen, wenn die Beziehung nicht passt. Und die passt erst vom hundertsten Prozent an aufwärts.“
„Ach so? Und Sie glauben, Ihre Beziehung passt besser, wenn Sie einfach nicht vögeln?“
„Wenn Sie’s so hinstellen …“
„So leicht wär’s gewesen.“
„Aber Sie wissen schon auch: Dazu gehören zwei.“
„Oha! Gell? Oha! Nicht noch über Ihre Frau herziehen, gell? So viel kann ich Ihnen versprechen: Die entkommt uns sowenig wie Sie, Ihre Frau. Die hat nur vorerst noch ein paar Jahre, damit sie ihre evolutionäre Bestimmung einlösen kann.“
„Sollte mich das jetzt beruhigen?“
„Sie? Das müssen erstens Sie selber wissen, und zweitens haben Sie ab sofort andere Sorgen. Was haben Sie gemacht, solange Sie nicht gerade gearbeitet haben? Gern ein gutes Buch gelesen, hab ich recht?“
„Schon … Aber müssen wir gutes Buch dazu sagen?“
„Was für Lieblingsbücher?“
„Och, verschieden. Das übliche. Moby-Dick, Alice im Wunderland, aber wenn, dann mit den richtigen Illus, von Goethe die Werther-Leiden, den Faust, und dann auch gleich den Doktor Faustus vom Mann-Thomas … Vom Waechter das Wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein, das hab ich gemocht.“
„O je, genau das mein ich. Diese ganzen hirnlastigen, humanistisch-idealistischen Fetzen, wo mit Sicherheit nirgends gevögelt wird. Und wenn, wo es lächerlich gemacht oder gleich mit Tod und Verderbnis bestraft wird.“
„Was Sie jetzt dauernd mit dem Vögeln haben.“
„Keine Angst, das haben wir hinter uns, ist schon abgehakt.“
„Musik war noch wichtig.“
„Tom Waits, wetten?“
„Ja, der. Leider fehlt mir die Stimme, um den nachzusingen.“
„Na, selber geschrieben haben Sie einige Liedchen, seh ich grade.“
„Jeder wie er kann.“
„Den Tom Waits, den mag ich auch. Hätten Sie sich doch ein Beispiel an dem genommen, der macht’s richtig. Auf den freu ich mich schon, wenn der zu uns kommt.“
„Dem haben Sie auch den Stimmapparat mitgegeben und die geistige Potenz.“
„Jetzt verrate ich Ihnen was, weil’s für Sie schon egal ist: Sie können heute alles im Leben erreichen — Sie dürfen es nur nicht wollen oder gar versuchen.“
„Ich hab gedacht, umgekehrt? Man müsste nur wollen, dann geht alles?“
„Ach — viele von diesen Hollywoodfilmen haben Sie dann bestimmt angeschaut, oder? Sehen Sie, von denen dauert ein einziger neunzig Minuten Minimum. In dieser Zeit hätten Sie besser feste gevögelt. Das kommt davon.“
Durch den anliegenden Saal der Glyptothek haben sich hallende Schritte von Badeschlappen genähert. Seit einigen Augenblicken steht ein vollbärtiger Hippie in der gleichen Tracht wie Petrus neben dem Marmorschreibtisch.
„Grüß dich, mein Sohn“, sagt er beiläufig zu mir, und dann zu Petrus: „Und, alter Wetterfrosch, wie geht’s heute voran? Kannst du mit uns Mittag machen?“
„Ich hab noch gar nicht nachgeschaut, was gibt’s denn heute? Schüttelst du wieder deine fünftausend Fischsemmeln aus dem Ärmel?“
„Sowieso. Ungesäuert sind sie am besten!“ Übermütig lässt der Hippie die Fingerknöchel krachen. Zwei runde, verheilende Wundmale auf den Handrücken.
„Ja, ist recht. Ich verräum nur noch schnell die Seele da.“
„Den da?“ Der Hippie mustert mich milde. „Na, halleluja. Studierter humanistisch-idealistischer Agnostiker und Nichtvögler, stimmt’s? War er bei den Freimaurern?“
„Ach, woher. Gar nichts war der.“
„Aber dem Gesicht und dem Aufzug nach oversexed and underfucked, ja?“
„Ja, genau, aus Franken.“
„Wohnhaft in München“, blöke ich dazwischen.
„München, München, München … Das Kaff in der Oberpfalz, wo sie letzthin die Brauerei eröffnen wollten? Für den Baugrund wollte der Investor …“
„Nein, das andere.“
„Dann ist es doch das mit der Asamkirche neben dem kleinen Buchladen mit lauter freundlichen hübschen Buchhändlerinnen, oder? Das haben sie mir schön eingerichtet, meine Sterblichen, das mag ich eigentlich. Gut, dann sind wir doch mal gnädig, damit wir fertig werden.“
„Liegt am Nachmittag noch was Wichtiges an?“
„Ach ja, wo du’s sagst: Der Senior meint, wir brauchen langsam das Meeting fürs Weihnachtswetter. In dem stehst du obligatorisch drin.“
„Hab ich mir fast schon gedacht. November ist halt immer schwierig mit den ganzen Toten, und dann jedesmal gleich Weihnachten hintennach.“
„Selig sind die Schifahrer, wissen wir ja.“
„Was machen wir jetzt mit dem?“
„Ach, naja … Fegefeuer bis zum nächsten Zeitalter halt, oder was meinst du?“
„Ja, dachte ich mir auch so, um den Dreh. Oder lassen wir ihn zur Sicherheit bis zum übernächsten?“
Der Hippie überlegt. „Kommt drauf an. Zu wem käme er denn? Luzifer oder Beelzebub? Satan fände ich zu streng für den, oder hat er das TTIP mitbeschlossen, volkstümliche Schlager verbreitet oder so?“
„Ach wo, nicht mal das.“
Petrus sucht schon in seinem Laptop herum: „Mephisto hätte grade eine Kapazität frei, weil heute Sokrates aufsteigt. Den Platz von dem könnte er fliegend übernehmen. Damit er nicht kalt wird, haha.“
„Ach du je — der Mephisto, der macht den doch fertig, schon allein rhetorisch. Der Bub war verheiratet, wie ich ihn einschätze?“
„Grade deswegen hab ich ja geplant: bis zum übernächsten. Mit seiner ehelichen Pflicht sieht’s nämlich mau aus.“
„Ach komm, sei nicht so, dann ist er doch gestraft genug. Das hat der doch nicht aus Bosheit gemacht. Und vielleicht hat er Germanistik studiert, vielleicht hat er nie ein Auto besessen, vielleicht hat er einen hässlichen Hintern, vielleicht war er ein Blogger und Brillenträger ist er auch — dann ist doch klar, dass sich da nichts zusammenvögelt. Das muß man alles in Betracht ziehen.“
Petrus seufzt. „Also gut. Aber ich sag dir gleich, ich nehm ihn nicht, wenn er in dreihunderttausend Jahren schon wieder dasteht und frohlocken will. Dann nimmst ihn nämlich du.“
„Kein Problem. Die bei Mephisto waren, die werden hinterher der angenehmste Umgang. Harte Schule, der Alte. Ich hüte mich, mit ihm zu brechen.“
„Ganz der Vater.“
Jesus fragt mich: „Fürs restliche Zeitalter zu Mephisto. Wärst du damit einverstanden, mein Sohn?“
„Kann ich’s ändern?“
„Wahrlich, wahrlich. Na, bei dieser Einstellung wundert mich nichts. Wir sprechen uns dann am Jüngsten Tag. Gehe hin in Frieden.“
Er segnet mich, es scheppert, und dann nehmen mich zwei krokodilsköpfige Legionäre mit rotglühenden Hellebarden in ihre Mitte.
Und wer jetzt glaubt, es wäre ein Happy End, wenn ich jetzt aufwachte und es war alles nur ein Traum, der hat weder eine Ahnung vom Aufwachen noch vom Träumen.
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Diesmal erfordert das einen Soundtrack: Kanon und Gigue in D-Dur (Canon per 3 Violini e Basso) von Johann Pachelbel, zeitlich nicht exakt einzuordnen, nur derart zur Schnulze herunterstrapaziert, dass man nach einer genießbaren Version ganz schön suchen muss. Es gibt eine.
Bilder: Joseph Sebastian Klauber & Johann Baptist Klauber: Der Heilige Korbinian segnend über der Stadt Freising, 1740–1750;
Tafelbild im Freisinger Dom St. Maria und St. Korbinian: Sanctus Corbinianus urso sarcinas imponit (Der Heilige Korbinian lädt dem Bären seine Last auf);
Holzschnitt eines unbekannten Künstlers, wohl aus einer Chronik, 1489: Maria und das Jesuskind mit dem heiligen Korbinian und dem Burgunderkönig Sigismund, beiden Heiligenpatronen der Diözese Freising. St. Korbinian ist in Begleitung des Korbiniansbären.
Ein arger Gast in Trutz und Poch
Update zu Weistu was so schweig:
Die Freiheit regiert also jetzt die Schönheit. Die Natur gab die Schönheit des Baues, die Seele gibt die Schönheit des Spiels. Und nun wissen wir auch, was wir unter Anmuth und Grazie zu verstehen haben. Anmuth ist die Schönheit der Gestalt unter dem Einfluß der Freiheit; die Schönheit derjenigen Erscheinungen, die die Person bestimmt. Die architektonische Schönheit macht dem Urheber der Natur, Anmuth und Grazie machen ihrem Besitzer Ehre. Jene ist ein Talent, diese ein persönliches Verdienst.
Schiller: Über Anmuth und Würde, Juni 1793.
