Archive for Februar 2021
Dieses fußkranke und wegmüde Denken, dieser Esprit von Nullhaftigkeit und Nihilism, dieses Charisma von Langweile
Update zu Dreidreiviertel Arbeitstage oder Die CDs wechseln muss man schon,
Hipsteros und
Umgestülpte Teufel (und Kryptonit für Circe):
Der DDR-Lyriker rezensiert den Zigarettenerben, der seinerseits Wieland rezensiert. Alle Glieder der Kette leiden unter Überlänge, machen aber ungeahnten Spaß.
Das Aristipp-Buch von Reemtsma liegt seit 2000 als Taschenbuch bei dtv vor.
——— Peter Hacks:
Mehrerlei Langweile
Zu Jan Philipp Reemtsma:
»Das Buch vom Ich — Christoph Martin Wielands ›Aristipp und einige seiner Zeitgenossen‹«,
Haffmans 1993
in: TOPOS. Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie, herausgegeben von Hans Heinz Holz† und Domenico Losurdo,
Heft 3: Epochenwandel, Pahl-Rugenstein Verlag Nachfolger, Bonn 1994:
Seinerzeit lebte in Griechenland ein langweiliger Philosoph, Aristipp. Diesen Aristipp machte der Dichter Wieland zum Helden eines langweiligen Romans; über den Roman hat jetzt der Philologe Jan Philipp Reemtsma eine langweilige Monographie geschrieben. Das ist die Lage, mit der ich befaßt bin. Ich kann mir unterhaltsamere Lagen vorstellen.
Besagter Aristipp war ein Hedoniker, ein »Genüßler« oder »Genußdenker«. Er ging davon aus, daß, wenn schon sonst nichts, jedenfalls die körperliche Lust ein Gut ist, unstrittig und mit höchster Gewißheit. Das Dumme an dem Ansatz ist, daß das nicht stimmt. Körperliche Lust hat viel Angenehmes — aber keinesfalls immer, nur unter Bedingungen. Wer hat nicht schon den Besitz eines schönhäutigen Geschlechtspartners mit Verdruß durchlitten, oder wem ist nicht schon die bestzubereitete Speise vorm Magen stehen geblieben, wenn ein allgemeineres, durchaus unkörperliches Mißvergnügen dem Vergnügen entgegenwirkte? Ich sage es ganz einfach. Eine Henkersmahlzeit kann das höchste Gut nicht sein.
Zugunsten des Aristipp läßt sich sagen, daß er die Lust für eine seiende Sache nimmt, für mehr als das bloße Schwinden oder Fehlen von Unlust. Aber offenkundig gehört er als Genußdenker neben die Bedürfnislosigkeitsprediger und die spätere Schule der Zweifelköpfe: zu den Rette-sich-wer-kann-Ratgebern, die in Verfallszeiten, in denen groß nicht mehr zu denken geht, noch ihre Rezepte, wie allenfalls sich durch die Welt helfen, anboten. Was ihr Wissen anlangt, ermüden sie ein wenig, aber am Ende hat auch keiner etwas gegen sie. Wenn sie nichtig sind, so sind sie doch auf eine erfrischende Weise nichtig. Natürlich sind uns die Überlebensphilosophen lieber als die Pfaffen, welche sonst aus dem Verfall ihren Zulauf haben.
Ich bin nicht breit, weil Wielands Aristipp mit dem echten oder für echt überlieferten Aristipp kaum mehr gemein hat als die Anekdote mit dem Rebhuhn zu fünfzig Drachmen. Er ist ein bißchen neugierig, ein bißchen gleichgültig, ein bißchen witzig, ein bißchen verliebt. Er verhält sich der Welt gegenüber vorsichtig und leidet ungern. Für die Lust interessiert er sich überhaupt nicht. Mehr als dem Aristipp ähnelt er dem Epikur und am genauesten dem Wieland.
Von dem Wielandschen Aristipp, dieser kurzweiligen und kurzatmigen Kunstfigur, erwartet Jan Philipp Reemtsma gewaltige Dinge und will sie an ihm finden und billigt sie ihm zu.
Wieland ist der erste Dramatiker, von dem ich in meinem Leben ein Stück bearbeitet habe. Es war die »Pandora« und trug bei mir den Untertitel »Von Arkadien nach Utopia«, ich war damals zwanzig. Das hätte ich mir nicht träumen lassen, daß ich meinen Wieland einmal gegen übermäßiges Lob würde in Schutz nehmen müssen. Der Aristipp-Roman ist rundum erfreulich. Aber so gut, wie Reemtsma sagt, ist er nicht.
Ich möchte Ihnen die Fabel erzählen und überlege mir zu dem Zweck, was von dem Buch, falls einer vorhätte, es auf die Bühne zu bringen, auf die Bühne zu bringen ginge. Ich beginne damit, daß ich mir von dem Maler Hackert drei Prospekte malen lasse, einen von Weimar, einen von Osmannstedt, einen von Paris. — Weiter komme ich nicht. Handelnde Personen treten in dem Buch nicht auf.
Das ist wenig für immerhin elfhundert Seiten. (Ich zähle nach meiner Ausgabe, Reemtsma ist reicher als ich; er hat die Werkausgabe von 1794, ich bloß die von 1839).
Reemtsma ist entfernt davon, mir zu widersprechen. »Der Roman hat keine ›Story‹«, bekennt er, und der Held, bekennt er, hat »einen langweiligen Charakter«. Dann sagt er noch, daß der Held, aus Gattungsgründen, keinen »Charakter« brauche.
Was tut Aristipp das lange Buch über? Er verbringt seine Jugend auf einer Spazier- und Bildungsreise; hiernach läßt er sich in seinem Vaterland nieder und gründet einen Hausstand und ein Kulturhaus. Im Alter wird er sich in den Dienst eines Tyrannen begeben, was Wieland aber ungeschrieben läßt. Wir werden drauf zurückzukommen haben.
Drei Bestandteile im »Aristipp« ergötzen und verursachen Lesefreude.
Auf sie alle habe ich einzugehen vor. Es sind: Eine Nacherzählung, Parodie und Beschimpfung von Platons »Staat«, etliches Hörensagen aus der Welthauptstadt Syrakus, welche Paris meint, und die Marotten der Hetäre Lais, von der sich Aristipp an der Nase herumführen läßt, dergestalt, daß er sich zu einer noch längeren Verlobungszeit mit ihr versteht als das alte Brautpaar im »Leberecht Hühnchen«, bis er sich endlich besinnt und dann was Unbescholtenes heiratet.
Anders als der Held nämlich ist die Heldin ein Charakter, oder wenn sie kein Charakter ist, so hat sie doch eine Neurose. Reemtsma irrt, wenn er Lais »als Figur dem Aristipp ebenbürtig« und in dem Roman die »Gleichberechtigung der Geschlechter« verwirklicht findet; er ist eben auch nur ein Mann. Lais allein ist es, die die Hosen anhat. Ich zögere nur deshalb, den Roman einen Lais-Roman zu nennen, weil sie sich mitten im Buch, keiner weiß wie, aus der Handlung schleicht. Eben war sie noch da, plötzlich ist sie weg.
Lais ist eine Kokotte aus Kälte. Auch sie durchreist die griechische Welt, wobei sie ihren Bordellhaushalt immer mit sich führt. Als Männerhasserin lebt sie von Männern. Sie stirbt daran, daß sie vierzig wird; denn mit diesem Alter hört Frigidität auf, eine Frau automatisch unwiderstehlich zu machen.
Die Frage, ob Lais außer in der Mitteilung des Diogenes Laertius, Aristipp »pflegte auch Umgang mit der Buhlerin Lais«, auch in Wielands Leben einen Vorausgang habe, wird von Reemtsma als »literarischer Positivismus« abgetan. Anschließend wird sie mit einem Exkurs über Wielands sämtliche Weiberbekanntschaften behandelt und — nicht beantwortet; ich spreche davon, weil es Reemtsmas Weise bezeichnet, gleichzeitig viel und nichts zu sagen. Dabei ist es eine vernünftige und keine schwere Frage.
Wieland hatte zwei hauptsächliche Beziehungen: eine lebenslange Obsession zu der geistreichen, souveränen und nicht unfrivolen Gesellschaftsdame Sophie La Roche, der berühmten Schriftstellerin, und einen bürgerlichen Entschluß bei reiferen Jahren zu der hausbackenen Anna Dorothea Hillenbrand, die er ehelichte, der er Kinder machte und mit der er zufrieden war. Sein alter ego Aristipp hat dieselben zwei Beziehungen unter den Namen Lais und Kleone. Keiner bestreitet, daß die Kleone die Hillenbrand meint; so wird schon die Lais von der La Roche sich herleiten. Wie identisch muß denn ein künstlerisches Abbild mit seinem Urbild noch sein, damit ein Literaturwissenschaftler sich bequemt zuzugeben, daß es von ihm stamme?
Die Frau La Roche arbeitete, Lais arbeitet nicht. Sie rupft Männer und erzieht junge Huren. Sie beweist die Unvermeidlichkeit einer solchen Lebensführung mit einem soziologischen Kalkül. Der Zwang der Männerwelt, sagt sie, erlaubt einer Frau keine Wahl, außer der zwischen Ehesklaverei und Prostitution. Reemtsma findet diese Art, das Frauenrecht zu vertreten, »emanzipiert«. Mich meines Orts erinnert sie ganz merkwürdig an Meinungen von Wielands Hauptfeind Friedrich Schlegel.
Reemtsma nennt Lais die »Repräsentantin der Unabhängigkeit«. Goethe nennt Lais einen »problematischen Charakter«. Arno Schmidt nennt sie »ne Edelnutte«. — Drei Anmerkungen noch.
Erstens. Indem Lais ein Individualtyp Wielands ist, ist sie — die fast gesellschaftsfähige Kurtisane — gleichermaßen ein Zeittyp des Direktoriums und des Konsulats, in welchen Systemen Frauen auf unangefochtenere Weise lasterhaft waren als in der Regentschaft und im Rokoko. Emma Hamilton verglich sich gerne mit Lais, und wir liegen nicht falsch, wenn wir Lais mit Emma Hamilton vergleichen. Man mußte jetzt keine Herzogin mehr sein, um sich ungestraft wie eine Hure benehmen zu dürfen. Man durfte jetzt eine Hure sein und sich ungestraft wie eine Herzogin benehmen.
Zweitens. Wahrscheinlich ist die Arbeitsscheu der Lais gar nicht hauptsächlich als Beitrag zur Frauenfrage gemeint. Wielands Aristipp ist Wieland, aber der Unterschied ist auch hier, Wieland war ein Schwerarbeiter, Aristipp lebt immer nur vom Erben. »Aristipps Hedonik«, läßt Wieland eine seiner Sprachröhren, den Diogenes, sagen, »sollte die Lebensweisheit aller Begüterten sein«; wer mittellos sei, möge bei den Hundsphilosophen unterkommen. Ans Arbeiten jedenfalls ist für keinen gedacht, nicht für den Reichen und für den Armen nicht, und was Hegel an »Aristipps Schmarotzerphilosophie« stört, scheint Wieland nicht zu stören. Im Grunde redet er von der Klemme des bürgerlichen Autors, der von entfremdeter Arbeit nicht leben mag und von unentfremdeter nicht leben kann. So idyllisiert er für die gehobenen Stände das Liebhaberwesen, für die unvermögenden Schichten die Gammelei und für die Weiber eben den Strich. Aber die gemeinschaftliche arkadische Faulenzerei des sauberen Pärchens kommt mir — bei allem Verständnis — doch auch wieder ein bißchen kavaliersmäßig vor.
