Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Archive for Dezember 2021

Frankonachten 5/5: Du bist schon lange gestorben

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Update zu Der Widersacher. Ästhetischer Gaukler vs. unnahbarer Eispalast: Braucht die Welt noch Dichterfürsten im Krähwinkel? Alles ist erlaubt und willkommen. Keine 30 Prozent der Quellen,
Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten: denn Er ist nicht!,
Vater, verlass mich nicht, wenn das Glöckchen läutet
und Frankonachten 2/5: Nämlich gar nicht einschlafen zu wollen:

Weihnachten ist ja immer auch was mit Heimat. Bei mir ist das Franken, eine kulturelle und historische Landschaft, die mich nie ganz in Ruhe lassen wird.

Der Apokalyptismus ist die Religion der Gottlosen, jener, die dem Gegenüber kein Heil mehr verkaufen wollen, sondern nur noch eine Botschaft verbreiten: Alles ist eitel! Alles geht den Bach runter! Alles ist sterblich — du vor allem bist es! Aber: Lass dir um Himmelswillen den Salat nicht verderben!

Das sagt Robert Gernhardt unter vorläufigem Ausschluss der Öffentlichkeit, um den 5. April 2002 im ersten seiner Brunnenhefte. Wie versöhnlich der Mann damit noch ist, zeigt sich im letzten Satz, der Berufs- schlimmer noch: Hobbyapokalyptisten eine lebensfreudige Nebenbotschaft unterstellt.

Schon wahr: Eine ständige Beschwörung von Apokalypsen um ihrer selbst willen ist einem gedachten Höheren Wesen, nennen wir es bis auf weiteres: der Schöpfung gegenüber so undankbar wie eine luxuriöse Todesverliebtheit. Depression ist eine behandlungwürdige Krankheit, kein Modeaccessoire, und zur Schau getragener ennui Anmaßung. Dass wir alle sterben werden, muss nicht bedeuten, dass wir uns die paar Jahre bis dahin auch noch künstlich versauen müssen. Vielmehr bedeutet es das glatte Gegenteil.

Eine endzeitbewusste Auffassung ereilt uns aus Franken — zum zweiten Mal innerhalb der heurigen Frankonachtsreihe von Jean Paul; siehe die erste Gelegenheit, Eigenzitat:

Der gebürtige Preuße Jean Paul wird seit der Bundesrepublik Deutschland als fränkisch angesehen, weil er aus Wunsiedel stammt, das im bayerischen Regierungsbezirk Oberfranken liegt. Bei Jean Pauls Geburt 1763 lagen Wunsiedel und seine folgenden Jugendstationen Joditz, Schwarzenbach an der Saale, Rehau und Hof im hohenzollerischen Fürstentum Kulmbach-Bayreuth oder Markgraftum Brandenburg-Bayreuth im Fränkischen Reichskreis. Damit wäre Jean Paul beinhart preußischer Herkunft, was sie in Wunsiedel, wo sie ja sonst nur die Luisenburg-Festspiele und das Grab von Rudolf Heß haben, nicht mehr so gerne hören. Um es ja nicht zu einfach zu machen, fiel das Fürsten- oder Markgraftum nach dem Frieden von Tilsit am Ende des dritten Napoleonischen Krieges ans erste französische Kaiserreich. Jean Paul war also zwischen 1807 und 1810 Franzose, danach zahlte das Königreich Bayern in Gestalt von König Maximilian I. Joseph aufgrund des Pariser Vertrags 15 Millionen Francs, damit Jean Paul für den Rest seines Lebens Franke innerhalb Bayerns sein konnte.

Von dem Manne wird allenthalben die Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sey geschätzt und immer dann angeführt, wenn es zu beweisen gilt, dass er auch anders als harmlos idyllisch konnte. Das hat er sonst nur noch am Schluss seines Spätwerks Der Komet gebracht.

Und damit wir’s nicht übersehen: dazwischen noch einmal. Abermals in Dr. Katzenbergers Badereise, dieser unterschätzten Satire oder gallig gebrochenen Halbidylle, findet sich ein ganz ähnlich dröhnendes Donnerblech, bei dem man auf seine gewohnte Selbstironie nur hoffen kann.

——— Jean Paul:

Die Vernichtung

Eine Vision

aus: Dr. Katzenbergers Badereise, Mohr und Zimmer, Heidelberg 1809,
nachgestelltes III. Werkchen für Zweites Bändchen:

Jede Liebe glaubt an eine doppelte Unsterblichkeit, an die eigne und an die fremde. Wenn sie fürchten kann, jemals aufzuhören, so hat sie schon aufgehört. Es ist für unser Herz einerlei, ob der Geliebte verschwindet oder nur seine Liebe. Der Zweifler an unserer Ewigkeit leihet, wenn ein schönes Herz vor ihm auf ewig auseinanderbricht, wenigstens der Vollkommenheit desselben, um es fortzulieben, in einem höchsten Wesen Unvergänglichkeit und findet den Liebling, der unter der dunkeln Erde zusammensinkt, in einem durchbrochnen Sternbilde am Himmel wieder.

Alexandra Bochkareva Photography 2021

Der Mensch – der sich immer zu selten und andere zu oft befragt – hegt nicht nur heimliche Neigungen, sondern auch heimliche Meinungen, deren Gegenteil er zu glauben wähnt, bis heftige Erschütterungen des Schicksals oder der Dichtkunst vor ihm den bedeckten Grund seines Innern gewaltsam entblößen. Daher wird es uns leicht, die Überschrift dieses Aufsatzes kalt zu lesen oder gar die Vernichtung anzunehmen und zu begehren; aber wir zittern, wenn unser Herz uns den grausamen Inhalt des Wahns aufdeckt, daß die Erde, in die wir alle unser gesunkenes Haupt zur Ruhe legen wollen, nichts sei als der breite Enthauptungblock der blassen gebückten Menschen, wenn sie aus dem – – Gefängnis kommen. Alsdann zündet (wie öfter) die Wärme des Herzens wieder Licht in der Nacht des Kopfes an, so wie Tiere, die das Leben durch einen elektrischen Funken verloren, der in den Kopf sprang, es durch einen zweiten wiederfinden, den man in die Brust leitete.39 –

Ottomar lag im äußersten Hause eines Dorfs, aus dem man die Aussicht auf ein noch unbegrabenes Schlachtfeld hatte, an einem giftigen Faulfieber ohne Hoffnung darnieder. In jeder Nacht trieb sein heißes erschüttertes Herz das aufgelösete Blut, wie einen Höllenfluß, voll zerrissener ungeheurer Bilder vor seinem Geiste vorbei, und der dunkle reißende Strom aus Blut spiegelte den durchwühlten Nachthimmel und zerstückte Gestalten und zerrinnende Blitze ab. Wenn der Morgen kühlend wiederkam, und wenn das Gift des Fiebertarantelstichs aus dem müden Herzen verflogen war: so tobte vor ihm das unbewegliche Gewitter des Kriegs mit unaufhörlichen Blitzen und Schlägen; und diese blutigen durchbohrten Bilder standen dann in seinen mitternächtlichen Phantasien vor ihm als Leichen auf.

In der Mitternacht, die ich jetzt beschreiben will, erreichte sein Fieber die kritische und steile Höhe zwischen dem Grabe und dem Leben. Seine Augen wurden Vergrößerspiegel in einem Spiegelzimmer, und seine Ohren Hör-Röhre in einem Sprachgewölbe – sein Krankenwärter streckte Riesenglieder vor ihm aus – die wimmelnden Gestalten des übermalten Bettvorhangs wurden dick und blutrot und schossen auf und fielen in einem Schlachtgetümmel einander an – eine siedende Wasserhose zog ihn in ihren schwülen Qualm hinauf und rückte ihn brausend und wetterleuchtend über Meere weiter – und unten aus dem tiefsten Innersten krochen kleine scharfe Gespenster, die ihn schon in dem Fieber der Kinderjahre verfolgt hatten, mit klebrigen kalten Krötenfüßen an der warmen Seele herauf und sagten: wir quälen dich allemal!

Alexandra Bochkareva Photography 2021Plötzlich, als das verfinsterte Herz sich aus dem heißen Krater des Fiebers zurückrollend hinaufarbeitete, überzog die Stubendecke der gelbe Widerschein einer nahen Feuerbrunst. Sein trocknes heißes Auge starrte halb geschlossen die durchsichtigen Bilder seines Vorhangs an, die mit der fernen Lohe flatterten. Auf einmal dehnte eine Gestalt sich unter ihnen aus mit einem leichenweißen unbeweglichen Angesichte, mit weißen Lippen, mit weißen Augenbraunen und Haaren. Die Gestalt suchte den Kranken mit gekrümmten langen Fühlhörnern, die aus den leeren Augenhöhlen spielten. Sie wiegte sich näher, und die schwarzen Punkte der Fühlhörner schossen, wie Eisspitzen, wehend um sein Herz. Hier trieb es ihn mit kaltem Anhauchen rückwärts; und rückwärts durch die Mauern und Felsen und durch die Erde, und die Fühlhörner zuckten wie Dolche um seine Brust; aber wie er rückwärts sank – brach die Welt vor ihm ein – die Scherben zerschlagner Gebirge, der Schutt stäubender Hügel fiel danieder – und Wolken und Monde zerflossen wie fallender Hagel im Sinken – die Welten fuhren in Bogenschüssen über die leichenweiße Gestalt herab, und Sonnen, von ergriffenen Erden umhangen, sanken in einem langen schweren Fall danieder – und endlich stäubte noch lange ein Strom von Asche nach….

„Weiße Gestalt, wer bist du?“ fragte endlich der Mensch „Wenn ich mich nenne, so bist du nicht mehr“, sagte sie, ohne die Lippen zu regen, und kein Ernst, keine Freude, keine Liebe, kein Zorn war noch auf dem marmornen Gesichte gewesen, und die Ewigkeit ging vorüber und veränderte es nicht. Sie drängte ihn auf einen engen Steig, der aus den Erdschollen gemacht war, die unter das Kinn der Toten gelegt werden; der Weg durchschnitt ein blutiges Meer, aus welchem graue Haare und weiße Kinderfinger wie Blüten an Wasserpflanzen blickten, und er war mit brütenden Tauben und nassen Schmetterling-Flügeln und Nachtigalleneiern und Menschenherzen überdeckt. Die Gestalt zerquetschte alle durch Darüberschweben, und sie zog ihren langen grauen, auf dem weiten Blute schwimmenden Schleier nach, der aus der nassen Leinwand gemacht war, die über den Augen der Toten gelegen. – Die roten Wogen stiegen um den bangen Menschen auf, und der einkriechende Weg ging nur noch über kalte, glatte Erdschwämme und endlich bloß über eine lange kühle glatte Natter….

Er glitt herab, aber ein Wirbelwind wandte ihn herum, vor ihm breitete sich unabsehlich eine schwarze Eisscholle aus, auf der alle Völker lagen, die auf der Erde gestorben waren, starre eingefrorne Leichenheere – und tief unten im Abgrund läutete ein Erdbeben seit der Ewigkeit ein kleines geborstenes Glöckchen; es war die Totenglocke der Natur. – – „Ist das die zweite Welt?“ fragte der trostlose Mensch. Die Gestalt antwortete „Die zweite Welt ist im Grabe zwischen den Zähnen des Wurms.“ – Er blickte auf, um einen tröstenden Himmel zu suchen, aber über ihm stand ein fester schwarzer Rauch, das ausgebreitete Bahrtuch, das zwischen den Welten-Himmel und zwischen diese düstere frostige Lücke der Natur gezogen war; und der Schutthaufen der Vergangenheit dampfte aus der Tiefe auf und machte das Leichentuch schwärzer und breiter. – – Jetzo lief der Widerschein einer hinabfallenden entzündeten Welt mit einem roten Schatten über die finstere Decke, und eine ewige Windsbraut verwehte sinkende Klagstimmen herein:

„Wir haben gelitten, wir haben gehofft; aber wir werden gewürgt. – Ach Allmächtiger, schaffe nichts mehr!“

Alexandra Bochkareva Photography 2021

Ottomar fragte: „Wer vernichtet sie denn?“ – „Ich!“ sagte die Gestalt und trieb ihn unter die eingefrornen Leichenheere, unter die Larvenwelt der vernichteten Menschen. Wenn die Gestalt vor einer entseelten Maske vorüberging, so spritzte aus dem zugefallenen Auge ein blutiger Tropfen, wie ein Leichnam blutet, wenn ihm der Mörder nahetritt. Er wurde unaufhaltsam durch das stumme Trauergefolge der Vergangenheit hindurchgeführt, durch die morsche Wesenkette, durch das Schlachtfeld der Geister. Da er so vor allen eingeäscherten Geschwistern seines Herzens vorbeiging, in deren Angesicht noch die zerrissenen Hoffnungen einer Vergeltung standen – und vor den armen Kindern mit glatten Rosenwangen und mit dem erstarrten ersten Lächeln und vor tausend Müttern mit den eingesargten Säuglingen auf dem Arm – und da er sah die stummen Weisen aller Völker, mit der erloschenen Seele und mit dem erloschenen Licht der Wahrheit, die unter dem über sie geworfenen Leichentuche verstummt, wie Singvögel, wenn wir ihr Gehäuse mit einer Hülle verfinstern – und da er sah die versteinerten Leidtragenden des Lebens, die unzähligen, welche gelitten, bis sie starben, und die andern, die ein kurzes Entsetzen zerriß – und da er sah die Angesichte derer, die vor Freude gestorben waren, und denen noch die tödliche Freudenträne hart im Auge hing – und da er sah alle Frommen der Erde stehen mit den eingedrückten Herzen, worin kein Himmel und kein Gott und Gewissen mehr wohnte – und da er sah wieder eine Welt herunterfallen, und ihre Klagstimmen vorüberweheten „O! wie vergeblich, wie so nichtig ist der Jammer und der Kampf und die Wahrheit und die Tugend des Lebens gewesen!“ – und da endlich sein Vater mit der eisernen Kugel erschien, welche die Leichen des Weltmeers einsenkt, und da er aus dem weißen Augenlide eine Blutzähre drückte: so rief sein zu kaltem Grimm gerinnendes Herz: „Gestalt aus der Hölle, zertritt mich nur bald; das Vernichten ist ewig, es leben nur Sterbende und du. – Leb‘ ich noch, Gestalt?“ – –