Wie sich Verdienst und Glück verketten
Das fällt den Thoren niemals ein;
Wenn sie den Stein der Weisen hätten
Der Weise mangelte dem Stein.Goethe: Mephisto in Faust, 2. Teil, Vers 5061 ff., ab 1825.
Den Unterschied zwischen von der Natur oder sonst einer übergeordneten Instanz („Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott!“ — Faust auf die Gretchenfrage) verliehenen Gaben gegenüber persönlichen Errungenschaften merken wir uns, um eine besonders brillante Stelle im Doktor Faustus von Thomas Mann zu verstehen.
Eigentlich ist es eine selbsterklärende, weil Thomas Mann dialogweise das meiste Material dazu liefert. Wir wollen es wieder genau wissen und blättern nach, wo er den Widerspruch her hat. Falls es einer ist.
Äußerlich hat Adrian Leverkühn im 10. Kapitel seiner fiktiven Biographie soeben das Abitur bestanden und wird von seinem Schulrektor persönlich ins Leben verabschiedet. Der macht sich Sorgen um seinen scheidenden Zögling und warnt ihn schon vor dem anstehenden Teufelspakt so konkret, wie man vernünftigerweise nur werden kann. Hierbei bemüht er ein Goethewort so versteckt, dass es nur ein so belesener Abiturient wie Adrian bemerken kann. Ihm fällt sogar die entgegengesetzte Auffassung zu Schiller auf.
Beider Auffassungen sind durch die zwei Zitate oben belegt. Die Goethe’schen „angeborenen“ oder „natürlichen“ Verdienste (1808) sind eine Contradictio in adiecto, die absichtlich pointiert gebraucht sein kann. Wenn nicht, wäre sie allerdings der Affront gegen Schiller (1793), den Adrian darin sieht, auch wenn keine Kontroverse darüber entstanden war. Kunststück: Der Faust-Tragödie erster Theil erschien 1808, genau als Goethe mit Dichtung und Wahrheit überhaupt erst anfing, dabei war Schiller schon 1805 gestorben.
Derselbe Widerspruch aus Gottesgaben und Eigenverdiensten hat Thomas Mann noch öfter beschäftigt, vor allem in seinen Essays Goethe und Tolstoi ab 1923, Phantasie über Goethe 1948 und Goethe und die Demokratie 1949; zum Vergleich: Doktor Faustus ist von 1947, die Beschäftigung an dieser Stelle am gründlichsten. Es tut wohl zu beobachten, dass ein Großmeister, „Zauberer“ gar, wie Thomas Mann mit Wasser kocht, will hier heißen: seine Lieblingsstellen von Größeren ausschlachtet.
Das Brillanteste an Thomas Manns kurzer, für seine Romanhandlung bedeutsamer Aufarbeitung ist die Sprache des Rektors. Dessen schönste Formulierungen stammen aus dem Simplicissimus von Grimmelshausen 1668, wo nicht gar aus der Luther-Bibel 1545, besonders dem 1. Petrusbrief, und Ulrich von Hutten. Urwüchsig barockes Reformationsdeutsch, das Goethe gegen Schiller ausspielt — eine „deutschere“ Romanstelle kann es kaum geben.
——— Thomas Mann:
Doktor Faustus
Kapitel X, Bermann-Fischer, Stockholm 1947:
Er war, sage ich, sehr aufgeräumt damals, und wie denn nicht! Vom mündlichen Examen auf Grund der Reife seiner schriftlichen Arbeiten dispensiert, hatte er sich mit Dank für alle Förderung von seinen Lehrern verabschiedet, bei denen der Respekt vor der Fakultät, die er erwählt, die geheime Kränkung zurückdrängte, die seine geringschätzige Mühelosigkeit ihnen immer zugefügt hatte. Immerhin hatte der würdige Direktor der Gelehrten Schule der Brüder vom gemeinen Leben, ein Pommer namens Dr. Stoientin, der sein Professor im Griechischen, Mittelhochdeutschen und Hebräischen gewesen war, es bei der privaten Abschiedsaudienz an einem Mahnwort in dieser Richtung nicht fehlen lassen.
„Vale“, hatte er gesagt, „und Gott mit Ihnen, Leverkühn! — Der Segensspruch kommt mir vom Herzen, und ob nun Sie dieser Meinung sind oder nicht, ich fühle, daß Sie ihn brauchen können. Sie sind ein Mensch von reichen Gaben, und Sie wissen es — wie sollten Sie es nicht wissen? Sie wissen auch, daß Der dort oben, von dem alles kommt, sie Ihnen anvertraute, denn ihm wollen Sie sie ja darbringen. Sie haben recht: Natürliche Verdienste sind Verdienste Gottes um uns, nicht unsere eigenen. Sein Widerpartner ist es, durch Hochmut zu Falle gekommen er selbst, der trachtet, es uns vergessen zu lassen. Das ist ein arger Gast und brüllender Löwe, der geht und sucht, welchen er verschlinge. Sie sind von denen, die allen Grund haben, vor seinen Schlichen auf der Hut zu sein. Es ist ein Kompliment, das ich Ihnen da mache, nämlich dem, was Sie von Gottes wegen sind. Seien Sie’s in Demut, mein Freund, nicht in Trutz und Poch; und bleiben Sie eingedenk, daß Selbstgenüge dem Abfall gleichkommt und dem Undank gegen den Spender aller Gnaden!“
So der wackere Schulmann, unter dem ich später noch an dem Gymnasium Lehrdienst versah. Adrian berichtete mir lächelnd von der Kommunikation auf einemder vielen Feld- und Waldspaziergänge, die wir in jener Osterzeit vom Hofe Buchel aus machten. Denn dort verbrachte er nach dem Abitur einige Wochen der Freiheit, und mich hatten seine guten Eltern zu seiner Gesellschaft mit eingeladen. Ich erinnere mich wohl des Gesprächs, das wir damals im Schlendern über Stoientins Mahnworte führten, besonders über die Redensart „Natürliche Verdienste“, deren er sich bei seiner Handschlagrede bedient hatte. Adrian wies nach, daß er sie von Goethe entlehnt übernommen habe, der sie gern gebraucht oder auch häufig von „angeborenen Verdiensten“ spreche, indem er durch die paradoxe Verbindung dem Wort „Verdienst“ seinen moralischen Charakter zu nehmen und, umgekehrt, das Natürlich-Angeborene zu einem außer-moralisch-aristokratischen Verdienst zu erheben suche. Darum habe er sich gegen die Forderung der Bescheidenheit gewandt, die immer von den Natürlich-Benachteiligten komme, und erklärt: „Nur die Lumpe sind bescheiden„. Direktor Stoientin aber habe das Goethe’sche Wort vielmehr im Geiste Schillers gebraucht, dem an der Freiheit alles gelegen gewesen sei, und der darum zwischen Talent und persönlichem Verienst moralisch unterschieden, Verdienst und Glück, die Goethe untrennbar verschränkt sehe, scharf voneinander getrennt habe. Das tue auch der Direktor, wenn er die Natur Gott nenne und angeborene Talente als die Verdienste Gottes um uns bezeichne, die wir in Demut zu tragen hätten.
„Die Deutschen“, sagte der neugebackene Student, einen Grashalm im Munde, „haben eine doppelgeleisige und unerlaubt kombinatorische Art des Denkens, sie wollen immer eins und das andere, sie wollen alles haben. Sie sind imstande, antithetische Denk- und Daseinsprinzipien in großen Persönlichkeiten kühn herauszustellen. Aber dann vermantschen sie sie, gebrauchen die Prägungen der einen im Sinn der andern, bringen alles durcheinander und meinen, sie können Freiheit und Vornehmheit, Idealismus und Naturkindlichkeit unter einen Hut bringen. Das geht aber wahrscheinlich nicht.“
„Sie haben es eben beides in sich“, erwiderte ich, „sonst hätten sie’s in jenen Beiden nicht herausstellen können. Ein reiches Volk.“
„Ein konfuses Volk“, beharrte er, „und für die andern verwirrend.“
Als Kuriosität ein hypothetisches Flickwerk aus den Informationen in der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe des Doktor Faustus, S. Fischer Verlag auf dem Stand von 2007: Nach allen Vorstufen und Verbesserungen in seiner Rede zu schließen, hätte Direktor Stoientin schlimmstenfalls sagen können:
Seid nüchtern und wachet, denn das ist ein arger Gast und Wendenschimpf, der mit der Leimstange geht wie ein brüllender Löwe und suchet, welchen er bescheiße. Der hat schon manchen, mit dem es in floribus herging, über den Tölpel geworfen und ihn am goldnen Seil der Hoffart in die Patsche gelockt.
Ist das nicht eine herrliche Pracht? Jedes Wort davon wäre zu begründen, steht aber hier nur zur Kurzweil — und keinesfalls, liebe Kinder, in eurer Deutsch-Hausarbeit.
Vier letzte Dinge: Josef Stammel für die Stiftsbibliothek Admont:
Stiftsbildhauer Josef Stammel (1695–1765) hat die umfangreichen, in Lindenholz geschnitzten bildhauerischen Kunstwerke des Prunksaales geschaffen. Besonders beeindruckend sind die Vier letzten Dinge, eine Gruppe von vier überlebensgroßen Darstellungen von Tod, Gericht, Himmel und Hölle. Sie sind allerdings früher als die Bibliothek entstanden und stehen im Kontrast zum aufgeklärten Konzept des Architekten.
Nur die Wurst hat zwei
Update zu Tumultuantenharanguieren (sed iam satis) und Murrst
und neuer Fund für Grillen mit Homer:
Also wendet der Pflüger am großen brennenden Feuer
Einen Ziegenmagen, mit Fett und Blute gefüllet,
Hin und her, und erwartet es kaum, ihn gebraten zu sehen.Odyssee, 20. Gesang, ca. 800 v. C.