Drittens. Lais ist impotent und eine Maulhetäre. Aber nicht nur sie, auch Aristipps Gattin und der glückliche Aristipp selbst treiben die geschlechtliche Zurückhaltung bis zu einem Grade, der noch Gellerts »Schwedische Gräfin« mit Neid erfüllen kann. Es ist aber nicht, wie bei Gellert, tugendhaft gemeint, sondern tändelnd. Diese Liebesregel eines asexualen Erotismus ist nicht eben die Emanzipation des Fleisches; ich schlage aber nicht vor, sie ihrer Bescheidenheit wegen zu belächeln. In einer Zeit, wo wir Deutschen so verklemmt waren, daß kaum einer unserer Dichter mit einer anderen Frau sinnliche Einverständnisse unterhielt als mit seiner Schwester, gab es keine vorgeschrittenere. Wenn sie nicht sexual war, so war sie doch immer erotisch.
Ich habe mich in Einzelpunkten verloren. Ich kehre zum Roman zurück und zu dem Umstand, daß in ihm wenig geschieht.
Das Inhaltsverzeichnis der Reemtsmaschen Schrift verzeichnet eitel Inhaltlosigkeit. Ihre sechs Kapitel sind überschrieben: 1. Politeia, 2. Politik, 3. Philosophie, 4. Lais, 5. Ästhetik, 6. Symposion. Handelt man so über ein Kunstwerk? Reemtsma berichtet nicht, was in dem Buch sich ereignet, er berichtet, worüber in dem Buch geredet wird. Es liegt nicht an ihm, es liegt am Buch. Außer dem, was die Leute reden, geschieht in ihm nichts.
Reemtsma unterrichtet uns, daß Wieland gerüstet war, eine Geschichte der Sokratischen Schule zu verfassen. Arno Schmidt nimmt die Behauptung auf seine Kappe, der »Aristipp« sei der »einzige historische Roman« der deutschen Literatur. Zutrifft, daß Wieland in den griechischen Altertümern gut Bescheid weiß. Nicht zutrifft, daß ihm hierdurch Gattungserhebliches gelungen wäre.
Seine historischen Personen und Gegebenheiten sind weder genaue Nachahmungen derjenigen, die einstmals lebten oder sich begaben, noch sind sie genaue Anspielungen auf die Dinge der Jetzt-, will sagen der Entstehungszeit. »Aristipp« handelt in einem wunderlich verschwommenen Zwischenreich aus gewesener und seiender Wirklichkeit. Er ist weder ein Geschichts-, noch ein Schlüsselroman.
Was historische Literatur ist, lernt man bei Shakespeare. Er folgt seinen Gewährsleuten, dem Plutarch oder dem Holinshed, scheinbar Wort für Wort, so als ob er sie kaum bearbeitet habe; hierbei erreicht er, daß das entstandene Drama die elisabethanischen Läufte vollständig und mit äußerster Ähnlichkeit wiedergibt. Die Geschichte, wenn Kunst sie als Metapher einsetzt, ist das wie das: richtig als sie selbst und wahr, was die Gegenwart betrifft. Shakespeare ist Fleisch und ist Fisch. Dahn und Feuchtwanger, um Arno Schmidt zu entgegnen, sind beides. Wieland ist das eine nicht und nicht das andere.
Reemtsma verteidigt Wielands Stil. »Wieland schreibt lange Sätze«, teilt er mit, »aber keine langatmigen«. Kein Einspruch; der Stil ist an nichts schuld. Sobald es Wirklichkeit zu halten bekommt, ist Wielands Deutsch sehr gut. Ton und Stimmung des »Aristipp« sind von einer erlesenen Reinheit und Leichtigkeit des Geschmacks. Goethe lobt an ihm »das Zarte, Zierliche, Faßliche, das Natürlichelegante«. (Manchmal formuliert Goethe wie Thomas Mann, wenn er Goethe nachmacht.)
Auf diese langweilige Weise ist das Buch kein schlechter Zeitvertreib.
Wieland wird gelegentlich die eine oder andere Behauptung vortragen, der Sie nicht beifallen, aber nie eine, die Ihnen unangenehm ist. Man fühlt sich in seinem Dunstkreis immer wohl. Er ist vielleicht der sympathischste Autor aller Zeiten. Es ist unmöglich, ihn nicht gern zu haben. Leider ist es möglich, von ihm nicht gefesselt zu sein.
Ein Kunstwerk von der großen Gattung muß totalitär sein. Von ihm wird verlangt, daß es Totalität habe; es soll das Gesamt fassen, im Ernst groß sein. Der »Aristipp« läßt alle Philosophen der Welt philosophieren und alle Staatsvorkommnisse der Welt vorkommen — und wir greifen, wenn wir Gutes von ihm reden, zu Wörtern wie »überaus angenehm« und »klug« und »wohlgeraten«, Das sind nicht die Wörter, welche die Sprache für Höchstes bereitstellt. Da ist ein Unterschied zwischen einem Endlos-Feuilleton und einem Roman. Die Erscheinungshöhe, auf die der Stoff Anspruch erhebt, wird nicht durch Handlung beglaubigt.
Wielands »Aristipp«, will ich sagen, ist lang, nicht groß. Kommen wir auf Reemtsma.
Jan Philipp Reemtsma ist ein Philologe und verfügt folglich nicht über die Gabe, schlecht und gut in der Kunst auseinanderzuhalten, Es spricht für ihn, daß er sich dieses Unvermögens bewußt ist. Er hat auf Abhilfe gesonnen und beschlossen, sich allen Geschmacksurteilen von Arno Schmidt anzuschließen.
Damit hat er nun so viel Glück, wie er hat.
Arno Schmidts Urteile sind zur Hälfte begnadet, zur andern Hälfte toll und albern. Das Genie dieses großen Künstlers und unerschrockenen Autodidakten ist zu unerzogen, um zuverlässig beholfen zu sein. Zum Albernen an Arno Schmidts Wertungen gehört alles, was er über Goethe, und nicht wenig von dem, was er über Wieland sagt.
Ich erinnere an seinen Ausspruch über den »Aristipp« als unseren »einzigen historischen Roman«, im selben Atem versichert er noch, der »Aristipp« sei »der einzige ›Briefroman‹, den wir Deutschen besitzen, und mit Ehren vorzeigen können«. Auch das ist falsch. Er ist weder der einzige, noch der beste.
Und schließlich kann Schmidt sich gar nicht lassen über des »Aristipps« kunstvollen Aufbau. Er schwärmt vom »Fachwerk des großen Buches«, vom »Stahlskelett der Trägerkonstruktion«; er feiert Wieland als ungewürdigten »Berechner der äußeren Form«. Er gibt ihm hohe Titel, leider fehlt ihm dann der Platz, diese Titel zu begründen.
Reemtsma sagt das von der geschliffenen und kalkulierten Form auch. Er hätte den Platz, begründet es aber auch nicht.
Die Behauptung vom »einzigen Briefroman« begründet Schmidt. Reemtsma, wie ich sagte, schließt sich an. Schmidt kennt das »primitivste Kennzeichen eines Brief›wechsels‹«: »es müssen mindestens zwei gleichberechtigte Landschaften und zeitlich parallele Erlebnisreihen vorliegen!« Mir war nicht gegenwärtig, daß ein Roman aus Landschaften und Erlebnissen (»Gehirnvorgängen«) konstituiert ist; ich hätte vorgezogen, von Zweifaltigkeit zu reden, und hätte zu der die Mitwirkung der Post nicht gebraucht. Aber Schmidt beharrt auf seiner Bestimmung. Es gehe beim Briefroman, wiederholt er, um »zwei mächtige Landschafts- und Erlebnisgruppen«. Ich sage jetzt, worum es beim Briefroman geht.
Der Briefroman, das macht seine Gattungsschönheit, gibt den Romanpersonen Gelegenheit, ihre subjektive und meist irrige Sicht auf die Handlung vorzutragen. Höhepunkt ist gewöhnlich ein Auftritt, an welchem drei Leute — Spieler, Gegenspieler und Beobachter — das Vorgefallene auf unvereinbare Weise wahrgenommen haben und so zu Papier bringen. Es funktioniert wie im »Rashomon« — mit dem Unterschied, daß im Briefroman, nicht anders als im Drama, der Romanleser immer Bescheid weiß und immer klüger ist als der Briefleser.
So beschaffen sind Laclos’ »Gefährliche Liebschaften«. So beschaffen, wenn man es einheimisch will, ist das von Reemtsma so schnäppisch abgefertigte »Fräulein von Sternheim« unserer Bekannten La Roche. So nicht beschaffen ist der »Aristipp«.
Obgleich in Briefform verfaßt, bleibt der »Aristipp« unmißkennbar die Arbeit eines einzigen Gesamterzählers. Die Schreiber unterrichten einander wahrheitsgemäß und vertrauenswürdig über die Ereignisse, sind auch stets ziemlich einer Meinung. Ihr Äußerstes ist, daß sie gelegentlich eine Frage von bei den Seiten betrachten, so wie jeder leidlich aufgeweckte Mensch das täte, im Grunde sind sie austauschbar. Einmal ist in meiner Ausgabe eine Briefüberschrift verwechselt; ein Brief an Aristipp ist als Brief von Aristipp bezeichnet. Es schadet überhaupt nichts. Alle diese Briefe sind von Wieland an Wieland geschrieben. Es ist eine Korrespondenz Wielands mit sich selbst. Unter 142 Briefen ist nicht einer, der einen anderen bestreitet, so sehr geht alles aus einem Ton.
Es bedarf vielleicht einer gewissen schwer zugänglichen Leseerfahrung, bemerkt Reemtsma, »um die Polyphonie eines Romans wie des ›Aristipp‹ würdigen zu können«.
Anders als die ästhetischen sind Reemtsmas politische und philosophische Urteile ganz sein Eigentum. Um Wielands Schönheiten loben zu können, genügte, daß er ihn mißverstand. Um Wielands Politik und Philosophie loben zu können, muß Reemtsma Wieland ändern.
Aristipp nimmt an den öffentlichen Geschäften nicht teil. Zwar verfolgt er scharf hinblickend ihren Verlauf, aber er erweist ihnen nicht die Ehre, sein Herz an sie zu hängen; er begegnet dem Treiben der Parteien mit zergliedernder Wurstigkeit. Reemtsma nennt ihn richtig einen »politischen Unpolitischen«, ihm gefällt diese Haltung sehr, so auffallend sehr, daß man glauben könnte, Wieland sei unser Zeitgenosse und seine Haltungen gingen uns an.
Welche Gesellschaftszustände hatte Wieland im letzten Jahrdutzend von Frankreich vorgeführt bekommen? Den Absolutismus Ludwigs XVI. Den Sieg einer konterabsolutistischen Fronde, der zur Revolution führte. Die konstitutionelle Monarchie. Die demokratische Diktatur. Die liberale Oligarchie des Directoire. Die Tyrannis Bonapartes.