Die Gestalt trieb ihn sanft an den Rand des immer weiter gefrierenden Eisfeldes. In der Tiefe sah er den Schutt von Gehäusen zerdrückter Tierseelen, und in den Höhen hingen zahllos die Eisstrecken mit den Vernichteten aus höheren Welten, und die Leiber der toten Engel waren oft aufrechte Sonnenstrahlen, oft ein langer Ton oder ein unbeweglicher Duft. – Bloß über der Kluft nahe dem Totenreiche der Erde stand allein auf einer Eisscholle ein verschleiertes Wesen – und als die weiße Gestalt vorüberzog, hob sich selber der Schleier auf – es war der tote Christus, ohne Auferstehung, mit seinen Kreuzes-Wunden, und sie flossen alle wieder, wegen der Nähe der weißen Gestalt! –

Alexandra Bochkareva Photography 2021Ottomar stürzte auf die brechenden Knie und blickte auf zum schwarzen Gewölke und betete: „O guter Gott, bringe mich wieder auf meine gute Erde, damit ich wieder vom Leben träume!“ und unter dem Beten flohen die roten blutigen Schatten gestürzter Erden über das weite Leichentuch aus festem Rauch. Jetzt streckte die weiße Gestalt ihre Fühlhörner verlängert wie Arme gen Himmel und sagte: „Ich ziehe die Erde herab, und dann nenne ich mich dir.“

Indem die Fühlhörner mit ihren schwarzen Enden immer höher stiegen und zielten, wurde ein kleiner Spalt des Gewölkes licht; dieser riß endlich auseinander, und unsere taumelnde Erde sank fliehend hindurch, gleichsam zum ziehenden greifenden Rachen einer Klapperschlange herab. Und indem die umnebelte Kugel näher fiel, regnete es Blut und Tränen auf ihr in ihr rotes Meer, weil Schlachten und Martern auf ihr waren.

Die graue enge Erde schwankte durchsichtig mit ihren regen jungen Völkern nahe über den starren toten Völkern – ihre Achse war ein langer Sarg aus Magnetstein mit der Überschrift: Die Vergangenheit; und im Erdkern schwebte ein rundes Feuer, das den Schlüssel des langen Sarges schmolz – die Lilien- und Blütenbeete der Erde waren Schimmel – ihre Fluren waren die grüne Haut auf einer festen Moderlache – ihre Wälder waren Moose und ihr spitzer Alpengurt ein Stachelrad, ihre Uhren schlugen in einem fort aus, und die Stunden wurden eilig Jahrhunderte, und kein Leben dehnte die Zeit aus – man sah die Menschen auf der Erde wachsen und dann rot und lang werden und dick und grau sich bücken und hinlegen. Aber die Menschen auf der Erde waren sehr zufrieden. – Auf ihr sprang wohl der Todesblitz regellos unter den sorglosen Völkern umher, bald auf das heiße Mutterherz, bald auf die glatte runde Kinderstirn, bald auf die kalte Glatze oder auf die warme Rosenwange. Aber die Menschen hatten ihren sanften Trost; die sterbenden Geliebten, die begrabenden und die weinenden Augen hingen leicht an den brechenden, Freund an Freund, Eltern an Kindern, und sie sagten „So zieht nur hin, wir kommen ja wieder zusammen hinter dem Tode! und scheiden nicht mehr.“

„Ich will dir zeigen,“ sagte die Gestalt, „wie ich sie vernichte.“ Ein Sarg wurde durchsichtig – im weichen Gehirn des darin zusammenfallenden Menschen blickte noch das lichte Ich, vom Moder überbauet, von einem kalten finstern Schlaf umwickelt und vom zersprungenen Herzen abgeschnitten. Ottomar rief: „Lügende Gestalt, das Ich glimmt noch – wer zertritt den Funken?“ – Sie antwortete „Das Entsetzen! – Sieh hin!“ Eine Dorfkirche hatte sich gespaltet: ein bleierner Sarg sprang auf, und Ottomar sah seinen Körper darin abbröckeln und das Gehirn bersten; aber kein lichter Punkt war im offenen Haupte. Nun machte die Gestalt ihn starr und sagte „Ich habe dich aus dem Gehirn herausgezogen – du bist schon lange gestorben“ – und umgriff ihn schnell und schneidend mit den kalten metallenen Fühlhörnern und lispelte: „Entsetze dich und stirb, ich bin Gott“…

Alexandra Bochkareva Photography 2021

Da stürzte eine Sonne herein, die den weiten Himmel einnahm, zerschmelzte die Eiswüste und das Larvenreich und flog ihren unendlichen Bogen brausend weiter und ließ eine Flut von Licht zurück, und der durchschnittne Äther klang mit unermeßlichen Saiten lange nach. Ottomar schwamm im Äther, rings mit einem undurchsichtigen Schneegestöber aus Lichtkügelchen übergossen; zuweilen schnitt der Blitz einer fliegenden Sonne durch die weiße Nacht hinab, und eine sanfte Glut wehte dann vorüber. Der dichte weite Lichtnebel wallete auf den Tönen des Äthers, und seine Wogen bewegten den Schwebenden. Endlich sank der weite Nebel in Lichtflocken nieder – und Ottomar sah die ewige Schöpfung rings um sich liegen, über ihm und unter ihm zogen Sonnen, und jede führte ihre blumigen Erdenfrühlinge an sanften Strahlen durch den Himmel.

Alexandra Bochkareva Photography 2021Der zusammengesunkene Sonnenduft wallete schon weit im Äther als eine blitzende Schneewolke hinab, aber den Sterblichen hielt noch im Himmelblau ein langer Lautenton auf seinen Wellen empor: da hallete es plötzlich durch den ganzen grenzenlosen Äther hindurch, als liefe die allmächtige Hand über das Saitenspiel der Schöpfung hinüber. In allen Welten war ein Nachklang wie Jauchzen; unsichtbare Frühlinge flogen mit strömenden Düften vorüber; selige Welten gingen ungesehen mit dem Lispeln einer übervollen Wonne nahe vorbei; neue Flammen flatterten in die Sonnen; das Meer des Lebens schwankte, als höbe sich sein unermeßlicher Boden; ein warmer Sturm wühlte Sonnenstrahlen und Regenbogen und Freudenklänge und Wolken aus Rosenkelchen untereinander. – Auf einmal wurd‘ es in der Unermeßlichkeit still, als stürbe die Natur an einem Entzücken – ein weiter Glanz, als wenn der Unendliche durch die Schöpfung ginge, lief über die Sonnen, über die Abgründe, über den bleichen Regenbogen der Milchstraße und über die Unermeßlichkeit – und die ganze Natur bewegte sich in einem sanften Wallen, wie sich ein Menschenherz bewegt und hebt, wenn es verzeihen will – -Da tat sich vor dem Sterblichen sein Innerstes wie ein hoher Tempel auf, und im Tempel war ein Himmel, und im Himmel eine Menschengestalt, die ihn anblickte mit einem Sonnenauge voll unermeßlicher Liebe. Sie erschien ihm und sagte: „Ich bin die ewige Liebe, du kannst nicht vergehen“; und sie stärkte das zitternde Kind, das vor Wonne sterben wollte. Der Sterbliche sah durch heiße Freudentränen dunkel die unnennbare Gestalt – ein nahes warmes Wehen schmelzte sein Herz, daß es zerfloß in lauter Liebe, in grenzenlose Liebe – die Schöpfung drang erblassend, aber nah an seine Brust- und sein Wesen und alle Wesen wurden eine einzige Liebe – und durch die Liebetränen schimmerte die Natur als eine blühende Aue herein, und die Meere lagen darauf wie dunkelgrüner Regen, und die Sonnen wie feuriger Tau – vor dem Sonnenfeuer des Allmächtigen stand die Geisterwelt als Regenbogen, und die Seelen brachen, von einem Jahrtausend ins andere tropfend, sein Licht in alle Farben, und der Regenbogen wankte nie und wechselte nur die Tropfen, nicht die Farben. –

Der Alliebende schaute an seine volle Schöpfung und sagte: „Ich lieb‘ euch alle von Ewigkeit – ich liebe den Wurm im Meer und das Kind auf der Erde und den Engel auf der Sonne. – Warum hast du gezagt? Hab‘ ich dir nicht das erste Leben schon gereicht und die Liebe und die Freude und die Wahrheit? Bin ich nicht in deinem Herzen?“ – – Da zogen die Welten mit ihren Totenglocken vorüber, aber wie mit einem Kirchengeläute von Harmonikaglocken zu einem höheren Tempel, und alle Klüfte waren mit Kräften und jeder Tod mit Schlaf gefüllt.

Alexandra Bochkareva Photography 2021

Nun dachte der Überglückliche, sein dunkles Erdenleben sei auch geschlossen; aber tief unten stieg die in Gewölk gekleidete Erde herauf und zog den Menschen aus Erde wieder in ihre Wolken hinein. Der Alliebende hüllte sich wieder in das All. Aber ein Schimmer lag noch auf einem langen Eisgebirge weit hinter den Sonnen. Die hohen Eisberge flossen am Schimmer strahlend auseinander, gebückte Blumen flatterten angeweht über die zerschmolzene Mauer auf, ein unabsehliches Land lag aufgedeckt im Mondlicht weit ins Meer der Ewigkeit hinein, und er sah nichts darin als unzählige Augen, die herüberblickten und seligweinend glänzten, wie ein Frühling voll warmen Regens unter der Sonne funkelt, und er fühlte am Sehnen und am Ziehen seines Herzens, daß es alle seine, daß es alle unsere Menschen waren, die gestorben sind.

Alexandra Bochkareva Photography 2021Der Sterbliche blickte, schneller auf die Erde zufallend, mit erhobenen betenden Händen nach der Stelle im Himmelblau empor, wo der Unendliche seinem Herzen erschienen war – und ein stiller Glanz hing unverrückt an der hohen Stelle. Und als er noch schwerer den erleuchteten weichenden Dunst unserer Kugel betrat und zerteilte: stand noch immer der Glanz im Äther fest, nur tiefer an der umrollenden Erde….

Und da er unsern kalten Boden berührte, erwachte er; aber der feste Glanz stand im blauen Osten noch und war die – Sonne.

Der Kranke stand unten im Garten, der erste herbe giftige Traum hatte ihn hinabgedrängt – die Morgenluft wehte – das Feuer war gelöscht – sein Fieber war geheilt und sein Herz in Seelenruhe.

Und wie die Qual des Fiebers den höllischen, und der Sieg der Natur den himmlischen Traum geboren; und wie wieder der folternde Traum den Scheidepunkt, und der labende die Genesung beschleunigt hatte: so werden auch unsere geistigen Träume unsere Seelenfieber nicht bloß entzünden, sondern auch kühlen und heilen, und die Gespenster unseres Herzens werden verschwinden, wenn wir von seinen Gebrechen genesen.

Alexandra Bochkareva Photography 2021

Bilder kommen wie in meiner liebsten Entdeckung 2021, was den Primärtext wie die Photographin angeht, von Alexandra Bochkareva aus Taschkent, Usbekistan, die in Sankt Petersburg wirkt, von dort aus ja wohl die Fotos des Jahrhunderts inszeniert und mit ihrem Blick wie nebenbei auch unseren schärft. Auf den subarktischen Wald Nordrusslands mit dessen zwei- und mehrbeiniger Fauna zum Beispiel.

Das Bildmatrerial bringt Beispiele aus ihren Projekten, die sie 2021 seit unserer ersten Empfehlung mit Wilhelm Raabe verwirklicht hat. Außer sie hat schon vorher so tolle gemacht, dass man sie nicht auslassen konnte.

Umweltrettung, Nachhaltigkeit, ästhetische Schulung. Wenn die Apokalypse so aussieht, weiß ich, mit wem ich sie erleben will.

Alexandra Bochkareva Photography:

  1. Deep River Song, 24. August 2021;
  2. Olga Moskvina & Helga, rescued baby Fox, 7. Dezember 2020;
  3. Girl With a Fox Tattoo, 28. August 2021;
  4. Northern Forest Tales;
  5. Foxy Tales, 14. August 2021;
  6. Totems, 25. Februar 2021;
  7. Meet Me in the Woods;
  8. Redheads‘ Stories, 21. März 2021;
  9. Rowan Queendom, 27. September 2021
  10. und eins von behind the Scenes.