——— Historia vnd Geschicht Doctor Johannis Faustj.
Wie der Geist dem Fausto mit seltzamen Sprichwörttern Zuesetzt:
um 1580:
Auff obgemelte Klag erscheint Doctor Fausto sein Geyst Mephostophiles Tritt zu jm vnd spricht/
Dieweil Du auss der Heyligen Schrifft wol gewist hasst / Das du Gott allein solt anbetten / jme Diennen vnnd keinen andern Gott neben jm haben weder zur Lincken noch zuer Rechten / vnnd Du es aber nicht gethon / sonnder deinen Gott versuecht jm abgefallen / jn verleugnet / vnnd hieher dich versprochen mit Leib vnnd Seel / So muestu Dise versprechung Laysten/ vnnd merckh Meine Reymen/
Waistu was So schweig/
Jst dier wol so bleib.
Hastu was so behalt/
Vngluck kompt mit seinem fueß baldt.
Also nun schweig / Leyd / meyd vnd vertrag/
Dein Vngluckh niemandt Clag.
Es ist zu spat an Gott verzag/
Dann vngluckh Lauft herein alle tag.Darumb mein Fauste es jst nicht guet mit grossen herren / vnnd dem Teuffel kurschen Essen / Sie werffen einem die Still jnn das Angesicht / wie du nun sihest / Derhalben werest wol weytt von dannen ganngen / Weitt Dauon ist guett fur die Schuss / Dann Dein Hoferttiges Röslein hat dich geschlagen/
Du hast die Kunst Die dir Gott geben verachtet / Dich nicht genuegen lassen/ Ladest erst Den Teuffel zu Gast / Vnnd hast die .24. jar her gemeint es were alles gold was da gleyst Da dich der Geyst bericht / Darauff der Teufl Dir wider als der Katzen Die Schellen anhengt /
Syhe Du warest ein Schöne wolgeschaffne Creatur / aber die Rosen so man lang jnn Hennden tregt / vnnd schmeckhet / bleiben nicht / Dess Brott Du geessen hast / des Liedlein muestu singen / Verzeuhe biß auf den Karfreytag es wurdt baldt Ostern werden / Dann was du verhaissen hast ist nicht ohn vrsach / ein brattne wurst hat zwen zipffel / vff dess Teuffels Eyß ist nicht guet geen /
Syhe Du hast ein boese Arth gehabt / Darumb last Arth nicht von Arth/ Also last die Katz jres Mausens nicht / scharpff Furnemmen macht scherttig/ sihe Fauste ist jme nicht also / weyl der Leffel New ist / so braucht jn der koch / Darnach wann Er Alt wirdt / wirfft Er jn jnns Fewr / ist es nit auch also mit dir / Der Du ein Newer Kochleffel dess Teuffels warest / nun nutzt Er dich nimmer / Dann Der Marckht hat jn Lernen kauffen / neben dem hast dich nicht lassen benuegen mit Wenig Vorrath Den dir Gott beschert hat.
Noch mehr mein Fauste was der zeit her hastu ein grossen Vbermueth gebraucht jnn allem deinem thuen vnnd Wandel / hast dich genent ein Teuffl Freundt / Gottes / vnnd aller Mentschen Feindt / Derhalben sturtz dich nun / Dann Gott ist herr / Der Teuffel / jst Der Teuffel / Ein Apt der Munchen / Hoffart thett nie guett / Wolttest Hanns jnn allen Gassen sein / so soldt man allen Narren mit dergleichen kolben lausen / Wer zuuil will haben / dem Wirt zu wenig / Vnd Darnach einer kegelt / Darnach mueß er aufsetzen /
Lass Dier mein Lehr vnnd erJnnerung zu hertzen geen / Die gleichwol schier verlohren ist / Du solltest dem Teuffel nicht souil vertrawt haben / oder weil er Gottes Aff ist / Darumb solstu klueger sein gewesen/ schimpfen bringt schaden / Dann es ist bald vmb ain Menschen geschehen/ vnd Er costet souil auff zuziehen / Den Teuffel zubeherbergen gehört mehr zum Tantz dann ein Rott bar Schuech /
Hettestu Gott vor Augen gehabt (.Dann er Feyrt on das nicht.) vnnd dich mit Gottes gab genuegen lassen/ Du solttest dem Teuffel nicht so leichtferttig zu willen gewesen sein / vnnd geglaubt haben / Dann wer Leichtlich glaubt wirdt bald betrogen / jetzt wyscht Der Teuffel das maul vnnd geht daruon /
Du hast dich zum Burgen gesetzt mit deinem Aignen Bluet / so soll man Burgen Wurgen / man hatt Dich zuer Bueß vermanet / Aber Du hast es zu ainem Ohr ein / zum Andern wider ausgehn lassen.
Als nun der Geyst Dem Fauste den Armen Judas jnn das genuegsam gesungen / jst er gleich darauff verschwunden / Vnnd den Faustum gantz Melancholisch vnnd verwirt gelassen/
Als Soundtrack wären Alles hat ein Ende nur die Wurst hat zwei (Krause & Ruth) 1986 oder Conchita Wurst offensichtlich: zu offensichtlich. Daher das fleischfressende Lied F.S.K.: Diesel Oktoberfest aus: The Sound of Music, 1993;
in: Franz Dobler (i.e. der schnauzige Großstadtcowboy mit Tollwut, dem Jahrhundertsampler mit Johnny-Cash-Covers deutscher Kapellen sowie allerhand Country-Fachliteratur und Fressehau-Belletristik):
Wo Ist Zu Hause Mama, Trikont, 1995.
Musik: Justin Hoffmann, Thomas Meinecke, Michaela Melián, Carl Oesterhelt, Wilfried Petzi;
Text: Thomas Meinecke.
Wurst mit 1 Ende: Nürnberger Stadtwurst herzhaft gewürzt, mild geräuchert, nach fränkischer Rezeptur: Ponnath/Kemmath via Penny, 350 Gramm 1,99 Euro (Serviervorschlag), 10. Dezember 2007.
Was hilft euch Schönheit, junges Blut?
Update zu München am Meer IX: Schaafswolle to Moby Dick:
Das ganz und gar unverächtliche, gelegentlich sogar angenehm undergroundige Münchner Stadtmuseum macht mal wieder eine temporäre Ausstellung: Vom 25. September 2015 bis 29. Mai 2016 gibt’s Gretchen mag’s mondän – Damenmode der 1930er Jahre. Fangen wir an mit der ungekürzten Eigenbeschreibung, weil die nach Ausstellungsende gewiss keine Ewigkeit mehr stehen bleiben wird. Der 29. Mai 2016 ist übrigens ein Sonntag, lassen Sie sich also ruhig Zeit, auf den letzten Drücker macht’s immer den meisten Spaß. Geöffnet Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, Montag geschlossen, unermäßigter Eintritt fürs ganze Haus 7 Euro:
Die Damenmode der Dreißigerjahre war international gesehen eine Bekleidungslinie, in der Glamour und Mondänität mit Sportlichkeit und Lässigkeit einhergingen.
Auch das Klischee vom blonden strammen Uniform-Mädel oder der biederen Soldaten-Mutter kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Frauen im Dritten Reich sehr wohl an Schminke, Mode und Zigaretten interessiert waren. Die moderne Frau, an der die Jahre der Neuen Sachlichkeit nicht spurlos vorüber gegangen waren, ließ sich nicht dem Ideal der deutsch-tümelnden Propagandisten unterwerfen, sondern legte auf modische Eleganz und internationalen Flair großen Wert. Selbst Hitler schätzte elegante Frauen, wie durch seine Verehrung für Magda Goebbels, der Repräsentantin des neuen weiblichen Deutschland, deutlich wurde.
Eleganz und französische Modevorbilder wurden selbst nach Kriegsbeginn meist als weibliche Schwäche geduldet, schließlich präsentierte sich das NS-Regime nach außen hin gerne als weltläufig. Außerdem spielte die Modebranche in Deutschland eine bedeutende wirtschaftliche Rolle. Daher wurde in Deutschland, besonders in Berlin, weiterhin internationale Mode aus Paris oder Wien übernommen und an die Frau gebracht, die es nachmittags damenhaft und abends hoch elegant liebte.
Das Phänomen war eine tiefe Kluft in der Mode zwischen Theorie und Praxis, denn die Parolen der Partei forderten zwar eine Rückkehr zum Brauchtum, andererseits wurde im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs Weltoffenheit und Konsum gefördert. Dieser Gegensatz brachte die deutsche Modebranche sowie die Konsumentinnen in eine oftmals schizophrene Lage. In der Ausstellung wird u.a. am Beispiel der 1931 gegründeten Deutschen Meisterschule für Mode München dieser Bruch thematisiert.
Für diese Ausstellung wurde der 1930er-Modebestand des Münchner Stadtmuseums gesichtet, erforscht und restauriert, so dass viele der Textilien nun das erste Mal gezeigt werden können. Der abwechslungsreiche Rundgang führt den Besucher durch verschiedene Themenbereiche und macht die modische Vielfalt der Dreißigerjahre anhand von Tages- und Abendmode, Brautkleider, Morgentoiletten, Negligés, Sportbekleidung und Tracht deutlich.
Ca. 150 Damenkleider und Kostüme werden auf handgefertigten Büsten präsentiert, ebenso zahlreiche Accessoires wie Pelze, Schuhe, Taschen, Hüte, Schals, Tücher, Handschuhe, Schmuck und Schmink-Utensilien.