Zwei dieser Zustände hatten sich als nicht haltbar erwiesen: die Kleinbürgerherrschaft der Jakobiner und die Bourgeoisherrschaft der Direktorenrepublik. Alle anderen waren Mischzustände, bürgerlich-feudale Klassenkompromisse, nicht durchaus unähnlich dem, der in Deutschland auch bestand.
Der deutsche Absolutismus war vergleichsweise aufgeklärt. Es war mindestens so wichtig, das Erreichte nicht zu verschlechtern, wie es zu verbessern. Die französische Revolution ist dem deutschen. Absolutismus gegenüber nicht das Ganz-Andere. Keine unabweisbare Wer-wen-Frage erforderte ein Wer-wen-Denken.
Ich versuche zu sagen, Politische Indolenz im Jahr 1800 ist eine andere Sache als politische Indolenz im Jahr 2000.
Wieland macht sich den Spaß, für Aristipps Vaterstadt Kyrene eine Verfassung auszudenken. Sie ist schlicht. Es gibt ein Oberhaus für den Adel und eine Volkskammer für die Bürger. Die Doppelherrschaft ist institutionalisiert; jemand muß sorgen, daß die Klassen das Gleichgewicht halten, hierfür ist ein Verfassungsausschuß vorgesehen. Die ersten zwei Vorsteher oder Konsuln tragen putzig-sinnige Namen. Es sind die Herren Demokles und Aristagoras.
Es ist auf Grundlage dieses Kuhhandels, daß Wieland tolerant war. Die richtige Klassenlage vorausgesetzt, sind ihm die Staatsformen gleichgültig, so wie sie Goethe, Hegel und meinem Freund Ascher gleichgültig sind. Einen rein bürgerlichen Staat würde er mit Mißtrauen betrachtet haben; (dem Bürgertum die Alleinmacht zu wünschen, war ja von den deutschen Dichtern allein Lessing instinktlos genug). Mit Groll betrachtet haben würde er eine Feudalmonarchie oder eine Adelsrepublik. Glücklicherweise waren diese Spielarten des Standestaats in Mitteleuropa obsolet.
Zwischen Bürgertum und Adel, das ist seit der Gotik, ist der Kompromiß die natürliche Weise des Zusammenlebens. Wieland zeigte in der Politik keinen Eifer, weil es nichts zu ereifern gab. Alles ging, wenn es nur ging. Für Varianten läßt man sich nicht hängen.
Aus der Tatsache, daß Wieland alles duldet, was geht, macht Reemtsma: Wieland duldet alles.
Nicht zum ersten Mal trage ich vor, daß Wieland hinsichtlich dessen, was ging, eine bestimmte Vorliebe hatte. Die Diktatur, meinte er, ist von allen Weisen des öffentlichen Pfuschs die am wenigsten pfuscherische. Seit 1798 war Wieland für Napoleon. Im »Aristipp« ist Wieland für Napoleon.
Da gibt es also die riesige Großstadt, die wir Griechen im Westen liegen haben, Syrakus; das Land, das sie beherrscht, ist Sizilien, Dort macht seit langem der Tyrann Dionysios seine Sache, und er macht seine Sache gut. Er rüstet endlich eine Flotte gegen den Dauerfeind Karthago, welches Sizilien seit hundert Jahren mit Überfällen von See behelligt.
Napoleons Landungsvorbereitungen gegen England in Boulogne fielen auf die Jahre 1801 bis 1803. Der »Aristipp« ist kein Schlüsselroman, aber selbst Reemtsma räumt ein, daß vom Ersten Konsul die Rede ist.
Die Frage, warum Wieland sich unter den antiken Philosophen ausgerechnet den Aristipp als Zweit-Ich aussuchte, der ihm so wenig ähnelt, und nicht beispielsweise den Demokrit, Leukipp, Epikur oder Lukrez, läßt eine überraschende Antwort zu: Weil Aristipp sein letztes Lebensdrittel am Hof des Dionys verbrachte. Aristipp war der Fürstenknecht, der, wie Diogenes ihn genannt haben soll, »königliche Hund«.
Ich kann und muß nicht nacherzählen, mit wie gespanntem Anteil der Roman ausgerechnet die »Syrakusischen und Sicilisehen Staatsverhältnisse« schildert, mit welchem Wohlwollen er ausgerechnet die Taten des »in Krieg und Frieden großen Fürsten«, des »sogenannten Tyrannen« Dionysios hersagt und mit welcher Ausführlichkeit der mögliche Nutzen ausgerechnet von Usurpatoren erwogen wird.
Platon gibt im »Staat« eine Rangordnung der Regierungsformen. Die allerbeste ist ihm ein ständisches Königtum. Am schlechten Ende der Liste steht als zweitschlechteste Regierungsform die Demokratie, als allerschlechteste die aus dieser notwendig hervorgehende Tyrannis. Wieland schmatzt vor Genuß, wenn er das berichtet. Ich schiebe ihm nichts unter, wenn ich meine, daß ihm genau diese Rangordnung sehr recht ist, wenn man sie auf die Füße stellt.
Ein paar Seiten lang kriegt Reemtsma ordentlich Angst, Wieland könne in eine »Diktatur des Generals Bonaparte« eine »– wie immer irrende — Hoffnung« gesetzt haben. Aber es kommt dann so schlimm nicht. Die Gefahr geht vorüber, und zwar dadurch, daß neben den zweihundert Stellen für den Korsen auch zwei zu seinem Nachteil sich finden lassen.
Wieland ist kein Schleimer; er sagt über die Leute, denen er anhangt, nicht nur Gutes. Die vernünftigste Tyrannei bleibt eine Tyrannei. Es könne, sagt er beispielsweise, dem Tyrannen wohl zustoßen, daß er den Tyrannen etwas derber mit uns spielte, »als es unserer persönlichen Freyheit zuträglich seyn möchte«. Die Diktatur, sagt er, möge von ihm aus die ganze Welt überziehen, er selbst aber wolle dann lieber woanders wohnen.
Es ist Reemtsma ein bißchen peinlich, daß diese enorme Tyrannenschelte in einem Brief steht, der nicht vom Helden Aristipp unterzeichnet ist, sondern von dem Sophisten Hippias. Es muß ihm nicht peinlich sein. Alle Briefe sind von Wieland.
»Ich stehe nicht dafür«, faßt Wieland Hippias zusammen, »daß nicht auch einem Dionysius so etwas — tyrannisches — begegnen könnte«.
Und Reemtsma …
»Mit dieser Korrektur an Aristipps ›Es kommt auf die Verfassungen zum wenigsten an‹ kommt Wieland zum Endpunkt seiner politischen Schriftstellerei«, jubelt Reemtsma ganz erleichtert.
Wahrhaftig. Reemtsma ist fähig und legt aus und macht aus der einfachen Tatsache, daß Wieland weiß, was eine Tyrannei ist, folgende Unterstellung:
Wieland in seiner nachahmenswerten Indolens läßt alle Staatseinrichtungen gelten — ausgenommen die tyrannischen. Er hat sich, als herrsche in Christoph Martin Wielands Kopf keine minder grauenvolle Öde als in dem jener völkerbelehrenden Heideggerschülerin aus Princeton.
»Jede Regierung«, das schreibt nun Aristipp wirklich persönlich, ist »nur eine schwache Stellvertreterin der Vernunft, die in jedem Menschen regieren sollte«. Man könne, schreibt er, »nicht ernstlich genug daran arbeiten, die Menschen vernünftig und billig zu machen. Aber, wie die Machthaber hiervon überzeugen? Dies«, schreibt er, »ist noch immer das große unaufgelöste Problem. Wie kann man ihnen zumuten, daß sie mit Ernst und Eifer daran arbeiten sollen, sich selbst überflüssig zu machen?«
Diese Sätze aus dem ersten Viertel eines Romans, den Wieland mehr als zehn Jahre vor seinem Tod verfaßte, sind, stellt Reemtsma fest, »der Schlußpunkt, den Wieland am Ende einer fast ein halbes Jahrhundert währenden Tätigkeit als politischer Schriftsteller setzt.«
Ich fühle mich noch nicht richtig totgeschlagen, weder von dem Endpunkt, noch von dem Schlußpunkt.
Welchem Staatsmann, der seinen Verstand beisammen hat, wäre nicht an politischer Reife und sittlicher Bildung seiner Untertanen gelegen? Kein Mensch herrscht gern mehr, als er muß; ein unpoliziertes Staatsvolk ist ein großer Schrecken, und die Schuld an den sich nicht selber regierenden Völkern gibt, das weiß man doch, Wieland nie den Regierungen und allemal den Völkern. Aber Reemtsma redet mahnend und salbungsvoll, wie wenn die paar hingeworfenen Dialogrepliken Wielands politisches Testament wären und eine Antinomie von mindestens Kantischer Unerschütterlichkeit.
»Man bedenke«, so legt er es uns auf die Seele; »ob in diesem klassischen Einwand anarchistischer Provenienz gegen staatssozialistische Modelle nicht das Schicksal der Revolutionen des 20. Jahrhunderts in a nutshell« liege, nämlich, »der kurzfristige Erfolg ebendieser staatssozialistischen Modelle«.
Ich glaube nicht, daß Reemtsma den Lenin an dessen paar Haaren in den Kontext hereinzerrt, weil er bezweifelt, daß dem die nahe Zukunft gehört. Ich glaube, es verhält sich umgekehrt. Er tut es, denke ich, weil er es nicht bezweifelt.
Daß jedenfalls, weil »Machthaber« immer wieder einmal nicht selbstlos sind, der Sozialismus mit Notwendigkeit zu Grund gehen muß, war, wenn wir Reemtsma folgen, für Wieland abzusehen. (Streng genommen redet ja Wieland an dem fraglichen Ort noch nicht einmal über Napoleon. Er redet über die von ihm selbst entworfene kyrenische Mittelwegsverfassung und, erweiternd, über »alle bürgerlichen Gesellschaften«.)
Wielands Hellsichtigkeit ging bekanntlich so weit, daß er den Antritt Napoleons vorhersagte. Den Abtritt Napoleons hat er, soweit ich sehe, nicht vorhergesagt. Ist nicht ein Trost, daß er wenigstens über das Scheitern Ceausescus Bescheid wußte?
»Das«, erklärt Reemtsma, »ist keine unzulässige Aktualisierung«.
Das von der Politik. Was von der Philosophie?
Philosophen, sagte ich oben, kommen im Umfeld des Sokrates recht eigentlich nicht vor. Das ist es, wofür Reemtsma sich dem Sokrates verwandt weiß. Er hat selbst einen kleinen Popper im Knauf seines Spazierstocks.
Die Sokratiker sind lauter Dr. Hilfreichs, Streetworker, die sich um Natur und Gesellschaft, Logik und Erkenntnis erklärtermaßen nicht scheren und zufrieden sind, wenn sie sich und ihre Anhänger durch harte Zeiten so leidlich durchsteuern. Wieland läßt sie sein, was sie sind, gute Männer. Für den Alltagsgebrauch reicht der gesunde Verstand ja wirklich. Reemtsma, der sie alle ganz ernst nimmt, folgert aus Wielands Nachsicht, daß die Duldung und Neigung des Dichters einer Philosophie ebensowohl wie der anderen gehöre. Wie wenn überhaupt von Philosophie die Rede ginge.