In diesem Sinne steh Gott uns bei im neuen Jahr.

Soundtrack: Beethoven: der zweite Satz, Allegretto aus der Siebten,
für: Knowing – Die Zukunft endet jetzt, 2009:

Das Ende, und wenn’s nur das Jahresende ist, sollte versöhnlich sein:

——— The McCalmans:

New Year’s Eve Song

aus: Honest Poverty, 1993:

Alexandra Bochkareva Photography 20211. I have seen you tossing restless
     between midnight and day,
Paying back the debts of many years,
Staring out the window
     till the mist has burned away,
Waiting for the sun to dry your tears.
I’ve seen you young, I’ve seen you old,
I’ve seen you lost and found,
I’ve seen you sit and cry without a sound.

2. I have seen you in the lamplight
     with the hard lines in your face,
And the shadows of your fears upon the wall.
But crying is no weakness
     and to lose is no disgrace,
You see we’re not so different after all.
But can’t you tell, by the ringing bell,
Then old year’s moving on,
I’d like to say one thing before it’s done.

3. May whatever house you live in
     have flowers round the door,
And children in the bed to keep you warm,
May the people there accept you
     for what you really are,
And help you find some shelter in the storm.
And morning rain, to ease the pain,
That comes with being free,
May the new year bring you freedom peacefully.

Written by Wolf

31. Dezember 2021 at 00:01

Frankonachten 4/5: Es ist alles noch in Dir

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Update zu 3. Stattvent: Sie haben kein Geld nicht besessen:

Weihnachten ist ja immer auch was mit Heimat. Bei mir ist das Franken, eine kulturelle und historische Landschaft, die mich nie ganz in Ruhe lassen wird.

In Erlangen zum Beispiel, kreisfreie und Universitätsstadt, einem populären Gerücht zufolge erbaut auf dem Firmenparkplatz von Siemens, hab ich studiert; lange Geschichte. Das Beste, was mir dabei passiert ist, war meine Lieblingsbuchhändlerin Annemarie; lebt auch schon nicht mehr. Die gab mir nicht nur unter der Ladentheke die 40 % Buchhandelsrabatt weiter, soff manche Nacht mit mir durch, und zwar mehr als ich, und machte mir mit ihrer unschlagbaren Logik klar, warum sich richtige Damen, die auf sich halten, die Zehennägel in dem extraschweren Dunkelrot von Margaret Astor lackieren müssen (soll ich’s sagen? –: weil man damit viel ausdrucksvollere Grimassen mit den Füßen schneiden kann. Und jawohl, mein Lieber: auch im Winter. Gerade im Winter, aber „des verstehst du ned“), und warum ich mein Studium sehr wohl noch abschließen würde (soll ich’s sagen? –: „Weil du musst!“), sondern brachte auch einmal einen schmalen, mittig gefalzten Stapel Fotokopien an: Die Harmonie der Welt. Lyrik eines Landstreichers, die sie einem Sandler am Hugo abgekauft haben wollte.

Soviel man über das Geschäftsgebaren des Künstlers weiß, der immer nur „einen Taler vielleicht“ verlangte, „was es dir wert ist“ oder dergleichen, und über den Eigentumsbegriff von Annemarie, die sich mit 31 Jahren an die Welt verschenkt hatte, schätze ich sie auf fünf Mark.

Portrait Uwe SchadeMan weiß nicht viel über den Dichter. Annemarie beschrieb ihn als eine Art Mischung aus Jean Pütz und dem Glücksdrachen Fuchur. Selber gesehen hab ich ihn nur flüchtig, weil er am Hugo seinen Platz auf der anderen Seite einnahm, als auf der ich am Bahnhof zum Gleis 4 musste. Das von Annemarie vermittelte Buch in seiner Gestalt nicht aus einem Verlag, sondern einem Kopierladen hab ich noch.

Geboren wurde er nach manchen Quellen 1931, nach anderen 1923, war Schriftsetzer in der DDR, obdachlos freiwillig, tot aufgefunden wurde er 2009 in Luzern, die wenigen Augenzeugenberichte über ihn finden sich verstreut – Anlaufstellen sind Wilhelm Klingholz und der Zenartblog – und äußern sich durchgehend tief beeindruckt. Beispiele:

Im März 1996 lief ich durch die Fußgängerzone in Mannheim, als ich ihn sitzen sah: einen Landstreicher mit einem Hut vor sich und einem Heft, das er selbst kopiert hatte, darauf stand:
„Die Harmonie der Welt“.
Ich fragte ihn, wieviel das Büchlein kosten würde.
„Soviel es Dir wert ist.“
Im Gegensatz zu den Menschenmassen um mich herum machte dieser Mensch einen sehr ruhigen und zufriedenen Eindruck. Er war einer der wenigen Landstreicher, die ich sah, von dem ich glaubte, daß er seinen Weg selbst gewählt hatte.
Zuhause las ich ein wenig in dem Werk, es erinnerte mich ein wenig an Lao-Tse. Ich zeigte es ein paar Freunden, denen die Texte auch auch gefielen.
Aber noch mehr als seine Lyrik hatte mich die Ausstrahlung des Mannes beeindruckt. Als ich erfuhr, daß er das Honorar seines Werkes für Straßenkinder Nepals spendete, wunderte mich das nicht. Denn mir war von Anfang an klar:
dieser Mensch lebt seine Lyrik!

Amazon Customer: Eine Begegnung, die mich nachdenklich machte,
Kundenrezension auf Amazon.de, 4. Juni 2003.

Vor vielen Jahren hielt ich im Ulmer Buchladen Eichhorn einen Vortrag. Zuvor machte ich einen Stadtbummel und schlenderte am Rand des Münsterplatzes an Geschäften entlang. Plötzlich sah ich einen Rucksack und davor einige Hefte und einen Hut liegen. „Lyrik eines Landstreichers“ las ich auf der Titelseite, hob ein Heft auf und blätterte darin. Da hatte sich ein Obdachloser alles von der Seele geschrieben, intensive persönliche Gedanken und Erfahrungen. Ich legte das Heft zurück und als ich weitergehen wollte, sah mich ein Ehepaar enttäuscht an: „Wir dachten Sie sind der Landstreicher!“ Ich schüttelte den Kopf und ging in Richtung Fußgängerzone. Auf dem Rückweg sah ich, wie ein grauhaariger älterer Mann den Rucksack schultert und in Richtung Münster geht. Ich eile ihm nach, in einer gewissen Neugierde, und spreche ihn an: „Als ich vorhin Ihre Lyrik las, da wurde ich mit Ihnen verwechselt, da dachten andere Menschen, ich sei der Landstreicher.“ Nur kurz dreht er den Kopf und sagt im Laufen. „Das war keine Verwechslung!“ Mir bleibt nur die Verblüffung und ein befreiendes Lachen. […]

Nachtrag:
Monate später sehe ich im Schweizer Fernsehen, daß ein Berner Verlag den Landstreicher sucht, da dieser dessen Lyrik in einem Büchlein verlegt und bereits über sechshundert davon verkauft hat. Ihm stehen die Tantiemen zu. […]

Dieser „Landstreicher“, ein ehemaliger Schriftsetzer aus der DDR, der alles zurückgelassen hat, nur mit Rucksack und Fahrrad durch Europa radelt, ist für mich ein heute lebender Laotse. Denn seine Lyrik geht tief und beschreibt in einfachen Gedanken das unfassbare. […]

P. Burger: Sehr empfehlenswert !!, Kundenrezension auf Amazon.de, 13. September 2014.

Uwe Schade ist mehr als die Hälfte seines Lebens als Landstreicher durch viele Länder der Erde gewandert. Die „Harmonie der Welt“ schrieb er als EIN Gedicht. Es entstand nach eigenen Angaben in wenigen Stunden ohne ein einziges Wort nachtäglicher Korrektur. Es ist sein Vermächtnis. Der Autor ist 2009 verstorben. Seine Lebensweisheiten aus einem langen, unsteten – aber reichen – Leben hat er in diesem Büchlein in knappen Sätzen zusammengefasst.

Verlagstext Schillinger Verlag, Freiburg im Breisgau 2001.

Wann genau er seine einzige bekannt gewordene Gedichtsammlung, die sich als ein einziges Gedicht versteht, „in wenigen Stunden ohne ein einziges Wort nachtäglicher Korrektur“ geschrieben hat, ist nicht zu rekonstruieren – offenbar schon nicht mehr im Status eines Schriftsetzers, aber mit wenigstens einigen Stunden Zugang zu einer mechanischen Schreibmaschine. Wenn er seine Obdachlosigkeit, wie wir anhand seines besonders friedliebenden Charakters annehmen dürfen, nicht als „Republikflüchtling“, sondern ganz ordentlich nach Grenzöffnung der DDR aufgenommen hat, um all die Länder aufzusuchen, die ihm als DDR-Bürger verschlossen waren, mag er sein kurzes, anrührendes Vermächtnis um 1990 niedergeschrieben haben, um es gelegentlich zum Verkauf zu kopieren und unverändert bis zu seinem Tod 2009 zu ihm zu stehen. Mein Exemplar, das im Herbst oder Winter 1992 entstanden sein muss, entstammte demnach einer recht frühen Auflage.

Das muss im schneetreibenden Wintersemester 1992/1993 gewesen sein. Bis heute habe ich Annemarie im Verdacht, Herrn Schade am Heiligabend 1992 bei sich zu Hause im unweit gelegenen (Bus 294) Spardorf beherbergt zu haben, an den wenigen Heiligen Abenden, die wir uns kannten, war sie sowieso nie für mich ansprechbar. Ich selber nutzte die Tage „zwischen den Jahren“, um für den Sprachatlas von Mittelfranken ein paar Ortsbefragungen wegzucodieren – wozu hatte ich wohl sonst die Schlüssel? – und mir hinterher in meiner bevorzugten Erlanger Gastronomie das eine oder andere Bier in den Kopf zu stellen. Wenn ich hinterher zum letzten Zug von Gleis 4 strebte, war der Landstreicher samt seiner Lyrik schon verschwunden, ebenso beim nächsten Tageslicht. Annemarie, befragt, meinte dazu:

„Seh ich aus, als ob ich Männer mit nach Hause nehm?“

„Die Frage ist“, sagte ich, „wie die Männer aussehen.“

Sie lachte ob der rhetorischen Figur und dachte nach, um zu befinden:

„Depp.“

Genauer werden wir es aufgrund des Ablebens aller Beteiligten und komplett fehlender Dokumentationslage nie erfahren. Deshalb dürfen wir davon ausgehen, dass es stimmt. Was auch vollständig in Ordnung ist, denn wohin es führt, wenn Herbergssuchende am Heiligen Abend ständig nur abgewiesen werden, haben wir zur Genüge erlebt. Warum soll da nicht einmal eine mildtätige Maria einem streunenden Josef ein Essen ausgeben?

Was das mit Weihnacht in Franken, Christkindlesmarkt, Zwetschgamännla, Drei in amm Wegglä und besinnlichen Adventsliedern vom Hutzeldorfer Viergsang zu tun hat? Ach Gott, „Einst war in Deinem Fühlen die ganze Welt // Hast Du sie weggeschmissen ?“

——— Uwe Schade:

Die Harmonie der Welt

Lyrik eines Landstreichers

o. J., in wenigen Stunden ohne Korrektur, Schillinger Verlag, Freiburg im Breisgau 2001:

Header Die Harmonie der Welt

01

Cover Die Harmonie der Welt, Lokwort 1999Dein Schicksal überrascht Dich nicht
Denn Du bist Dein Schicksal
Deine Begegnungen wundern Dich nicht
Denn Du bist nicht getrennt von ihnen
Dein Tod schreckt Dich nicht
Denn Du bist tausendmal gestorben .

Deine Bewegungen sind die Bewegungen der Welt
Deine Verwandlungen sind die Verwandlungen der Welt
Dein Stillstehen ist nur ein Schein
Dein Sterben ist nur ein Wort .

Du meinst Du seiest etwas Bestimmtes
Doch Du bist eine Welle im Weltenmeer
Du meinst Du seiest selbstständig
Doch Du bist der Treffpunkt von hunderttausend Kräften
Du meinst Du kannst Dich lenken
Weil Du nicht siehst was Dich zieht und treibt
Du meinst Du müßtest etwas tun
Doch Deine Anstrengung ist nur Widerstand .

~~~\~~~~~~~/~~~

02

Hast Du Schmerzen, lauf nicht davon
Hast Du Hoffnungen, halt sie nicht fest
Suchst Du die Freiheit, bindet Dein Suchen Dich
Ergreifst Du das Gute, ist Dein Greifen das Böse .

Weil Du unglücklich bist, strebst Du
Weil Du Angst hast, denkst Du
Doch Dein Streben wird kein Glück
Dein Denken wird keine Ruhe .

Du suchst eine Zuflucht
Doch es gibt keinen Schutz
Du suchst einen Ausweg
Doch es gibt keine Öffnung .

In Deiner Rede reden tausend Menschen
In deinem Gang gehen Lurche und Pferd
Aus Deinen Augen blicken Vogel und Reh
Deiner Hände Greifen ist das Greifen der Steinzeitmenschen .