Grafische Abbildungen, Modejournale, Modefotografie und Plakate unterstreichen die Fülle an Kleidungstilen und runden die bunte Schau ab.
Zur Ausstellung erscheint ein Katalog beim Hirmer Verlag mit zahlreichen farbigen Abbildungen.
In Kooperation mit der Deutschen Meisterschule für Mode wird die Thematik der Ausstellung in eine moderne Sichtweise gerückt und präsentiert.
Klischees von blonden strammen Uniform-Mädels und biederen Soldaten-Müttern, weibliche Schwächen, Rückkehr zum Brauchtum, Schizophrenie gar. Dabei tragen die Damen auf den Beispielbildern zur Ausstellung nicht einmal gretchentypische Zöpfe, schon gar keine blonden. Da wird wohl durch die Namensgebung unterstellt, dass alle deutschen Mädels — jeden Alters — Gretchen heißen. Mehr Bezug zwischen Gretchen mag’s mondän und der ersten und stärksten Assoziation mit allem, was Gretchen heißt — nämlich mit der Faust-Figur — außer einem gewissen Deutschtum besteht auf den ersten Blick nicht.
Auf den zweiten schon.
Belauschen wir dazu Gretchen, die Faust-Figur, bei ihrem mondänen Moment. Es ist ihr einziger. Und sie ist dabei allein in ihrem Kämmerlein.
——— Abend. Ein kleines reinliches Zimmer.
Margarete mit einer Lampe.
[…]
Sie eröffnet den Schrein, ihre Kleider einzuräumen, und erblickt das Schmuckkästchen.
Wie kommt das schöne Kästchen hier herein?
Ich schloß doch ganz gewiß den Schrein.
Es ist doch wunderbar! Was mag wohl drinne seyn?
Vielleicht bracht’s jemand als ein Pfand,
Und meine Mutter lieh darauf.
Da hängt ein Schlüsselchen am Band,
Ich denke wohl, ich mach‘ es auf!
Was ist das? Gott im Himmel! schau,
So was hab‘ ich mein‘ Tage nicht gesehn!
Ein Schmuck! Mit dem könnt‘ eine Edelfrau
Am höchsten Feiertage gehn.
Wie sollte mir die Kette stehn?
Wem mag die Herrlichkeit gehören?Sie putzt sich damit auf und tritt vor den Spiegel.
Wenn nur die Ohrring‘ meine wären!
Man sieht doch gleich ganz anders drein.
Was hilft euch Schönheit, junges Blut?
Das ist wohl alles schön und gut,
Allein man läßt’s auch alles seyn;
Man lobt euch halb mit Erbarmen.
Nach Golde drängt,
Am Golde hängt
Doch alles. Ach wir Armen!
Mondäner wird’s nicht für das Gretchen: Ihr erstes Geschmeide erreicht sie im heiratsfähigen Alter, unverhofft und so zweifelhafter Provenienz, dass sie ein schlechtes Gewissen dabei haben muss. Nebenbei stellt sich ihre Mutter, die ohnehin etwas sinistre Frau Schwerdtlein, als Pfandleiherin heraus, was für Christenmenschen höllisch verboten ist und nur den Juden ansteht, denen dafür das ehrbare Handwerk verwehrt bleibt, und wenn sie den ungerufenen Schmuck, der sonstwem gehören mag, tragen will, macht sie sich allein aufgrund ihres bürgerlichen Standes strafbar — siehe auch: städtische Kleiderordnungen, Ständeordnung zur Unterscheidung adliger Damen von Bürgerlichen und derselben wiederum von Huren. Wie man es auch dreht und wendet, kann Gretchen keinen Schmuck gebrauchen.
Und doch wächst sie schon beim Anblick des Geschmeides und dem völlig neuartigen Gedanken, dergleichen könnte ihr gehören, ein ganzes Stück: Genau auf das Wort Edelfrau lässt der allmächtige Puppenspieler Goethe sie aus ihren üblichen naiven Knittelversen ausbrechen und ihr allererstes Enjambement verwenden. Gut, die Brillanz der mephistophelischen Madrigalverse wird sie nie erreichen — aber überhaupt nicht einsehen, warum sie darein ihren Ehrgeiz wenden sollte. Außerdem hat das brave Bürgermädchen den eloquenten Gelehrten Faust und Mephisto bisher nie so genau zugehört.
Im Metrum nähern sich, wie oft im Faust, die Figuren an, Gretchen überschreitet damit sogar die Standesgrenze vom Bürgermädchen zu etwas Höherem: der Edelfrau.
Meine Gelehrtheiten entnehme ich der Frankfurter Goethe-Ausgabe, also den Anmerkungen von Albrecht Schöne; das sind die reichhaltigsten. Dagegen Erich Trunz in der Hamburger Ausgabe hält dieselbe Stelle für selbsterklärend, verbreitet sich dafür ausführlicher über Gretchens unmittelbar vorausgehendes Lied Es war ein König in Thule: Das ist eine Ballade, die aus einem idealisierten Mittelalter handelt, daher uralthergebracht wirken soll und sich für eine Bassstimme eignet, aber von Goethe eigens für den Faust verfertigt wurde, um sie ausgerechnet einem — noch — unschuldigen jungen Mädchen in den Mund zu legen.
Unpassend erscheint das wegen Thema und Tonfall der Ballade, passend erscheint es wegen der paradoxen Situation: Niemals ist ein Mädchen privater für sich allein als in seinem eigenen Zimmer beim Auskleiden zur Nacht — vor allem, wenn es zuvor am selben Tag von einem schmucken Herrn angesprochen wurde, den sie abgewiesen hat und dem sie jetzt gedanklich nachhängt. Und der feine Herr war in der Zwischenzeit in Gesellschaft des Teufels persönlich in ihrer Stube, um fragwürdige Geschenke zu hinterlassen.
Ein klarer Vertrauensbruch, bevor überhaupt irgend ein Grund zum Vertrauen entstehen konnte. Wenn Gretchen das wüsste statt nur halbbewusst ahnte, sie würde Faust noch ganz anders anzicken als mit „Kann ungeleitet nach Hause gehn“, und damit hätte sie recht.
So aber wabert die Atmosphäre für das als feinfühlig einzuschätzende Gretchen noch von den zwei Eindringlingen, die jetzt schon wissen, wie ihr Bett aussieht: „Mephistopheles herumspürend: Nicht jedes Mädchen hält so rein. Ab.“ Und da kommt ihr das „alte“ Lied in den Sinn, das so gar nichts mit ihr zu tun hat, eigentlich ein Fremdkörper in dem Repertoire, das sie singen kann, über das sie sich gar nicht jeden Tag bewusst ist, dass es in ihr wohnt.
Es sind also schlimme Zeiten, schlimmere brechen an: Überwacht wird sie schon — und durch solche nur halb willkommene Nachstellung auf den besten Weg geschubst, sich unschuldig schuldig zu machen. Die Definition einer Tragödie. „Trank nie einen Tropfen mehr“ — „und erblickt das Schmuckkästchen.“ — „Ach wir Armen!“ Gute Nacht, Gretchen.
Das Münchner Stadtmuseum behandelt das nicht — weil es einen anderen Anspruch stellt: Es lässt alle „Gretchen“ Gretchen sein, indem es eben nicht die Adligen und die Huren, sondern die bürgerlichen Frauen zeigt — bei dem Versuch, in schlimmen Zeiten Anmut und Würde zu bewahren.
Eine lehrreiche Dimension des Ausstellungsthemas, mit der die Aussteller selbst gar nicht gerechnet haben (genau kann ich das nicht wissen, lasse mich aber durch deren Widerspruch belehren; für mich sind das von der Haustür weg keine 15 Minuten mit dem 62er).
Wir merken uns jetzt, wenn wir die Ausstellung besuchen: Auch ein deutsches Mädel ist dann eine Edelfrau, wenn man es so behandelt.
Gretchenbilder: Hosenmode, aus der Zeitschrift „Das Magazin“, 1931;
Dr. Isabella Belting (Kuratorin): Gretchen mag’s mondän, Ausstellungskatalog Hirmer Verlag München 2015,
Elegante Tagesmode (Modell von Maggy Rouff), aus der französischen Zeitschrift „Vogue“, 1939;
Abendkleid, aus der Zeitschrift „Wiener Mode“, 1935,
alle via Münchner Stadtmuseum 2015;
Paul Mila: 3. Abend. Gretchen betrachtet den von Mephistopheles zurückgelassenen Schmuck, 1834,
via Goethezeitportal.
Tolkien im Großen Ringkrieg
Kürzlich wurde der Literatur-Nobelpreis zum ad infinitum wiederholten Male nicht an Bob Dylan verliehen. Das ist ein alter Ärger: 1961 hatte C.S. Lewis als Professor in Oxford Vorschlagsrecht ans Nobelpreiskomitee und nutzte es, um seinen besten Kumpel J.R.R. Tolkien zu nominieren. Als groß angelegte Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs, als die Der Herr der Ringe damals wie selbstverständlich galt, hatte er bestimmt sogar Chancen. J.R.R. empfahl seinerseits, schofel genug, nicht etwa Lewis, sondern E.M. Forster, sicher weil es sonst zu sehr aufgefallen wäre. Natürlich waren alle drei rettungslos verloren gegen einen Ivo Andrić.
Im Ernst: Die folgenden, ungekürzt wiedergebenen Beobachtungen erschienen schon am 13. Dezember 2014 in der Welt und schrien nach ungekürzter Wiedergabe, und zwar sofort. Mir erschien das Thema jedoch zu wichtig, um es mit mehr oder weniger unverfänglichen, jedenfalls wertfreien Bikinischönheiten zu garnieren; selbst eine Serie aus Cate Blanchett als Galadriel wäre verfehlt.