Einem Philosophen indes gehört des Dichters Duldung und Neigung nicht, dem Platon. Platon ist Wieland/Aristipp ein Greuel. Die Abschweifung über Platons »Staat« zählt in ihrer vergifteten Sanftmut unter die großen Streitschriften unserer Literatur. Sie anerkennt, daß Platon, ungeachtet seines uneinladenden Denkstils und spitzfindigen Wesens, keineswegs dumm fragt, und daß er, wiewohl er immer tief tut, auf eine Weise doch immer auch tief ist. Nur gelegentlich läßt Wieland/Aristipp sich gehen und gibt zu verstehen, daß Platons Antworten natürlich insgesamt Quatsch sind.
Ich benutze für den Roman-Aristipp das gleichsetzende Wieland/Aristipp, auch Reemtsma verfährt so. Wir dürfen das. Es ist wirklich kein Spalt zwischen den Ansichten des Autors und denen seines Helden.
Ich wollte aber, Reemtsma hätte sich aufgerafft, den Aristipp aus dem »Buch vom Ich« den Reemtsma/ Aristipp zu heißen. Vieles wäre klarer, wenn diese Unterscheidung gemacht wäre. Reemtsma läßt unseren liebenswürdigen Afrikaner Dinge denken, auf die er von Wielands wegen nie gekommen wäre.
Reemtsma/Aristipp nämlich wirft dem Platon nicht vor, daß seine Philosophie Quatsch ist, sondern daß sie Philosophie ist.
Reemtsma/Aristipp nämlich liebt an den Jungs des Sokrates, den Überlebensphilosophen von der idyllischen, elegischen und satirischen Sorte, eben das, was ihren Mangel ausmacht, daß sie nicht philosophieren können. Es gibt, verkündet er, gar keine Wissenschaft Philosophie. Es gibt nur Einzelwissenschaften. Eigentümlich philosophische Fragen, verkündet er, werden von keinem Gegenstand aufgeworfen, nur von den Philosophieprofessoren, die sich damit ihre Kolleggelder verdienen.
Ich wiederhole: nicht Wieland/Artstipp verkündet das alles. Ausschließlich Wielands Interpret schiebt es ihm in die Sandalen.
»Der Roman ›Aristipp‹ ist der Versuch zu zeigen, daß es keine Probleme gibt, die die besondere Eigenschaft haben, ›philosophisch‹ zu sein« (Reemtsma).
Aus Platons Phantasie vom »Philosophenkönig« wird — unter Reemtsmas, nicht Wielands Hand — der »herrscherliche Anspruch« der Philosophie. Reemtsma ist nicht nur ein Leugner alles Wissenkönnens. Er ist sogar ein Tadler alles Wissenwollens. Philosophie, sagt er, ist »im Grunde« Religion: ein »unnatürliches Trachten nach Gewißheit«.
Ich kann leben, ohne hierauf zu entgegnen. Es ist möglich, daß von den Denkschwierigkeiten der Philosophie nicht eine einzige besser als annäherungsweise gelöst ist, und es ist wahrscheinlich, daß die Behauptung, man habe die Lösung, oft schadet. Aber der größte Schaden auf dem Weg zur Menschwerdung ist Wissensverzicht.
Irgendwer sollte einmal einen Blick auf die Ergebnisse der Einzelwissenschaften werfen, etwa die vom Kosmos, vom Bewußtsein und von der Gesellschaft. Sind die weniger religiös? Oder weniger idiotisch? Ich versichere Ihnen: nur eine schier bedingungslose Hingabe. an die Philosophie kann uns vor dem Schwachsinn der Einzelwissenschaften retten.
Nun hat aber Reemtsma dem Text eine weitere verborgene Wahrheit entrissen. Mit dem Platon, offenbart er uns, meint Reemtsma/Aristipp den Kant. Am Kantschen System zeigt sich jener unerträgliche »Herrschaftsgestus der Philosophie«, den Aristipp von Kyrene, Christoph Martin Wieland und Jan Philipp Reemtsma so Arm in Arm in Arm bekämpfen.
Wir sehen ein, daß der Name Kant im alten Griechenland und also im »Aristipp« nicht auftauchen kann. Wir müssen Reemtsmas Wer-ist-wer-Behauptung, wenn sie zwar ein Fall von »literarischem Positivismus« ist, nach dem Prüfmaß prüfen, das wir haben, nach ihrer Beifallswürdigkeit, Annehmbarkeit und Gabe einzuleuchten.
Ich habe mich wohl schon verplappert. Sie leuchtet mir nicht ein.
Der Absolutismus ist die zeitweilige Synthese von Lehnswesen und Bürgertum. Kant ist die zeitweilige Synthese von Idealismus und Materialismus. So vollendete Kant den Überbau des aufgeklärten Absolutismus.
Darum und dann noch darum, weil er ein sehr gewissenhafter und genaudenkender Philosoph war, also eine große Leistung in dem Fach erbracht hat, von dem Reemtsma sagt, es gebe es nicht, ist die deutsche Philosophie durch Kant hindurchgegangen, so wie sie durch Adam Smith und die französische Revolution hindurchgegangen ist.
Wieland stand politisch eher links von Kant und philosophisch — als, sagen wir es ruhig mit Goethe, Mann Shaftesburys — eher hinter Kant. Es ist richtig, daß ihm Kants Denkart nicht besonders lag und daß er sich irgendwann sogar mit Herder gegen ihn zusammenrottete. Es ist ferner richtig, daß er den Platon verabscheute. Hieraus folgt nicht, daß sein Platon den Kant darstellt, jedenfalls nicht nach der Logik. Wenn Kant denn schon ein Idealist sein soll, aber sein Ding an sich hat mit einer Platonischen Idee so gut wie nichts zu tun.
Ein anderer Philosoph, den Wieland verabscheute, war Fichte. Die Übereinstimmungen zwischen Platons »Staat« und Fichtes »Reden an die deutsche Nation« liegen am Tag. Freilich sind Fichtes »Reden« erst von 1808, und Wieland hält sich, wie Reemtsma bemerkt, bei Platons politischen Dummheiten nicht sehr lang auf, weil sie die Jahre um 1800 noch kaum betrafen. Dieselben Dummheiten bei Meyern sind von 1787 bis 1791. Wieland, kann sich Reemtsma das nicht vorstellen, wußte, was zu seiner Zeit gedacht wurde.
Aber Reemtsma hat sich in den Kant verbissen. Er besteht darauf, daß der ganze »Aristipp« gegen Kant gehn muß. Warum? Weil sich Kant des Erzverbrechens schuldig gemacht hat anzunehmen, daß er im Recht sei.
Im Roman steht: Wieland/Aristipp hält eine Philosophie für nicht wahr, alle übrigen läßt er so hingehn.
Im »Buch vom Ich« steht: Reemtsma/Aristipp bekämpft den Wahrheitsanspruch der Philosophie als solcher und billigt das Nichtphilosophieren und will das Philosophieren aus der Welt.
»Philosophie als Lebensleistung, nicht als Denkleistung!« Diese Reemtsmasche Antithese ist schon schlagender ausgedrückt worden. »Das Ziel ist nichts, der Weg ist alles.«
So wie Wieland, wenn wir Reemtsma zu glauben vorhätten, schon ahnungsvoll den Sozialismus widerlegt hat, genau so hat er vorlaufend den Eduard Bernstein bestätigt. Ich bin gar nicht versessen darauf, dauernd mit dummen Scherzen zu dienen. Aber Reemtsma behandelt den Immanuel Kant wie einen Professor aus Kaliningrad.
Ich habe zu zeigen, daß Wielands Platon der Kant im Geringsten nicht ist.
Hören wir, was Wieland gegen Platon sagt. — Im Betreff der Kunst mißfällt ihm, daß dieser alle Gattungsrichtigkeit verfehlt. Ein Dialog habe seine Kunstregeln auch; der »Staat« hingegen sei ein unordentlicher Mischmasch von Unzusammengehörigem und »von einem auffallenden Mißverhältnis der Theile zum Ganzen« und »Überladung mit Nebensachen« nicht frei zu sprechen. Platon wolle Philosoph, Dichter und Redner zugleich sein; dieser »dreifache Charakter« verführe ihn, mit Analogien, Allegorien, Milesischen Märchen und all den »ammenhaften« Beimengungen zu arbeiten, die nun einmal ein — Gesamtkunstwerk so sprenkeln. Das Wort Gesamtkunstwerk fällt nicht. Es fällt uns nur ein. Das Unendliche mag Wieland als Ziel der Schönheit nicht nehmen. Wie kann, fragt er, schöngestalt sein, was unendlich ist?
Im Betreff der Erkenntnis wirft er Platon vor, er habe seiner Bauchrednerpuppe, dem Sokrates, eine »subtile, schwärmerische, die Grenzen des Menschenverstandes überfliegende Philosophie« untergeschoben. »Unser Mystagoge«, so Wieland, erblicke die »neuentdeckte übersinnliche Sonne«, diejenige, die die rein geistigen Dinge erleuchtet. Sein heiliger Mann, der Universalmonarch, müsse sich »zum mystischen Anschauen des Unwesens aller Wesen erheben«.
Im Betreff der Politik endlich erzählt er, wie, dem Platon nach, die Klassen verschiedenwertig geboren seien, von »ungleichartigem Metall« nämlich, oder wie vielmehr die Behauptung aufgestellt und vermöge von Propaganda durchgesetzt werden müsse, sie seien es. Diese Theorie der Klassen als Geburtsstunde referiert Wieland mit Sorgfalt: Die Ungleichheit der Legierung ist nicht wahr, und demzutrotz denknotwendig. Die Zucht der jungen Brut erfolgt nach Art der Tierzucht; die Weiber wachsen männisch auf; Hauptsubordinierungshilfen sind Musik und Turnen. Der Dialog vom »Staat« läuft auf eine Begriffsbestimmung der Gerechtigkeit hinaus. Gerechtigkeit ist die ewige Dauer der ständischen Privilegien; das Mittel, das sie befestigt, ist die spartanisch-archaische Zwangserziehung.
Alle letzten Fragen aber werden nicht von der Philosophie entschieden, sondern von »den Priestern des Tempels zu Delphi«. Dieser Tempel untersteht Sparta, und kein Schelm, wer hier an Rom denkt.
Wer also soll mit dieser Wielandschen Beschreibung beschrieben sein?
Kant? Das ist, erstens, in jeder Faser das Gegenteil von Kant. Das ist zweitens das genaue Programm des »Athenäum«. — (Es geschah in demselben Jahr 1800, in dem Wieland den Platon auf so erledigende Weise drosch, daß Friedrich Schlegel Friedrich Schleiermacher beschwatzte, den Deutschen eine Übersetzung dieses Denkers vorzulegen).
Das »Athenäum«, die Zeitung der Schlegels, war seit 1798 erschienen und hatte sich bis 1800 geschleppt. Eine erklärte Absicht des »Athenäums« war die Auslöschung Wielands. Auch Wieland wollte der Romantik nicht nur wohl.
Sein Roman, gedruckt 1800 bis 1802, ist vom alleraktuellsten Bedürfnis.