~~~\~~~~~~~/~~~

03

Dein Fühlen ist Wahrheit
Dein Vorstellen ist Schein
Du jagst nach dem Schein
Und die Wahrheit verfolgt Dich .

Du hast Schmerz an der Welt
Und suchst Trost im Vergnügen –
Sie schnitten mit Messern durch Deine Seele
Und trösteten Dich mit Süßigkeiten .

Deine Augen machen aus tausend Strahlen eine Farbe
Deine Ohren machen aus tausend Schwingungen einen Ton
Deine Hände fühlen in tausend Bewegungen einen Körper
Dein Denken macht aus tausend Wahrnehmungen eine Idee .

Dein Wahrnehmen ist gefilterte Welt
Dein Denken ist gefilterte Wahrnehmung
Dein Streben ist gefiltertes Denken –
Was ist es, das Du da greifst ?

~~~\~~~~~~~/~~~

04

Des kreisenden Vogels Spähen gilt nur der Beute
Des Rehes Lauschen gilt nur der Gefahr
Des Hundes Schnüffeln gilt nur den Reizen
Deiner Gedanken Umherlaufen gilt nur der Befriedigung .

Du gehst zu den Lustigen
Doch ihr Lachen ist ohne Freude
Du suchst den Reichtum
Doch er lastet auf Deiner Seele
Du suchst den Erfolg
Doch der Glanz blendet Dich
Du gehst zu den Weisen
Doch ihre Weisheiten sind Gefäße ohne Böden
Du rufst Deinen Gott
Und hörst nur Dein Echo
Du fliehst die Stille
Doch Dein Schreien will niemand hören
Du suchst den Tod
Doch Dein Suchen ist das Leben –
Was Du suchst, erreichst Du nicht
Was Du fliehst, verläßt Dich nicht .

~~~\~~~~~~~/~~~

05

Ist jeder Halt zerbrochen
Fällst Du nicht um
Ist jedes Haus zerstört
Fällt Dich nichts an
Ist jeder Wunsch vergiftet
Reißt Dich nichts fort
Ist Alles verloren
Kommt die Welt zu Dir .

Die Welt ist offen
Du suchst zu schließen
Die Welt ist verbunden
Du suchst zu trennen
Die Welt ist Verwandlung
Du versuchst die Form .

In Deiner Mitte fühlst Du die Welt
Mit Deinen Sinnen veränderst Du die Welt
Mit Deinem Denken fliehst Du die Welt
In Deinem Streben zerstörst Du die Welt .

~~~\~~~~~~~/~~~

06

Du zwingst die Stoffe in Deine Form
Doch sie zerfallen
Du zwingst Deine Kinder in Deine Form
Doch sie wenden sich gegen Dich
Du zwingst die Gesellschaft in Deine Form
Doch Menschen werden das nicht
Du zwingst Dich selber in Deine Form
Und sie zerbricht Dich .

Die Strahlen der Welt durchdringen Dich
Die Schwingungen der Welt erschüttern Dich
Die Kräfte der Welt bewegen Dich –
Dein Reden von Freiheit betrügt Dich .

Du redest von Freiheit
Und Dein Motiv ist Zwang
Du redest von Sicherheit
Weil Du sie suchst
Du redest von Unabhängigkeit
Und wartest auf Beifall –

Du kannst nichts Böses tun
Denn Du bist die Konstellation
Von hunderttausend Konstellationen .

~~~\~~~~~~~/~~~

07

Du hast den Mut in den Weltraum zu fliegen
Doch Du zitterst vor Gespenstern
Du beherrschst Atome und Raketen
Doch Dein Denken beherrscht sich nicht
Du ordnest das Leben von Völkern
Doch Deine Gedanken ordnen sich nicht
Du verfügst den Tod anderer Menschen
Und weißt nicht ob Du nicht an Dir selbst zerbrichst .

Die Mechanik Deiner Logik täuscht Dich
Lebendiges bewegt sich nicht gradlinig
Materie bewegt sich nicht beziehungslos
Kannst Du ungradlinige Bewegung verstehen
Kannst Du allseitigen Bezug sehen
Ist die Mechanik Deiner Logik zu Ende .

Du bewahrst Deine Täuschung
Und erlebst Deine Macht
Du bewahrst Illusion –
Und fühlst Deine Ohnmacht .

~~~\~~~~~~~/~~~

08

Du redest von Fortschritt
Und bewegst Dich auf der Stelle
Du machst Revolutionen
Und wiederholst die Unterdrückung
Du glaubst an das Neue
Und Dein Denken orientiert sich beim Alten
Du strebst nach vorn
Und schaust nach hinten .

Dein Lebensbaum erhebt sich aus dem Dunkel der Welt
Du schaust Deine Krone an
Und fühlst Deine Wurzeln
Zwischen beiden spannt sich Dein Leben –
Du hängst an dem einen
Und meidest das andere .

~~~\~~~~~~~/~~~

09

Willst Du in der Welt ruhen
Mußt Du den Geschmack der Welt lieben
Willst Du den Geschmack der Welt lieben
Mußt Du ihn kennenlernen
Willst Du ihn kennenlernen
Mußt Du feinfühlig werden
Willst Du feinfühlig werden
Mußt Du allen Widerstand aufgeben
Willst Du allen Widerstand aufgeben
Mußt Du auf dem Fleck sitzenbleiben
Mußt stehenbleiben, wo Du stehst –
Das Festgehaltene weicht von Dir
Das Unterdrückte gesellt sich zu Dir
Dein Ich stirbt tausend Tode
Die Welt wird in Dir geboren .

In Deinem Widerstehen spannt sich die Welt
In Deinem Streben erhebt sich die Welt
In Deinem Wirken verwandelt sich die Welt
In Deinem Sterben entspannt sich die Welt

In Spannung und Entspannung erklingt
Die Harmonie der Welt .

~~~\~~~~~~~/~~~

10

Du greifst nach Reichtum und verurteilst die Diebe
In beidem wirkt Dein Widerstand
In beidem wirkt die Spannung der Welt
Du baust Atombomben und verfluchst ihre Wirkung
In beidem wirkt Dein Widerstand
In beidem wirkt die Spannung der Welt
Du baust eine Welt und hast Angst vor Zerstörung
In beidem wirkt Dein Widerstand
In beidem wirkt die Spannung der Welt
In Dir erhebt sich ein Ich und sucht sein Heil
In beidem wirkt Widerstand und die Spannung der Welt .

Das Böse ist nur ein Schein
Im Spiegel Deiner Moralen
Zerstörung ist nur ein Schein
Im Spiegel Deines Formens
Verlieren ist nur ein Schein
Im Spiegel Deines Ergreifens
Dein Weilen ist nur ein Schein
Im Fluss der ewigen Begegnung .

~~~\~~~~~~~/~~~

11

Die Arbeit Deiner Sinne ist Ergreifen und Widerstand
Drum entstehen Schönes und Häßliches
Wohlklang und Mißklang, Schmackhaftes und Schmackloses
Die Arbeit Deines Denkens ist Ergreifen und Widerstand
Drum entstehen Verstehen und Nichtverstehen .

Dein Lieben ist Nichtergreifen
Dein Sterben ist Nichtergreifen
Dein Weltoffensein ist Nichtergreifen –
Diesem gilt Deine verborgene Sehnsucht .

Deine Zellen sind permanenter Austausch
Dein Blut ist permanenter Fluss
Dein Hirn ist permanente Reaktion
Deine Idee ist der Versuch, alles anzuhalten .

Die Basis Deines Ideenturmes ist Dein Widerstand
Die Steine Deines Ideenturmes sind Deine Vorstellungen
Der Mörtel ist Dein Ergreifen
Die Spitze ist Dein ICH .

~~~\~~~~~~~/~~~

12

In Deinem Spiel erscheinen Möglichkeiten
Dein Denken erkennt diese Möglichkeiten
Dein Streben ergreift diese Möglichkeiten
Dein Leben wird abhängig von diesen Möglichkeiten .

Deine Gedanken ruhen sich aus
Wenn sie von einem Buch geführt werden
Wenn sie von einem Spiel amüsiert werden
Wenn sie in einer Aufgabe diszipliniert werden
Wenn sie in einen Traum entlassen werden
Deine Gedanken ruhen sich aus
Wenn sie von Dir nicht festgehalten werden .

Wenn das Leben an sich selber leidet
Heilt sich das Leben
Schiebt sich eine Vorstellung dazwischen
Bleibt Dein Leiden steril .

~~~\~~~~~~~/~~~

13

Du willst Deinen Schmerz nicht sehen
Denn Du schaust lieber die Heilmittel an
Du wagst Deine Qual nicht zu bekennen
Denn Du meinst Du müßtest ihr Meister sein
Du wagst nicht, Deinen Gott zu verfluchen
Denn Du denkst er müßte Dein Ebenbild sein
Du willst nicht zur Wurzel gehen
Denn dort bist Du klein .

Du sagst Du magst dieses Essen nicht
Es ist Dein Geschmack den Du nicht magst
Du sagst Du magst dieses Wetter nicht
Es ist Deine Erwartung die Du nicht magst
Du sagst Du magst diese Gesellschaft nicht
Es ist Deine Anschauung die Du nicht magst
Du sagst, wenn Du es wagst, Du magst diese Welt nicht
Es ist der Geschmack von Dir selber, den Du dann wahrnimmst .

Du meinst Du kannst wie ein Kindlein bleiben
Daß Du das denkst, zeigt, daß Du es nicht bist
Du meinst Du kannst ohne Ideen bleiben
Was Du da denkst, ist eine Idee
Du meinst Du kannst ohne Absturz bleiben
Wenn DU das hoffst, ist er Dir nahe .

~~~\~~~~~~~/~~~

14

In Deinem Leib entwickelt das Lebendige Härte
Um, zerbrechend, heimzukehren in die Verwandlung
In Deinen Ideen entwickelt das Lebendige Verirrung
Um, zerbrechend, heimzukehren in die Wahrheit
In der Menschheit entwickelt das Lebendige Brutalität
Um, zerbrechend, heimzukehren in die Schönheit .

Du mußt gewaltig irren
Um die Wahrheit tief zu erfahren
Du mußt gewaltig triumphieren
Um Deine Nichtigkeit zu erfahren –
Glaubst Du, Du kannst eines Menschen Weg abkürzen ?

Du rückst die Stoffe zurecht
Und Deine Mühe nimmt kein Ende
Du rückst die Kreaturen zurecht
Und Dein Töten nimmt kein Ende
Du rückst die Welt zurecht
Und die Zerstörung kommt auf Dich zurück.
Kannst Du ein Spinnennetz nachmachen ?

~~~\~~~~~~~/~~~

15

Cover Die Harmonie der Welt, Schillinger 2001So, wie Du diesen Augenblick erlebst
Will das Lebendige in Dir den Augenblick erleben
So, wie die Menschheit diesen Augenblick erlebt
Will das Lebendige in der Menschheit sich erleben .

Verdammst Du einen Gedanken in Dir
Verdammst Du eine Lebende Zelle
Verfluchst Du ein Gefühl in Dir
Verfluchst Du lebendiges Blut
Verurteilst Du einen Schuldigen
Dann verurteilst Du einen Menschen
In dem Dein Gedanke Fleisch und Dein Gefühl Blut wurden .

Deine Häuser sperren Dich ein
Dein Wissen kettet Dich an
Deine Wünsche zerren Dich umher
Doch Leben ist Bewegung aus sich selbst
Dein Atem wird nicht von Dir gemacht
Dein Feuer wird nicht von Dir entfacht
Dein Wirken wird nicht von Dir verursacht
Denn Leben ist Bewegung aus sich selbst .

~~~\~~~~~~~/~~~

16

Mal zerschlägst Du den Stein
Mal zerschlägt er Dich
Du siehst Deine Farbe aus dem übrigen Grau hervorstechen
Doch unterschiedlos ist der Allzusammenhang .

Wird Lebendiges gereizt
Wächst Widerstand oder Begehren
Werden Menschen gereizt
Wächst das Ich
Ist das Ich stark
Ist die Blindheit groß
Und die Zerstörung nimmt kein Ende.
Drum mußten die, die Menschen verändern wollten
Vor ihnen fliehen
Drum wurden die Worte derer,
Die den Menschen etwas Gutes verhießen
Die Quelle endloser Zerstörung –
Weil das Ich gestärkt wurde .

Hast Du etwas im Auge, sieht Dein Auge nicht klar
Hast Du Dein Denken gebunden, ist es unbeweglich
Ist Dein Ich stark
Ist Deine Orientierung schwach .

~~~\~~~~~~~/~~~

17

Die Gnade Deiner Krankheit ist
Daß sie Dich Dein Kranksein nicht sehen läßt
So bleibt Dir großer Schmerz erspart
Der Fluch Deiner Krankheit ist
Daß sie Dich Dein Kranksein nicht sehen läßt
So bleibt Dein Kranksein bewahrt.
Doch wenn Lebendiges an sich selbst leidet
Geht es aus allem heraus .

Entsteht in Deiner Mitte das Gefühl von Mangel
Bewirkt es an Deinen Rändern Ergreifen
Die Augen suchen reizvolle Bilder
Die Ohren reizvollen Klang
Der Gaumen reizvollen Geschmack
In Deinem Denken entstehen reizvolle Vorstellungen.
Bleibst Du in der Mitte
Erfüllt sie sich selbst .