Ich musste erst abwarten, bis Tolkiens erste Skizzen zur Anlage von Mittelerde öffentlich wurden. Das ist ein so grundlegendes Ereignis, dass Text und Bild sich gegenseitig nichts wegnehmen. Wired hat am 9. Oktober 2015 acht Skizzen zugänglich gemacht. In den Welt-Artikel geflochten erscheinen sie in 50 % der Textbreite (das erste und letzte in 80 %), sind aber groß genug, um Tolkiens Handschrift zu erkennen – Sie verfügen doch noch über eine rechte Maustaste? –, und die Bildlegenden von Wired stehen, wenn Sie jemals so weit scrollen, unten vor dem Nachspannlied.
——— John Garth:
Mittelerde liegt an der Somme
„Keuchende Gruben“, „giftige Hügel“ und die „Totensümpfe“ der Schlachtfelder: 100 Jahre nach dem „Great War“ wird J. R. R. Tolkiens „Herr der Ringe“ als Roman des Ersten Weltkriegs kenntlich. Eine Spurensuche
Aus dem Englischen von Marcel Aubron-Bülles,
in: Die Welt, Samstag, 13. Dezember 2014, © Axel Springer SE 2014:
Als „Der Herr der Ringe“ zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs erschien, war sich das Feuilleton sicher, dass es sich um eine zwar verschlüsselte, dennoch allegorische Erzählung handeln musste, in der Sauron Stalin, Saruman Hitler und die Freien Völker die Alliierten darstellten. Tolkien wischte solche Interpretationen ungeduldig beiseite. Im Vorwort zur zweiten Ausgabe, die 1965 erschien, betonte er, der Ursprung der Erzählung liege in Dingen, „die mir schon lange im Sinn lagen oder in einigen Fällen schon niedergeschrieben waren, und wenig oder nichts wurde durch den Krieg, der 1939 begann, oder durch seine Folgen verändert.“ Die Epen der Angelsachsen und anderer germanischer Völker erweckten in Tolkien das Interesse am Mythos; sein Werk ist von Legenden und Volkssagen beseelt. Doch als er sich während seines Studiums in Oxford das erste Mal in diese mittelalterlichen Texte vertiefte, brach der Erste Weltkrieg aus. Ich bin davon überzeugt, dass dies einen maßgeblichen Einfluss auf sein kreatives Schaffen ausübte.
Ein erster Hinweis ist das eben erwähnte Vorwort. Nachdem er alle Interpretationen seines Werks mit einem Bezug zum Zweiten Weltkrieg als unsinnig abgetan hatte, fuhr er fort: „Man muss in der Tat persönlich in den Schatten des Krieges geraten, um zu erfahren, wie bedrückend er ist; aber im Laufe der Jahre scheint man nun oft zu vergessen, dass es ein keineswegs weniger furchtbares Erlebnis war, in der Jugend von 1914 überrascht zu werden, als 1939 und in den folgenden Jahren vom Krieg betroffen zu sein. 1918 waren bis auf einen alle meine nächsten Freunde tot.“ Er hätte es kaum deutlicher ausdrücken können: Wenn ihr schon nach dem Einfluss eines Krieges sucht, dann wendet euch dem zu, an dem ich selbst teilgenommen habe.
Tolkien kämpfte in der Schlacht an der Somme, vier Monate lang. Er hatte unheimliches Glück, dass sein Bataillon, die 11th Lancashire Fusiliers, nicht zu den Truppen gehörte, die zu Beginn der Offensive am 1. Juli nach vorn geschickt wurden. Dieser Tag gilt als der schwärzeste Tag der britischen Militärgeschichte – knapp 20.000 Tote, mehr als die Hälfte aller Offiziere. Als im selben Monat der von deutschen Truppen besetzte Ort Ovillers von den Briten erobert wurde, erlebte Tolkien zum ersten Mal am eigenen Leib das „tierische Grauen, … das der Krieg …)bedeutet.“ Ende Oktober zeichnete er als Fernmeldeoffizier bei der Eroberung einer weiteren strategisch wichtigen deutschen Stellung für die Kommunikation seines Bataillons verantwortlich. Dann geschah das, was vermutlich sein Leben rettete: Er erkrankte am Schützengrabenfieber und wurde nach England zurückgeschickt. Sein Bataillon zog weiter nach Flandern.
Bei einem so gebildeten Mann wie Tolkien, der nach seiner Rückkehr von der Somme im Krankenhaus die Gelegenheit nutzte, mit dem Schreiben zu beginnen, hätte man die schonungslos realistische Darstellung des Kriegs in Roman- oder Gedichtform erwarten können, einem Erich Maria Remarque und seinem „Im Westen nichts Neues“ gleich, oder dem britischen Dichter Wilfred Owen ähnlich, der einer verlorenen Generation mit „Anthem for Doomed Youth“ ein poetisches Denkmal setzte. In den bekanntesten Werken ist der Soldat im Schützengraben das hilflos leidende Opfer; die vor dem Weltkrieg gängigen Vorstellungen, was einen Helden ausmachte und wie er literarisch zu verewigen war, wurden durch die neue Typologie ersetzt. Der herausragendste britische Kriegslyriker Wilfred Owen weigerte sich, Helden zu beschreiben: „Die englische Dichtung ist noch nicht so weit, von ihnen zu sprechen“, so seine Worte. Und nach dem „Großen Krieg“ wandte sich die Literatur von Helden ab, als ob es sie nie gegeben hätte. Tolkien aber schrieb 1936 über das mittelalterliche Epos „Beowulf“: „Noch heute (und den Kritikern zum Trotz) findet man Menschen, … die von Helden gehört und sogar schon welche gesehen haben …“ In seinem Werk finden sich Versionen dieser traditionellen Helden, Seite an Seite mit neuen Helden, bei denen der Einfluss des Ersten Weltkriegs spürbar ist.
Versuchte Tolkien der unerträglichen Realität zu entfliehen? Ja und nein. Er schrieb, dass Märchen einen besonderen Fluchtweg aufzeigen: die Flucht des Gefangenen, nicht des Deserteurs. In den „Verschollenen Geschichten“, die er im Krankenhaus begann und aus denen später das „Silmarillion“ erwuchs, scheinen die Krieger Beren, Túrin und Tuor Tolkiens eigene Entwicklung als junger Mann nachzuvollziehen, der gegen seinen Willen in den Krieg ziehen musste. Doch bei ihnen handelt es sich um epische Charaktere, die sich selbst den gewagtesten Aufgaben stellen, und Tolkien konnte sie nicht allein aus eigener Erfahrung heraus gestalten. Die Figur, die es ihm schließlich ermöglichte, eine Erzählung mit seinen Kriegserlebnissen in Einklang zu bringen, war der wenig heldenhafte Bilbo Beutlin. „Der Hobbit“ ist die Geschichte einer Verwandlung, bei der ihr anfänglich furchtsamer Protagonist in die Schlacht zieht und dem Tod von der Schippe springt.
Tolkien schrieb sie für seine Kinder, und ihm wurde klar, dass sie einen Helden brauchten, der ihnen nicht so fremd war wie die elbischen und menschlichen Krieger, mit denen er sich bisher beschäftigt hatte. Seine eigene Kindheit diente ihm als Inspirationsquelle, und der Ursprung seiner Hobbits ist die englische Landbevölkerung, wie er sie zwischen seinem vierten und achten Lebensjahr kennengelernt hatte.
Bilbo ist ein Charakter auf dem Sprung in ein ungewisses Abenteuer in einer faszinierenden Mischung aus Furcht und Furchtlosigkeit. Er lernt unglaublich schnell und ist bald in der Lage, dem Tod entschlossen ins Antlitz zu blicken. Als er diesen Punkt erreicht, spiegelt er Tolkiens persönliche Erfahrung wieder, die er im Ersten Weltkrieg gemacht hatte. Es ist daher fast selbstverständlich, dass die Hobbits, die so eng mit dem ländlichen England seiner Jugend verbunden sind, auf Gefahr und Schrecken so gleichmütig reagieren, wie er es bei den Menschen seiner Generation erlebte. Er nehme seine „Modelle wie jeder andere auch aus dem ‚Leben‘ …, soweit ich es kenne“, schrieb er später.
Doch obwohl er sich von seinen Erfahrungen inspirieren ließ, stellen die Orks nicht die deutschen Soldaten des Ersten Weltkriegs in Fantasykostümen dar. Ein solches Schwarzweiß-Denken war Tolkien fremd. Es gibt genügend Hinweise darauf, dass er den einfachen deutschen Soldaten zu respektieren lernte, genauso wie seine britischen Untergebenen. Für ihn verkörpern die Orks das Böse, das er 1916 auf beiden Seiten der Westfront ausmachte – ein Böses, das Eroberung, Macht und Maschinen für wichtiger hält als Menschen aus Fleisch und Blut.
Als er von 1937 bis 1948 „Der Herr der Ringe“ schrieb, zeigte sich in seinen Briefen, dass der neue Krieg, in den seine Söhne gezogen waren, traurige Erinnerungen an den alten Krieg weckten, seinen Krieg. Gefahren, Angst und Unbehagen bestimmen die erzählerische Atmosphäre; vielen Charakteren droht das Exil in einer Welt, in der sie sich auf Althergebrachtes nicht mehr verlassen können. Wo lähmende Furcht und schwerste Demütigungen beschrieben werden, ist für ein klassisches Heldentum kein Platz mehr.