Noch aktueller kann ein Roman auf seine Gegenwart nicht erwidern. Der »Aristipp« ist — auf seine salonmäßige, ja geckenhafte Weise unerbittlich ein Roman fürs Konsulat und gegen das »Athenäum«. Ich kann sehr wohl kurz sein, wenn Reemtsma mich ließe.
Daß diesem aufregenden Buch der Schlußteil fehlt, ist bedauerlich. Warum er fehlt, wollen die Gelehrten nicht begründen. Manche sagen, Wieland sei das verlorene Osmannstedt abgegangen, so als habe er in Weimar und in Tiefurt nicht ganz Ansehnliches zustande gebracht; auch habe ihn sonstiger Kummer betroffen. Ferner habe ihn der matte Widerhall der erschienenen Bände entmutigt. Warum übrigens war der Widerhall eines der besten Bücher eines Bestsellerautors matt?
Ich teile Reemtsmas Vermutung, daß ausgerechnet der Band, der mangelt, die Hauptsache enthalten hätte. Nicht einig sind wir darüber, was die Hauptsache sei. Ich weise einfach auf Gegenstände hin, die mit Sicherheit in ihm hätten müssen gestanden haben.
Aristipp wäre auf sein letztes Lebensdrittel in syrakusische, also französische Dienste getreten. Auch Platon wäre zum Dionys hingeeilt und aber abgeblitzt (hierin merkwürdig ähnlich dem Friedrich Schlegel und wie es dem mit dem Ersten Konsul erging).
Aristipps Tochter Arete wäre herangereift und ihm als Kopf der kyrenischen Philosophen gefolgt. In der vorliegenden Romanfassung fällt Aretes Name — zum einzigen Mal, glaub ich — im vorletzten Satz. Aber diese Philosophin war so sehr keine Lais und so sehr eine arbeitende Person, daß das ihr nachfolgende Schulhaupt, ihr Sohn Aristipp, der Metrodidakt hieß, der Mutterlehrling.
Neben Dionysios II hätte eine andere Figuration Bonapartes sich abgezeichnet, Alexander von Makedonien. Von diesem Ausländer wird schon im unvollendeten Roman vorhergesagt, daß er die griechische Einheit ins Werk setzen und der Stadt Athen die Hoffnung eröffnen werde, einem Großreich einverleibt zu werden und durch diese Verumständung die Kulturhauptstadt zu bleiben. Die Vorhersage macht Wieland gut ein Jahr vor Hegel, sieben Jahre vor Ascher. Zusammen mit Alexander wäre der erste richtige Philosoph im Buch aufgetaucht, Aristoteles; der Erfinder des Anspruchs auf ein umfassendes philosophisches System.
Wahrscheinlich war sich Wieland nicht darüber klar, daß Hegel eben im Jahr 1801 in Jena anreiste, um eben diese Stelle einzunehmen, und daß sein Roman-Aristoteles nicht umhin würde gekonnt haben, den Hegel zu bedeuten. Aber diese drei Zutaten, Leben mit Bonaparte, eine mündige Frau und ein umfassender realistischer Denker hätten die Probe aufs antiromantische Exempel aushalten müssen, beim Dichter ebensowohl wie bei seinen Lesern. — Nichts, schließlich, verschreckt eine Zeit an einem Kunstwerk so wie Zeitnähe.
Wieland hatte sich schon mit den herausgekommenen, eher idyllischen und verspielten Bänden nichts als Ärger eingehandelt. Es gibt ein Alter, in dem auch stolze Menschen die Lust verlieren, sich hassen zu lassen.
Reemtsma läßt mich nicht kurz sein. Sie haben sich sicher schon gefragt, weshalb seine »Aristipp«-Auslegung den Titel »Das Buch vom Ich« trägt. Ich sage es Ihnen; denn Sie würden nicht drauf kommen.
Wieland, sagt Reemtsma, ist ein »radikaler Nominalist«, welcher weiß, daß es an der Welt nichts zu erkennen gibt als die Oberfläche. Er gehört (ebenso wie übrigens Shakespeare) in die seit jeher Recht habende Elite derer, die nichts für wahr und nichts für wirklich halten: in die »moderne Traditionslinie« der Anpassler ohne festen Standpunkt.
Wer aber kein Objekt hat, der hat, das soll aus dem folgen, ein Subjekt.
Der »Aristipp« ist das »Buch vom Ich«, weil er das Buch von der Weltlosigkeit ist.
Stimmen Sie mir bei, wenn ich die Art Überlegungen uninteressant finde?
Boten, die Unheil bringen, werden geköpft, und Berichterstatter, die Langweiliges melden, gelten für langweilig. Ich habe für beides volles Verständnis. Ich hätte über Jan Philipp Reemtsma und sein »Buch vom Ich« lieber nicht geschrieben.
Reemtsma hätte ohne weiteres seine Ruhe vor mir haben können. Aber aus einem bestimmten Grund, den wir an dieser Stelle noch nicht angeben können, mag er sich mit dem verdeckten Kampf gegen Wieland und das Menschengeschlecht nicht begnügen. Er steigert sich zu einer gleichsam paradoxen Langweile, einer Langweile, welche wütend und offensiv und nunmehr in der Tat unleidlich ist. Er erfrecht sich gegen Goethe.
Beispielsweise spricht er von »dem traurig niedrigen Verhalten Goethes bei der Inszenierung des ›Zerbrochenen Kruges‹«. Kein Wort hiervon stimmt, und nichts hieran gehört zum »Artstipp« oder in dessen Zusammenhang. Warum schreibt Reemtsma es hin? Ist es ihm nur zugestoßen, und er bereut es schon? Ist es Sensationsmacherei? Verlangt ihn nach Strafe? Wir werden sehen. Von vorn.
Goethe hat Wieland bei den Weimarischen Freimaurern die Totenrede gehalten. Sie gibt dem Verstorbenen seine Würdigung und seinen Ruhm. Es ist nicht möglich, sich über einen kleineren Zeitgenossen, den man hinter sich gelassen hat, gerechter und freundschaftlicher zu äußern, als Goethe über Wieland hat.
Die Weimarischen Freimaurer hatten die Wahl. Sie hätten auch einen anderen Redner nehmen können, irgendeinen Angestellten des Herzogs von Otranto oder des Herzogs von Rovigo, der ihnen gern würde bestätigt haben, der größte Dichter der Deutschen sei von ihnen gegangen. Von Goethe war nichts zu erhalten als die in aller Behutsamkeit endgültige und nie mehr umstößliche Einschätzung des zur Rede Stehenden. Besonnene Männer, die sie waren, hatten sie Goethe gewählt, — Goethe, sagt Reemtsma unerwarteter Weise, hat Wieland ermordet. Schauplatz des Verbrechens ist Wielands Sarg. Goethes Rede, sagt Reemtsma, ist »der Versuch eines Mordes übers Grab hinaus«.
Man kann das ja sagen. Man kann das nicht sagen, ohne Goethes Rede zu fälschen.
Goethe über Wieland, hoch ehrend: Er »hat sein Zeitalter sich zugebildet«. Reemtsma liest den Satz um in: Wieland war »ein Kind seiner Zeit«. Aus einem Urheber seiner Epoche macht Reemtsma (nicht Goethe) einen an seine Epoche Gefesselten. Kann man eine Aussage gegenteiliger lesen?
Goethe über Wieland, hoch ehrend: »Der geistreiche Mann spielte gern mit seinen Meinungen, aber niemals mit seinen Gesinnungen«. Reemtsma übersetzt: »Er mag geschrieben haben, was er will, doch war er im Grunde doch ein anständiger Kerl«. Wieland war, soll Goethe gesagt haben, vielmeinend, aber stets wohlmeinend.
Es verhält sich nur so, daß das Wort Gesinnung das Wort Meinung in ganz anderer Weise überschreitet, als Reemtsma ahnt. »Meinung«, aber das weiß er nicht, ist unter Gesitteten ein sehr abschätziges Wort; es ist das, wozu man in der von Reemtsma bewohnten Gesellschaft die Freiheit hat. »Gesinnung« bedeutet hiergegen so etwas wie geprüfte Grundsätze und Ansprüche an die Welt, an denen man festhält. »Gesinnung«, aber Reemtsma weiß es nicht, ist unter Gesitteten ein sehr hochkarätiges Wort. Ich zitiere.
Hegel (Geschichtsphilosophie): »Von Robespierre wurde das Prinzip der Tugend als das höchste aufgestellt, und man kann sagen, es sei diesem Menschen mit der Tugend ernst gewesen. Die Tugend ist hier ein einfaches Prinzip und unterscheidet nur solche, die in der Gesinnung sind, und solche, die es nicht sind. Die Gesinnung aber kann nur von der Gesinnung erkannt und beurteilt werden. Es herrscht somit der Verdacht«. Und: »Diese subjektive Tugend, die bloß von der Gesinnung aus regiert, bringt die fürchterlichste Tyrannei mit sich«.
Aber Goethe sagt, sagt Reemtsma, daß Wieland ein gutmütiger Opa war.
In Wahrheit redet Goethe von seiner und Wielands Parteilichkeit. Wieland war »für« die Revolution, Goethe »gegen« sie, und es gab in der Sache zwischen ihnen nie einen Streitpunkt. Die Gesinnung stimmte.
Es gab (ungefähr zu der Zeit, als Wieland am »Aristipp« schrieb) zwischen Goethe und Wieland Konflikte, solche, wie sie sich zwischen Künstlern von unterschiedlichem Rang ergeben. Der weniger Gute, auch wenn er so hochherzig fühlt wie Wieland, wird gelegentlich zänkisch. Wielands junge Männer konnten nicht immer den Schnabel halten. Der Goethe-Neider Herder und die Goethe-Schmeißfliege Kotzebue wurden von Wieland nicht immer streng genug zurückgewiesen, übrigens auch umgekehrt die Wieland-Heißer Schlegel von Goethe nicht. Es gab zu keiner Zeit einen Konflikt über das Weltwesen. Es gab ihn schon überhaupt nicht im Jahr 1813, als der eine Ritter der Ehrenlegion dem anderen Ritter der Ehrenlegion die Logenrede hielt.
Goethe sprach über Wieland so angemessen, wie die Klassik über die Aufklärung, deren größergewachsenes Kind sie ist, äußersten und freundwilligsten Falls sprechen kann. Heines Nachruf auf Nicolai klingt viel schnöder, ist aber genau so liebevoll. Unsere Klassiker sind keine Vatermörder. Sie stehen im Widerspruch zur Aufklärung insofern, als der Höhepunkt einer Sache im Widerspruch zu deren gewöhnlicher Seinsweise einmal stehen muß. Sie machen den Sprung, der sie von der Aufklärung trennt, deutlich und nehmen sie im übrigen gegen die gemeinsame Krätze, die Romantik, in Schutz.
Aber Reemtsma schmollt und läßt sich nicht mildstimmen.
Er nennt Goethes Achtungsbezeugung »eine erfolgreiche Strategie«, Wieland »aus dem literarischen Kanon auszuschließen« — jenem Kanon, der zu Reemtsmas aufrichtiger Verwunderung »um die Zentralfigur Goethes komponiert war«.
Wie alle Gleichmacher stellt Reemtsma sich duldsam, wie wenn es die anderen wären, die händelsüchtig sind. Er behauptet, Goethe habe angefangen. Er wälzt nun den von Goethe »vor Wielands Gruft gewälzten« Stein weg. Und aus der Gruft kommt: ein Schönerer als Goethe.