Binden leibliche Freuden Dich
Wird in leiblichen Freuden Lebendiges sich entspannen
Binden Worte und Bücher Dich
Wird im Gebrauch von Worten Lebendiges sich entspannen
Binden Mystik und Glauben Dich
Wird in Mystik und Glauben Lebendiges sich entspannen
Binden hoch und niedrig Dich
Wird im Höherstreben Lebendiges sich entspannen
Will Dir jemand Deine Fesseln abnehmen
Wirst Du Dich zur Wehr setzen
Niemand ist gern seines Erlösungsmediums beraubt.
Doch will Lebendiges sich befreien
So wird es geschehen –
Du aber kannst das Atmen Deiner Seele nicht verändern .

~~~\~~~~~~~/~~~

18

Es ist so schwer
Aus dem Schein der Macht
Hinabzusteigen in die Wahrheit der Ohnmacht
Du bist süchtig wie ein Moskito
Der für einen Tropfen Blut alles riskiert
Du bist geblendet, weil Du sagen kannst
„Es werde Licht“, wenn Du den Schalter betätigst
Du eroberst die höchsten Gipfel
Doch Deine Triumphe werden durch Deine Finger rinnen
Und das Tal der Schmerzen wartet auf Dich
Denn, schau, leicht ist Dein Nichtsein zu erkennen :

Tag und Nacht
Aufstieg und Abstieg
Wachsen und Zerfallen sind Reaktionen
Hunger Frieren Angst sind Reaktionen
Sehen Fühlen Erkennen sind Reaktionen
Verstehen und Nichtverstehen
Sich Zuwenden und Abwenden
Sich Öffnen und Verschließen sind Reaktionen
Verschlingen und Ausscheiden
Gnade und Fluch
Verfinsterung und Erleuchtung sind Reaktionen

Du aber bist dieses alles .

~~~\~~~~~~~/~~~

19

Lebendiges erlebt den Schein der Form
In wiederkehrender Bewegung
Im Zyklus vollzieht sich Gebären
Im Zyklus vollzieht sich Ernähren
Im Zyklus erlebt es die Seligkeit des In-der-Welt-Seins
Doch nichts wiederholt sich.
Der Zwang zur Wiederkehr ist in allem Deinen Tun –
Und leicht geraten die Kreise steril .

Zu wiederkehrender Bewegung
Organisiert sich die Materie
Um in Spannung zu erleben
Die eigene Bewegungsform
Das eigene Kreisen
Aus mystischer Energie.
Den Rhythmus zu wahren
Ist des Vitalen Interesse
Die Zerstörung des Rhythmus‘
Erlebt es als Tod –