Die Hobbits sind engstirnig, häuslich veranlagt und streiten sich um Kleinigkeiten. Es fällt leicht, sie zu lieben und zu verspotten, aber es ist umso schwerer, sie zu bewundern. Frodo wünscht sich manchmal, dass ein Erdbeben oder ein Drache seine „dummen und langweiligen“ Mitbürger aufwecken möge. Diese Unzufriedenheit mit dem alltäglichen Leben war zu Beginn des Ersten Weltkriegs weit verbreitet, als der englische Dichter Rupert Brooke seine Landsleute als „Halbmenschen“ bezeichnete, die die lange Friedenszeit verdorben hätte. Tolkien äußerte zuweilen ähnliche Ansichten.
Doch Frodo Beutlin aus dem friedlichen Auenland wünscht sich den Krieg genauso wenig wie Tolkien im England des Jahres 1914. Er beschrieb die Katastrophe als den „Zusammenbruch meiner ganzen Welt.“ Frodo, der zu spät merkt, wie sehr er ein normales Leben liebt, sagt: „Ich wollte, es hätte nicht zu meiner Zeit geschehen müssen.“ Er will weder ein Held sein noch verspricht er, einer zu werden. Wie Tolkien, ein „junger Mann mit zu viel Phantasie“, der in seinem letzten Jahr an der Universität wusste, dass er wahrscheinlich in den Krieg ziehen musste, fürchtet Frodo die Gefahr und die Pflicht, die ihm auferlegt ist. Frodo wird wie die Freiwilligen aus Tolkiens Generation zum Helden, weil er ein unbedeutendes Individuum ist, dass sich zum Wohle aller einer viel zu großen Aufgabe stellt und den Mut und die Kraft findet durchzuhalten.
Frodo zieht diese Kraft aus der Kameradschaft mit seinen Freunden. Er und die anderen Hobbits – „Anführer Frodo und seine Mannen“ nennen sie sich – gehen mit der Gefahr und dem Unbehagen um, wie es auch bei Soldaten üblich ist. Ihr Marsch wird begleitet oder unterbrochen von gemeinsamem Gesang, ordentlichen Mahlzeiten oder einem Bad – die Freuden des gemeinen Soldaten. Ihr gelassener Humor und das völlige Ausblenden ihrer Vorstellungskraft helfen, furchterregende Situationen auf ein normales Maß herunterzubrechen, wie Sam im Kampf mit der teuflischen Spinne Kankra beweist. Er redet mit ihr, als ob er einem vorlauten Hobbit ein paar Ohrfeigen verpassen wollte: „Nun komm, du Scheusal!“
„Mein Sam Gamdschie“, schrieb Tolkien, „ist in der Tat ein Bild des englischen Soldaten, der Gemeinen und Burschen, wie ich sie im Krieg von 1914 und als mir selbst so hoch überlegen erkannt habe.“ Die Beziehung zwischen Frodo und Sam spiegelt die Hierarchie zwischen einem Offizier und seinem Burschen deutlich wieder. Ein Offizier hatte in der Regel eine universitäre Ausbildung genossen und stammte aus der Mittelschicht. Der einfache Arbeiter blieb einfacher Soldat oder schaffte es vielleicht, sich zum Sergeant hochzuarbeiten. Zwischen dem gebildeten und wohlsituierten Frodo und Sam, seinem früheren Gärtner, der ihn nun weckt, die Mahlzeiten zubereitet und seine Sachen zusammenpackt, erstreckt sich ein sozialer Abgrund. Die gemeinsam durchlebte Not bereitet der typisch männlichen Zurückhaltung und den klassenbedingten Unterschieden ein Ende, und schließlich kann Sam zu Frodo sagen: „Herr Frodo, mein Lieber.“
Zu diesem Zeitpunkt ist Frodo von der ständigen Last des böswilligen Rings so zermürbt, dass die Hierarchie zwischen den beiden Hobbits praktisch auf den Kopf gestellt ist. Frodos Rolle entwickelt sich zu einer kindlichen Abhängigkeit: Er hat die Probleme, Sam die Lösungen. Im Ersten Weltkrieg war dieser Vorgang üblich. Die Aufnahme als Offizier in die britische Armee erfolgte als klassenbedingte Entscheidung, nicht weil diese jungen Männer erfahrene Soldaten oder geborene Anführer waren. Die einfachen Soldaten und Unteroffiziere verfügten in der Regel über das notwendige Alter, die Erfahrung und das Wissen, das ihren Vorgesetzten fehlte. Sams simples Geplapper bringt Frodo selbst an der Grenze nach Mordor zum Lachen. „Ein solcher Klang war in diesen Gegenden nicht gehört worden, seit Sauron nach Mittelerde gekommen war“, hält Tolkien fest. Dabei handelt es sich um ein Lachen, wie der Kriegskorrespondent Philip Gibbs glaubte, das als „Flucht vor dem Schrecken diente, als seelischer Befreiungsschlag durch eine geistige Explosion, die die Gefängnismauern der Verzweiflung und des Nachgrübelns überwand.“
Drängende Eile charakterisiert Frodos Reise von Anfang an, und der Erzählrhythmus spielt sich schnell ein. Er besteht aus vier aufeinanderfolgenden, sich stets wiederholenden Abschnitten: der mühsame, angstvolle Kampf, voranzukommen; eine brutale, grauenhafte Auseinandersetzung mit dem Tod oder denen, die ihn bringen; die Flucht vor der Gefahr und ein kurzes Zwischenspiel, in dem sich die Hobbits erholen und ausruhen können. Dies sind nicht nur die Elemente der archetypischen Heldenreise, sie entsprechen auch den tatsächlichen, alltäglichen Erfahrungen des Soldatenlebens im Ersten Weltkrieg: Marsch an die Front, Schützengraben, Rückzug und eine Verschnaufpause.
Auf ihrer Verfolgungsjagd sind Frodos Gefährten Aragorn, Legolas und Gimli mit einer Ausdauer gesegnet, die „in so mancher Halle besungen werden“ sollte, wie Éomer anmerkt: Mann, Elb und Zwerg sind heldenhafte Gestalten an der Schwelle zum Mythos. Wo ihre Schritte flink sind, kämpfen sich die weniger heldenhaften Füße der Hobbits mühsam voran, und nur ihr eiserner Wille lässt sie weitergehen, „ihre Rücken … gebeugt unter ihren Lasten.“ Das klingt wie die Beschreibung der Weltkriegssoldaten in Wilfred Owens Gedicht: „Zweifach gebeugt wie alte Bettler unter ihrem Sack, / X-beinig … Trunken vor Erschöpfung …“ Das Gewicht eines Rucksacks ist die physische Entsprechung der Last, die die Pflicht und das Schicksal einem auferlegen – ebenso wie Frodos besondere Verantwortung, nämlich den Ring zu tragen, der „Folter für die Seele“ bedeutet und eine nahezu unerträgliche „Last für den Körper“.
Doch eine noch größere Belastung für Frodo ist die Erkenntnis, dass das Auge nach ihm suchte: „Es war mehr als das Zerren des Ringes, was bewirkte, dass er sich beim Gehen duckte und bückte.“ Eine so umfassende Überwachung hat in einem mittelalterlichen Epos keinen Platz, und sie fällt auch im 20. Jahrhundert nicht in dieselbe Kategorie wie der Große Bruder aus „1984“. Sauron ist nicht der staatliche Kerkermeister, sondern der militärische Feind. Das Auge lässt seinen Blick über das Land schweifen, um jede Bewegung zu beobachten, und aus der Luft überwachen die Ringgeister, was unter ihnen geschieht. Bei der Durchquerung der Totensümpfe, den „Niemandslanden“ und den „keuchenden Gruben und giftigen Hügeln“ vor dem Schwarzen Tor von Mordor wird die Angst, entdeckt zu werden, immer größer. Tolkien gab später zu, dass die Beschreibung dieser Landschaft von seiner Erinnerung an das Schlachtfeld der Somme inspiriert worden war.
In „Der Herr der Ringe“ besteht stets die Notwendigkeit, sich zu verbergen. Die Helden alter Epen konnten mit wehenden Bannern und lautem Hornstoß in die Schlacht ziehen, und Tolkien bewahrt mit der Schlacht auf den Pelennor-Feldern die Erinnerung an diese Denkweise. Er selbst aber sah sie in den Schützengräben seiner Zeit sterben. Für moderne Helden und für Frodo ist Überraschung der Schlüssel zum Erfolg; sich vor dem Feind zu verbergen, sichert das Überleben.
Der schlimmste Kampf, den ein Soldat im Ersten Weltkrieg zu führen hatte, war nicht gegen feindliche Truppen, sondern gegen Angst und Verzweiflung. Als sich die Briten 1914 bei Mons zurückziehen mussten, entstand aus der Not, der Demoralisierung entgegenzutreten, sogar der Mythos, die Engel selbst hätten in den Konflikt gegen die Deutschen eingegriffen. Mit dem Anführer der Ringgeister erschafft Tolkien ihr Gegenstück. Dieser „große schwarze Reiter, ein dunkler Schatten unter dem Mond“ löst Panik aus: „Nicht durch die Überzahl wurden wir besiegt“, betont Boromir. Als Frodo durch die Klinge des Ringgeists verletzt wird, durchlebt er einen dunklen Traum aus Verzweiflung und Teilnahmslosigkeit.
Tolkiens persönliche Kriegserlebnisse hinterlassen bei den Ringgeistern unverkennbare Spuren. Die frühen, formlosen Gasmasken, die 1916 zum Einsatz kamen, verdeckten das Gesicht ihres Trägers genauso vollkommen, wie es die Kapuzen der Schwarzen Reiter taten, und in ihnen zu atmen verursachte schnüffelnde Geräusche; wer in ihnen zu reden versuchte, sprach zischelnd. Ihr „langgezogenes Wehklagen“, das in einem „hohen, durchdringenden Ton“ endete, erinnert stark an die „schrillen Wahngesänge der Granaten“, so Wilfred Owen, und ein anderer Schriftsteller beschrieb sie als „ein ohrenbetäubendes Kreischen“.