Der von Goethe uns aufgezwungene Kanon der deutschen Literatur nämlich, wenn wir Reemtsma folgen, hat unlängst endlich seine »Akzeptanz verloren«. Er hat zu gelten aufgehört, und zwar vermöge eines »Paradigmenwechsels«.
Goethe ist uns »ferne gerückt«, und »um das Maß seines Fernerwerdens« sind uns »interessanterweise Lessing, Wieland, Moritz, Hippel, Heinse nähergekommen«. Zum Verständnis erfreut uns Reemtsma mit einer Anekdote.
Einer namens Otto Conradi, erzählt er, habe die Meinung vertreten, man könne Germanist sein, ohne den »Faust« zu kennen; Marcel Reich-Ranicki habe sich hierüber sehr erregt. Auch er selbst, Reemtsma, beteuert er, ziehe solche vor, die den »Faust« gelesen haben. Andererseits wieder, gibt er zu bedenken, habe jener Conradi das Nichtlesen des »Faust« ja nicht gebilligt; er habe nur unverkrampft geschildert, was ist: den staugehabten Paradigmenwechsel eben. Das Reden von einer goethelosen Germanistik nennt Reemtsma »unverkrampft«.
(»Unverkrampft«! — nicht »unverfroren«).
Das Wort Paradigmen heißt was wie Leitwerte oder Rangmuster. Es gab eine Zeit, wo wir für dieselbe Sache ganz verständlich »Maßstäbe« oder »Maßgaben« sagten. Das Wort ist durch und durch Katheder, durch und durch Szene: eins jener pseudoakademischen Insiderwörter, die nicht zufällig an solchen Stellen gehäuft auftreten, deren Inhalt klar auszusprechen peinlich wäre. Nicht Goethe soll Vorbild sein, sondern Hippel? Wie klänge denn das?
Natürlich ändern sich die Musterhaftigkeiten in den Künsten, sind sie erst einmal festgestellt, nicht mehr. Ein Kunstwerk, das gut ist, bleibt gut.
Was mit den wechselnden Gesellschaftsformationen wechselt, ist höchstens noch, wie gut es begriffen wird.
Ich frage mich, was unsere Autoren des 18. Jahrhunderts dem Reemtsma bloß zuleid getan haben. Ich habe doch wirklich nichts gegen Hippel. Er steht bei mir in einer Reihe mit Lawrence Sterne und Jean Paul unter den Dichtern, die ich nicht lesen kann. Was soll er nun sein? Ein gewechseltes Paradigma? Ein neues Muster? Mehr als Goethe?
Ich bitte alle Leser ausdrücklich: Lassen Sie sich durch derlei Narrheiten nicht verstören. Fahren Sie fort, Wieland hochzuhalten, behalten Sie Ehrfurcht, Wieland ist ein Klassiker zweiter Ordnung, aber ja doch ein Klassiker. Die Lusche, als die Reemtsma ihn hinstellt, ist er nicht. Er hat nicht verdient, nach Reemtsmas Bilde gelobt zu sein.
Wenn Sie einmal ein Bedürfnis nach spastischen Witzen haben, lesen Sie ruhig auch Hippel.
Reemtsma bedient sich auf diesen entsetzlichen Seiten 173 und 174 einer absichtsvollen Undeutlichkeit, die etwas Advokatisches hat. Er will, das meint man zu verstehen, Wieland nicht unter Goethe gestellt, aber doch auch nicht ausdrücklich über Goethe. Wohin will er ihn? Er will ihn, so verrückt ist er, statt Goethe. Ich stelle meine oben angekündigte Frage jetzt. Was hat der Mann?
Ist es nur die unbewußte Hinneigung des Philisters zum Nichtgroßen? Ist es nur die Wissenschaft der Dilettantik und Mediokrologie, in Richtung derer die Philologie die Ästhetik instinktiv immer hinrückt? Ich meine, es ist viel weniger unbewußt und keine Sache von Instinkten. Es ist nicht Psychologie, sondern Politik, und ist angeordnet.
Balzac sagt von der Restaurationszeit: »Es gab damals nur zwei Parteien, die Royalisten und die Liberalen, die Romantiker und die Klassiker, der gleiche Haß in zwei Formen.«
Es gibt auch heute »nur zwei Parteien«, die des Imperialismus und die des Sozialismus (und der Satz würde auch an dem Tag nicht aufhören, wahr zu sein, an welchem China, Kuba, Vietnam und Nordkorea ins Meer gesprengt oder der Weltbank unterstellt wären). Es gibt den »gleichen Haß« in einer zweiten Form, als der Haß zwischen der Partei gegen und der für Goethe.
Noch immer ist es die Klassik, die für den Fortschritt steht. Man kann das als eine reine Verabredung begreifen; man muß das aus keiner tieferen Ursache herleiten als das heraldische Bild, das auf einer Standarte gemalt ist. Man kann es geistesgeschichtlich begreifen. Wer Goethe sagt, muß Hegel sagen, und wer Hegel sagt, sagt Marx. Wahrscheinlich ist die Wahl des Feldzeichens beides, zugleich beliebig und eine Frage des Inhalts; wir reden ja vom Schlachtfeld Poesie.
Wie anders als feindlich soll sich der Imperialismus, bankrott und übellaunig, wie er dasteht, gegen den Goetheschen Willen verhalten, die Welt in ihrer Ganzheit zu erkennen und im Kunstwerk zu packen? Der Begriff des Gelingens ist ein antiimperialistischer Begriff. »Bin einer der letzten, vielleicht der letzte, der überhaupt weiß, was ein Werk ist«, schrieb Thomas Mann in sein Tagebuch, während er sich zu seiner zweiten Emigration entschloß, der aus Amerika, wo diese Reemtsmaschen Gedanken alle ausgedacht werden.
Des Politischen Philologen Reemtsma kleine Besonderheit ist darin zu finden, daß es bei ihm nicht, wie sonst, die Romantik ist, die gegen Goethe ins Feld muß, sondern, für Vernunftfreunde, die Aufklärung. Die Aufklärung, dies des Politischen Philologen kopernikanische Entdeckung, war gar nicht so vernünftig, wie Verleumder ihr nachreden. Wieland wird so ausnahmsweise nicht totgetadelt, sondern totgerühmt, das halte ich für keine Verbesserung. Ich denke nicht, daß Reemtsma besser als Beuys ist.
Das »Buch vom Ich« ist flüssig geschrieben. Der Autor besitzt Kenntnisse. Er hat Wieland mit Sorgfalt gelesen und hat über das, was er uns anmutet, nachgedacht. Er ist, wo Redlichkeit seine Zwecke nicht stört, redlich. Ich will mich nicht mit Lob aufhalten. Ich rede von Dingen, die mir mißfallen, ich rede von Langweile.
Die Langweiligkeit des Aristipp von Kyrene ist nahezu kindhaft; in jenen Tagen war noch die Verdorbenheit unschuldig.
Die Langweiligkeit Wielands ist ein noble ennui. Die Langweiligkeit Reemtsmas ist ein hanebüchener Ennui.
Hanebüchen ist der pyrrhonisch-menschewistische Denkplunder. Hanebüchen ist das Ausspielen ausgerechnet Wielands gegen alles Zusammenhängende, Behauptende, Realistische, die Schöpfung eines Paradigmas oder anleitenden Gespensts mit Namen Christoph Martin Wittgenstein.
Die Aufmerksamkeit, die ich ihm widme, beweist, daß das »Buch vom Ich« mich geärgert hat. Aber es allein hätte noch nicht vermocht, mich von meiner Arbeit abzuziehen.
Ein Mensch kann einen Menschen nur langweilen, wenn er die Macht hat, ihn zu langweilen. Die Macht hat Reemtsma bei Haffmans nicht. Es ist gleichgültig, wie langweilig die Bücher sind, die Reemtsma schreibt, weil keiner sie liest, der nicht dafür bezahlt wird. Ich vermute, die zwei einzigen Personen, die den Anti-»Aristipp« aus freiem Willen kennen, sind Reemtsma und ich. Sehr viel bedrohlicher breit macht er sich in der Zeitschrift »konkret«, jener Zeitschrift, die einmal für die Deutschen wichtig war.
Bis zu einem Grade ist sie es noch. Aber seit einigen Jahren finde ich ihre Seiten überzogen mit diesem fußkranken und wegmüden Denken, diesem Esprit von Nullhaftigkeit und Nihilism, diesem Charisma von Langweile — ganz ähnlich wie das Haus Usher mit seinem »zarten Mauerschwamm«, der ihm »als feines verworrenes Gespinst« über die Dachrinne hängt. »Irgendwie«, vermerkt Poe, schien hier »ein krasser Widerspruch zwischen der immer noch lückenlosen Oberfläche und der bröckligen Beschaffenheit des Einzelsteines« vorzuliegen; »außer dieser einen Andeutung auf weitgehenden Verfall jedoch wies der Bau kaum Male beginnender Zerstörung auf«.
Ich will ausdrücken: Jan Philipp Reemtsmas Zotten hängen Hermann L. Gremliza über die Dachrinne.
Ich ersuche die Verantwortlichen von »konkret«, sich zu erinnern, wie bald für das Haus Usher der Augenblick, »als die mächtigen Mauern zerbarsten«, auf den Pilzbefall folgte. »Da scholl ein langer verworrener Donnerruf, wie die Stimme von tausend Wassern, und der unergründliche dunkle Teich zu meinen Füßen schloß sich schweigend und finster über den Trümmern der Zeitschrift ›konkret‹«, ich rufe mich zur Ordnung: »den Trümmern des Hauses Usher«.
Bilder: Nikolai Endegor: Live Marble, 2014,
die komplette Serie mit mythologischen Erklärungen auf LensCulture und LiveJournal.
Die Motive III und XX fehlen, dafür haben VIII, XI, XIV, XVIII und XXII je eine zusätzliche Version.
Soundtrack: John Cale: Lazy Day, 2020:
Uns eine Drehorgel kaufen und unsere eigene Geschichte auf eine Leinwand malen lassen und ein Lied davon machen und es absingen auf allen Gassen des Vaterlandes!
Update zu So mochte mir und dir, die wir nicht zu den Überschwenglichen
gehören, das Mädchen eben ganz recht sein.,
Hochwaldklangwolke: Die einzelnen Minuten,
wie sie in den Ozean der Ewigkeit hinuntertropfen
und Blumenstück 003: Holdselige Ranunkel:
Wilhelm Raabe war mein Versuch, etwas noch Langweiligeres als Adalbert Stifter zu lesen. Dem Namen und dem Ruf als exemplarischer Großlangweiler nach kannte ich den von Kindheit an und bin seitdem immer wieder um seine nie ganz zufriedenstellenden Gesamtausgaben herumgestrichen, wollte aber nie etwas lesen, das Die Chronik der Sperlingsgasse oder Der Schüdderump heißt, für einen Abu Telfan war ich noch von Karl May mit Orientgeschichten überversorgt; allein auf Stopfkuchen war ich nach einer ausführlichen, überzeugenden Rezension in einem Feuilleton meines Vertrauens ernsthaft neugierig.