Wenn der Rhythmus Deiner sterilen Kreise gestört wird
Zerbrechen sie
Und Du erfährst die Gnade des Sterbens .

~~~\~~~~~~~/~~~

20

Als Störung wirkt das Neue
In den Kreisen Deiner Gedanken
Als Störung wirkt das Neue
Auf die Richtung Deines Gehens
Als Störung wirkt das Neue
In das Verhängnis Deines Strebens –
Die Welt holt das Verirrende zurück.
Du aber kannst das Tor zur Freiheit nicht sehen .

Einst sahest Du ein Land von namenloser Schönheit
Hast Du das vergessen ?
Einst kam Dein Tun aus der Quelle der Unschuld
Hast Du das vergessen ?
Einst war in Deinem Fühlen die ganze Welt
Hast Du sie weggeschmissen ?

Es ist alles noch in Dir .

Reklame Uwe Schade

Bilder: Wilhelm „Nitya“ Klingholz: Die Harmonie der Welt, 17. September 2015;
Cover Lokwort Buchverlag, Bern 1999,
danach Schillinger Verlag, Freiburg im Breisgau 2001.

Soundtrack: Die schönste von allen bekannten Tausenden Versionen Stille Nacht ist zweifellos eine englische – Silent Night –, nämlich die von die von Tom Waits. Sie ist nie auf einer Original-CD von ihm erschienen, insofern eine Rarität, nur auf SOS United, 1989 – eine Stiftung von Tom Waits für die SOS-Kinderdörfer. Der teilhabende Kinderchor bleibt unbekannt, weil ungenannt.
Im Video: Correggio: Anbetung der Hirten, 1530 (Detail); Tintoretto, 1545 oder 1578; Gerrit van Honthorst, 1622 oder 1646.

Bonus Track: Tom Waits: Innocent When You Dream (Barroom), aus: Franks Wild Years, 1987,
für Paul Auster/Wayne Wang: Smoke, 1995:

Written by Wolf

24. Dezember 2021 at 00:01

Veröffentlicht in Land & See, Novecento

Frankonachten 3/5: Und schuld dran war die Ofenhitz

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Update zu Willkomm und dervoo,
Jean Paul, sein erster Kuss, meine Bedienung und ich,
In dich hoff ich ganz festiklich,
So eine Art Käse-Cocktail oder Mehl-Flip
und Zwetschgenzeit (zu spät):

Weihnachten ist ja immer auch was mit Heimat. Bei mir ist das Franken, eine kulturelle und historische Landschaft, die mich nie ganz in Ruhe lassen wird.

Aber weh und ach, man tut sich mancherorts a weng arch, was bedeutet: in besonderem Maße, hart mit der Heimatliebe. Vor allem in Franken, wo man ein Wort wie „Heimatliebe“ nicht einmal aussprechen kann. Das ist eine körperliche Tatsache, allenfalls Hinschreiben funktioniert bei manchen, also ich könnt’s nicht. Alle drei Regierungsbezirke, die ja erst der Napoleon 1806 bayerisch und teilweise katholisch gemacht hat, sind eine karge Gegend, in denen der menschliche Mund als Organ des Inputs, nicht des Outputs seinen Gebrauch finden muss; seitdem sind die Franken innerhalb ihrer zugewiesenen politischen Heimat „eine Art Preußen mit mildernden Umständen“ (cit. Günter Stössel: Frankensong, 1979). Was erwartet man auch von einem Menschenschlag, unter dem ein Bündnis gegen Depression e.V. zur landkreisweiten Überraschung erst aus einer Aufklärungskampagne über die eigene Volksseele entstehen muss. Dass es als gemeinnütziger Verein im Südnürnberger Klinikum fortgeführt wird – hinter Langwasser draußen, wer’s kennt –, ist schön und nützlich wie nur was, war aber nicht abzusehen bei einem Volksstamm, bei dem Scheitern zur Folklore gehört. Als Beispiel: „Das war eine ganz vorzügliche Mahlzeit“ heißt auf Fränkisch: „Scho schlimmer gschbeid.“

Der Volksschullehrer Franz Bauer nun lebt im Stadt- und Landnürnberger kollektiven Gedächtnis fort mit seinem Gedicht über die weihnachtliche Begebenheit mit einer Christbaumspitze, das als seine Lebensleistung herhalten muss. Das ist mehr als die meisten von uns vorweisen können, aber zu kurz gesprungen. Bauers nachweisbare Produktion von Dialektlyrik setzt in der schweren bösen Zeit 1936 ein (Zammkratzi. Das sind allerlei Verse in der schönen Nürnberger Mundart), von etwas wie Schreibverbot oder innerer Emigration weiß man nichts. Was bei anderen Literaten ideologischen Verdacht erregen müsste, ist bei dem Herrn Lehrer, Dichter und Heimatkundler noch kein gültiger Ausweis der unbotmäßigen Affirmation, weil sein Gegenstand allzu mehrheitsfähig und harmlos daherkommt. So reißt seine lyrische Produktion auch bis 1962 nicht ab (Lachkabinettla. Gedichtla und Gschichtla in Nürnberger Mundart.).

Cover Franz Bauer, Alt-Nürnberg, 1933Noch vor der beschaulichen Lyrik, im Jahre der „Machtergreifung“ 1933, hat Bauer Alt-Nürnberg: Sagen, Geschichten und Legenden zum Druck befördert – eine reichhaltige Sammlung von Begeben- und Gegebenheiten, die Nürnberg zu dem gemacht haben, was es bald nicht mehr ist, ideologisch unverdächtig und ungebrochen ein zuverlässiger Hausschatz.

Überhaupt hat sich der Rektor Bauer um die Nürnberger Heimatkunde in Lach- und Sachliteratur recht verdient gemacht: Es gibt themengebundene Mythologie, Mundarttheater, dem Jugendbildner angemessene Kinderbücher und – was man in der Franconica-Ecke außer den Regionalkrimis bis heute gern ausliegen sieht –: die Mundartlyrik in ausgesprochen schmuck broschierten Bänden – eins der Verdienste der Nürnberger Buchhandlung, damals noch inhabergeführter Verlag Edelmann, die sich seit 2004 bloß noch im verfeindeten Fürth ein bissel rudimentär dahinfrettet. Was uns sagt: Gerade die epigonalen Paarreimereien, die einen schwankhaften, leicht brachialen Humor bedienen, bedeuten generationenübergreifend den meisten Leuten immer noch was.

Im Gegensatz zu allen anderen auffindbaren Stellen im großen weiten Internet bringe ich die zeichengenau abgetippte Version von der Christbaumspitz nach der 9. Auflage von Betthupferla 1982, einschließlich des eindeutigen Druckfehlers einer ungeschlossenen Anführung und einiger mundartlicher Fragwürdigkeitkeiten, soweit ich sie als Native Speaker beurteilen kann und unter leisem innerem Sträuben stehen lassen muss: So nachsichtig ich mich auf der phonetischen Ebene zu zeigen geneigt bin, weil sich der oberostfränkische Lautstand seit 1955 pro Generation ein paarmal über den Haufen gewandelt haben wird, so sicher bin ich doch, dass auf grammatischer Ebene weder anno 1455 noch 1955 die Hilfsverben einer „Umschreibung mit to do“ – Nürnberger Mundart: Lemma tun, von Bauer verwendet als tout – unterliegen, auch nicht in der Verlaufsform in einem vorzeitigen Zeitverhältnis, oder anders: Eine Bildung „walls pressiert habn tout“ gibt’s nicht, hat’s nie gegeben und wird auch nix mehr. Nicht das einzig mögliche Beispiel. Und wenn ich schon diachronisch werden soll, fang ich von der phonetischen Transkription des historisch gewordenen Lautstands eines weiterhin quicklebendigen sprachlichen Subsystems vorsichtshalber gar nicht erst an.

Da seht ihr schon, eine zuverlässige Wiedergabe ist seit 1955 endlich mal fällig. Dass ich das tun kann, hat mich 3 Euro 60 einschließlich Porto für ein Korrekturexemplar gekostet. So bin ich zu euch.

Die künstlerischen Unzulänglichkeiten liegen auf der Hand, sie eigens zur Beleuchtung hervorzuzerren zeugte von Häme. Das Ding ist in Erstauflage von 1955, dem Rektor Bauer sein Gesamtwerk sagt manchen Leuten, die vielleicht anders sind als du, aber nix gegen dich haben, und die du, wenn du sie triffst, am Ende sogar ganz gern leiden magst, mehr als dir, was voll in Ordnung geht. Du fährst deiner beglückt lauschenden Großmutter ja auch keine siebengescheiten Aperçus über Beschaffenheit und sozialpolitische Relevanz von Bayern 1 hin, bloß weil Heino läuft. Und wenn doch: Lass es einfach bleiben.

Zur Belohnung sehe ich taktvoll von Bildmaterial mit weihnachtlich-besinnlich gemeinten Christbaumspitzen ab. Des bassd dann scho.

——— Franz Bauer:

Die Christbaumspitz

(a Gschicht vo daham)

aus: Betthupferla. Neie Gedichtla und alti Lodnhüter aff närnbergisch,
Verlag Moritz Edelmann, Nürnberg 1955, Seite 6 f., in 9. Auflage 1982 Seite 9 f.:

Cover Franz Bauer, Betthupferla, 1955, 1982Döi is fei wahr und is ka Witz,
döi Gschicht vo unserer Christbaamspitz!
Dös war a schöine Spitz, jawull,
war außn silbri, inna huhl,
drum hout mei Frau gsagt: „Gouter Fritz,
gib obacht aff die Christbaamspitz!“

I hob dou grod in Christbaam putzt
und höit mi wärkli ball derhutzt
und walls pressiert habn tout, drum ebn
lang i mit meiner Händ dernebn,
(der Mensch macht manchmal solchi Schnitz!)
und druntn liegt die Christbaamspitz.

Mei Frau döi war dou net zur Stell,
drum hab i denkt: Öitz handelst schnell!
Die hinter Seidn war lädiert,
drum hab i’s gscheit mit Leim ohgschmiert,
habs wieder nafpappt aff ihrn Sitz,
glei hie an Baam, die Christbaamspitz.

Wer’s gwußt höit, der höit’s deitli gsehng,
doch hab ich gar nix gsagt, destweng …
Bloß bo der Bscherung, dou war’s dumm;
mir stenna um den Christbaam rum,
und wöi mei Frau singt: „… einsam wacht …“
dou houts aff amal komisch kracht,
i merk, wöi i ganz plötzli schwitz,
am Budn liegt die Christbaamspitz.

I hab blouß mit der Achsel zuckt
und hab an der Krawattn gruckt,
hab gsagt: „Dou droh is schuld öitz fei
ner blouß dei houcha Singerei;
dei kräftin Tön, döi habns zerhaut, –
warum bläkst immer a su laut?
Du schnullst a vill zu vill Lakritz! –
Siehgst – öitz is hie, die Christbaamspitz!

In Wärklichkeit is anderscht gwest:
der Leim, der hout si langsam glöst
und hout halt nemmer a su pappt,
drum hout die Spitz si g’lockert ghabt.
Und schuld droh war die Ufnhitz
– und ich! – an dera Christbaamspitz.

Bildlä: Covers via – hilft ja nix – Amazon;
Petra und Stefan aus Forchheim, 9. September 2020

Soundtrack: Mercury Rev: Endlessly (mit der „Stille Nacht“-Referenz), aus: Deserter’s Songs, 1998:

Standing in a street,
the line beneath the falling leaves
leading her again endlessly.
And of all the stars above,
only one reminds her of
leaving you again endlessly.

Written by Wolf

17. Dezember 2021 at 00:01

Veröffentlicht in Handel & Wandel, Novecento

Frankonachten 2/5: Nämlich gar nicht einschlafen zu wollen

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Update zu Blumenstück 001: Streckvers bei Nacht,
Weihnachten Fibels,
Weil er bei den Mahlzeiten so entsetzlich isset
und Und vierzehn Gräser formen ein Sonett:

Weihnachten ist ja immer auch was mit Heimat. Bei mir ist das Franken, eine kulturelle und historische Landschaft, die mich nie ganz in Ruhe lassen wird.

Serge Marshennikov

Der gebürtige Preuße Jean Paul wird seit der Bundesrepublik Deutschland als fränkisch angesehen, weil er aus Wunsiedel stammt, das im bayerischen Regierungsbezirk Oberfranken liegt. Bei Jean Pauls Geburt 1763 lagen Wunsiedel und seine folgenden Jugendstationen Joditz, Schwarzenbach an der Saale, Rehau und Hof im hohenzollerischen Fürstentum Kulmbach-Bayreuth oder Markgraftum Brandenburg-Bayreuth im Fränkischen Reichskreis. Damit wäre Jean Paul beinhart preußischer Herkunft, was sie in Wunsiedel, wo sie ja sonst nur die Luisenburg-Festspiele und das Grab von Rudolf Heß haben, nicht mehr so gerne hören. Um es ja nicht zu einfach zu machen, fiel das Fürsten- oder Markgraftum nach dem Frieden von Tilsit am Ende des dritten Napoleonischen Krieges ans erste französische Kaiserreich. Jean Paul war also zwischen 1807 und 1810 Franzose, danach zahlte das Königreich Bayern in Gestalt von König Maximilian I. Joseph aufgrund des Pariser Vertrags 15 Millionen Francs, damit Jean Paul für den Rest seines Lebens Franke innerhalb Bayerns sein konnte.

Jean Pauls Einschlafhilfen — die Steilvorlage, dass sein Gesamtwerk eine solche wäre, sei hiermit durch vorwegnehmende Erwähnung entschärft — sind wohl das unmittelbar Anwendbarste, was er geschrieben hat; seine Kochrezepte mussten ja erst in der Postmoderne rekonstruiert werden. In der Zählung sind sie durch die Zweitverwendung für den Roman durcheinander geraten, aber meine liebste ist sowieso die außerhalb der Reihe.

Serge Marshennikov

——— Jean Paul:

Die Kunst, einzuschlafen

(Aus der Zeitung für die elegante Welt)

in: Zeitung für die elegante Welt, Nr. 20 und 21, 14. und 16. Februar 1805,
stark erweitert für: Dr. Katzenbergers Badereise, Mohr und Zimmer, Heidelberg 1809,
nachgestelltes I. Werkchen für Zweites Bändchen:

Für die jetzigen langen Nächte und für die elegante Welt zugleich, die sie noch länger macht, ist eine Kunst, einzuschlafen, vielleicht erwünscht, ja für jeden, der nur einigermaßen ausgebildet ist. Es gibt jetzo wenige Personen von Stand und Jahren, die, das Glück ihrer höhern Feinde ausgenommen, irgendein anderes so sehr beneideten als das einer Haselmaus oder auch eines nordischen Bären, dessen Nachtschlummer bekanntlich gerade so lange als seine Nordnacht währt, nämlich fünf Monate. Unsere Zeit bildet uns in Kleidern und Sitten immer mehr den wärmern Zonen an und zu, und folglich auch darin, daß man wenig und nur in Morgen- und Mittagstunden schläft; so daß wir uns von den Negern, welche die Nacht kurzweilig vertanzen, in nichts unterscheiden als in der Länge unserer Weile und unserer Nacht. Hoch oben wird immer mehr die eigne Menschheit – nicht wie von Alexander aus dem Schlafe – umgekehrt aus dem Mangel desselben erraten. Gibt es nicht in allen Residenzen Jünglinge von Welt und Geburt, welche (besonders wenn die Gläubiger erwachen) gern so lange schliefen, bis sie stürben, oder doch bis ihre Väter? Und was hilfts manchem jungen Menschen, daß er Franklins Wink, nachts zum bessern Schlafe die Betten zu wechseln, so gut er weiß, befolgt? Aus dem Gegengift wird in die Länge ein Gift.

Kurz, wer jetzo noch am festesten schläft – die Glücklichen in den Wachstuben auf der Pritsche ausgenommen –, ist einer oder der andere Homer und die sogenannten zehn törichten Jungfrauen, welche in der Bibel den Bräutigam verschlafen.

Serge MarshennikovWenn ich gleichwohl mehre geistige Mittel, einzuschlafen, freigebig anbiete, noch dazu in einem kurzen Aufsatze – nicht in langen dicken Bänden – : so sind sie in der Tat nicht jenen Wüstlingen gegönnt und geschrieben, welche – durch lauter maîtres de plaisirs zu esclaves de plaisirs gemacht – in der Nachtzeit, in welche sonst die alte Jurisprudenz die Folter verlegte, bloß darum die ihrige ausstehen, weil sie sonst ihre Freuden und Nachtviolen darin pflückten. Sie mögen wachen und leiden, diese Sabbatschänder des täglichen Sabbats der Natur.

Gibt es hingegen einen Minister, der an einem Volke – oder einen Autor, der an einem Werke arbeitet, und beide so feurig, daß sie ebensoviel Schlaf verlieren als versüßen – oder irgendeinen weiblichen Kopf, der das Näh- und Fang-Gewebe seiner oder fremder Zukunft – so wie die Spinnen die ihrigen gern um Betten und immer in der Nacht abweben – ebenso im Finstern ausspinnt, und der folglich kein Auge zutut – oder gibt es irgendeinen andern von Idee zu Idee fortgetriebenen Kopf- z.B. meinen eignen, den bisher der Gedanke, die Kunst, einzuschlafen, für die Zeitung für die elegante Welt zu bearbeiten, an der Kunst selber hinderte – : so sei allen diesen so geplagten und geschätzten Köpfen mit Vergnügen der Schatz von Mitteln, einzuschlafen, mitgeteilt, worunter so manche oft nichts helfen dem einen, doch aber dem andern und den übrigen.

Nicht Einschlafen, sondern Wiedereinschlafen ist schwer. Nach dem ersten schlummernden Ermatten fährt der obige Staatmann wieder auf, und irgendeine Finanz-Idee, die ihm zufliegt, hält er, sich abarbeitend, fest, wie der Habicht eine in der Nacht erpackte Taube bis an den Morgen in den Fängen aufbewahrt; dasselbe gilt ganz vom Bücherschreiber, dessen Innres im Bette, wie nachts ein Fischmarkt in Seestädten, von Schuppen phosphoresziert und nachglänzt, bis es so licht in ihm wird, daß er alle Gegenstände in seinen Gehirnkammern unterscheiden kann und an seinem Tagwerke wieder zu schreiben anfängt unter der Bettdecke. Dies ist ungemein verdrießlich, besonders wenn man keine Mittel dagegen weiß.

Ich weiß und gebe sie aber; sämtlich laufen sie in der Kunst zusammen, sich selber Langweile zu machen, eine Kunst, die bei gedachten logischen Köpfen auf die unlogische Kunst, nicht zu denken, hinauskommt.

Wir wollen indes einen weitern Anlauf zur Sache nehmen. Es wird allgemein von Philosophen und Festungkommandanten angenommen, daß ein Mensch, z.B. eine Schildwache, imstande sei, schläfrig und wach zu bleiben. Ja ein Philosoph kann sich zu Bette legen, Augen und Ohren verschließen und doch die Wette ausbieten und gewinnen, die ganze Nacht zu verwachen bloß durch ein geistiges Mittel, durch Denken; – folglich setzt diese Willkür die andere voraus, einzuschlafen, sobald man das Mittel der Wette nicht anwendet, wie wir abends ja an ganzen Völkern sehen, wenn sie zu Bette gehn.

Der Schlaf ist, wie ich im Hesperus bewiesen, das stärkende Ausruhen nicht sowohl des ganzen Körpers oder der Muskeln u.s.w. als des Denkorgans, des Gehirns, daher durch lange Entziehung desselben nichts am Körper erkrankt als das Gehirn, nämlich zum Wahnwitz. Wird es bei dem Tiere durch kein Empfinden, beim Menschen durch kein Denken mehr gereizt, so zittert dieses willkürliche Bewegorgan endlich aus. Sobald der Mensch sagt: ich will keine einzige Vorstellung, die mir aufstößt, mehr verfolgen, sondern kommen und laufen lassen, was will: so fällt er in Schlaf; nachdem vorher noch einzelne Bilder ohne Band und Reihe, wie aus einer Bilderuhr, vor ihm aufgesprungen waren, bloße Nachzuckungen des gereizten Denkorgans, denen der Muskelfasern eines getöteten Tieres ähnlich. Das Erwachen dagegen beginnt das gestärkte und nun reizende Organ, wie das Einschlafen der nachlassende Geist.

Die göttliche Herrschaft des Menschen über sein inneres Tier- und Pflanzenreich wird zu wenig anerkannt und eingeübt, zumal von Frauen; ohne jene schleppt uns die Kette des ersten besten Einfalls fort. „Tritt aber nicht“, kann eine Frau sagen, „das Leichenbild meines Schmerzes überall ungerufen mitten im Frühling und im Garten desselben wie ein Geist aus der Luft, bald hier, bald da, und kann ich der Geistererscheinung wehren?“

Wende das Auge von ihr, sag‘ ich, so verschwindet sie und kommt zwar wieder, aber immer kleiner; siehst du sie hingegen lange an, so vergrößert sie sich und überdeckt dir Himmel und Erde. – Nicht die Entstehung, sondern die Fortsetzung unserer Ideen unterscheidet das Wachen vom Traume; im Wachen erziehen wir den Fündling eines ersten Gedankens oder lassen ihn liegen; im Traume erzieht der Fündling die Mutter und zügelt sie an seinem Laufzaume.

Serge MarshennikovUm zum nahen Einschlafen wieder zu kommen, so bekenn‘ ich indes, daß jenes gewaltsame Abbestellen und Einstellen alles Denkens ohne philosophische Übung wohl wenigen gelingen wird; nur der Philosoph kann sagen: ich will jetzt bloß mein Gehirn walten lassen ohne Ich. Dieses Vermögen, nicht zu denken, kann also nicht überall bei der eleganten und denkenden Welt vorausgesetzt werden. Die Juden haben unter ihren hundert Danksagungen an jedem Tage auch eine bei dem Krähen des Hahns, worin sie Gott preisen, daß er den Menschen hohl erschaffen, desgleichen löcherig. Jeder elegante Welt-Mensch wird bis zu einem gewissen Grade – bis zum Kopfe – in das Dankgebet einfallen, weil er in der Tat keine Lücken in der Welt lieber auszufüllen sucht als seine eignen.

Allein nicht jeder hat abends das Glück, hohl zu sein und also, da die Leerheit des Magens nicht halb so sehr als die des Kopfes das Einschlafen begünstigt, letztes zu erringen. Es müssen folglich brauchbarere Anleitungen, den Kopf wie einen Barometer luftleer zu machen, damit darin das zarte elektrische Licht der Träume in seinem Äther schimmere, von mir angegeben werden.

Wenn alle Einschlafmittel, nach den vorigen Absätzen, d.h. Grundsätzen, in solchen bestehen müssen, die den Geist vom Gehirne scheiden und dieses seiner eignen Schwere überlassen: so muß man, da doch die wenigsten Menschen verstehen, nicht zu denken, solche Mittel wählen, die zwar etwas, aber immer dasselbe Etwas zu denken zwingen.

Da ich wohl ein guter Einschläfer und Schläfer, aber einer der mittelmäßigsten Wiedereinschläfer bin: so geben mir meine Nacht- und Bett-Lukubrationen vielleicht ein Recht, über die Selbeinschläferkunst hier der Welt nach eignen Diktaten zu lesen.

Ich müßte von mir selber sprechen und mich über mich ausbreiten, wenn ich die Leser an mein Bette führen wollte, um sie von diesem Heidenvorhof aus weiter zu geleiten zum Katheder.

Nur dies kann ich vielleicht sagen, daß ich ganz andere Anstalten als die meisten Leser treffe, um nicht aufzuwachen. Wenn z.B. so mancher Leser bei dem Einschlafen eine Hand aus Unvorsicht auf die Stirn oder an den Leib oder nur ein Bein aufs andere legt: so kann das geringste, dem Schlafe gewöhnliche Zucken der vier Glieder sämtlichen Rumpf aufwecken und aufkratzen; – und dann ist die Nacht ruiniert, und er mag zusehen. Dagegen man sehe mich im Bett! – Nie berühre doch jemand im Schlaf ein lebendiges Wesen, welches ja er selber ist. Der kleinlichern Vorsichtregeln gedenk‘ ich gar nicht, z.B. gegen den Hund, der auf der Stubendiele mit dem Ellenbogen hämmert oder auf einem wankenden Stuhl mit zwei Stuhlbeinen auf- und abklappert, wenn er sich kratzt. Und doch leidet der unvorsichtige Leser so viel im Bette als ich, weil wir beide nie schärfer denken und reicher empfinden als in der Nacht, diese Mutter der Götter und mithin Großmutter der Musen; und ginge am Morgen nicht der Körper mit Nachwehen herum, es gäbe kein besseres Braut- und Kindbett geistiger Sonntaggeburten als das Bette, ordentlich als wenn die Schlaffedern zu Schreibfedern auswüchsen.

Eh‘ ich endlich meine elf Mittel, einzuschlafen, folgen lasse, merk‘ ich ganz kurz an, daß sie sämtlich nichts helfen; – denn man strengt sich sehr dabei an, und mich hat jedes Schlaf genug gekostet; – aber dies gilt nur für das erstemal. – Eben hat mir mein scharfsinniger Freund E. noch ein zwölftes entdeckt, nämlich gar nicht einschlafen zu wollen.

Aber seitdem, d.h. seit anderthalb Jahrzehenden, hab‘ ich noch drei neue Selberwiegen im Bette zur Welt gebracht, so daß es künftig eines jeden eigne Schuld bleibt, wenn er, mit meinen vierzehn Handgriffen zum Einwiegen seines Kopfs in Händen, gleichwohl seine Augen noch so offen behält wie ein Hase, der indessen darüber gar nicht zu tadeln ist, da ers eben im Schlafe tut.

Nach langem Überlegen, wie ich meine drei neuen Schlafmittel in dieser dritten Auflage unter die elf alten einschalten könnte mit Beibehaltung alles Spaßes der frühern Rangordnung, fand ichs endlich als zweckdienlichst, sofort nach dem neunten Einschlafmittel die drei neuen einzuschieben und darauf mit den alten bis zum vierzehnten ordentlich fortzufahren; anders wüßt‘ ich nicht einzuflechten ohne namhaften Verlust meiner und der Leser.

Serge Marshennikov1) Das erste Mittel, das schon Leibniz als ein gutes vorschlug, ist Zählen. Denn die ganze Philosophie, ja die Mathematik hat keine abstrakte Größe, die uns so wenig interessiert als die Zahl; wer nichts zählt als Zahlen, hat nichts Neues und nichts Altes, indessen doch eine geistige Tätigkeit, obwohl die leichte der Gewohnheit, so wie ein Virtuose ohne große geistige Anstrengung nach dem Generalbasse phantasiert, den er doch mit großer erlernte. Buxton, der eine Zahl von 39 Ziffern im Kopfe mit ihr selber multiplizierte, sank nach tiefen Rechnungen in tiefen Schlaf. Die Alten hatten an den Bettstellen das Bildnis Merkurs, dieses Rechners und Kaufmanus, und taten an ihn das letzte Gebet. Es läßt sich wetten, daß niemand leichter einschläft als ein Mathematiker, so wie niemand schlechter als ein Verse- und Staatmann.

Allein dieses Leibnizische Zählen wird an schwachen Schläfern unsers Jahrhunderts nur mittelmäßige Wunder tun, wenn man entweder schnell oder über hundert (wodurch es schwerer wird) oder mit einiger Aufmerksamkeit zählt. Ebenso muß man, wie höhere Rechenkammern, nichts darnach fragen, daß man sich verzählt. Unglaublichen Vorschub tut aber dem Schlafe ein kleiner, meines Wissens noch unbekannter Handgriff, nämlich der, daß man im Kopfe die Zahlen, welche andere Schläfer schon fertig ausgeschrieben anschauen, selber erst groß und langsam hinschreibt, auf was man will. Verfasser dieses nahm dazu häufig eine lange Wetter- oder auch Stöhrstange und zeichnete, indem er sie am kurzen Hebelarme hielt, mit dem langen oben an das Zifferblatt einer Turmuhr (indes ist Schnee ebensogut) die gedachten Zahlen an, so lang und so dick, daß er sie unten lesen konnte. Diese so unendlich einförmige Langsamkeit der Operation ist eben ihr punctum saliens oder Hüpfpunkt und schläfert so sehr ein; und was das Lächerliche dabei anlangt, so geht wohl jeder im Bette darüber hinweg. Einem solchen Langsam- und Stangenschreiber rate man aber unsere arabischen Ziffern ab, deren jede einen neuen Zickzack fodert, sondern er schreibe römische an seinen Turm (wie alle Turmuhrblätter haben), welche bis 99 nichts machen als lauter herrliche, recht herpassende Linien, nämlich gerade. – Will ein Einschläfer Turm und Stange nicht: so kann man ihm raten, recht lange Zahlen, und zwar wie Trochäen auszusprechende, sich vorzuzählen, z.B. einundzwanzig Billionen Seelen Zahl, zweiundzwanzig Billionen Seelen Zahl u.s.w.; nur aber kann man einem Einschläfer nicht genug einschärfen, das Zählen äußerst langsam und schläfrig zu verrichten. Indes diese Beobachtung höchstmöglicher Faultierlangsamkeit ist wohl Kardinalregel aller Einschläfermittel überhaupt.

2) Töne, sagt Bako, schläfern mehr ein als ungegliederte Schälle. Auch Töne zählen und werden gezählt. Da aber hier nicht von fremden, sondern von Selbentladungen – das Einschläfern ist der einzige schöne Selbermord – die Rede ist: so gehören nur Töne her, die man in sich selber hört und macht. Es gibt kein süßres Wiegenlied als dieses innere Hören des Hörens. Wer nicht musikalisch phantasieren kann, der höre sich wenigstens irgendein Lieblinglied oder eine Trauermusik in seinem Kopfe ab; der Schlaf wird kommen und vielleicht den Traum mitbringen, dessen Saiten in keiner Luft mehr zittern, sondern im Äther.

3) Vom zweiten Mittel ist das dritte nicht sehr verschieden, sich nämlich in gleichem Silben-Dreschen leere Schilderungen langsam innen vorzusagen, wie ich z.B. mir: wenn die Wolken fliegen, wenn die Nebel fliehen, wenn die Bäume blühen etc. Darauf lass‘ ich aufs Wenn kein So folgen, sondern nichts, nämlich Entschlafen; denn die kleinste Rücksicht auf Sinn oder Zusammenhang oder Silbenzahl würde, wie ein Nachtwächter-Gesang, alles wieder einreißen, was das poetische Selberwiegenlied aufgebaut.36 Da aber nicht jeder Talent zum Dichten hat – zumal so spät im Bette – : so kommen ja dem Nicht-Dichter zu Tausenden Bett-Lieder mit diesem poetischen faulen Trommelbaß entgegen, wovon er nur eines auswendig zu lernen braucht, um für alle Nächte damit sein Glück zu machen. Unschätzbar ist hier unser Schatz von Sonetten, an denen wie an Raupen-Puppen nichts sich lebendig regt als das Hinterteil, der Reim; man schätzet es nur noch nicht genug, wie sicher das Reim-Glockenspiel uns in einen kürzern Schlaf einläute, als der längste ist. – Ich würde hiezu auch auswendig gelernte Abendsegen vorschlagen, da sich durch sie wahrscheinlich sonst Tausende eingewiegt, wenn ich nicht besorgte, daß sie ungewohnten Betern, z.B. Hofleuten, durch den Reiz der Neuheit mehr Schaden und Wachen brächten als Nutzen.

4) Ein gutes Mittel, einzuschlafen nicht sowohl als wieder einzuschlafen, ist, falls man aus einem Traum erwacht, sich in diesen mit den schläfrigen Augen, indem man ihm unaufhörlich nachschaut, wieder einzusenken; bald wird die Welle eines neuen Traumes wieder anfallen und dich in ihr Meer fortspülen und eintauchen. Der Traum sucht den Traum. Im großen Schatten der Nacht spielt jeder Schatten mit uns Sterblichen und hält uns für seinesgleichen.

5) Hefte dein inneres Nachtauge lange auf einen optischen Gegenstand, z.B. auf eine Morgenaue, auf einen Berggipfel, es wird sich schließen. Überhaupt sind Landschaften – weil sie unserm innern Menschen, der mehr Augen hat als Ohren, leicht zu erschaffen werden, und weil sie uns in keine mit Menschen bevölkerte und erweckende Zukunft ziehen – die beste Schaukel und Wiege des unruhigen Geistes.

6) Das sechste Mittel half mir mehre Nachmitternächte durch, aber es fodert Übung; man schaut nämlich bloß unverrückt in den leeren schwarzen Raum hinein, der sich vor den zugeschloßnen Augen ausstreckt. Nach einigen Minuten, wenn nicht Sekunden, wird sich das Schwarze färben und erleuchten und so den Chaos-Stoff zu den bunten Traum- oder Empfindbildern liefern, welche in den Schlaf hinüberführen.

Serge Marshennikov7) Wer seine Augen schließen will, mache an seinem innern Januskopfe zuerst das Paar, das nach der Zukunft blicket, zu; das zweite, nach der Vorzeit gerichtet, lasse er immer offen. Am Tage vor einer Reise oder Haupttat schläft man so schwer als am Tage nachher so leicht; die Zukunft ergreift uns (so wie den Traum) mehr als die Gegenwart und Vergangenheit. Im Hause eines Toten, aber nicht eines Sterbenden kann man schlafen. Daß Kato in der Nacht vor seinem Entleiben schlief – wie die Seidenraupe vor der Einpuppung –, ja sogar schnarchte, ist schwerer, als was er nachher tat. Daß Papst Klemens XIIII.37 am Morgen vor seiner Krönung geschlafen, merkt die Weltgeschichte mit Recht an; denn am Abende darauf, da er auf dem Stuhle saß, war es ganz leicht; auf dem Wege zum Throne und auf dessen Stufen wird überall weniger geschlafen und das Auge zugemacht als oben in den weichsten Betten der Ehren und lits de justice. Euere Vergangenheit könnt ihr daher – zu große Tiefen und Höhen darin ausgenommen – mit Vorteil vor dem Einschlafen durchlaufen; aber nicht an den kleinsten Plan und Brief und Aufsatz des nächsten Morgens denken.

8) Für manche geübte gewandte Geister im Kopfe mag das wildeste Springen von Gegen- zu Gegenstand – aber ohne Vergleichungzweck –, mit welchem der Verfasser sich sonst einschläferte, von einiger Brauchbarkeit sein. Eigentlich ist dieses Springenlassen nichts anders, wenn es gut sein will, als das obige Gehenlassen des Gehirns; der Geist läßt das Organ auszucken in Bildern.

9) Seelenlehrer und deren Seelenschüler schläfern sich ein – falls sie wollen –, wenn sie geradezu jede Gedankenreihe ganz vorn abbrechen, die neue wieder und so fort, indem sie sich fragen bei jedem Mächtigen, was sie ausdenken und vollenden möchten „Kann ich denn nicht morgen eine Stunde länger wach liegen und meine Kopfarbeit auf dem Kopfkissen verrichten? Und warum denn nicht?“ – Wer aber so wenig Denkkraft hat, daß er sie damit nicht einmal hemmen kann, wo er will, der höre hier wieder ein Ausmittel; nämlich er horche sich innen zu, wie ihm ohne sein Schaffen ein Substantivum nach dem andern zutönt und zufliegt, z.B. mir gestern: „Kaiser – Rotmantel – Purpurschnecke – Stadtrecht – Donnersteine – Hunde – Blutscheu – atque panis – piscis – crinis – Karol magnus – Partebona – et so weiter.“

10) Niemand merkte noch scharf genug darauf, daß er zwei der besten Säemaschinen der Schlummerkörner an seinem eignen Kopfe herumtrage, nämlich seine beiden Gehörgänge, nach außenhin Ohren genannt. Höchstens nahm vielleicht einer und der andere wahr, daß ihm Einschläferndes zufließe durch die Gehörgänge in Hofkirchen, in Redesälen akademischer Mitglieder, in Freimäurerlogen und in Theaterlogen, wiewohl er am hellen Tage wenig Gebrauch davon zu machen wußte; aber ich darf wohl mich als den Erfinder ansehen, welcher die eignen Gehörwerkzeuge, auch ohne alle Unterstützung fremder Sprachwerkzeuge und folglich in der Einsamkeit der Nacht und der Bettstelle, als die besten Schlaftrunkzubringer zuerst beobachtet hat. Wie nämlich Mäzen sich durch Wasserfälle einschläferte, oder wie in den achtziger Jahren der Wunderdoktor Schlippach in der Schweiz ein besonderes Schlafzimmer hatte, worin alle Kranke entschliefen an den um dasselbe niederrauschenden Strömen: so tragen wir alle ja ähnliche Wasserfälle in uns, ich meine die Pulsadern Springbrunnen und Blutadern-Wasserfälle, welche unaufhörlich dicht neben unsern Ohrnerven rauschen, und die jeder – sogar am Tage mit einiger Aufmerksamkeit nach Innen, aber noch lauter in der Nacht auf dem Kopfkissen – vernehmen kann. Nun auf dieses innere Rauschen richte ein Beflißner des Wiedereinschlafens recht bestimmt sein Seelenohr; – und er wird mir danken, wenn er erwacht, und es rühmen, daß er durch mich früher eingeschlafen. Noch trefflicher wirkt dieses zehnte Mittel ein, wenn man ihm noch das sechste als ein adjuvans beimischt, was ich in meiner nächtlichen Praxis selten vergesse.

11) Das eilfte Einschlafmittel ist irgendeine Historie, die man sich metrisch in den freiesten Silbenmaßen vorerzählt. Gewöhnlich nehm‘ ich des biblischen Josephs Geschichte dazu und halte damit gut sieben, ja bis zwölf Nächte Haus; ich weiß jedoch jedesmal – was mich wundert, ich mir aber nächstens völlig erklären werde –, wo ich im Erzählen stehen geblieben. Dabei hat der Schlaflustige nun zum Glück auf Numerus – der ohnehin schon als Zahl im ersten Schlafmittel – oder auf Wohlklang der im zweiten unter den Tönen vorkommt – nicht die geringste Rücksicht zu nehmen nötig, ebensowenig als auf falsches Verkürzen oder Verlängern der Füße – da nur das Aufziehen und Ausstrecken der leiblichen von Wichtigkeit ist –; kurz der Schlaflustige pfeife auf dem Haberstroh sein Haberrohr, wie er nur mag, und zwar je falscher, je besser; ja wenn er sogar mit allen möglichen unpoetischen Freiheiten jetziger Versübersetzer und Vers- und Sonettenschmiede sich handhabt: so wird er immer noch finden, daß man dichtend leichter hundert Menschen einschläfert als einen einzigen, nämlich sich. Um desto mehr ahme er die gedachten Dichter nach, damit er Schönheiten, die im Bett nur Anstöße wären, möglichst vermeide. So sing‘ ich wenigstens meine epische Josephiade ab und fange sie jambisch an „Der träum’r’sche Joseph kame einst zu seinen Brüdern, erzählte voller Stolze ihnen seine folg’nden Träume“ etc. – so daß ich mich um kein Rezensieren kümmere, sondern mich frage „Stecken denn der Doktor Merkel aus Riga und der Hofrat Müllner aus Weißenfels mit dir unter einer Decke und liegen mit ihren Schlafmützen neben deinem Kopfe rechts und links auf einem Kopfkissen? – Mithin, so dichte nur zu!“

12) Kein gemeines Einschlafmittel – sondern vielmehr ein neues und das zwölfte – ist Buchstabieren unendlich langgestreckter Wörter, wie sie die Kanzleien des Reichstags, des Bundtags, die wienerischen sämtlich, ja die meisten deutschen als höhere bureaux des longitudes uns hinlänglich zulangen und schenken. Einen solchen Kanzlei-Molossus-Koloß nun erstlich sich langsam vorzubuchstabieren – ja zweitens vorher sich ihn gliederweise hinzuschreiben, wäre wohl das Höchste, was ein Schlaflustiger von sich fodern könnte zum Denkpausieren, wenn ich es nicht drittens darüber hinaus zu treiben wüßte durch meinen neuern Kunstgriff, daß ich, ob ich gleich das innere Aussprechen des unabsehlichen Lang-Wortes durch Zerstücken in Silben noch mehr verlängere und diese Silben wieder durch Hinschreiben von neuem auseinanderziehe, mich doch nicht damit begnüge, sondern, wie gesagt, drittens gleich anfangs jeden Buchstaben einer Buchstabiersilbe selber vornehme und ihn geduldig fertig mache und deswegen, anstatt wie ein Schriftgießer zu eilen, der einen schon in die Patrize oder Schriftbunze eingeschnittenen Buchstaben in der kupfernen Matrize einschlagend ausprägt, vielmehr meinen Buchstaben, es sei Spaßes halber z.B. das O im Worte Österreichisches, Punkt nach Punkt oder punktatim durch gelbe Messingnägelköpfe ausfertige, die ich, wie man sonst gepflegt, so lange hintereinander auf einen Kutschenschlag einschlage, bis das O als Zirkel dasteht und ich zum E übergehen müßte – wohin es aber eben nie kommt, weil ich über dem O als Zyklus und Zirkel, den ich mit meinen Nägelköpfen, wie ich will, erweitere, längst in Schlaf gefallen bin, – von welchem schon jetzo ich und wohl die Leser selber durch das bloße langweilige Darstellen auf dem Papier angefallen werden. Nein, kein Argus behielt von allen seinen Augen nicht zwei im Bette offen, zumal da er die Flöte zum Einschläfern selber bläst.

Serge Marshennikov13) Das dreizehnte Seelen- und Bett-Laudanum kann jeder gebrauchen, er habe so viele Ideen, als er will, oder so wenige oder gar keine. Ich schäme mich, es aber anzugeben, da es in nichts Geistigerem besteht als darin, daß man die fünf Finger, einen nach dem andern, langsam auf oder unter dem Deckbette auf- und niederbewegt und fortfährt und daran so lange denkt, bis man, ohne daran zu denken, an kein Aufheben oder Achtgeben mehr denkt, sondern schnarcht. Es ist erbärmlich, daß unser Geist so oft der Mitbelehnte des Leibes ist und besonders hier das Faustrecht der toten Hand und deren Fingersetzung hat, und daß sein geistiger oder geistlicher Arm in der Armröhre des weltlichen steckt. Schlafdurstige, also Schlaftrunkene, z.B. Soldaten, Postillione, schlummern im Reiten und Marschieren halb ein, bloß weil gleiche Bewegungen des Körpers dieselben langweilig-geistigen, die das Gehirn wenig mehr reizen, in sich schließen. Läßt man aber den schlafenden Postillion die Pferde abspannen, einziehen, abschirren und füttern: so wird und bleibt der Mann ganz wach; bloß weil seine (körperlichen und geistigen) Bewegungen jetzt immer etwas anderes anzufangen und abzusetzen haben. Der Grund ist: die Einförmigkeit fehlt. Wenn man in Tangotaboo (nach Forster) die Großen dadurch einschläfert, daß man lange und linde auf ihrem Leibe trommelt: so ist der Grund gar nicht von diesem vorletzten Mittel verschieden. Denn das

14) ist das letzte. Da die Kunst, einzuschlafen, nichts ist als die Kunst, sich selber auf die angenehmste Weise Langweile zu machen – denn im Bette oder Leibe findet man doch keinen andern Gesellschafter als sich –, so taugt alles dazu, was nicht aufhört und ohne Absätze wiederkehrt. Der eine stellt sich auf einen Stern und wirft aus einem Korbe voll Blumen eine nach der andern in den Weltabgrund, um ihn (hofft er) zu füllen; er entschläft aber vorher. Ein anderer stellt sich an eine Kirchentüre und zählt und sieht die Menge ohne Ende, die herauszieht. Ein dritter, z.B. ich selber, reitet um die Erde, eigentlich auf der Wolkenbergstraße des Dunstkreises, auf der wahren, um uns hängenden Bergkette von Riesengebirgen, und reitet (indem er unaufhörlich selber das Roß bewegt) von Wolke zu Wolke und zu Pol-Scheinen und Nebelfeldern, und dann schwimmt er durch langes Blau und durch Äquator-Güsse, und endlich sprengt er zum andern Pole wieder zu uns herauf. – Ein vierter Schlaflustiger setzt irgendeinen Genius bis an den halben Leib in eine lichte Wolke und will ihn mit Rosen rund umlegen und überdecken, die aber alle in die weiche Wolke untersinken; der Mann läßt indes nicht ab und umblümet weiter – in die Runde – und immer fort – und die Blumen weichen – und der Genius ragt – wahrhaftig ich schliefe hier, hielte mich nicht das Schreiben munter, unter demselben selber ein. So wird uns nun der Schlaf- dieses schöne Stilleben des Lebens- von allem zugeführt, was einförmig so fortgeht. So schlafen Menschen über dem Leben selber ein, wenn es kaum acht oder neun Jahrzehende gedauert hat. So könnte sogar dieser muntere Aufsatz den Lesern die Kunst, einzuschlafen, mitteilen, wenn er ganz und gar nicht aufhörte.

Serge Marshennikov

Die Kunst der Eingeschlafenen: Serge Marshennikov via Remon Fakre, 21. und 22. Juni 2021,
und ein seltenes via Neelakandan S, 10. Dezember 2019.
Mehr Marshennikoviana innerhalb des Weblogs in O komm ein Engel und rette mich!, 24. Mai 2014,
empfohlenes Bildmaterial mit Details in anständiger Auflösung unter
Serge Marshennikov, 1971 | Realistic figurative painter.

Serge Marshennikov

Soundtrack: Get Well Soon: Christmas In Adventure Parks,
aus: Rest Now, Weary Head! You Will Get Well Soon, 2008:

Written by Wolf

10. Dezember 2021 at 00:01

Veröffentlicht in Romantik, Weisheit & Sophisterei

Frankonachten 1/5: Du aber Gott

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Update zu Ausblick,
Hören wir das Husten einer Grille im Schnee?
und Dying is the last thing I’ll do:

Weihnachten ist ja immer auch was mit Heimat. Bei mir ist das Franken, eine kulturelle und historische Landschaft, die mich nie ganz in Ruhe lassen wird.

Laufkultur, Von Nürnberg-Zentrum an den Fuß des Moritzbergs, Erlebnislauf, Teil II, 2011

Auf der alten Schnellstraße zwischen
          Diepersdorf und Schwaig haben wir
                    freihändig Rad fahren gelernt:

Fahrrad-Highlight Christian, Alte Diepersdorfer Straße, für komoot, ca. 2019Bestimmt zwanzig Minuten
          geradeaus, so genau hat das
                    nie einer mitgestoppt, weil
          es egal war, der Belag heller als
                    Asphalt, glatter als Kies, auf dem
          die Fahrradreifen schnurrten.

Man konnte nebeneinander
          herfahren, so tun, als ob man
                    sich aus dem Sattel schubste,
          sich laut Geschichten erzählen
                    und verschwitzt nach einer
          sommerlichen Radtour lachen
mit dem Blick auf die schnurgeraden
          Straßenränder, die sich ganz weit weg
                    am Schwaiger Ortsschild trafen.

Praktisch stillgelegt, ohne Autos,
          ohne Häuser, vorbei an einem
                    verschwiegenen, aber immer
                    frisch gestrichenen, eingezäunten
          Umspannwerk, das die Strecke
unterteilte, gleich nach dem Graffiti quer über die Fahrbahn:
                              Hiroshima 6.8.45,

bei Aufnahme der Kilometer
                    mit Blick nach rechts:
der endlose Maschendrahtzaun
          um das waldige Betriebsgelände
des städtischen Arbeitgebers,
                    mit Blick nach links:

alle hundert Meter
          eine einzelne alte Kiefer zwischen
                    struppigen Gräsern, Landnürnberger
          Steppengebiet, bewohnt von
          einer Rotte Saatkrähen, Feuerwanzen,
          grünen und braunen Allerweltskäfern,
          einer Million unterirdisch tätiger Ameisen
          und mindestens drei Arten Grashüpfern;
          wenn die zu laut waren, war es Zeit,
          schneller zu treten fürs Abendessen;
                    dahinter nur noch
          der unermessliche Nürnberg-
          Lorenzer Reichswald, kaum hörte man
                    jenseits die neue Schnellstraße. – – –

Fahrrad-Highlight Tom, Alte Diepersdorfer Straße, für komoot, ca. 2019Einmal, als ich längst freihändig fahren
          konnte, kam ich darauf nachzuschauen,
                    was es zwischen dem Umspannwerk
          und Schwaig im einzigen Kiefernhain
hinter vertrocknenden Himbeersträuchern
          und Brennnesselfeldern, die vor
          buntschillernden Scheißhausfliegen summten,
                    noch so gab; ich schwenkte einfach
                    von dem hellgrauen Straßenbelag
          über einen Streifen überlanger
messerscharfer Grashalme in den
          Löwenzahn, holperte, bremste,
                    lehnte mein grünes Hercules Hobby
          an einen Strauch und trat zwischen
den Kreis wilder Kiefern, die bis
                              hoch in den Himmel
          aus nichts als ihrer dürren Rinde bestanden.
An einer davon hing auf Brusthöhe
          mit einem rosa Reißzwecken befestigt
          ein linierter Zettel in kugelrunder
          Schulmädchen-
                    Schleifchen-
                              Schön-
                                        Schreib-
                                                  Schrift:

Du aber, Gott, siehest mich.

Bildlä: Laufberichte: Von Nürnberg-Zentrum an den Fuß des Moritzbergs. Ein Erlebnislauf, Teil II, 2011:

Die „Alte Schwaiger Straße“ führt 2,5 km schnurgerade Richtung Diepersdorf.

Fahrrad-Highlight von Christian und Tom:
Alte Diepersdorfer Straße, für komoot, ca. 2019.

Soundtrack: Red Hot Chili Peppers: Bicycle Song, aus: By the Way, 2002:

Written by Wolf

3. Dezember 2021 at 00:01

Veröffentlicht in Land & See, ~ Weheklag ~