Ich würde behaupten, dass der Ursprung der fliegenden Ringgeister an der Somme zu suchen ist, in der Erinnerung an das Grauen: Doppeldecker und Fesselballons, die das Schlachtfeld überwachten, und die Artilleriegeschosse, die unaufhörlich einschlugen. Der Kriegskorrespondent der „Times“ schrieb über die Somme am Vorabend von Tolkiens erstem Einsatz: „Geschosse pfiffen laut flatternd, in der Dunkelheit von unsichtbaren Flügeln getragen, durch den Himmel und über unsere Köpfe hinweg.“ Der Soldat Frederic Manning schrieb, dass während des Artilleriebeschusses „das Geräusch hektisch geschlagener Flügel die Luft erfüllte, nur um vom Kreischen heranfliegender Granaten übertönt zu werden.“
Es gibt auch Anlass zu vermuten, dass Tolkien auf der Suche nach einer symbolischen Umsetzung für Schlachtfeldtraumata, Demoralisierung und Verzweiflung auf seine Kriegserfahrungen mit Kampfgasen zurückgriff. Ein unsichtbarer „Schwarzer Atem“ wird dafür verantwortlich gemacht, wie die Ringgeister die Moral ihrer Gegner untergraben. Auch Frodo trifft auf eine Wolke der Angst bei der Spinne Kankra. Dem Pfad der Toten entströmt ein „grauer Dunst“, und als Frodo und seine Kameraden auf den Hügelgräberhöhen von einem Nebel überrascht werden, haben sie das Gefühl, „in einer Falle gefangen zu sein.“
An dieser Stelle, in dieser verfluchten Grabstätte, ist Frodo zum ersten Mal von der Realität abgeschnitten, in einem Albtraum gefangen, und muss seine Lähmung abschütteln, um die geisterhafte Hand abzuhacken, die nach der Opferklinge zu greifen versucht, die über die Hälse seiner schlafenden Freunde gelegt worden war. Die hier beschriebene Szene erinnert an eine Orientierungslosigkeit, wie sie durch hohes Fieber, tiefsitzende Furcht oder die nahende Schlacht hervorgerufen wurde. Wer über den Ersten Weltkrieg schrieb, betonte den „ungeheuren Kraftakt“, den es brauchte, um endlich in Aktion zu treten. Ein Augenzeuge beobachtete seinen Trupp, allesamt „gute Männer …, die wie in Trance über das Niemandsland blickten und augenscheinlich nicht mehr in der Lage waren, sich auch nur einen Schritt zu bewegen.“ Frodos Versagen, seinen Freunden aus der Notlage helfen zu können, das Gefühl zu Stein verwandelt worden zu sein, das fahle grünliche Licht – das alles erinnert an Wilfred Owens Beschreibung eines Gasangriffs, der Anblick eines vergasten Soldaten, durch die grün gefärbten Gasmaskensichtscheiben: „Undeutlich, durch die beschlagene Scheibe und trübes grünes Licht / Wie in einem grünen Meer …“ Eine nahezu identische Beschreibung findet sich bei der bekanntesten albtraumartigen Begegnung mit den Toten im „Herrn der Ringe“: In den Totensümpfen erkennt Frodo die unter Wasser liegenden Leichen, wie durch „ein Fenster, mit einer schmutzigen Scheibe verglast.“
Die Totensümpfe sind Sinnbild erbärmlicher, sinnloser Verschwendung, und die Krieger in ihren feuchten Gräbern nur Trugbilder, wohl durch die finsteren Kräfte des Dunklen Herrschers beschworen. Die geisterhaften Erscheinungen beziehen sich aber eindeutig auf tatsächlich Erlebtes, selbst wenn Tolkien diese Beobachtung nicht bestätigt hätte. Die Toten der Schlachtfelder blieben allen Überlebenden in Erinnerung, sie verfolgten den Soldaten und Schriftsteller Siegfried Sassoon bis in die Heimat: Er sah sie auf sein Krankenhausbett zukriechen oder auf den Bürgersteigen liegen, als er durch London ging.
Tolkien fasste sein Dasein in den Schützengräben in zwei Worten zusammen: „tierisches Grauen“. Beklemmende, ansteckende Angst verwandelt Menschen in wilde Tiere; der Schrei der Ringgeister bringt Krieger dazu, „nicht mehr an den Krieg (zu denken), sondern nur daran, sich zu verstecken und wegzukriechen, und an den Tod.“ Einer der Kriegskorrespondenten beschrieb es ähnlich, als er sagte, dass sich die Soldaten in der Schlacht zu „primitiven Wesen entwickelten, menschlichen Tieren.“
Der Maßstab des langsamen Verfalls, der Verwandlung in etwas Unmenschliches, ist Gollum. Ein Mythos von der Somme, der unter den gemeinen Soldaten weit verbreitet war, spielte bei seiner Charakterentwicklung unter Umständen eine Rolle. Ein Soldat erinnerte sich später an deutliche Warnungen, dass niemand allein einen bestimmten Punkt in den Schützengräben überqueren sollte, weil ihm dort die „wilden Menschen“ drohten, „die dort lebten, tief im Erdreich, leichenfressende Dämonen, die inmitten der verrottenden Toten hausten und nur des Nachts hervorkamen, um zu plündern und zu morden.“ In einer anderen Erzählung wird ebenso von diesen halb wahnsinnigen Deserteuren berichtet, die allen Armeen entstammten: Sie waren leichenblass, stanken nach moderigem Keller und brachen plötzlich aus „Höhlen und Grotten unter bestimmten Frontabschnitten hervor, um die Sterbenden ihrer Habseligkeiten zu berauben.“
Tolkien beschrieb nur wenige seiner Charaktere so ausführlich wie Gollum: Sein Kopf ist zu groß für den mageren Hals, seine Zunge hängt ihm aus dem Mund, er hat eine „kollernde Kehle“ und seine feuchtkalten, grapschenden Finger knacken vernehmlich. Er wechselt ständig zwischen Kichern und Schluchzen und zuckt zusammen, krümmt sich wie unter unsichtbaren Schlägen. Jedes dieser Symptome lässt sich auch bei Opfern posttraumatischer Belastungsstörungen beobachten. Als die ersten Tausenden Soldaten an der Somme diese Symptome aufwiesen, sprach man noch von „Kriegszitterern“.
Auch bei Frodo tauchen diese Symptome immer häufiger auf. Einzelne Granateinschläge waren für die Erkrankung nicht verantwortlich; schlimmer waren die unaufhörlichen, schweren Bombardements und die langen Einsätze in den vordersten Gräben. Wer sich wie Frodo andauernden Gefahren ausgesetzt sieht, gewöhnt sich nicht an das Grauen, sondern wird mit jedem Tag schwächer. Nur dank Sams unerschütterlicher Kameradschaft ist er überhaupt in der Lage, dem Wahnsinn so lange zu widerstehen, doch als sein treuer Begleiter ihm anbietet, seine Last abzunehmen, verwandelt er sich vor Frodos Augen in einen Ork, der nach seinem Ring grapscht. Der Ring bestimmt nun seine Wahrnehmung, und Frodo weist erste Anzeichen einer gespaltenen Persönlichkeit auf, wie ein weiterer Gollum.
Als Frodo während eines Gewitters den durchdringenden Schrei der Ringgeister hört, lässt ihn das schiere Entsetzen, das von ihm Besitz ergreift, für eine kurze Zeit blind werden. Dieser brutale Angriff auf die Sinne ähnelt in seiner Beschreibung dem, was Soldaten des Ersten Weltkriegs bei Artilleriebeschuss durchlebten. In diesem Fall scheint es sich um ein ungewöhnliches Phänomen zu handeln, aber Blindheit gehörte zu den zahlreichen Symptomen der posttraumatischen Belastungsstörung. Ein Artikel in The Times beschrieb 1915 das Opfer dieses neuen Nervenleidens wie folgt: „Er mag derartig betroffen sein, dass sich selbst seine Sinneswahrnehmungen wandeln; er wird blind oder taub, und oft ist er nicht einmal mehr in der Lage zu riechen oder schmecken. Sein eigenes Ich ist ihm fremd, alle Zusammenhänge, aus denen er selbst besteht … Des Nachts kann er nicht mehr schlafen, und wenn er es doch vermag, so trüben wüste Träume seine Erholung, und bis ins kleinste Detail durchlebt er erneut die Schlachtfelder, auf denen er gekämpft hat.“
Frodo zuckt unkontrolliert, sein Schlaf ist „unruhig …, voller Träume von Feuer“. Die Erinnerung an alles Schöne im Leben ist ausgelöscht. „Kein Geschmack am Essen, kein Gefühl für Wasser, kein Geräusch des Windes, keine Erinnerung an Baum oder Gras oder Blume, keine Vorstellung von Mond oder Stern sind mir geblieben.“ An ihre Stelle tritt das grelle, alles auslöschende Bild des Rings in seiner symbolischen Macht: „Ich bin nackt in der Dunkelheit, Sam, und es gibt keinen Schleier zwischen mir und dem Feuerrad. Ich fange an, es schon mit wachen Augen zu sehen, und alles andere verblasst.“
Doch Frodos Reise ist nicht nur die Geschichte seines körperlichen und geistigen Verfalls. Als Überlebender des Ersten Weltkriegs versuchte Tolkien in all dem Leiden, das er mit eigenen Augen hatte ansehen müssen, einen Sinn zu erkennen, und er fand ihn in der charakterlichen „Veredelung“, die er bei seinen Kameraden beobachtete. Auf den letzten Schritten seiner Heldenreise nimmt Frodo immer mehr Züge des Heilands an: Er hofft, die Welt mit seinem Tod retten zu können; er lässt seine Waffen zurück und weigert sich, sie jemals wieder zu erheben. In vielen Werken mit Bezug zum Ersten Weltkrieg ist der Vergleich mit Jesus Christus gang und gäbe, wenn es um das Leiden der Soldaten und ihrer Bereitschaft zur Selbstaufopferung geht.
Frodo stirbt nicht auf dem Schicksalsberg. Obwohl er versucht, den Ring der Macht für sich zu beanspruchen, erhält er keine Superkräfte. Stattdessen muss er mit ansehen, wie ihm der Ring genommen und gegen seinen Willen zerstört wird. Zu diesem Zeitpunkt erleben wir seinen Zusammenbruch, den er mit aller Macht aufgeschoben hatte. Tolkien fasste es in einem Brief an einen Leser mit folgenden Worten zusammen: Er „dachte, dass er sein Leben geopfert habe: Er erwartete, bald zu sterben. Aber er starb nicht, und man kann sehen, wie die Unruhe in ihm wächst.“ Die Feder eines Überlebenden hat in dieser Erzählung Leid und Kummer eingearbeitet, die den Krieg überdauerten.
Die ersten Vernarbungen sind körperlicher Natur: der verlorene Ringfinger, den Gollum abgebissen hat. Der Kriegsgeneration fiel es schwer, den Sieg der Allgemeinheit mit den Verlusten des Individuums in Einklang zu bringen, und das im wahrsten Sinne: mehr als eine Viertelmillion Briten wurden an Armen und Beinen schwer verletzt, 41.000 so schwer, dass ihr Leben nur noch durch Amputationen gerettet werden konnte.
Dieser Verlust bleibt bei Frodo nicht ohne weitere Folgen, denn ihm geht auch seine Unbescholtenheit verloren. Tatsächlich bedauert er die Zerstörung des bösartigen Rings der Macht. Wahre Helden sollten so etwas nicht denken, aber auch hier scheint die harte Realität des Ersten Weltkriegs durch. Der Ring verstärkt nämlich die Übel, die dem Krieg stets neue Nahrung gaben – Verfolgungswahn, das Verlangen nach Macht, die Übersteigerung des Heldentums –, und Frodos Bedauern ist ein Widerhall auf das überraschendste aller Leiden der demobilisierten Soldaten: die Betrübnis, dass der Krieg vorüber war.
Der Krieg hatte das Leben einfach, klar, intensiv gemacht und die Möglichkeit geboten, Heldentaten zu begehen. Die Heimkehr und der Waffenstillstand bedeuteten Desillusionierung, Verwirrung, Ziellosigkeit und das Ende der Kameradschaft. Die Zivilisten hatten nicht die geringste Ahnung von der Realität der Schützengräben, sondern hielten verzweifelt an der überholten und verklärten Vorstellung des Krieges fest. Soldaten, die „eine gute Figur machten“ – ähnlich den Hobbits Merry und Pippin, als sie ins Auenland zurückkehren –, wurden unter Umständen als Helden gefeiert, aber die Soldaten, die körperlich und geistig verkrüppelt heimkehrten, wurden häufig ignoriert oder gar herablassend behandelt. So geschieht es auch mit Frodo. Am Ende des „Herrn der Ringe“ zeigt Tolkien die Kehrseite der Medaille: Diejenigen, die ihre Abenteuer glücklich überstanden haben, werden mit Ehren überhäuft, doch Frodo, dessen eigene Reise ein psychischer Albtraum war, wird nicht beachtet.
Als sich der Erste Weltkrieg seinem Ende zuneigte, verwandelte sich die romantische Illusion eines heldenhaften Siegs in bittere und komplexe Realität. Diejenigen, die in den Krieg gezogen waren, hatten sich auf immer verändert. Frodos verständnisvolle Sichtweise als einer der Außenseiter, die nach ihrer Rückkehr aus der Schlacht nicht mehr in das Leben der anderen passen, ist von persönlichem Schmerz erfüllt: „Ich bin zu schwer verwundet worden“, sagte er. „Ich versuchte, das Auenland zu retten, und es ist gerettet worden, aber nicht für mich. Das lässt sich oft nicht ändern, Sam, wenn Dinge in Gefahr sind: Manche müssen sie aufgeben, sie verlieren, damit andere sie behalten können.“
Ein letzter Grund für Frodos Zusammenbruch wird von Tolkien in einem späteren Kommentar als „unvernünftiger Selbstvorwurf“ bezeichnet: „Er sah in sich einen Versager, und alles, was er getan hatte, als misslungen.“ Der Ring ist nicht mehr, trotz seines Handelns, und die Wunden der Welt sind nicht gänzlich geheilt. Frodo scheint den Gefühlen Tolkiens Ausdruck zu verleihen, der aufgrund seiner Erkrankung in seine Heimat zurückkehren durfte, und dessen Bataillon vollständig aufgerieben wurde. Siegfried Sassoons Krieg endete mit einem Heimatschuss, als er vorsichtig über die Brustwehr seines Schützengrabens zu blicken versuchte, aber er hätte in seinen „Memoirs of an Infantry Officer“ auch Frodos Geisteszustand beschreiben können: „Meine Gedanken waren nicht in der Lage, den Zustand des Friedens zu erlangen … Ich begriff mich selbst als Versager, der nichts erreicht hatte außer einem völlig widersinnigen Ende, und mein eigener Verstand hatte für mich nichts mehr übrig außer Geringachtung.“
Frodos innigster Wunsch ist genau dieser „Zustand des Friedens“. Er fragt sich: „Wo werde ich Ruhe finden?“ Die Antwort ist Tolkiens einmalige Wunscherfüllung: Sein verwundeter Held wird auf einem verzauberten Schiff auf die Einsame Insel der Elben gebracht. Jetzt, wo seine Reise ins Feindesland vorüber ist, hat sich Frodo etwas verdient, was man als märchenhafte Flucht vor der Realität verstehen könnte, die Tolkien bis zu diesem Zeitpunkt stets vermieden hatte.
Vielleicht war Tolkiens Mythologie ein für ihn notwendiger Ausdruck von Emotionen, die er anders nicht zum Ausdruck bringen konnte: die Katharsis der Kriegstraumata, so einschneidend sie auch gewesen sein mochten. Auf den ersten Blick scheinen sich seine Erzählungen von der zeitgenössischen literarischen Auseinandersetzung mit dem Weltkrieg zu unterscheiden, aber sie sind auch nichts anderes, als der Versuch einen Sinn im Leben und Tod zu finden, geboren aus der Feuertaufe der Schützengräben.
Images: The sketches J.R.R. Tolkien used to build Middle-Earth,
in: Wired, Oktober 9th, 2015, by courtesy of the Bodleian Libraries, University of Oxford:
- „Map of Rohan, Gondor, and Mordor“: Tolkien used maps such as this one to compute the exact locations of Frodo and Sam as they walked across Emyn Muil and the Dead Marshes and arrived at Mount Doom, so their arrival coincided with the parallel plotlines of other members of the Fellowship.
- „Plan of Shelob’s lair“: Dungeons & Dragons players might have been inspired by this map of Shelob the spider’s den had they known of this drawing’s existence. If only D&D had been invented in 1954, when The Lord of the Rings was published, not 1974.
- „Distances and dates in Mordor“: Our quest is how long? In this complicated sketch-map, Tolkien worked out distances between various stops along the quest, such as the fact that it was 20 miles from Osgiliath and the Cross-roads of Minas Morgul, just to the west of Mordor.
- „The ‚First Map‘ of Middle-earth“: This was Tolkien’s master reference map. His son Christopher Tolkien called it „strange, battered, fascinating, extremely complicated.“ Its layers of sheets and corrections „reacted,“ he said, to the story in progress.
- „Earliest map of the Shire“: This map reveals Tolkien’s creative process. The blue and red dashed lines show Frodo, Sam, and Pippin’s route. Faint pencil marks update place-name changes, and reveal other notes about his Middle-earth still under development.
- „Helm’s Deep & the Hornburg“: Tolkien doodled on almost anything he could get his hands on. Here, he drew this view of Helm’s Deep, the fortress retreat of the Rohirrim people, on a half-used page of an Oxford examination booklet.
- „Moria West Gate“: This colored pencil drawing of the Doors of Durin, the secret entrance to the mines of Moria with its famous „Speak, friend, and enter“ riddle, captures the scale and majesty of the location.The tiny tentacle of the Watcher in the Water, poking out of the water, hints at the Fellowship’s trouble ahead.
- „Orthanc (2), 3, (4)“: Tolkien used his illustrations to test ideas for how Middle-earth’s various buildings, places and geological and man-made (and dwarf-, elf-, and hobbit-made) features might appear, and guided how he might describe them in words. Here’s an early, three-part sketch of Saruman’s tower Orthanc, at Isengard.
Soundtrack: Annie Lennox: Into The West,
das Nachspannlied zu The Lord of the Rings: The Return of the King, 2003:
The song was conceived as a bittersweet Elvish lament sung by Galadriel for those who have sailed across the Sundering Sea. Several phrases from the song are taken from the last chapter of The Return of the King.
[T]he song wasn’t inspired by Frodo, but by the premature death from cancer of young New Zealand filmmaker Cameron Duncan, whose work had impressed [director Peter] Jackson and his team. The first public performance of the song was at Duncan’s funeral.
The song won the Oscar for Best Original Song [2004], one of the film’s eleven wins.