Der Versuch mit der Langeweile war zwecklos: Abu Telfan ist alles mögliche, nur keine Orientgeschichte, und erinnert viel eher an Jean Paul mit gestraffter Handlung als an Stifters mineralisierte Prosabarbiturate. Das eigentlich hochmoderne Setting ist die Rückkehr eines elf Jahre lang — eben im sudanesischen Abu Telfan — Verschollenen in die spießbürgerliche Heimat, in der er keinen Platz mehr findet. Es ist ungefähr ein ausgehendes Biedermeier, das schon selbstironisch zu seiner eigenen Parodie wird, mit der Lebensnähe des späten Ludwig Tieck, wenn nicht gar schon Theodor Fontane.
Mit seiner Nikola von Einstein erwischt Wilhelm Raabe eine der plastischsten und glaubwürdigsten Frauengestalten überhaupt. Mit ihren zarten 27 Jahren muss sie sich von der eigenen Mutter als alte Jungfer verunglimpfen lassen, kann dem nicht einmal widersprechen — aber „immer noch“ in Schrift und Rede brillant sein. Im Laufe des Romans macht ihre Charakterisierung eine Wandlung ins Gegenteil durch; so ein literarischer Kniff war eigentlich erst postmodern bei T. C. Boyle dran.
——— Wilhelm Raabe:
Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge
Eduard Hallberger, Stuttgart 1867, Sechstes Kapitel:
Es war auch die letzte Fest- und Jubelnacht der Maikäfer, deren es in diesem gesegneten Jahre eine erkleckliche Anzahl gegeben hatte. Sie schienen zu wissen, daß ihre Zeit nunmehr um sei, hatten sich zum letztenmal im Tau und Duft der Nacht berauscht und schwärmten in nicht unberechtigtem Leichtsinn in die Unsterblichkeit hinüber. Sie summten durch die Luft und umtanzten Busch und Baum; in ihrer Trunkenheit gaben sie nicht im geringsten acht auf ihre Wege und flogen dem schier ebenso berauschten Leonhard gegen die Nase oder hingen sich ihm in Haar und Bart.
„Hallo, Gesindel“, rief er, „seid ihr auch da? Recht so, hussa, tummelt euch, nehmt die Stunde, wie sie euch gegeben wird – lustig, lustig, surr, surr, so ist’s recht, und morgen ist’s doch vorbei. Beim Berge Kaf, vivat der Vetter Wassertreter!“
Er lachte abermals hellauf, brach aber schnell horchend ab. Seine wilde Lustigkeit hatte ein melodischeres Echo hinter den Büschen gefunden; ein lockiges Haupt erhob sich über die Hecke – der Genius dieser Mondscheinnacht des letzten Mais hätte sich nicht neckischer und vorteilhafter verkörpern können:
Fräulein Nikola von Einstein – siebenundzwanzig Jahre alt – Hofdame Ihrer Hoheit der Prinzeß Marianne – unverheiratet – – – ach! –
„Er ist es, Lina“, sagte das Fräulein, „nun weine nicht länger, Närrchen; er sieht keineswegs aus, als ob er mit Selbstmordgedanken umgehe; tröste dich, Herz, einer geknickten Lilie gleicht er noch lange nicht; guten Abend, unsträflicher Herr Äthiopier.“
Sie reichte dem Afrikaner die Hand über das Gezweig und rief:
„O Gott, wie indiskret! Aber auch welch ein Abend für alle Indiskretionen! Es freut mich in der Tat, Sie so heiter zu sehen, Herr Hagebucher; hier hab ich mit dem Schwesterchen in großer Sorge um Sie gesessen. Ist es zu indiskret, wenn ich Sie frage, was für einen Grund Ihnen die Welt für Ihre Heiterkeit seit Mondenaufgang gab?“
„Hören Sie, junge Dame“, sagte Leonhard, „man kann aus der Gefangenschaft bei den Heiden recht schwache Nerven heimbringen. Bedenken Sie, daß ich an solches allerliebste Auffahren aus Hagedorn und Heckenrosen durchaus nicht gewöhnt bin. Fühlen Sie meinen Puls.“
„Nein, nein, ich danke und glaube Ihnen auf Ihr Wort!“ lachte Nikola. „Aber dies ist die Grenze Von meines Onkels Reich, und das Recht, hier herüberzugucken, lasse ich mir nicht nehmen.“
„Ich auch nicht“, sprach der Afrikaner, sich Vorbeugend. „Lina, wo steckst du denn?“
„Hier!“ klang weinerlich die Stimme des Schwesterchens, das auf der Bank saß, auf welcher das Hoffräulein stand. „Ach, Leonhard, ich bin so betrübt um dich, und ich habe mich so geärgert. O Gott, o Gott, laß mich mit dir wieder in die weite Welt laufen; wir wollen zusammenhalten, Leonhard, und die Mutter, weiß ich, wird auch zu uns stehen, und der Vater meint’s gewiß nicht so bös, und was geht uns die Tante Schnödler und das übrige alberne Volk an! O Gott, o Gott, wie habe ich mich geärgert –“
„Jaja, Herr Leonhard Hagebucher, und da ist sie hergelaufen und hat sich mir in die Arme gestürzt, grad als ich mit dem Haarbesen auf die Fledermausjagd gehen wollte. Nun weiß ich alles, was das Konzil gebrütet hat, und rate Ihnen recht sehr, doch ja Ihr Bestes zu bedenken und so schnell als möglich Ratsschreiber zu Nippenburg zu werden. Warten Sie, ich kenne zehn Schritte weiter abwärts ein Loch in der Hecke – komm, Lina.“
Das schöne Haupt der Sprecherin tauchte unter, zwei Sprünge brachten den Afrikaner zu dem besagten Loch; es rauschte im Gebüsch, ein schlaftrunkenes Vogelpärchen flatterte, aus dem schönsten Traum der Sommernacht geweckt, auf; mit dem Schwesterchen wand sich Fräulein Nikola von Einstein durch das Gezweig. Die drei standen auf dem schmalen Pfade nebeneinander, und Lina umschlang den Bruder und schluchzte:
„Sei nur still, sei nur ruhig; ich halte gewiß bei dir aus! Fürchte dich nicht, wir wollen, ja, wir wollen –“
„Uns eine Drehorgel kaufen und unsere eigene Geschichte auf eine Leinwand malen lassen und ein Lied davon machen und es absingen auf allen Gassen des Vaterlandes!“ schloß das Hoffräulein den Satz. „Lustig, wir wollen unsere Sparbüchsen zusammenschütten, um die ersten Auslagen dieser Unternehmung zu decken. Vivat! Vivat! Herbei aus den Büschen, Oberon und Titania, Puck, Bohnenblüt, Spinnweb, Motte und Senfsamen! Herbei, ihr Elfen, zur Ratsversammlung; auch wir können unsere Köpfe zusammenstecken, auch wir können die Finger an die Nase legen. Laßt den Onkel Wassertreter aus der Schenke zum Goldenen Rad kommen, auf daß der Rat vollständig sei; – ich stimme für den Leierkasten und erbiete mich, das Orgellied in Musik zu setzen.“
Wie flüssiges Silber rann der Mondenschein durch die Natur, und in vollen Zügen atmete Leonhard den Zauber und das Leben dieser hellen Nacht ein. Es war wie eine Verzückung über ihn gekommen: er hätte sich die Seiten halten und immer lauter hinauslachen mögen; es war wie der Rausch eines Opiumessers, und er wußte es und wunderte sich im Innersten seiner vernünftigen Seele selbst über seinen Zustand. Vielleicht würde es ihm sehr wohlgetan haben, wenn er sich eine Viertelstunde lang auf den Kopf gestellt hätte, um in solcher Weise den Überschuß seiner Heiterkeit loszuwerden. Die Figuren, Gruppen, Meinungen und Vorgänge des Tages schlugen auf das närrischste Purzelbäume vor ihm; das Gleichgewicht aber stellte Fräulein Nikola von Einstein her, da sich Herr Leonhard Hagebucher nicht auf den Kopf stellte wie ein Baggaraneger oder sonst ein Exaltado aus dem Tumurkielande. Sie – Fräulein Nikola – legte ihm jetzt die Hand auf den Arm und sagte ganz ernst:
„Armer Freund, wir sollten eigentlich doch nicht so lachen, zumal bei diesem dummen Mondlicht. Am hellen Tage, im Sonnenschein läßt sich weniger dagegen einwenden. Ihre Geschichte ist recht, recht traurig, mein Freund. Auf dem Grenzsteine dort oder noch besser unter dem Wegweiser an der Landstraße wollen wir uns niedersetzen, die Taschentücher hervorziehen und nach denken über unser Schicksal und über den Weg, neben welchem wir stillsitzen. Heute am Nachmittag hab ich Ihnen auch mit Lachen von meinem närrischen Dasein erzählt; ach, jetzt hätte ich wohl Lust, Ihnen in einem andern Ton eine andere Geschichte von mir zu erzählen, wenn es mir oder Ihnen im geringsten nützlich wäre. Wenn ich ein Mann wäre, so würde ich mir einen nobeln Krieg irgendwo in der Welt aufsuchen und darin etwas tun, was mir Freude machte oder nur Ruhe gäbe oder auch nur die Gelegenheit, mit Gleichmut zu verbluten. Ich hasse diesen Mondenschein, und ich fürchte mich vor diesen surrenden Käfern. Es sind Gespenster des Frühlings, der nicht mehr ist. Sie lügen sich das Leben nur noch vor, und ich bin wie sie und halte mich meiner Nerven wegen in Bumsdorf auf – Maikäfer, flieg, Maikäfer, flieg! Ach, Herr Leonhard Hagebucher, wir passen recht gut zueinander, Sie und ich; kommen Sie, wir wollen uns auf den Stein an die Landstraße setzen und warten – warten. Vielleicht lese ich Ihnen auch einmal im Sonnenschein aus dem Buche meines Lebens eine finstere Seite vor. Weine nicht, Lina, mein Herz, es ist doch eine schöne Nacht; auch für dich wird einst die Zeit kommen, wo du von der Gefangenschaft im heißen Lande Afrika wirst erzählen können. Lustig, lustig, höre nur den Frosch dort – welch ein Komiker! Satt, zufrieden und dankbar – den Burschen lob ich mir, und horch, wer ist das? Der Vetter Wassertreter! Den lob ich mir auch! Der Vetter Wassertreter! Vivat der Vetter Wassertreter!“
Welle auf Welle rollten die Fluten des neuen Lebens heran und umspülten wachsend und steigend das Herz des Afrikaners. In jedem Atemzuge fühlte er die Erstarkung über sich kommen; er hätte eine lange Rede halten müssen, um das in Worten auszudrücken, was in seiner Seele sich ereignete: ‚Halte den Mund, Mädchen, und schilt mir diese Nacht und diesen Mondenschein nicht! Du bist zu schön, um zu schelten, und weinen sollst du noch weniger. Wie schön du bist! Das Licht der Offenbarung ist mit dir aus dem Gebüsch emporgestiegen; ich war ein Verirrter, doch nun kenne ich meinen Pfad wieder. Was Trauer und Verdruß, was Grübeln und Grämen, was Zerschlagenheit und Apathie; wenn du mir hilfst, Mädchen, bin ich von neuem Herr in meinem Reich! Das Leben war mir zerbrochen, wie einem der rechte Arm zerbricht; ich habe ihn lange, lange in der Schlinge getragen, und jetzt prüfe ich von neuem seine Stärke. Mädchen, ich weiß wieder, in welchem Sinne ich mein Leben begann und wie ich es fortsetzen mag, ohne dem Wahnsinn zu verfallen gesegnet sei die Tante Schnödler, der deutsche Mond und du – du schöne, schöne Nikola von Einstein!‘
So oder ähnlich wäre es dem Afrikaner erlaubt gewesen, sich zu äußern: er hätte auch, wie folgt, sprechen können:
‚Gnädiges Fräulein, Sie haben gleich bei unserer ersten Begegnung einen merkwürdigen Eindruck auf mich gemacht; denn Sie bedingen für mich einen merkwürdigen Gegensatz zu meiner bisherigen Existenz. Gnädiges Fräulein, einem Manne, welcher zehn Jahre in Abu Telfan im täglichen Verkehr mit Madam Kulla Gulla, ihren Freundinnen, Töchtern, Nichten und so weiter zubrachte, geht der Begriff des Vaterlandes in wundervoller Klarheit und Anmut auf, wenn es ihm auch nur vierzehn Tage hindurch vergönnt ist, täglich einige Male in Ihre Augen zu blicken. Fräulein von Einstein, die schönsten Illusionen der Jugend müssen sich mir notwendig in Ihnen verkörpern. Und was die Tante Schnödler anbetrifft, so bilden Sie auch zu dieser einen angenehmen Gegensatz, gnädiges Fräulein; und wenn einmal im deutschen Mondenschein, während dem letzten Maikäfergesumme des Jahres einem Menschen in meiner Situation das Tumurkieland und das Vaterland durcheinanderquirlen und das Lachen dem Elend das Beste abgewinnt, so wird jeder Einsichtige dieses der Gelegenheit des Orts, der Zeit und der Umstände vollkommen angemessen finden.‘
Herr Leonhard Hagebucher äußerte sich weder auf die eine noch die andere Art, er rief:
„Der Vetter Wassertreter! Wahrhaftig, es ist der Vetter Wassertreter!“
Bilder: Alexandra Bochkareva aus Taschkent, Usbekistan, wirkt in Sankt Petersburg:
- Through the Forest, 30. Juli 2018;
- FOXES, 11. September 2016;
- Sasha, 6. Juni 2017;
- Northern Forest Tales;
- Totems, 23. Juli 2020;
- Totems;
- Someone Like You, 23. Oktober 2018.
Soundtrack: Gazi „Dusty“ Simelane: Home, ca. März 2010:
Durch die Mumie einer altägyptischen Prinzessin bereichert
Update zu Halloween Lectures zu bibliothekarischen Aspekten
der Kulturwissenschaft des Morbiden
und Dieses unnötige, ja sinnlose Hin und Her:
ich bin die liebe mumie
und aus ägypten kumm i e,
o kindlein treibt es nicht zu arg,
sonst steig ich aus dem sarkopharg,
hol euch ins pyramidenland,
eilf meter unterm wüstensand,
da habe ich mein trautes heim,
es ist mir süß wie honigseim,
dort, unter heißen winden,
wird keiner euch mehr finden.
o lauschet nur, mit trip und trap
husch ich die treppen auf und ab,
und hört ihrs einmal pochen,
so ists mein daumenknochen
an eurer zimmertür –
o kindlein, seht euch für!H. C. Artmann, aus: allerleirausch. neue schöne kinderreime, 1967.
Liebe Kinder, der böse Märchenonkel Frank erzählt uns wieder eine Räuberpistole, die sich aus dem alten Ägypten bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert erstreckt. Eigentlich müsste sie stimmen, weil sie in der Zeitung stand. Die Zeitung existiert.
Dort, wo Onkel Franks nicht unspannende Grabräubepistole stehen sollte, steht sie aber nicht. So, wie er sie erzählt, kann sie dort auch nicht stehen, egal was Onkel Frank uns für Writers Tears ein- und vergießt. Wer merkt, warum?
Schreibt’s mir in die Kommentare und lasst mir ein Daumen-Hoch und ein Abo da! Folgt mir für mehr Räuberpistolen!
——— Frank T. Zumbach:
Späte Erklärung: Eine wahre Geschichte
aus: Frank T. Zumbachs Mysterious World, 11. Februar 2010:
In der Nummer 271 des Jahrgangs 1904 erzählen die Dresdner Nachrichten nach Mitteilungen der englischen Presse:
Das Britische Museum zu London ist unlängst durch die Mumie einer altägyptischen Prinzessin bereichert worden. Aber mehr Aufsehen als die Mumie an sich erregt die Tatsache, dass allen, die mit ihr irgend zu tun hatten, unmittelbar nachher ein überaschendes Unglück zustieß, manche das Leben verloren. – Nach dem Katalog des Britischen Museums (I. 22 524) handelt es sich um die Mumie einer Ägypterin aus königlichem Geschlecht, die zugleich Priesterin am Tempel des Ammon-Ra war und um 1600 vor Christus zu Theben gelebt hat. Ein Mitglied der Expedition, dem die Auffindung der Mumie gelang, Mr. D., büßte einige Zeit später den rechten Arm dadurch ein, dass ein Gewehr auf unerklärliche Weise explodierte, als er es in die Hand nahm. Ein zweites Mitglied starb nach Verlust des gesamten Vermögens noch im selben Jahr, ein drittes Mitglied wurde, gleichfalls im selben Jahr, erschossen. Mr. W., der Besitzer der Mumie, musste unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Kairo die Entdeckung machen, dass er während seiner Abwesenheit bedeutende Vermögensverluste erlitten hatte. Bald darauf starb auch er. Nachdem die Mumie der Priesterin des Ammon-Ra auf den Dampfer gebracht worden war, der sie nach England überführen sollte, verlor ihr Auffinder, Mr. D., sie für längere Zeit aus den Augen. Nach der Ankunft der Mumie in England wurde sie zunächst zu einer verheirateten Schwester ihres ersten Besitzers, Mr. W., gebracht, der dieser sie geschenkt hatte. Von dem Tage ihres Eintreffens an wurde die Familie von einem Unglück nach dem anderen heimgesucht. Und als die Dame die Mumie zu einem bekannten Photographen in der Baker Street bringen ließ, der einige Aufnahmen von ihr machen sollte, erhielt sie ein paar Tage später den aufgeregten Besuch dieses Mannes: er habe die Aufnahmen persönlich gemacht und bürge dafür, dass niemand weder das Negativ noch die fertige Platte auch nur berührt habe. Gleichwohl zeige die Photographie nicht die Züge der Mumie, sondern die einer Lebenden mit boshaft leuchtenden Augen. Kurz nachher starb der Photograph eines schnellen und geheimnisvollen Todes.
Um diese Zeit begegnete Mr. D. Der Schwester des Mr. W. Nachdem er alles gehört hatte, beschwor er die Dame, die unheimliche Mumie dem Britischen Museum zu schenken, was dann auch geschah. Der Mann, der sie dorthin transportierte, starb in der folgenden Woche, einem zweiten, der beim Transport geholfen hatte, stieß ein böser Unfall zu. Gleich nach der Installierung der Mumie im Britischen Museum sollte wieder eine photographische Aufnahme von ihr gemacht werden, doch fanden der Photograph und sein Gehilfe die Beleuchtung ungünstig, weswegen verabredet wurde, dass sie später wiederkommen wollten. Auf der Heimfahrt wurde dem Photographen beim Verlassen des Kupees ein Daumen zerquetscht, und als sein Gehilfe zu Hause ankam, erfuhr er, dass eines seiner Kinder durch einen Sturz in eine Glasscheibe sich schwer verletzt hatte. Und nun meldeten sich immer wieder Leute mit der Behauptung, durch bloße Besichtigung der Mumie Schaden davongetragen zu haben. Der Premierminister Asquith, der völlig frei von Aberglauben sein soll, äußerte den Wunsch, diese gefährliche Mumie zu besehen. Aber alle seine Kollegen setzten der Ausführung dieser Absicht ihren Widerstand entgegen, denn sie glaubten, die Mumie würde dann den Sturz des Ministeriums herbeiführen.
Die Museumswärter fürchteten sich so sehr vor dem Mumiensarg, dass sie endlich das Ultimatum stellten, entweder diesen Sarg aus ihrem Bereich zu entfernen oder auf ihre weiteren Dienste zu verzichten. Die Museumsleitung ließ daraufhin die Mumie durch eine Nachbildung ersetzen und das Original in den Keller schaffen. Seitdem hörte alles Gerede auf.
Aber ein amerikanischer Ägyptologe entdeckte den Betrug. Die Museumsverwaltung sah sich dadurch genötigt, ihn ins Vertrauen zu ziehen, und zeigte ihm das im Keller verborgene Original. Er machte ihr ein Gebot, um die Mumie für Amerika zu erwerben, und das Gebot wurde angenommen. Die Mumie wurde dann an Bord der ‚Titanic‘ gebracht, mit der sie unterging…
Bilder: Filmplakat The Mummy (Die Mumie), 1932;
Dresdner Neueste Nachrichten: Ray-Seifenwerbung, Dienstag, 4. Oktober 1904, Seite 6.
Soundtrack: Old Leatherstocking: O Death by Lloyd Chandler, after 1920, recorded Halloween 2020:
Dornenstück 0006: Lyrik im Liegen
Update zum Nachtstück 0022: Zu schweigen beginnen
und Frohnleichnamsfahnen wehen:
Für einen Philosophen mittlerschwerer, in seinem Hauptwerk sehr schwerer Verständlichkeit hat Schopenhauer etliche Fans, und zwar die richtigen. Leider ist seine komplette Lyrik unter aller Sau.
Das Beste an Schopenhauers Gedichten ist, dass es auf eine Lebenszeit von 72 Jahren verteilt nur 39 geworden sind. Da sind die Stammbuchverse schon mitgerechnet. Einer von denen war ohne Reim und Rhythmus, aber im Alter von 70 Jahren doch noch sein lyrisches Highlight:
——— Arthur Schopenhauer: Stammbucheintrag,
8. April 1858, gesammelt in: Parerga und Paralimpomena, Band II,
cit. nach Arthur Hübscher, Hrsg.: Gedichte von an über Arthur Schopenhauer, Haffmans Verlag, Zürich 1994:
Sitzen ist besser, als stehen, u. liegen ist besser, als sitzen:
Besser, als liegen, ist schlafen, und besser, als schlafen, ist todt seyn.Frankfurt a. M. d. 8ten April 1858
Arthur Schopenhauer.
Das Poesiealbum mit dem Original ist verloren. Schopenhauers Quelle ist wahrscheinlich Nicolas Chamfort: Maximes et pensées, caractères et anecdotes II, 1795:
Wenn behauptet wird, daß die Menschen, die am wenigsten empfinden, am glücklichsten sind, so muß ich immer an das indische Sprichwort denken: Sitzen ist besser als stehen, liegen besser als sitzen, aber das Beste ist tot sein.
Lebenslustige Franzosen: Chamfort sagt das noch, als ob’s was Befremdliches wäre.
Bild: Alexandre Séon: La Pensée, ohne Jahr.
Soundtrack: The Be Good Tanyas: The Littlest Birds (Sing the Prettiest Songs), aus: Blue Horse, 2000: