Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Archive for the ‘Barock’ Category

Denn meine Jungferschafft ist pflücke (ein Mädchen macht sich nichts daraus)

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Update zu Weihnachtsengel 3: Lasst mich scheinen, bis ich werde
(Mit Freuds Worten singt Mignon als Engel ihr Liebeslied der schönen Seele ohne Geschlecht)
,
Zu Lolitas Verteidigung,
Krabbelröschen,
Fruchtstück 0002: Ein Schooß voll den begehr ich nicht,
Liebchen öffne deinen Schoos
und Wenn 12 Lenze dir entflohn:

Es macht Spaß, Anthologien mit anzüglichen „Stellen“ („Sie wissen schon, so Stellen!“) zu sammeln. Bei mir hat sich die Sammlung von selbst ergeben, weil die Leute glauben, dass mir sowas schenken kann.

Natürlich kann man das und sollte es sogar. Was in die Anthologien mit „solchen“ Stellen hineingesammelt wurde, hätte dagegen stellen-weise niemals jemand schreiben sollen, siehe die Update-Verlinkungen oben; eine Liste mit Collectaneen siehe unten. Damit die Leute vergleichen können, was man mir noch alles schenken kann.

Forschen bedeutet – unter vielem anderen – vergleichen. Offenbar sind die zwei Barockdichter Johann Karl Kell in seiner Erscheinungsform als Le Pansiv oder Le Pansif (* 1693, † nach 1726) und Daniel Stoppe (* 1697, † 1747) zeitlich nahe beieinander, jedoch unabhängig voneinander auf recht ähnliche Gegenstände für je ein Gedicht geraten, das aus sechsmal sechs Zeilen, gleich sechs Sextetten mit jeweiligem Reimschema ABABCC besteht.

Wie tröstlich und sinnvoll, die Inhalte heute so dokumentarisch und formal distanziert zu betrachten.

David Hamilton via Zamieć Piekna, 2016

——— Le Pansiv:

Jungfer-Gesänge,
wie solche von Jahren zu Jahren von denen
gerne Männer-haben-wollenden Jungfern gesungen werden.
Nach eigenem Geständniss
einer 50-jährigen Jungfer.

aus: Poetische Grillen bey Müßigen Stunden
von Le Pansiv, Erfurt 1729,
cit. nach: Rolf Wilken, Hrsg.: Liebe ist besser als Krieg. Erotische Lyrik und lose Lieder,
Christian Wegner Verlag, Hamburg 1967, Seite 183:

EIn Mägdgen kaum von vierzehn Jahren
Ficht schon die Männer Sehnsucht an;
Drum wünscht sie täglich sich zu paaren,
Und singt: „Ach gebt mir einen Mann,
Der mir fein sanfft das Leibgen drücke,
Denn meine Jungferschafft ist pflücke!“

Sind sechzehn Jahre erst vergangen,
So brennt das Mägdgen lichterloh,
Und singt vor brennendem Verlangen:
(Ihr lieben Jungfern ists nicht so?)
„Will noch kein Mann mir Löschung gönnen?
Ach soll ich armes Ding verbrennen!“

Sind zwantzig Jahre ran gekommen
So seufftzt das Mägdgen Tag und Nacht,
Bis ihr die Jungferschafft benommen,
Die ihr die Nächte schlaflos macht.
Sie singt: „Ach komm ein Mann noch heute!
Sonst geh ich selber auf die Freyte.“

Kömmts dreyß’gste Jahr schon angetreten,
So fleht sie den Sanct Andräs an,
Den sie pflegt kniend anzubeten,
Und singt: „Ach gieb mir einen Mann,
Den ich im Bette kan umarmen;
Sanct Andräs, laß dichs doch erbarmen!“

Hat sie nun viertzig Jahr getragen
Das Centner-schwere Jungfer-Joch,
Wird sie die Manns-Noth doch noch plagen;
Warum? der Kützel sticht sie noch;
Drum singt sie: „Will kein Mann mich puntzeln?
Die Jungferschafft bekömmt schon Runtzeln.“

Sind aber funfftzig Jahr verflossen,
Wird die verschrumpffte Jungferschafft
Mit Thränen-Wasser nun begossen;
Doch singt sie noch aus Leibes-Krafft:
„Ach komm ein Mann! ach komm behende!
Wo nicht; so komm mein Lebensende.“

——— Daniel Stoppe:

Mädchenlied

 
 
 
 
 
 
 
 

cit. nach: Rolf Wilken, Hrsg.: Liebe ist besser als Krieg. Erotische Lyrik und lose Lieder,
Christian Wegner Verlag, Hamburg 1967, Seite 184:

Soll ich armes Ding denn ewig warten?
Geh ich dennoch schon ins zwölfte Jahr;
Nein, ich will die Sache besser karten,
Die Geduld ist bei mir ziemlich rar.
Werf ich gleich die Netze selber aus,
Ach! ein Mädchen macht sich nichts daraus.

Kein Galan kommt uns ins Maul geflogen,
Wenn man stets in seiner Klause sitzt:
In der Einsamkeit wird man betrogen.
Wenn man sich auf einen Mann verspitzt.
Ich geh fleißig auf Gesellschaft aus.
Denn ein Mädchen macht sich nichts daraus.

Brust und Äpfel schnür ich in die Höhe,
Daß das liebe Gut ins Auge fällt.
Daß man, wenn ich unter Leute gehe.
Mich für erzgalant und artig hält.
Sieht mein Krämchen zu handgreiflich aus.
Ach! ein Mädchen macht sich nichts daraus.

Ich weiß meine Farbe zu erheben,
Wenn ein roter Strich die Backen netzt,
Das heißt der Natur den Ausschlag geben,
der die halbe Welt in Liebe setzt.
Sieht mein Malen gleich was kennbar aus,
Ach! ein Mädchen macht sich nichts daraus.

Leg ich mich gleich fleißig auf das Küssen,
Wenn man sich nur nicht aufs Bette legt,
Oh, das schadet nicht, obgleich wir wissen,
Wie man einen Kuß zu geben pflegt.
Täglich teil ich hundert Mäulchen aus,
Ach! ein Mädchen macht sich nichts daraus.

Und gesetzt, daß ich’s versehen hätte,
O so schleich ich bei der stillen Nacht
In ein abgelegnes Wochenbette,
Wo man wenig Federlesens macht.
Sieht mein Jungfernkranz zerhudelt aus,
Ach! ein Mädchen macht sich nichts daraus.

David Hamilton via Zamieć Piekna, 2016

Fachliteratur:

David Hamilton via Zamieć Piekna, 2016

Bilder: David Hamilton, via Zamieć Piekna, 2016.

David Hamilton via Zamieć Piekna, 2016

Soundtrack: Nicht der allzu offensichtliche Soundtrack zu Bilitis 1977, sondern zu unser aller Warnung
die seinerzeit zehnjährige Angelina Jordan: I Put A Spell On You, 1956, Cover 2016.
Hoffentlich unnötiger Hinweis für Davidhamiltonisten, die auf sowas stehen:
Frau Jordan ist wie wir alle seit 2016 älter geworden:

Written by Wolf

25. November 2022 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Ehestand & Buhlschaft

Stone walls do not a prison make, nor iron bars a cage

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Update zu Your open hand but shows our loss,
Nachtstück 0024: I wish you were dead, my dear
und Sylvia Spinster:

Yet each man kills the thing he loves
     By each let this be heard.
Some do it with a bitter look,
     Some with a flattering word.
The coward does it with a kiss,
     The brave man with a sword!

Oscar Wilde: The Ballad of Reading Gaol, 1897.

Wenceslaus Hollar, Lucasta. Posthume Poems of Richard Lovelace, 1660Bei englischer Bekenntnislyrik von Inhaftierten in englischen Gefängnissen fällt unsereinem als erstes Oscar Wilde ein.

Wie immer sind gewissenhafte Hörer von Fairport Convention im Vorteil. Aus dem Album Nine, 1973 stammt die Vertonung von To Althea, from Prison — das Richard Lovelace während seiner ersten Inhaftierung wegen Unterstützung unerwünschter Umtriebe, nämlich dem Versuch, den Clergy Act von 1640 annullieren zu lassen, zwischen dem 30. April und 21. Juni 1642 geschrieben haben muss.

Mit ihrer vollständigen Vertonung des Gedichts sind die Fairport Convention in gut fünf Minuten fertig, wohingegen Oscar Wilde seine zwei Jahre Einzelhaft in verschiedenen Zuchthäusern bei schwerer Zwangsarbeit wegen unerwünschter sexueller Orientierung, nämlich gross indecency für einen sehr ausführlichen Brief an seinen Liebhaber nutzte, der seinen Adressaten nie erreichte und 1962 zu einer gewissen Druckreife rekonstruiert werden musste. Das einzige, was er nach seiner Entlassung im Zustand dauerhafter Zerrüttung seiner Gesundheit noch schrieb, war die angeführte Ballad of Reading Gaol — die durchaus mehrmals vertont und auch sonst künstlerisch verwertet wurde, deren Lesung aber bei ihrem Umfang von über viertausend Wörtern weit mehr als fünf Minuten bräuchte.

Beschränken wir uns daher auf den Bezug zwischen Richard Lovelace 1642 und Fairport Convention 1973:

——— Richard Lovelace:

To Althea, from Prison

1642, collected in Dudley Lovelace, ed.: Lucasta. Posthume Poems of Richard Lovelace, 1660:

Ripple Factor, 2019When Love with unconfinèd wings
     Hovers within my Gates,
And my divine Althea brings
     To whisper at the Grates;
When I lie tangled in her hair
     And fettered to her eye,
The Gods that wanton in the Air
     Know no such Liberty.

When flowing Cups run swiftly round,
     With no allaying Thames,
Our careless heads with Roses bound,
     Our hearts with Loyal Flames;
When thirsty grief in Wine we steep,
     When Healths and draughts go free,
Fishes that tipple in the Deep
     Know no such Liberty.

When (like committed linnets) I
     With shriller throat shall sing
The sweetness, Mercy, Majesty,
     And glories of my King;
When I shall voice aloud how good
     He is, how Great should be,
Enlargèd Winds, that curl the Flood,
     Know no such Liberty.

Stone Walls do not a Prison make,
     Nor Iron bars a Cage;
Minds innocent and quiet take
     That for an Hermitage.
If I have freedom in my Love,
     And in my soul am free,
Angels alone, that soar above,
     Enjoy such Liberty.

Mehr Vertonungen:

  • Thomas Avinger: To Althea, from Prison, for tenor and instrumental ensemble,
    aus: Lucasta Et Cetera, 1960;
  • Grateful Dead: Althea, aus: Go to Heaven, 1980;;
  • Three Pressed Men: To Althea, from Prison, aus: Daddy Fox, Mai 1998:
    Debut-CD in 150 vergriffenen Exemplaren;
  • Jane and Amanda Threlfall: To Althea, from Prison, aus: Morning Tempest, 2000;
  • Churchfitters: To Althea from Prison, aus: New Tales for Old, 2005.

Just Being, 2021

Bilder: Wenceslaus Hollar: Cover zu Lucasta. Posthume Poems of Richard Lovelace, 1660,
aus: University of Toronto Wenceslaus Hollar Digital Collection;
Ripple Factor, 21. September 2019;
Just Being, 26. April 2021.

Ein Bonus Track mit Richards Namensbase Linda (1949 bis 2002) erübrigt sich;
daher nur einer, der Lovelace zitiert: Jim Croce: Stone Walls, aus: The Faces I’ve Been, 1975:

Written by Wolf

17. September 2021 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Herrschaft & Revolte

Coronadvent 5: The effects of Herod’s jealous general doom

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Update zur John-Donne-Serie in Moby-Dick™,
Traume-trunkene feministische Ikonen, der lange Weg zum Eros und ein Stück weiter (oder vierzehn)
und zum 4. Katzvent: Was ich gebar in Stunden der Begeisterung:

Ane Lundeby, Winter, Norwegen, Flickr, 9. Dezember 2010 bis 20. Januar 2016

Die schönste von allen bekannten Tausenden Versionen Stille Nacht ist zweifellos eine englische – Silent Night –, nämlich die von die von Tom Waits. Sie ist nie auf einer Original-CD von ihm erschienen, insofern eine Rarität, nur auf SOS United, 1989 – eine Stiftung von Tom Waits für die SOS-Kinderdörfer. Der teilhabende Kinderchor bleibt unbekannt, weil ungenannt.
Im Video: Correggio: Anbetung der Hirten, 1530 (Detail); Tintoretto, 1545 oder 1578; Gerrit van Honthorst, 1622 oder 1646.

Wir warten aufs Christkind, wenn wir in sotane Stimmung geraten sind, und lesen in alten Büchern: Ein regelrechter Sonettenkranz kann La Corona nicht sein, weil diese Form verbindlich erst im italienischen 18. Jahrhundert beschrieben wurde. In England kurz vor 1620 — das heißt: elisabethanisch und ab 1603 unter König James „Jakob“ I. — flocht John Donne trotzdem eine Krone — in petrarkischer Tradition auf italienisch: corona — aus nicht gerade fünfzehn, aber immerhin sieben Sonetten, die für dieses Zeitalter thematisch und formal höchst kunstvoll zusammenhängen.

Ane Lundeby, Winter, Norwegen, Flickr, 9. Dezember 2010 bis 20. Januar 2016

Belege, gar Interpretationen über diese siebenzackige Krone sind fürs Englische so spärlich gesät wie fürs Deutsche. Am meisten, dafür gleich in befriedigender Tiefe, erfahren wir vom deutschen Silvae in: La Corona vom 24. Dezember 2011:

Ane Lundeby, Winter, Norwegen, Flickr, 9. Dezember 2010 bis 20. Januar 2016

[…] Eigentlich, so sagt Helen Gardner, sind die sieben Sonette ein einziges Gedicht. Sie sind miteinander verknüpft, weil sie die Geschichte Jesu Christi erzählen — und weil die jeweils erste Zeile die letzte Zeile des vorhergehenden Gedicht aufnimmt. Die corona des Titels wird sofort in der ersten Zeile des ersten Sonetts aufgenommen: Deign at my hands this crown of prayer and praise. Das ist schon ein geistvolles Spiel. […]

La Corona gehört zu den frühesten religiösen Gedichten von John Donne, die Holy Sonnets werden wenige Zeit später folgen. Er schreibt jetzt religiöse Lyrik, er übt sich ein für seinen neuen Beruf. Wir kennen ihn sonst ja eher als Verfasser von Liebeslyrik. So gewagten Liebesgedichten wie die Elegy XX (To His Mistress Going to Bed). Für den Verfasser von Liebesgedichten bedeutet dear womb auch etwas anderes als es hier bedeutet. Aber er hat das Bild womb — prison nicht vergessen, er wird es zehn Jahre später noch einmal in einer Predigt gebrauchen: We are all conceived in close Prison; in our Mothers wombs, we are close Prisoners all; when we are borne, we are borne but to the liberty of the house; Prisoners still, though within larger walls; and then all our life is but a going out to the place of Execution, to death.

Es ist eine gefährliche Sache für John Donne, religiöse Lyrik zu schreiben. Katholiken sind unter James I nicht en vogue, auf jeden Fall nicht für Hof- und Staatsämter. Wann immer er auf Drängen des Königs dem katholischen Glauben abgeschworen hat, im Jahre 1615 wird er zum anglikanischen Priester geweiht. Und wird gleich Royal Chaplain. Sechs Jahre später ist er Dean der St. Paul’s Cathedral. Man muss sehr flexibel sein, in diesen Jahren. Wer hat da nicht in England seit den Tagen von Henry VIII seinen Kopf verloren? Die Bildlichkeit von La Corona ist, wie Helen Gardner gezeigt hat, noch von dem katholischen Glauben geprägt, mit dem John Donne aufgewachsen ist. Dem Dichter gelingt der Spagat zwischen Religiösem und Weltlichem, zwischen Rom und anglikanischer Staatskirche. Seine religiöse Lyrik benutzt die gleiche Symbolik wie seine Liebeslyrik. Und vice versa. Und dass La Corona eigentlich eine katholische Madonnenverehrung ist, das merken nur Dame Helen und John Carey (dessen Buch John Donne: Life, Mind and Art die beste Einführung in das Werk von John Donne ist). Und warum auch nicht? Was sollen die künstlichen Grenzen zwischen den Religionen? […]

Das Ende von Rückblicken sollte hoffnungsvoll sein.

Ane Lundeby, Winter, Norwegen, Flickr, 9. Dezember 2010 bis 20. Januar 2016

——— John Donne:

La Corona

vor 1620:

I. Deign at my hands this crown of prayer and praise,
   Weaved in my lone devout melancholy,
   Thou which of good hast, yea, art treasury,
   All changing unchanged Ancient of days.
   But do not with a vile crown of frail bays
   Reward my Muse’s white sincerity ;
   But what Thy thorny crown gain’d, that give me,
   A crown of glory, which doth flower always.
   The ends crown our works, but Thou crown’st our ends,
   For at our ends begins our endless rest.
   The first last end, now zealously possess’d,
   With a strong sober thirst my soul attends.
   ‚Tis time that heart and voice be lifted high ;
   Salvation to all that will is nigh.

Ane Lundeby, Winter, Norwegen, Flickr, 9. Dezember 2010 bis 20. Januar 2016

Annunciation.

2. Salvation to all that will is nigh ;
   That All, which always is all everywhere,
   Which cannot sin, and yet all sins must bear,
   Which cannot die, yet cannot choose but die,
   Lo ! faithful Virgin, yields Himself to lie
   In prison, in thy womb ; and though He there
   Can take no sin, nor thou give, yet He’ll wear,
   Taken from thence, flesh, which death’s force may try.
   Ere by the spheres time was created thou
   Wast in His mind, who is thy Son, and Brother ;
   Whom thou conceivest, conceived ; yea, thou art now
   Thy Maker’s maker, and thy Father’s mother,
   Thou hast light in dark, and shutt’st in little room
   Immensity, cloister’d in thy dear womb.

Ane Lundeby, Winter, Norwegen, Flickr, 9. Dezember 2010 bis 20. Januar 2016

Nativity.

3. Immensity, cloister’d in thy dear womb,
   Now leaves His well-beloved imprisonment.
   There he hath made himself to his intent
   Weak enough, now into our world to come.
   But O ! for thee, for Him, hath th‘ inn no room ?
   Yet lay Him in this stall, and from th‘ orient,
   Stars, and wise men will travel to prevent
   The effects of Herod’s jealous general doom.
   See’st thou, my soul, with thy faith’s eye, how He
   Which fills all place, yet none holds Him, doth lie ?
   Was not His pity towards thee wondrous high,
   That would have need to be pitied by thee ?
   Kiss Him, and with Him into Egypt go,
   With His kind mother, who partakes thy woe.

Ane Lundeby, Winter, Norwegen, Flickr, 9. Dezember 2010 bis 20. Januar 2016

Temple.

4. With His kind mother, who partakes thy woe,
   Joseph, turn back ; see where your child doth sit,
   Blowing, yea blowing out those sparks of wit,
   Which Himself on the doctors did bestow.
   The Word but lately could not speak, and lo !
   It suddenly speaks wonders ; whence comes it,
   That all which was, and all which should be writ,
   A shallow seeming child should deeply know ?
   His Godhead was not soul to His manhood,
   Nor had time mellow’d Him to this ripeness ;
   But as for one which hath a long task, ‚tis good,
   With the sun to begin His business,
   He in His age’s morning thus began,
   By miracles exceeding power of man.

Ane Lundeby, Winter, Norwegen, Flickr, 9. Dezember 2010 bis 20. Januar 2016

Crucyfying.

5. By miracles exceeding power of man,
   He faith in some, envy in some begat,
   For, what weak spirits admire, ambitious hate :
   In both affections many to Him ran.
   But O ! the worst are most, they will and can,
   Alas ! and do, unto th‘ Immaculate,
   Whose creature Fate is, now prescribe a fate,
   Measuring self-life’s infinity to span,
   Nay to an inch. Lo ! where condemned He
   Bears His own cross, with pain, yet by and by
   When it bears him, He must bear more and die.
   Now Thou art lifted up, draw me to Thee,
   And at Thy death giving such liberal dole,
   Moist with one drop of Thy blood my dry soul.

Ane Lundeby, Winter, Norwegen, Flickr, 9. Dezember 2010 bis 20. Januar 2016

Resurrection.

6. Moist with one drop of Thy blood, my dry soul
   Shall—though she now be in extreme degree
   Too stony hard, and yet too fleshly—be
   Freed by that drop, from being starved, hard or foul,
   And life by this death abled shall control
   Death, whom Thy death slew ; nor shall to me
   Fear of first or last death bring misery,
   If in thy life-book my name thou enroll.
   Flesh in that long sleep is not putrified,
   But made that there, of which, and for which it was ;
   Nor can by other means be glorified.
   May then sin’s sleep and death soon from me pass,
   That waked from both, I again risen may
   Salute the last and everlasting day.

Ane Lundeby, Winter, Norwegen, Flickr, 9. Dezember 2010 bis 20. Januar 2016

Ascension.

7. Salute the last and everlasting day,
   Joy at th‘ uprising of this Sun, and Son,
   Ye whose true tears, or tribulation
   Have purely wash’d, or burnt your drossy clay.
   Behold, the Highest, parting hence away,
   Lightens the dark clouds, which He treads upon ;
   Nor doth He by ascending show alone,
   But first He, and He first enters the way.
   O strong Ram, which hast batter’d heaven for me !
   Mild Lamb, which with Thy Blood hast mark’d the path !
   Bright Torch, which shinest, that I the way may see !
   O, with Thy own Blood quench Thy own just wrath ;
   And if Thy Holy Spirit my Muse did raise,
   Deign at my hands this crown of prayer and praise.

Ane Lundeby, Winter, Norwegen, Flickr, 9. Dezember 2010 bis 20. Januar 2016

Bilder: Ane Lundeby: Winter, Norwegen, 9. Dezember 2010 bis 20. Januar 2016.

Ane Lundeby, Winter, Norwegen, Flickr, 9. Dezember 2010 bis 20. Januar 2016

Soundtrack: John Dowland: Now o Now I Needs Must Part,
aus: First Booke of Songes or Ayres of foure partes with Tableture for the Lute, London 1597;
Les Canards Chantants are trailed (or guided?) by a mysterious lutenist
during a day out on a vintage steam train:

Bonus Track: The Coronas and Gabrielle Aplin: Lost in the Thick of It,
aus: True Love Waits, 2020:

Written by Wolf

24. Dezember 2020 at 00:01

Dornenstück 0004: O Anfang sonder Ende (Nichts ist zu finden weit und breit so schrecklich als die Ewigkeit)

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Update zum 2. Stattvent: Rorate coeli desuper! (Die Welt, ein weites Grab)
und Seht, wie, was lebt, zum Ende leufft (gegen-hüpfendes Lied):

„Gibt es eigentlich fleischfressende Gedichte?“ frag ich.

„Wieso“, fragt die Wölfin, „gibt’s pflanzenfressende?“

„Ja“, sag ich, „alle anderen.“

——— Johann Rist:

Ernstliche Betrachtung / Der unendlichen Ewigkeit.

Das Vierdte Zehn, Nr. 9, aus: Himmlische Lieder, 1641/1642:

     1.
O Ewigkeit du Donner Wort /
O Schwerdt das durch die Seele bohrt /
     O Anfang sonder Ende /
O Ewigkeit Zeit ohne Zeit /
Ich weis für grosser Traurigkeit /
     nicht wo ich hin mich wende /
Mein gantz erschrocknes Hertz erbebt /
daß mir die Zung am Gaumen klebt.

     2.
Kein Unglück ist in aller Welt
Daß endlich mit der Zeit nicht fält
     Und gantz wird auffgehoben;
Die Ewigkeit hat nur kein Ziel
Sie treibet fort und fort ihr Spiel
     Läst nimmer ab zu toben /
Ja / wie mein Heyland selber spricht /
Aus ihr ist kein Erlösung nicht.

     3.
O Ewigkeit du machst mir bang‘ /
O Ewig / Ewig ist zu lang‘ /
     Hie gilt fürwar kein Schertzen:
Drumb / wenn ich diese lange Nacht
Zusampt der grossen Pein betracht‘ /
     Erschreck ich recht von Hertzen /
Nichts ist zu finden weit und breit
So schrecklich als die Ewigkeit.

     4.
Was acht‘ ich Wasser / Feur und Schwerdt /
Diß alles ist kaum nennens werth
     Es kan nicht lange dauren:
Was wär‘ es / wenn gleich ein Tyrann /
Der funfftzig Jahr kaum leben kan
     Mich endlich ließ vermauren?
Gefängniß / Marter Angst und Pein
Die können ja nicht ewig seyn.

     5.
Wenn der Verdampten grosse Quaal
So manches Jahr alß an der Zahl
     Hie Menschen sich ernehren /
Als manchen Stern der Himmel hegt /
Als manches Laub die Erde trägt
     Noch endlich solte wären /
So wäre doch der Pein zu letzt.
Ihr recht bestimptes Ziel gesetzt.

     6.
Nun aber / wenn du die Gefahr
Viel hundert tausend tausend Jahr
     Hast kläglich außgestanden /
Und von den Teuffeln solcher frist
Gantz grausamlich gemartert bist /
     Ist doch kein Schluß vorhanden /
Die Zeit / so niemand zehlen kan /
Die fänget stets von neuen an.

     7.
Ligt einer kranck und ruhet gleich
Im Bette / das von Golde reich
     Ist Königlich gezieret /
So hasset er doch solchen Pracht
Auch so / daß er die gantze Nacht
     Ein kläglichs Leben führet /
Er zehlet aller Glocken Schlag
Und seufftzet nach dem lieben Tag‘.

     8.
Ach was ist das? Der Höllen Pein
Wird nicht wie Leibes Kranckheit seyn
     Und mit der Zeit sich enden /
Es wird sich der Verdampten Schaar
Im Feur und Schwefel immerdar
     Mit Zorn und Grimm‘ umbwenden /
Und diß ihr unbegreifflichs Leid
Sol wären biß in Ewigkeit.

     9.
Ach Gott wie bistu so gerecht /
Wie straffstu einen bösen Knecht /
     So hart im Pful der Schmertzen?
Auff kurtze Sünden dieser Welt
Hastu so lange Pein bestellt /
     Ach nimb diß wol zu Hertzen /
Betracht es offt O Menschen-Kind /
Kurtz ist die Zeit / der Todt geschwind.

     10.
Ach fliehe doch des Teuffels Strick /
Die Wollust kan ein Augenblick
     Und länger nicht ergetzen /
Dafür wilt du dein‘ arme Seel‘
Hernachmahls in des Teuffels Höll‘
     O Mensch zu Pfande setzen!
Ja schöner Tausch / ja wol gewagt
Daß bey den Teuffeln wird beklagt?

     11.
So lang‘ ein Gott im Himmel lebt
Und über alle Wolcken schwebt
     Wird solche Marter währen /
Es wird sie plagen Kält‘ und Hitz‘
Angst / Hunger / Schrecken / Feur und Blitz
     Und sie doch nie verzehren /
Denn wird sich enden diese Pein /
Wenn Gott nicht mehr wird Ewig seyn.

     12.
Die Marter bleibet immerdar
Gleich wie sie erst beschaffen war
     Sie kan sich nicht vermindern /
Es ist ein‘ Arbeit sonder Ruh‘
Und nimpt an tausend Seufftzen zu
     Bey allen Satans Kindern /
O Sünder deine Missethat
Empfindet weder Trost noch Raht!

     13.
Wach auff O Mensch vom Sünden-schlaff‘
Ermuntre dich verlohrnes Schaf
     Und bessre bald dein Leben /
Wach auff es ist doch hohe Zeit /
Es kompt heran die Ewigkeit
     Dir deinen Lohn zu geben /
Vielleicht ist heut der letzter Tag.
Wer weis noch wie man sterben mag!

     14.
Ach laß die Wollust dieser Welt /
Pracht / Hoffart / Reichthumb / Ehr‘ und Geld
     Dir länger nicht gebieten /
Schau‘ an die grosse Sicherheit /
Die falsche Welt und böse Zeit
     Zusampt des Teuffels wühten /
Vor allen Dingen hab in acht
Die vorerwehnte lange Nacht.

     15.
O du verfluchtes Menschen-Kind
Von Sinnen toll / von Hertzen blind
     Laß ab die Welt zu lieben /
Ach / ach / sol denn der Hellen Pein /
Da mehr denn tausend Hencker seyn
     Ohn‘ Ende dich betrüben.
Wo ist ein so beredter Mann
Der dieses Werck außsprechen kan?

     16.
O Ewigkeit du Donner-Wort /
O Schwert das durch die Seele bohrt
     O Anfang sonder Ende!
O Ewigkeit Zeit ohne Zeit!
Ich weis für grosser Traurigkeit
     Nicht / wo ich mich hinwende /
Nimb du mich wenn es dir gefält
HErr Jesu in dein Freuden-Zelt.

Bilder:

  1. Alison Scarpulla: Vision 20, 2010;
  2. Adolf Hering: Der Tod und das Mädchen, 1932;
  3. P. J. Lynch: Death and the Maiden, 2014;
  4. Daria Endresen: Young Woman and Death, 2012;
  5. Nathália Suellen: Earth, 2017.

Soundtracks: Johann Sebastian Bach: Zweimal O Ewigkeit, du Donnerwort:

  1. Kantate BWV 20 zum 1. Sonntag nach Trinitatis, 11. Juni 1724:

  2. Kantate BWV 60 zum 24. Sonntag nach Trinitatis, 7. November 1723:

Written by Wolf

23. Oktober 2020 at 00:01

Die Gaben Judith Schwalbes

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Update zu Solang der Alte Peter,
Was heißt das für ein Leben führen, sich und die Jungens ennuyiren?
und Moritz Under Ground:

Es ließe sich Schlimmeres berichten über so überqualifizierte Alleskönner wie Herbert Rosendorfer, seiner Zeichen praktizierender Amtsrichter und Honorarprofessor für Bayerische Literaturgeschichte, der auch noch eine kaum überschaubare Reihe von Büchern veröffentlicht hat, die nichts mit seinen Ämtern, wohl aber mit allerhand gelehrtem Spaß zu tun haben — Schlimmeres, sagte ich, als dass ein frühes stilles Vorbild von mir Rosendorfers ersten Bestseller seinem Vater am Sterbebett vorgelesen hat: Der Ruinenbaumeister. Ganz.

Die Situation könnte weiß Gott eine gedeihlichere sein, aber der hinterbrachte Vorgang sagt uns, wie viel einem Rosendorfer-Romane bedeuten können. Gerade Der Ruinenbaumeister ist eins von den Büchern, die nicht einen Weblog-Eintrag, sondern einen Weblog hergeben könnten. Wer sich also als letztes Buch im Leben das antun will, ist damit ganz gut beraten; als erstes Buch von allen wäre es ungeeignet, weil man zuviel Vorwissen braucht. Für die ganze Zeit dazwischen empfehlen sich etwa die Briefe in die chinesische Vergangenheit, sein größter, dabei nicht einmal raffiniertester Bestseller, der inzwischen öfter in „Zu verschenken“-Kisten vor Hauseingängen und öffentlichen Bücherschränken gesichtet wird als im Buchhandel, was er wiederum nicht verdient hat — oder Das Messingherz oder Die kurzen Beine der Wahrheit.

Den größten Teil davon hab ich in einem Zug gelesen — verstanden als Eisenbahn, wo man ja am besten und konzentriertesten lesen kann, was an der Sitzhaltung liegt und den Lärmschutzwällen, die dem Reisenden die Ablenkungen der Landschaft verbergen. Die Fahrt ging nach München, wo Das Messingherz spielt, und zwar randvoll der penibelsten lokalen Bezüge, wie man immer wieder voll Bewunderung feststellt, wenn man erst eine Zeitlang dort Wohnsitz genommen hat.

Ein Komponist namens Franz Gottlob Kühlfuß war nicht nachzuweisen, dafür ist Eva von Buttlar mit ihrer gleichnamigen Rotte, einer christlichen und philadelphischen Sozietät ab 1702, höchst real. Judith Schwalbe aus dem Roman ist als fiktive Figur einzustufen; das Bild, dem sie nachempfunden ist, gibt’s, siehe unter dem Zitat:

Peter Jakob Horemans, Der Geist des Rates, 1753

——— Herbert Rosendorfer:

Das Messingherz oder Die kurzen Beine der Wahrheit

Nymphenburger, München 1979, im dtv Taschenbuch 1990, 9. Auflage 2001, Seite 272 bis 274:

Frau Schwalbe, Judith Schwalbe, machte Kessel auf.

Jakob sei nicht da, sagte Frau Schwalbe. „Aber wenn Sie hereinkommen wollen, dann können wir gemeinsam auf ihn warten.“

Das Wohnzimmer war groß und dunkel. An einer Seite zog sich bis weit hinauf ein Bücherregal mit Jakob Schwalbes vielen Partituren und Musikalien. In einer Ecke neben einem kleinen runden Tisch aus Glas brannte eine Lampe mit dunkelblauem Seidenschirm. Auch neben dem Flügel stand eine Stehlampe, die brannte. Frau Schwalbe löschte sie aus. Als sie danach hinausging, um das Teewasser aufzusetzen, schaute Kessel nach, was Frau Schwalbe gespielt hatte: Mendelssohn, Präludien und Fugen op. 35. Aufgeschlagen war die vierte, die schwermütige in As-Dur. Grün, sagte Schwalbe immer, de sich darauf etwas zugute hielt, daß er die Tonarten nach Farben auseinanderzuhalten imstande sei, auch ohne das absolute Gehör. As-Dur sei grün, ein herbes, dunkles Flaschengrün oder Jadegrün, so grün wie ein Bach bei kaltem, klarem Wetter. F-Moll hingegen sei eher moosgrün, ein sattes, etwas süßes Moosgrün …

Kessel wußte von Schwalbe, daß Judith Klavier spielte, daß sie sogar ausgebildete Pianistin war. Schwalbe hatte seine Frau durch die Musik kennengelernt, bei irgendeinem Musikerkongreß. Spielen hatte Kessel sie aber nie gehört. Eigentlich hatte er, obwohl er sie oft sah, zumindest jedesmal, wenn er Schwalbe zum ‚Schachspielen‘ abholte, auch kaum je etwas mit ihr mehr als von sachlichen Mitteilungen geredet, und es war ihm jetzt, als sie ihn hereinbat, im ersten Augenblick etwas unbehaglich, weil er nicht wußte, was er mit der Dame reden solle und ob er überhaupt mit ihr reden könne.

Judith trug ein jadegrünes Kleid mit einem weißen Spitzenkragen und weißen Spitzenmanschetten. Bei der heutigen Mode weiß man ja nie, dachte Kessel, ob etwas, was Damen tragen, ganz besonders démodé oder ganz besonders chic ist. Judiths Kleid mit den vielen, seidenüberzogenen Knöpfen über dem – offenbar durchaus beachtlichen – Busen erinnerte Kessel an ein Bild der Annette von Droste-Hülshoff. Aber nur das Kleid hatte Ähnlichkeit. Judith selber erinnerte Kessel an Die Gabe des Rates in der Heilig-Geist-Kirche. Kessel, der sehr oft, seit er am Gärtnerplatz arbeitete, in der Stadt herumging und die Kirchen besichtigte, was er früher zur St.-Adelgund-Zeit auch schon immer getan hatte (ein heimliches Sühne-Zeichen?), war das Gemälde erst unlängst aufgefallen, obwohl er Dutzende Male schon in der Kirche gewesen war. Es hing, dem geschwungenen Rand nach, der darauf deutete, daß es einmal in einem Stuckrahmen eingepaßt war, nicht mehr an der Stelle, für die es eigentlich gemalt war, sondern sehr tief, in Augenhöhe neben einem Beichtstuhl. Wer das Bild gemalt hatte, war nie zu erfahren gewesen. Die Gabe des Rates stand auf einem Zetttel neben dem Bild. Es war nicht einmal sicher, ob sich dieser Zettel auf das Bild bezog.

Es war ein erstaunlich weltliches Bild. Die abgebildete Dame hatte keinen Heiligenschein und war eher tief dekolletiert. Sie deutete auf verschiedene symbolische Instrumente, und auch im Hintergrund spielten sich symbolische Szenen ab.

Albin Kessel hätte keine Angst zu haben brauchen. Das Gespräch mit Frau Schwalbe ergab sich zwanglos. Sie fragte, nachdem sie den Tee gebracht hatte, woran er arbeite. Kessel fühlte sich durch die Frage geschmeichelt, aber die Frage Judith Schwalbes war echtes Interesse und keine Schmeichelei. Kessel erzählte von dem Auftrag für den Film über die Buttlarsche Rotte. Trotz dezenter Erzählweise, deren sich Kessel befleißigte, ließ sich bei dem Stoff eine gewisse Pikanterie nicht vemeiden. Frau Schwalbe genierte das weder, noch berührte es sie. Sie wußte übrigens, daß der sächsische Komponist Franz Gottlob Kühlfuß eine Zeitlang mit der Rotte in Verbindung gestanden und sogar einige Lieder und Duette nach Gedichten Eva von Buttlars komponiert hatte. Kessel bat um ein Stück Papier, um sich das aufzuschreiben.

„Darf ich noch Tee nachgießen?“

Die Ähnlichkeit Judith Schwalbes mit der Dame auf dem Bild Die Gabe des Rates war erstaunlich. Judith war ein wenig älter, war vielleicht sogar zehn Jahre älter als ihre gemalte Schwester, ihre Haare, weichgewellte, nicht zu lang herabfallende Haare, in der Mitte gescheitelt, so daß die Stirn, die man früher vielleicht als hoch und klar bezeichnet hätte, frei blieb, ihre Haare waren mit grauen Strähnen durchzogen, während die auf dem Bild schwarz waren. Am deutlichsten war die Ähnlichkeit bei den übergroßen, dunklen Augen und der Nase. Bis heute, wo er – wie er merkte – Judith Schwalbe das erste Mal richtig anschaute, hatte er sie immer als „etwas spitznasig“ bezeichnet. Er hatte sie, er schämte sich fast, es sich jetzt einzugestehen, als eine, ja, es ist nicht anders zu sagen, als eine alte Frau angesehen. Aber sie war eine junge Frau, und die grauen Strähnen in ihrem dunklen Haar machten sie eher noch jünger. Die Nase war nur deutlich, nicht spitz. Frauen ohne Nasen, Frauen mit kleinen Stubsnasen, die man als niedlich bezeichnet, sind meist Sirupseelen. Die Kröte würde ohne Zweifel so eine werden.

Nicht Die Gabe des Rates steht auf dem Zettel, dachte Kessel, während er mit Judith redete – er konnte manchmal in freundichen Stunden zweispurig denken – sondern nur Gabe des Rates, ohne Die. Es ist also überhaupt die Frage, worauf sich das bezieht: stellt das Bild das Symbol dar für die Eigenschaft gute Ratschläge zu geben, oder hieß das, daß das Bild eine Gabe, ein Geschenk des Rates der Stadt München war?

In Wirklichkeit ist Die Gabe des Rates — jawohl, mit „Die“ — in der Heilig-Geist-Kirche das letzte von den sieben Bildern einer Serie über die sieben Gaben oder Charismata des Heiligen Geistes von Peter Jakob Horemans von 1753.

Veranschlagt, dass Rosendorfer nicht den in Heilig Geist für drei Euro ausliegenden Kirchenführer von Dr. Walter Brugger: Kleiner Kunstführer Heilig Geist, Verlag Schnell & Steiner, München, kannte, 1979 schon gar nicht die aktuelle Auflage von 2019, kann man beim Anblick der Bilderserie mit den Gaben durchaus ins Grübeln geraten. Vor allem die Reihung so rationaler Segnungen wie Wissenschaft, Verstand, Weisheit, Stärke, Frömmigkeit, Gottesfurcht und eben Rat, die jedenfalls kein Gegenstand meiner religiösen Schulerziehung römisch-katholischer Ausrichtung waren, möchte man spontan eher der Freimaurerei zuordnen. Dazu war noch bis 2020 Rainer Maria Schießler Pfarrer von Heilig Geist, ein geradezu volkstümliches, lautes Münchner Original, das deutschlandweit durch die Bestseller Himmel, Herrgott, Sakrament. Auftreten statt austreten und Jessas, Maria und Josef. Gott zwingt nicht, er begeistert hervorgetreten ist. Der Charismatiker hat aber die Charismata eines kurfürstlichen Hofmalers unter Karl Albrecht an den Wänden seines Chorgangs im nördlichen Seitenschiff, nicht etwa eine Stiftung vom Stadtrat. Draufkommen muss man halt-

In dem nicht sehr streng durchkomponierten, vielmehr übermütig assoziativen Messingherz hat Judith Schwalbes Ähnlichkeit mit einem eher unbekannten, obschon bis heute gleich neben dem zentral gelegenen Viktualienmarkt gratis ausgestellten Bild, schwerer zu vermeiden als aufzusuchen, keine weitertragende Konsequenz, sondern dient der Charakterisierung der Nebenfigur. Insgesamt geht es um kauzige Episoden im Leben des Lohnschreibers Albin Kessel, eine parodistische Erscheinungsform des deutschen Verfassungsschutzes in Zeiten des Kalten Krieges, eine nicht gerade enzyklopädisch ausufernde, aber liebe- und verständnisvoll ausgemalte Menge kurioser Charakter und eine zurückgenommen gallige Lebensauffassung zwischen Bürgerlichkeit und studentischer Bohèmität. Judith Schwalbes „Gabe“ besteht in ihrem Fachwissen über die Buttlarsche Rotte, die Kessel beruflich beschäftigt — und uns möglicherweise noch in unserer Freizeit beschäftigen wird. Wer sich die Mühe macht, die Handlung für sich chronologisch zu ordnen, bemerkt, wie tatsächlich alles davon ausgeht, dass vor Jahrzehnten mal eine Frau — nicht Frau Schwalbe — barfuß gelaufen ist. Wem das nicht reicht, der kann ja weiter Bernhard Schlink und Ferdinand von Schirach lesen.

Peter Jakob Horemans, Der Geist des Rates, 1753

BIlder: Peter Jakob Horemans: Der Geist des Rates, 1753, via Theodor Frey (dort erloschen)
und Hermetiker, 11. Mai 2009.

Soundtrack: Felix Mendelssohn Bartholdy: Sechs Präludien und Fugen, opus 35, MWV SD 14
1831–1836, erschienen 1837; „die vierte, die schwermütige in As-Dur“ (op. cit.):

Written by Wolf

25. September 2020 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Glaube & Eifer, ~~~Olymp~~~

Werkstattbericht: Da kann jeder gedenken, in was Schrecken und Forcht ich gesteckt

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Update zu Frames in Zitaten (in Frames),
Unser lieber Vatter,
Bocksgestöhn und freche Lieder,
Bitchy Lessing und
Wenn er vom Blocksberg kehrt:

Wo wir gerade so schön auf unserem Barocktrip sind (und dem Professor Zumbach bei seinem Rentnerhobby der Lykanthropie zuhören dürfen), wollte ich nur mal kurz am lebenden Beispiel damit herumgeprotzt haben, was die Textverarbeitung für diese heil’gen Hallen überhaupt für ein Aufwand ist:

Selbst wenn der Text schon von professoraler Seite vorgegeben und sogar mit den nötigen und richtigen Illustrationen illuminiert ist, kann man das nicht einfach so Strg+C abkopieren, sondern schmeißt sich erst mal den Text in ein Editor-Dokumentchen und zerrt die Illus — dankenswerter Weise überschaubare zweie an der Zahl — auf den Desktop.

Gephotoshoppt ist schnell; beim Raufdrehen des Kontrasts hat’s schon länger gedauert, bis dieses Raumschiff von Photoshop mit hundertelfzig sinnlosen „Filtern“ seinen breiten Arsch in die Höhe gefahren hat. Leider ergibt eine Stichprobe aus dem vorgefundenen Text, dass die Rechtschreibung, wozu auch immer, modernisiert wurde, was auch immer die Leute gegen Schreibweisen mit ey haben — und vor allem gegen das wendige Satzzeichen der Virgel. Das unsägliche Gutenberg-Projekt braucht man eigentlich nie zu fragen, das gewöhnlich recht zuverlässige zeno.org bringt’s populär postmodern, eins der Google-Books bringt immerhin eine zitierfähig wirkende Gesamtausgabe bei Max Niemeyer, wo die Doktoranden ihre für jedes Publikum verlorenen Orchideen auswildern, für meinen praktisch besucherfreien Weblog entschließe ich mich endlich nach dem Scan der Wolfenbütteler Digitalen Bibliothek zu korrigieren. Das ist cool, für diesen Stand des Neuhochdeutschen allemal leserlich genug und mit einiger Sicherheit nicht von einem präapokalyptischen Lektor verunreinigt, der sich am Mittag nicht mehr erinnert, was er sich in der Frühe in den Kaffee geschüttet hat. Kursive und fette Stellen mit dem eingebauten Fadenzähler im Auge aus dem Original aufspüren und mittels anno 1999 erlerntem Bauern-HTML händisch einfügen, denn wir erinnern uns: Wir erstellen Editörchen, keine Wördchen.

Die Bilder auf WordPress laden: Das hab ich viel zu lange so gehalten, dass Hotlinken über die Image-URL von sonstwoher reichen musste. Irgendjemand hat mir gesteckt, dass dergleichen einen Diebstahl an Bandbreite darstellt, was immer das ist, und selber hab ich gemerkt, dass die Websites ihre Bilder umsortieren und umbenennen, wie sie lustig sind, und zwar viel zu schnell, die Buchverlage auch schon gern mehrmals im Jahr. Nicht viel besser ist, eigenen Gratis-Online-Speicherplatz zu „nutzen“, weil die sich rausreden, dass sie gratis sind, und meine Bilder umsortieren und umbenennen, wie sie lustig sind. Also wirklich auf WordPress laden, wo auch der dazugehörige Text liegt, und die Bilder verrotten erst mit dem Rest, und dann wird es egal sein.

Im übrigen betreibe ich seit ungefähr 2002, oder wann immer diese alle Chronologie auf den Kopf stülpende Software erfunden wurde, die letzten Weblogs mit handgeschriebenem HTML der Welt. Bis 2006, als ich Moby-Dick™ aufgemacht hab, bestand noch Hoffnung, dass es irgendwann wieder so cool wird wie die Basteleien auf Etsy, danach war mein häufigsten geschriebenes Wort — target=“_blank“ — eine unverzichtbare Zäsur zum Nachdenken. Für rel=“noopener“ war ich von Anfang an zu faul, und kursiv heißt bei mir immer noch <i>, nicht <em>, und fett <b> und nicht <strong>, falls sich jemand erinnert.

Einen Soundtrack aussuchen: einen thematisch relevanten oder einen schönen? Am besten beides, aber steck da mal drin. Klassik und hochstehende official videos verschwinden auf YouTube sehr viel schneller als unseriöser Raffelkram, dabei bin ich jede Woche wieder dankbar, dass diese missratene Wörterpresse irgendwann den Embedding-Code für Videos ins Idiotensichere vereinfacht hat.

Den Soundtrack mit Quelle, Jahr, Album und Opuszahl nachweisen und verlinken, die Bilder beim Photographen anfragen und drei Wochen warten, bis er antwortet: „Yea why feel free lol“, was er glücklicherweise meistens bleiben lässt, aber man kann rezente Bilder ja nicht einfach nicht anfragen. Am besten sind Gekritzel von über siebzig Jahre lang Toten und leicht geschürzte Weiber aus Tumblr: Was sich dort zwei-, dreimal weiterverbloggt hat, ist so gründlich von jedem nachweisbaren Copyright abgeschnitten, dass nicht mal Tineye weiterhilft. Zum Beispiel bei den zwei Bildern, die ich beim Professor Zumbach aufgegabelt hab, bestand die auffindbare Information im Dateinamen. Schade und künstlerschädigend, aber für mich arbeitssparend; fürs Gegenteil könnte ich genauso wenig. — Müssen Links auf die Bilder? Ja, aber auf entweder alle oder auf keins, nicht durcheinander. Wenn ja: title-Tags gegenüber dem Vorkommen im Textfluss abändern. Und zwar so verteilt, dass die Bilder nicht dem Link widersprechen; skurrile Überraschungseffekte muss man nicht anstreben, die entstehen von selber im Übermaß. Die Bildersuche samt Nachweis-Odyssee nimmt übrigens, if someone was wondering, die meiste Zeit von jedem Artikel ein.

Vorveröffentlichen: Jeden Freitag um 00.01 Uhr, ob’s stürmt oder schneit, hat ein Artikel zu erscheinen. Meistens warten sechse bis achte in der Pipeline, ab fünf abwärts werde ich nervös. Das Layout anpassen: Die Zeilenbreite hab nicht ich bestimmt, darum ordentliche harte Umbrüche ohne Hurenkinder und Schusterjungen, ich „komme“ ja von der Lyrik her. Darum sitzen meine Hochformate auch grundsätzlich rechtsbündig: weil ich keine übriggebliebenen Einzelzeilen am Bürzel meiner Illustrationen herumschüchtern brauchen kann. Die Wölfin, das heißt: meine Frau, die von der Graphik, unter anderem der Typographie her „kommt“, weigert sich mitzulesen, weil sie ihrem Berufsethos entsprechend die Illustrationen linksbündig sehen will. Da sieht man wieder, wovon Kultur abhängt. Und in der geschedulten Vorschau fallen einem erst die Tippfehler auf, also pro Fehlerchen den kompletten Text (Obacht, ohne Überschrift) drüberkopieren und bis es endlich gnädig erscheinen darf, um die zehnmal aktualisieren.

Insgesamt sitze ich an jedem Artikel irgendwas um drei bis zwölf Stunden; die 24-stündigen sind die lustigsten. Beim gegenwärtigen waren es, wo ich vage mitstoppe, fünf Stunden eines Wochentages im Zustand der Kurzarbeit, und da musste ich praktisch nix und wieder nix machen (okay, außer eine andere als die professorale Version rausgoogeln und einrichten und an den Bildern den Kontrast aufblasen und den Soundtrack dings und alles… und zwischendurch Lebensmittel einkaufen, was ich rausgerechnet hab). Am schnellsten geht’s, wenn ich Nachtstück oder sowas drüberschreiben kann, andere angefangene Editor-Dateien hab ich seit mehreren Jahren auf dem Desktop liegen, und alte Screenshots sagen mir: Es werden mit der Zeit mehr. Alles für die Kunst.

Es folgt ein Bravourstück der Schauerliteratur von etwa 150 Jahre avant la lettre. Und zwar in einer begründbar richtigen Orthographie, jawoll:

——— Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen:

Simplex sieht Hexen zum Tanz hinwegfahren,
Kommt auch zu ihren verteufelten Scharen.

Erster Teil. Zweites Buch. Das XVII. Capitel,
aus: Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch / Das ist: Die Beschreibung deß Lebens eines seltzamen Vaganten / genant Melchior Sternfels von Fuchshaim / wo und welcher gestalt Er nemlich in diese Welt kommen / was er darinn gesehen / gelernet / erfahren und außgestanden / auch warumb er solche wieder freywillig quittirt. Überauß lustig / und männiglich nutzlich zu lesen, 1668:

Witches' Sabbat, Gaetano Previati, 1852Einsmal zu End deß May / als ich abermal durch mein gewöhnlich / ob zwar verbottenes Mittel / meine Nahrung holen wolte / und zu dem Ende zu einem Baurn-Hof gestrichen war / kam ich in die Küchen / merckte aber bald / daß noch Leut auff waren ( Nota, wo sich Hund befanden / da kam ich wol nicht hin) derowegen sperrete ich die eine Küchenthür / die in Hof gieng / Angelweit auff / damit wann es etwan Gefahr setzte / ich stracks außreissen könte blieb also Maußstill sitzen / biß ich erwarten möchte / daß sich die Leut nidergelegt hätten: Unterdessen nam ich eines Spalts gewahr / den das Küchenschälterlein hatte / welches in die Stuben gieng; ich schlich hinzu / zu sehen / ob die Leut nicht bald schlaffen gehen wolten? aber meine Hoffnung war nichts / dann sie hatten sich erst angezogen / und an deß Liechts / ein schweflichte blaue Flamm auff der Banck stehen / bey welcher sie Stecken / Besem / Gablen / Stül und Bänck schmierten / und nacheinander damit zum Fenster hinauß flogen. Jch verwundert mich schröcklich / und empfand ein grosses Grausen; weil ich aber grösserer Erschröcklichkeiten gewohnt war / zumal mein Lebtag von den Unholden weder gelesen noch gehört hatte / achtet ichs nicht sonderlich / vornemlich weil alles so still hergieng / sondern verfügte mich / nachdem alles darvon gefahren war / auch in die Stub / bedachte was ich mit nemmen / und wo ich solches suchen wolte / und setzte mich in solchen Gedancken auff einen Banck schrittlings nider; Jch war aber kaum auffgesessen / da fuhr ich sampt der Banck gleichsam augenblicklich zum Fenster hinauß / und ließ mein Rantzen und Feur-rohr / so ich von mir gelegt hatte / vor den Schmirberlohn und so künstliche Salbe dahinden. Das Auffsitzen / davon fahren und absteigen / geschahe gleichsam in einem Nu! dann ich kam / wie mich bedünckte / augenblicklich zu einer grossen Schaar Volcks / es sey dann / daß ich auß Schrecken nicht geacht hab / wie lang ich auff dieser weiten Räis zugebracht / diese tantzten einen wunderlichen Tantz / dergleichen ich mein Lebtag nie gesehen / dann sie hatten sich bey den Händen gefast / und viel Ring ineinander gemacht / mit zusamm gekehrten Rucken / wie man die drey Gratien abmahlet / also daß sie die Angesichter heraußwarts kehrten; der inner Ring bestund etwan in 7. oder 8. Personen / der ander hatte wol noch so viel / der dritte mehr als diese beyde / und so fortan / also daß sich in dem äussern Ring über 200. Personen befanden; und weil ein Ring oder Craiß umb den andern lincks / und die andere rechts herumb tantzte / konte ich nicht sehen / wie viel sie solcher Ring gemacht / noch was sie in der Mitten / darumb sie tantzten / stehen hatten. Es sahe eben greulich seltzam auß / weil die Köpff so possierlich durcheinander haspelten. Und gleich wie der Tantz seltzam war / also war auch ihre Music, auch sange / wie ich vermeynte / ein jeder am Tantz selber drein / welches ein wunderliche Harmoniam abgab / meine Banck die mich hin trug / ließ sich bey den Spielleuten nieder / die ausserhalb der Ringe umb den Tantz herumb stunden / deren etliche hatten an der Flöten / Zwerchpfeiffen und Schalmeyen / nichts anders als Natern / Vipern und Blindschleichen / darauff sie lustig daher pfiffen: Etliche hatten Katzen / denen sie in Hindern bliesen / und auff dem Schwantz fingerten / das lautet den Sack-pfeiffen gleich: Andere geigeten auff Roßköpffen / wie auff dem besten Discant, und aber andere schlugen die Harpffe auff einem Kühgeribbe / wie solche auff dem Wasen ligen / so war auch einer vorhanden / der hatte eine Hündin underm Arm / deren leyert er am Schwantz / und fingert ihr an den Dutten / darunter trompeteten die Teuffel durch die Nase / daß es im gantzen Wald erschallete / und wie dieser Tantz bald auß war / fieng die gantze höllische Gesellschafft an zu rasen / zu ruffen / zu rauschen / zu brausen / zu heulen / zu wüten und zu toben / als ob sie alle toll und thöricht gewest wären. Da kan jeder gedencken / in was Schrecken und Furcht ich gesteckt.

Witches' Sabbat, Martin van Male, 1911Jn diesem Lermen kam ein Kerl auff mich dar / der hatte ein ungeheure Krott unterm Arm / gern so groß als eine Heerpaucke / deren waren die Därm auß dem Hindern gezogen / und wieder zum Maul hinein geschoppt / welches so garstig außsahe / daß mich darob kotzerte; Sehin Simplici, sagte er / ich weiß / daß du ein guter Lautenist bist / laß uns doch ein fein Stückgen hören: Jch erschrack daß ich schier umbfiel / weil mich der Kerl mit Nahmen nennete / und in solchem Schrecken verstummte ich gar / und bildete mir ein / ich lege in einem so schweren Traum / bat derowegen innerlich im Hertzen / daß ich doch erwachen möchte / der mit der Krott aber / den ich steiff ansahe / zog seine Nasen auß und ein / wie ein Calecutscher Han / und stieß mich endlich auff die Brust / daß ich bald darvon erstickte; derowegen fienge ich an überlaut zu Gott zu ruffen / da verschwand das gantze Heer. Jn einem Huy wurde es stockfinster / und mir so förchterlich umbs Hertz / daß ich zu Boden fiele / und wol 100. Creutz vor mich machte.

Hexensabbat: Gaetano Previati, 1852; Martin van Male, 1911,
via Frank T. Zumbach: Meshes of Hell: Gaetano Previati/ Martin van Male, Witches‘ Sabbath / Grimmelshausen: Aus dem ‚Simplicissimus‘.

Soundtrack: Nicht weil es irgendwie auf eine zur Unzeit veröffentlichte walpurgisnächtliche Hexensabbaterie passen würde, sondern weil es während des Tippens auf Spotify aus meinem „Mix der Woche“ angenehm herausstach: Steve Earle, Del McCoury Band & Emmylou Harris: Pilgrim, aus: The Mountain, 1999:

Written by Wolf

21. August 2020 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Vier letzte Dinge: Hölle

Seht, wie, was lebt, zum Ende leufft (gegen-hüpfendes Lied)

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Update zu Wir rechnen jahr auff jahre / in dessen wirdt die bahre vns für die thüre bracht
Drum dein Stimmlein lass erschallen
Das Angedenken der Zuckerlust
und Lästu dich zum Freien bitten?:

Deß Bücherschreibens ist so viel/ man schreibet sie mit hauffen;
Niemand wird Bücher schreiben mehr/ so niemand sie wird kauffen.

Friedrich von Logau: Bücher=menge,
aus: Deutscher Sinn-Getichte Drey Tausend, Deß Dritten Tausend Sechstes Hundert, 1654.

1979 hat Das Treffen in Telgte kaum jemanden interessiert. Was Bestseller angeht, hatte Günter Grass vorher (1977) Der Butt und nachher (1980) Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus, beide zu ihrer Zeit 1. Plätze auf der Spiegel-Bestsellerliste. Fun Fact: Die 1999 nobelpreiswürdige Die Blechtrommel von 1959 stand da nie drauf.

Von diesem Desinteresse kann ich mich nicht ausnehmen, dabei hab ich Grass von Anfang an — was für meine Generation üblicherweise heißt: seit der Blechtrommel-Verfilmung 1979 — gemocht. Das Treffen in Telgte lag irgendwie unter dem Radar der Öffentlichkeit, jedenfalls unter dem eines Elfjährigen, der in den Buchabteilungen von Hertie und Karstadt — damals noch gut zugänglich, weil viel aufgesucht, im Erdgeschoss — im Stehen, dafür kostenneutral die Comics auslesen will.

Günter Grass, Das Treffen in Telgte, Sammlung Luchterhand, 1985, annmeu auf Ebay, 2020Dort hing auch jede Woche aktuell die Spiegel-Bestsellerliste aus, durchaus mit Grass — dazu Heinrich Böll (Fürsorgliche Belageriung) und Martin Walser (Seelenarbeit) gleichzeitig — für 24 D-Mark bei Luchterhand, und die ganze Zeit hindurch abgeschlagen hinter dem Dauerbrenner Der Herr der Ringe für seine unerschwinglichen 39,80 und neben Ilse Gräfin von Bredow: Kartoffeln mit Stippe, Ephraim Kishon: Paradies neu zu vermieten, Johannes Mario Simmel: Zweiundzwanzig Zentimeter Zärtlichkeit und in der Sparte Sachbuch Christiane F.: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Da ging der unspektakuläre Nachname mit etwas in der Überschrift, das wohl eine Stadt in Deutschland bezeichnen sollte, aber zur unter drohendem Zungenbruch auszusprechen war, allzuleicht unter.

Es erforderte die Reife des Gymnasiasten, der auf dem Schulhof degoutante Details aus dem Blechtrommel-Film berichten konnte, also erkennbar bis nach 23 Uhr aufgeblieben war, und es erforderte die Ausgabe Das Treffen in Telgte. Eine Erzählung und dreiundvierzig Gedichte aus dem Barock, also im Originalverlag Jahre später um belletristisches Sondermaterial erweitert, um das Nebenwerk des nachmaligen Nobelpreisträgers — den man selbstverständlich schon immer in immer erkannt hatte — zu würdigen.

Die Handlung des Romänchens von 137 Seiten ist klar: Die überlebende Schreiber-Elite des Dreißigjährigen Krieges trifft sich kurz vor dem absehbaren Westfälischen Frieden im Wirtshaus der (kinderlosen) Mutter Courage in — eben — Telgte, zusammengetrommelt von Simon Dach und ungeladen unterstützt von Christoffel „Gelnhausen“ von Grimmelshausen, um eine Art zünftiger Gemeinschaft zu bilden und ein Manifest zu errichten. Weitere Figuren sind der später an- und früher abreisende kursächsische Hofkapellmeister Heinrich Schütz, der Dach adjuvierende Musiker Heinrich Albert(i), die drei Mägde Elsabe (füllig), Marie (zierlich) und Marthe (lang, grobknochig), fünf nur teilweise namentlich genannte Buchdrucker, das heißt: Verleger, vier Hofköter, zwei Maultiere und der teilnehmende, aber obskur bleibende Ich-Erzähler. Der Gasthof brennt ab,

Doch gelohnt habe sich der Aufwand am Ende wohl doch. Fortan könne sich jeder weniger vereinzelt begreifen.

Gängige Interpretationen, vor allem die weniger engagierten, die dem Wikipedia-Artikel folgen, nennen Das Treffen in Telgte einen Schlüsselroman über die Gruppe 47, gestützt durch Grass‘ Widmung an deren Gründer Hans Werner Richter, der sich in der Anführerfigur des Simon Dach wiedererkannt haben soll. Dagegen sprechen die Gruppenbildung von 19-, nicht 1647 erst nach einem Kriegsende und vor allem Fritz J. Raddatz in der Zeit vom 30. März 1979 und ausschnittsweise im Klappentext:

Die sind es – und sie sind es nicht: Böll und Enzensberger, Johnson und Walser. Einer ist es bestimmt: Simon Dach alias Hans Werner Richter.

Man trifft sich 1647, dreihundert Jahre vor Gründung der Gruppe 47; weil Günter Grass es so will. Seine Erzählung ist kein Kostümstück, sondern historische Fiktion, ist kein Schlüsselroman, aber eine Phantasmagorie möglicher historischer Parallelen. Ein Märchen von versäumten Möglichkeiten – literarischen und nationalen. Ja: nationalen.

Kurz: Die einen sagen so, die andern so. Nur dass ich persönlich dem wohlwollenden Raddatz immer mehr geglaubt hab als einem ramenternden Ranickel. Begründen lässt sich Schlüsselroman, verschlüsselnde oder verschlüsselte Erzählung, alles auf einmal oder nichts davon, aber es ist ein großer Spaß, ein unterschätzter allemal.

In dieser Zeit muss ich mir auch irgendwo angelesen haben, Günter Grass erzähle: „mit vollen Händen“. Mir entfällt, wer das wann wo gesagt haben soll, aber ich hab selten eine so kurze, treffende Literaturkritik für ein ganzes Œuvre gefunden. Und mir gemerkt. Es folgt das lebensfroheste Untergangsstück der Nachkriegsliteratur. Und damit, liebe Kinder, ist bis auf weiteres der Zweite Weltkrieg gemeint.

——— Günter Grass:

16

aus: Das Treffen in Telgte, 1979, Sammlung Luchterhand 1985, Seite 97 f.:

„O Nichts, o Wahn, o Traum, worauf wir Menschen bauen…“ Alles schlug in Jammer um. Die Spiegel malte das Grausen trüb. Den Wörtern war der Sinn verkehrt. Die Hoffnung darbte am verschütteten Brunnen. Auf Wüstensand gebaut, hielt kein Gemäuer. Einzig verlacht hatte die Welt noch Bestand. Ihr falscher Glanz. Des grünen Astes verheißene Dürre. Das weißgetünchte Grab. Die schöngeschminkte Leich. Der Ball des falschen Glücks… „Was ist des Menschen Leben, Der immer um muß schweben, Als eine Phantasie der Zeit!“

Solange der Krieg dauerte, doch seit den ersten, den Lissaer Sonetten des jungen Gryphius noch heilloser, war ihnen alles wie ohne Heil. So viele Lüste ihren Satzbau schwellten, so zierlich sie die Natur zu einer Schäferei, reich an Grotten und Irrgärten, frisierten, so leicht ihnen Klingwörter und Klangbilder von der Hand gingen und mehr Sinn aufhoben als gaben, es geriet ihnen die Erde in letzter Strophe immer zum Jammertal. Den Tod als Erlösung zu feiern, gelang selbst den minderen Poeten ohne Mühe. Geil nach Ehre und Ruhm sah man sie wetteifern, die Vergeblichkeit menschlichen Tuns in prächtigen Bildern zu fassen. Besonders die Jungen waren mit dem Leben in Zeilen schnell fertig. Doch auch den Älteren war der Abschied vom Irdischen und seinem Blendwerk dergestalt geläufig, daß man das Jammertalige und den Erlösungsjubel ihrer fleißig (gegen mäßigen Lohn) geschriebenen Auftragsgedichte als zeitmodisch empfinden konnte, weshalb Logau, der sich gern kühl auf Seiten der Vernunft hielt, seinen Spaß an der gereimten Todessehnsucht seiner Kollegen hatte. Mit ihm waren etliche gemäßigte Nachredner der These „Alles ist eitel“ gelegentlich bereit, einander hinter das düstere Deckblatt in die heiter bebilderten Spielkarten zu gucken.

Deshalb hielten Logau, Weckherlin und die weltgewandten Harsdörffer und Hoffmannswaldau den gegenwärtigen Glauben, es werde ohnehin demnächst der Weltuntergang kommen und einem Gutteil der ihn herbeiunkenden Poesie den Beweis nachliefern, für nichts als Aberglauben. Doch die anderen – mit ihnen die Satiriker und sogar der lebenskluge Dach – sahen den Jüngsten Tag zwar nicht allzeit, aber doch immer dann in greifbarer Nähe, wenn sich die Gegenwart was sie oft tat – politisch verdunkelte oder sobald sich die alltäglichen Schwierigkeiten zum Knoten verdickten: zum Beispiel, als nach dem Geständnis Gelnhausens das Festmahl der Poeten nur noch als Fresserei verdammt werden konnte und der Poeten Heiterkeit in Jammer verkehrt wurde.

Einzig von Gryphius, dem Meister der Düsternis, ging Frohsinn aus. Ihm war solche Stimmung üblich. Gelassen hielt er im Chaos stand. Sein Begriff menschlicher Ordnung fußte auf Trug und Vergeblichkeit.

Also lachte er: Was das Gezeter solle? Ob ihnen jemals ein Fest widerfahren wäre, das sich nicht selbsttätig in Graus ersäuft hätte?

Doch die versammelten Poeten konnten vorerst nicht aufhören, in den Höllenschlund zu starren. Das war des frommen Gerhardt Stunde. Rist nicht minder fleißig. Aus Zesen frohlockte in Hörbildern Satan. Jammervoll ging dem jungen Birken der Schmollmund über. Mehr in sich gekehrt sah man Scheffler und Czepko Heil im Gebet suchen. Der sonst immer Pläne schmiedende Mülben voran, alle Verleger sahen ihres Gewerbes Ende nahen. Und Albert erinnerte Verse seines Freundes Dach:

„Seht, wie, was lebt, zum Ende leufft,
Wisst, daß des Todes Rüssel
Mit vns aus einem Glase säufft
Vnd frisst aus einer Schüssel.“

Günter Grass, Das Treffen in Telgte, Radierung 1979

Diesem Geiste mögen einige der angehängten 43 „Gedichte aus dem Barock“ entsprechen, die nicht — wie versprochen wird — von „allen“ Teilnehmern des Treffens bei „Mutter“ Courage zu Telgte stammen, sondern von einigen davon und zusätzlich einigen in absentia präsenten, aber alle wie der postbarocke Grass: „mit vollen Händen“. Zwei, drei Lieblinge hab ich darunter gefunden: einen vom allgemein liebenswerten Philipp von Zesen, die anderen kriegen wir später.

——— Filip von Zesen:

An seine lieb- und hold-sälige Adelmund

Gegen-hüpfendes Lied.

Erstdruck: Johann Naumann, Hamburg 1651, laut Grass 1649:

1.

Wie ist es / hat Liebe mein Leben besessen?
     wie? oder befündt sie sich leiblich in mier /
o liebliches Leben? Wem sol ichs zu-messen /
     daß meine gebeine so zittern für Ihr?
Ich gehe verirret / verwirret / und trübe /
und stehe vertieffet in lieblicher liebe.

2.

die ächzenden lüfte / die seufzenden winde /
     die lächzende zunge / der augen gewirr‘ /
das böben der glieder / macht / daß ich verschwinde /
     daß ich mich in meinen gedanken verirr‘?
Ach! Schöne / Sie schone der schwächlichen seelen /
wan sie das gebrächliche herzte will kwelen.

3.

Ihr übliches lieblen / o liebliches Leben /
     der lieblenden äugelein fröhlicher blitz /
macht / daß ich verzükket herrümher mus schweben /
     ja /daß ich verlüre gedanken und witz.
das liebliche singen der zitternden zungen
hat mir das hertze durch-drungen / bezwungen.

4.

Sie lieb ich / Sie lob‘ ich / Ihr leb‘ ich zu liebe /
     Sie ehr‘ ich / sie höhr‘ ich / Ihr kehr‘ ich mich zu:
Sie machet es / daß ich im lieben mich übe /
     daß ich verschertze die hertzliche ruh.
Sie schreib‘ ich / mich treib‘ ich / Ihr bleib ich ergeben /
Sie denk‘ ich / mich kränk‘ ich / Ihr schenk‘ ich mein leben.

Andrea Van Orsouw, memento mori, 29. August 2010

Buchgraphik: Cover der Luchterhand-Ausgabe, via annmeu auf PicClick, 2020;
Günter Grass: Radierung über den Satz vom bleibenden Vers, 1979,
via Nando-Dragan Nuruddin Augener:

Kein Fürst könne ihnen gleich. Ihr Vermögen sei nicht zu erkaufen. Und wenn man sie steinigen, mit Haß verschütten wollte, würde noch aus dem Geröll die Hand mit der Feder ragen. Einzig bei ihnen sei, was deutsch zu nennen sich lohne, ewiglich aufgehoben: „Denn wilt vns, liebwerthe Freunde, noch so kurtz vergönnet die Zeit seyn, hie auf Erden zu bleiben, wird sich doch jeder Reim, wofern ihm vnser Geist nach dem Leben gesetzet, der Dauer vermengen…“

Meisterin der Düsternis: Andrea Van Orsouw: memento mori, 29. August 2010:

remember you will die

total lack of emo pictures in my status lately. TIME TO GET DEPRESSING PEOPLE.

I’ve noticed something really weird though…when there’s a majority of happy, sunshine-y pictures in my stream, I’m going through a hard time in life and I’m actually not happy at all. When I have a majority of darker pictures like this, it means I’m happy. WEIRD, HUH?

today was suuuuuuuch a good photography day. oh my gosh. I found this location today and i basically went crazy. It was like an abandoned fort built during world war 2 that’s pretty much falling to pieces and rotting away. SO COOL. Its like one of those places you just KNOW is haunted.

I was like a little kid finding plastic eggs on easter o_O

Soundtrack vom kursächischen Hofkapellmeister, SWV 53, 1625:

Noch erstaunter — und Schütz ein wenig erschrocken — waren alle im Hof, als Gelnhausen plötzlich und nachdem er sich schon dienstfertig zwischen das Gepäck des späten Gastes gestellt hatte, mit angenehmem Tenor aus den „Cantiones sacrae„, einem eher überkonfessionellen, deshalb bis in katholische Gegend verbreiteten Werk den Anfang der ersten Motette zu singen begann: „O bone, o dulcis, o benigne Jesu…“

A. a. O., Seite 46.

Bonus Track: Johnny Flynn and Laura Marling: The Water, aus: Been Listening, 2010:

Written by Wolf

14. August 2020 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Herrschaft & Revolte

Gräflein Du bist verrathen

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Update zu Ich bescheide mich,
Trauervokal und
Die katholische Zeit hat solche Geschmacklosigkeiten nicht gekannt:

James Haliburton, Schloss Plaue, Brandenburg, 8. März 2014

Nicht ausgerechnet am 1. April des Fontanejahres hätte ich an die touristische Verwaltung des Schloss Plaue zu Brandenburg an der Havel mailen sollen:

Sehr geehrte Damen und Herren,

James Haliburton, Schloss Plaue, Brandenburg, 8. März 2014ich betreibe den privaten literarischen Weblog Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt — der viel zu wenig von seinem eigentlichen Thema, dem Volksbuch vom Doctor Faustus handelt, aber selbstverständlich niemals langweilig wird.

Im derzeitigen Fontanejahr, das ich bei meinem übergreifenden Thema natürlich nicht ignorieren will, ist mir in den Fünf Schlössern unter dem Kapitel über das Schloss Plaue das Volkslied Wer geht so spät zu Hofe über die Gräfin Platen aufgefallen, dem Fontane erklärtermaßen nur „einige Strophen“ entnommen hat, das aber aus Strophen zu je 7 Versen besteht, was ja immer eine lyrische Qualität eigener Art darstellt — siehe vor allem meine Weblog-Kategorie 7-Zeiler —, und dessen Inhalt in seinem Kontext hochinteressant ist.

Fontane zitiert dieses Volkslied — wie Sie sehr viel besser wissen als ich — im Zusammenhang mit der Geschichte eines der Leinwandtableaus im oberen Saal von Schloss Plaue. Auf Ihrer eigenen sehr aufschlussreichen Website erfahre ich:

Die ehemalige Innenausstattung des Schlosses ist nur in wenigen Bildern überliefert.

Nun finde ich leider im Internet weder zusätzliche Strophen zum genannten Lied noch die acht — auch nicht die fünf von Fontane näher beschriebenen — Tableaus. Diese Verbindung ergibt leider eine recht lückenhafte Dokumentation zur Geschichte des Philipp Christoph Graf Königsmarck.

Daher meine mehrteilige Frage:

  1. Können Sie mir weitere Strophen zu Wer geht so spät zu Hofe nennen — oder Fundstellen dazu?
  2. Wird das Lied noch gesungen, weil es eine bekannte, wenigstens nachweisbar überlieferte Melodie hat?
  3. Und existieren noch Darstellungen von den Leinwandtableaus in Schloss Plaue?
  4. Genießen sie eine gewisse ikonische Funktion, quasi als stille Berühmtheit von regionalem Erkennungswert?

Für diese Fragen aus einem im besten Sinne amateurhaften Forschungsinteresse erscheinen Sie mir als die geeignete Anlaufstelle. Damit ich nicht vollends einseitig Ihre Zeit beanspruche, darf ich Sie unverbindlich beruhigen: Aus demselben Interesse erwäge ich sehr wohlwollend, möglichst noch im laufenden Fontanejahr die Tourismusangebote um Schloss Plaue zu nutzen. Im Dienste eines germanistischen Nischenthemas ein leibhaftiges siebenzeiliges Volkslied mit großformatigen Illustrationen zu besuchen. Das sieht mir überaus ähnlich.

Können Sie mir hier weiterhelfen — oder wenn nicht, mich wahlweise an jemanden verweisen, der es kann?

Mit freundlichen Grüßen,
Wolf [und alles, was im Impressum steht]

Nicht ausgerechnet am 1. April, weil ich auf irgendeine Antwort, wenigstens ein den Eingang bestätigendes „Geh Ludwig Thoma lesen, du Baziwessi!“ bis heute warte, dabei wird mein Spam täglich handverlesen. Man muss sich also wie immer selber behelfen. Schauen wir mal:

James Haliburton, Schloss Plaue, Brandenburg, 8. März 2014Im überbordenden Reichtum der Fontanischen Wanderungen durch die Mark Brandenburg finden wir ausgeführt, was wir übersichtlicher bei kurz!-Geschichte seit 8. April 2018 als Die Königsmarck-Affäre zusammengefasst sehen: Im Adelsgeschlecht derer von Königsmarck stellte der Spross Philipp Christoph Graf von Königsmarck ausreichende Verwicklungen an, um ein Volkslied anzuregen, eins mit Handlung samt Spannungsbogen und Moral. Das genügt, um uns mehr für das Lied mit seinen illustrierenden Bildern zu interessieren als für die dynastischen Verwicklungen einer ohnehin schwächlich gesicherten regionalpolitischen Wirklichkeit.

Historischer Schauplatz ist somit nach Fontane das Schloss Plaue zu einer historischen Zeit, da es von der Familie von Königsmarck bewohnt wurde. Was Fontane nicht wissen konnte, erfahren wir am touristisch erschlossenen Fontaneweg Schloss Plaue — an der 4. Station:

Die ehemalige Innenausstattung des Schlosses ist nur in wenigen Bildern überliefert. Berühmt waren das Chinesische Zimmer im Obergeschoss, sowie der obere Saal mit den acht großen Leinwandtableaus, die Szenen aus der Geschichte der Familie v. Koenigsmarck zeigten. Anfang 1945 war wegen des Bombenkrieges in Berlin die Vertretung des Kgr. Thailand im Schloss untergebracht. Beim Einmarsch der Roten Armee wurde es geplündert, zeitweilig befand sich ein Lazarett darin. Durch die Plünderungen und DDR-zeitliche Umbauten verlor das Schloss große Teile des historischen Bauinventars sowie die gesamte Innenausstattung.

Und mit diesen „wenigen Bildern“ wird dermaßen hausgehalten, dass die acht, ja selbst die bei Fontane erwähnten fünf Leinwandtableaus nirgends wiedergegeben sind. Ist halt eine karge Gegend.

Allerdings stuft der in solchen Dingen sehr zuverlässige Silvae das Lied 2010 als nur „angebliche[s] Volkslied (wahrscheinlich von Fontane)“ ein. Laut Anmerkung in der siebenbändigen Aufbau-Ausgabe von Gotthard Erler und Rudolf Mingau stammt das Lied gar von Fontanes Kollegen von der Kreuzzeitung George Hesekiel, aus: Nachrichten zur Geschichte des Geschlechts der Grafen von Königsmarck, Verlag von Alexander Duncker, Berlin 1854, Seite 34 bis 36 — ein Nachweis, der in seiner Genauigkeit am glaubwürdigsten erscheinen muss. — Das Wort hat die übliche Quelle Fontane im Zusammenhang:

——— Theodor Fontane:

5. Kapitel
Plaue von 1839 bis jetzt

(Graf Königsmarcksche Zeit)

aus: Fünf Schlösser, 1889:

[…] Fünftes Tableau. Philipp Christoph Graf Königsmarck (jüngster Sohn Kurt Christophs und Bruder Hans Karls von K.) nimmt Abschied von der Erbprinzessin von Braunschweig-Lüneburg und wird kurz darauf in den Gängen des Schlosses von Hannover ermordet.

James Haliburton, Schloss Plaue, Brandenburg, 8. März 2014Philipp Christoph von K., geboren 1662, war seit seinen Kindertagen mit Sophie Dorothea, Erbprinzessin von Braunschweig-Lüneburg, befreundet. Sechzehn Jahr alt, vermählte sich diese mit ihrem Vetter, dem Kurprinzen Georg Ludwig von Hannover, dem späteren Könige Georg I. von England. Die Ehe war nicht glücklich. Philipp Christoph von K. ging in die Welt und beteiligte sich an verschiedenen Kriegszügen. Von 1688 ab aber erkor er, wenigstens zeitweilig, Hannover als Aufenthaltsort und lebte daselbst mit fürstlichem Aufwande, was ihm sein Reichtum gestattete. Denn er war Erbe von Oheim und Bruder, die, wie schon erzählt, 1686 und 88 vor Argos und Negroponte den Tod fanden. Zu seinem (Philipp Christophs) Hausstande gehörten 29 Diener und 52 Pferde. Seine früheren Beziehungen zur Erbprinzessin wurden wieder aufgenommen und weckten nicht nur die Eifersucht des Kurprinzen, sondern auch den Neid der Gräfin Platen, einer Maitresse des Kurprinzen. Ein Herr von Podewils, kurhannoverscher Feldmarschall, unterließ es nicht, dem Grafen Philipp Christoph die Gefahren seines Verhältnisses zur Prinzessin Sophie Dorothea vorzustellen. Umsonst. Endlich gab Philipp Christoph der immer wieder laut werdenden Warnerstimme nach und traf Vorbereitungen, um in kursächsische Dienste zu treten. Am 1. Juli 1694 begab er sich in das Schloß zu Hannover, um hier von seiner Freundin, der Kurprinzessin, Abschied zu nehmen. Er verließ das Schloß nicht mehr. In einem Korridore traten ihm vier Hellebardiere entgegen, die sich bis dahin hinter einem Schornstein verborgen gehalten hatten, und im Kampf gegen diese gedungenen Leute fiel er. Seine Leiche versenkte man in einen senkrecht durch die ganze Höhe des Schlosses laufenden Kanal und mauerte diesen zu. Zwei der Hellebardiere, Buschmann und Lüders, haben die Tat auf ihrem Sterbebette gebeichtet. Die Gräfin Platen war Anstifterin des Ganzen – der Kurprinz (zur Zeit des Mordes auf Besuch in Berlin) hatte nur schweigend zugestimmt. Das Aufsehen, das die Tat hervorrief, war groß, und die Gräfin Platen wurde Gegenstand allgemeinen Hasses. Ein Volkslied, dem ich einige Strophen entnehme, gab dieser Stimmung Ausdruck.

Wer geht so spät zu Hofe,
Da alles längst im Schlaf?
Im Vorsaal wacht die Zofe –
Schon naht der schöne Graf.
Er sprach: „Eh ich nach Frankreich geh,
Muß ich sie noch umarmen,
Prinzessin Dorothee.“

Gräflein, du bist verraten,
Verraten ist dein Glück,
Die böse Gräfin Platen
Ersann ein Bubenstück.
Du schaltst sie eine Wetterfahn,
Sie tät dir gern viel Liebes,
Nun ist’s um dich getan.

Er ging zur ew’gen Ruhe
Mit vielen Schmerzen ein,
Doch ward in keine Truhe
Gebettet sein Gebein.
Ich weiß nicht, wo er modern mag,
Doch wird er einst erscheinen
Am Auferstehungstag.

So (mit Umgehung der drei minder wichtigen) die fünf großen Tableaus im Ahnensaale zu Schloß Plaue.

Fontanes journalistischem Kollegen aus der Anmerkung in der großen Ausgabe nachgegangen, hat das Lied insgesamt neun Strophen — auch schon als Fontanes Vorlage siebenzeilig. Das Original im Zusammenhang:

——— George Hesekiel:

Nachrichten zur Geschichte des Geschlechts der Grafen Königsmarck

Verlag von Alexander Duncker, Königlicher Hofbuchhändler, Berlin 1854:

James Haliburton, Schloss Plaue, Brandenburg, 8. März 2014Wir schließen diesen Abschnitt mit einem Liede, das den Anspruch macht, ein altes Lied zu sein, es ist in desmselben viel Wahres und Falsches auf’s Wunderlichste gemischt, so wunderlich, daß die Fälschung, wenn eine solche vorliegt, eine der gelungensten wäre. Man wird sehen, daß das Volkslied allerdings auch a ein Liebesverhältniß des Grafen im gewöhnlichen Sinne glaubt, was auch wohl nicht anders möglich war, da vom Hofe aus in diesem Sinne verleumderische Gerüchte methodisch verbreitet wuden, man sieht aber auch, wie bereit das Volk war, der Churprinzeß selbst jede Sünde zu verzeihen, weil es die Rohheit des Churorinzen kannte, und wie sich des Volkes ganzer Zorn instinctartig gegen die eigentliche Mörderin, gegen jene mächtige Feindin Königsmarcks, richtete.

Das Lied lautet:

Wer geht so spät zu Hofe,
Da alles längst im Schlaf?
Im Vorsaal wacht die Zofe —
Schon naht der schöne Graf!
Er sprach: „eh‘ ich nach Frankreich geh‘,
Muß ich sie noch umarmen,
Prinzessin Dorothee !“

Sie ließ sich gern erbarmen,
Wie heiße Liebe thut.
In ihren weichen Armen
Wie ward ihm da so gut !
Sie sprach: „so wahr ich Fürstin bin,
Willst Du nach Frankreich reiten,
Ich flieh‘ mit Dir dahin !“

Die Zofe harrt mit Bangen
Dort an der Kammerthür :
Das Kosen und Umfangen
Währt über die Gebühr ;
Und endlich tritt der Graf hervor
Mit Trällern und mit Singen
Wohl auf den Corridor.

Gräflein Du bist verrathen,
Verrathen ist Dein Glück !
Die böse Gräfin Platen
Ersann ein Bubenstück.
Du shaltst sie eine Wetterfahn‘,
Sie thät Dir gern viel Liebes,
Nun ist’s um Dich gethen !

Oh ! sieh Dich vor im Düstern,
Und wärst Du noch so stark.
Hörst Du die Mörder flüstern :
Nieder mit Königsmarck !
Ha ! wie ein Löwe wehrt er sich,
Erschlägt zwei Hellebardiere —
Dann fällt er ritterlich.

Er sah die Gräfin Platen —
Schon schwanden ihm die Sinn‘ —
In seinem Blute waten
Und schrie : Du Teufelin,
Verschlänge Dich der Höllenschlund !
Sie sprach : willst Du noch lästern,
Und stampft ihn auf den Mund.

Er ging zur ew’gen Ruhe
Mit vielen Schmerzen ein ;
Doch ward in keine Truhe
Gebettet sein Gebein.
Ich weiß nicht, wo es modern mag,
Doch wird er einst erscheinen
Am Auferstehungstag.

Und muß die arge Platen
Erscheinen im Gericht,
Dann schützt vor Gottes Gnaden
Sie auch der Churfürst nicht ;
Doch der, die sie so tief betrübt,
Wird wohl die Schuld vergeben,
Dieweil sie viel geliebt.

Zu Ahlden an der Aller
Ist der Prinzessin Grab ;
Der Klage Laute schallen
Am Wasser weit hinab.
Nach England geht ein scharfer Wind
Von seinen Aeltern beiden
Grüßt er manch Königskind.

James Haliburton, Schloss Plaue, Brandenburg, 8. März 2014Man hat eine ganze Literatur über die Geschichte und das blutige Ende des Grafen Philipp Christoph von Königsmarck, interessant dürfte es sein, daß auch Schiller ihn zum Helden eines Dramas, „Sophie von Celle“, machen wollte, dessen vollständiger Entwurf sich in dem Nachlaß der Frau von Wolzogen gefunden hat. Der Inhalt jeder einzelnen Scene ist genau angegeben, und hat man es gewagt, Schillder’sche Stücke zu ergänzen, angefangene zu vollenden, so würde es gewiß auch gestattet sein, das Drama nach dem Schiller’schen Entwurf auszuführen. Der Stoff ist in der That dankbar genug. Uns gereicht es zu besonderer Genugthuung, daß der große deutsche Dichter mit uns an die Unschuld der Prinzeß und des Grafen glaubt, dem Dichter ward durch Divination klar, was uns erst durch später aufgefundene Actenstücke zur Gewißheit wurde.

Was uns lehrt: Je weiter man seine Quellen zurückverfolgt, desto weiter wird man von ihnen geführt. Die Bilder bei Fontane kennen wir immer noch nicht, odass wir uns mit dem Bildmaterial eines Touristen von 2014 behelfen müssen, der ebenfalls auf die verborgenen Schönheiten der Örtlichkeit angewiesen war — wenigstens solange uns das Regionalmarketing von Schloss Plaue im bis auf weiteres wichtigsten touristischen Höhepunkt ganz Brandenburgs genügend wenig ernst nimmt, um uns beharrlich zu ignorieren; dafür kennen wir mehr siebenzeilige Strophen als der nächstbeste Fontaneleser. Schiller wird übrigens noch innerhalb des laufenden Fontanejahrs am 10. November 260, den kriegen wir also noch.

James Haliburton, Schloss Plaue, Brandenburg, 8. März 2014

Bilder: James Haliburton: Schloss Plaue in Brandenburg, 8. März 2014.

Soundtrack: Weil sie aus der Gegend — direktemang aus Brandenburg an der Havel — kommt:
Anna Loos mit Silly: Alles rot, aus: Alles rot, 2010:

Written by Wolf

25. Oktober 2019 at 00:01

Lästu dich zum Freien bitten?

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Update zu Fünfhundert Jahre Mädchengestaltung,
Wir rechnen jahr auff jahre / in dessen wirdt die bahre vns für die thüre bracht,
die Bilder zum Nachtstück 0016: Du nicht:

Astonish the World, 7. November 2018

Ganz von vorn: In Neunburg vorm Wald war ich im Saufalter öfters, weil sie in der Oberpfalz gern ein Bier brauen, dass ganz München sich ins Eck hocken und schämen darf. Aber da kennen sie ihn auch nicht, ihren Greflinger-Schorsch, der um 1620 da geboren sein soll und seitdem ganz arg lückenhaft erforscht. Die Wikipedia will bloß wissen, dass er erst am Regensburger Gymnasium Poeticum war und dann „nach langer Wanderschaft“ über Wien, Danzig und Frankfurt am Main in Hamburg herausgekommen ist, und was bitte soll das für das eine Wanderstrecke sein.

Oh Well, 7. Juni 2014Interessant wird alles erst in Hamburg: Da hat er 1664 den Nordischen Mercurius eröffnet und bis zuletzt herausgegeben, nicht ohne die Leitung innerhalb der Familie weiterzureichen — die erste modern geführte Zeitung, nicht allein in Deutschland, nicht allein von einem Oberpfälzer Moosbüffel vollgeschrieben, sondern überhaupt, weltweit. Modern meint: die Aufteilung in Ressorts zu Information und Unterhaltung — mithin schon das prodesse et delectare des 18. Jahrhunderts — mit feuilletonistischen und literarischen Elementen, Einführung einer Vorstufe des Leitartikels sowie die regelmäßige, wenngleich unregelmäßig geänderte Erscheinungsweise.

Das Gute und das Schlechte daran sind für unseren Fall die angeführten literarischen Elemente. Allein durch ihr Bestehen erschweren die nämlich die Einordnung eines petrarkischen Doppelgedichts, von dem allein belegt ist, dass es von Georg Greflinger selbst und nicht von einem seiner in ganz Europa auswärtigen Korrespondenten für den Nordischen Mercurius stammt — nicht aber, ob aus seiner Zeit der Wanderschaft oder schon fürs Feuilleton oder irgendwann dazwischen. Eine Textsuche im Digitalisat bei der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen liefert jedenfalls genau 0 Ergebnisse.

Coisas de Terê, 10. Januar 2016Die Stelle, an der Greflingers Gedicht seinem verdoppelnden Gegensatz gegenübergestellt wird, ist eine schon wieder einnehmend antiquiert anmutenden Doppel-Homepage — schon „Website“ wäre übertrieben — der Literaten und Kulturwissenschaftler Siegfried Carl und Dr. Rüdiger Krüger; literaturwissenschaftlich dem Petrarkismus, genauer: dem Antipetrarkismus zugeordnet wird es im Lyrikwiki:

Das Gedicht nutzt die gängigen formellen Mittel des Petrarkismus, die Dame wird mit zahlreichen Vergleichen und Metaphern dargestellt, die Darstellung des Körpers erfolgt von oben nach unten, geht dabei auf einzelne Gesichtszüge aber auch Wesenszüge ein. Indes werden diese in diesem Gedicht ins Negative verkehrt, sowohl das Äußere („Aller Ungestalt ein Spiegel“, V. 15) als auch das Innere („Unhuld aller lieben Tugend“, V. 18). Greflinger schafft hier einen deutlichen Gegensatz zu seinem petrarkistischen Gedicht „An eine vortreffliche, schöne und tugendbegabte Jungfrau“. Er ahmt dieses nach, parodiert es jedoch. Diese Technik ist symptomatisch für zahlreiche Antipetrarkismen während der Geschichte des Petrarkismus. Die strikte Verwendung von aemulatio und imitatio [und superatio] wurde damit aufgebrochen oder auch verspottet. Der Antipetrarkismus geht bezeichnenderweise schon ab der ersten Hälfte des 16.Jahrhunderts Hand in Hand mit dem Petrarkismus.

Außerdem: musste natürlich wenigstens in der Antithese das allfällige Memento mori her, wie immer und überall bei allem Barocken. Viel mehr ist da nicht. Eigentlich schade, wenn man beide Fundstellen mal dem Direktvergleich aussetzt. Die petrarkische These halte ich aus einem weniger literaturwissenschaftlichen, viel eher regionalen Verständnis heraus für den hanseatischen, die antipetrarkische Antithese für Greflingers angeborenen Oberpfälzer Anteil:

Chania, Carpe Diem With Alexander the Great

——— Georg Greflinger:

An eine vortreffliche, schöne
und tugendbegabte Jungfrau

1 Gelbe Haare güldne Stricke,
Taubenaugen, Sonnenblicke,
Schönes Mündlein von Korallen,
Zähnlein, die wie Perlen fallen.

2 Lieblichs Zünglein, in dem Sprachen
Süßes Zörnen, süßes Lachen,
Schnee- und lilienweiße Wangen,
Die voll lauter Rosen hangen.

3 Weißes Hälslein, gleich den Schwanen,
Ärmlein, die mich recht gemahnen,
Wie ein Schnee, der frisch gefallen,
Brüstlein wie zween Zuckerballen.

4 Lebensvoller Alabaster,
Große Feindin aller Laster,
Frommer Herzen schöner Spiegel,
Aller Freiheit güldner Zügel.

5 Ausbund aller schönen Jugend,
Aufenthaltung aller Tugend,
Hofstatt aller edlen Sitten,
Ihr habt mir mein Herz bestritten.

Gegensatz: An eine
sehr häßliche Jungfrau

1 Graues Haar voll Läus und Nisse,
Augen von Scharlack, voll Flüsse,
Blaues Maul voll kleiner Knochen,
Halb verrost und halb zerbrochen.

2 Blatterzunge, krank zu sprachen,
Affischs Zörnen, Narrenlachen,
Runzelvolle magre Wangen,
Die wie gelbe Blätter hangen.

3 Halshaut gleich den Morianen,
Arme, die mich recht gemahnen,
Wie ein Kind ins Kot gefallen,
Brüste wie zween Druckerballen.

4 Du bist so ein Alabaster,
Als ein wolberegntes Pflaster,
Aller Ungestalt ein Spiegel,
Aller Schönen Steigebügel.

5 Schimpf der Jungfern und der Jugend,
Unhuld aller lieben Tugend,
Einöd aller plumpen Sitten,
Lästu dich zum Freien bitten?

Lost Girl, 30. Juli 2018

Bilder:

  1. Astonish the World, 7. November 2018;
  2. Oh Well, 7. Juni 2014;
  3. Coisas de Terê, 10. Januar 2016;
  4. Chania: Carpe Diem With Alexander the Great;
  5. Lost Girl, 30. Juli 2018.

Du bist schön und du bist frei und du hast unbegrenzte Liebe:
Maike Rosa Vogel: Ich sing für dich, aus: Trotzdem gut, 2015:

BonusBild („Du hältst uns jetzt in deinen Armen und vielleicht bist du gleich schon fort“),
weil’s das schönste zum Thema war: Paloma Lanna Wool, via Surmise-en-scene, 13. November 2014:

Written by Wolf

29. März 2019 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Ehestand & Buhlschaft

Wölfe haben scharfe Zähne

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Update zu Rotkäppchen und der Penishase:

See! sweet and sound she sleeps in granny’s bed, between the paws of the tender wolf.

Angela Carter: The Company of Wolves, Victor Gollancz Ltd, London 1979, Schluss.

Wahrscheinlich ist es gar kein Naturgesetz, dass Spielfilme über die Mythologie von Wölfen der hinterletzte Schrott sein müssen, es scheint nur ein ehernes Gestaltungsgesetz.

Poster The Company of Wolves, 1984Bezugsgrößen seien die bekanntesten: American Werewolf, 1981, Wolfen, ebenfalls 1981, Die Zeit der Wölfe, 1984, und der vielleicht hanebüchenste von allen: Pakt der Wölfe, 2001. Ihren größten Ehrgeiz setzen solche Filme darein, dass sich ein böser — oder unschuldig dem Bösen anheim gefallener — Mensch in wild durcheinander geschnittenen, detaillierten Close-ups in einen Werwolf verwandelt, indem sich seine Glieder schmerzhaft verkrümmen und zusehends behaaren, ihm Ohren und eine Schnauze voller Reißzähne wachsen, während insinuiert wird, dass ich mich davor jetzt bitteschön „gruseln“ solle.

Als entfernten Namensvettern der Wölfe hat mich das von jeher betrübt. Das Beste an dem ganzen Genre ist der Belgische Schäferhundmischling, der den echten Wolf gibt: immer der beste Darsteller und schön flauschig. In diesem Sinne, habe ich immer gehofft, sollte es gemeint sein, wenn mich die mir nahestehenden Mädchen in halb romantischer, halb neckischer Weise mit Werwölfen verglichen; die lykanthropische Leistungsschau der Maskenbildner war es ja wohl nicht im Ernst.

Auffallend oft verwendeten meiner ungestützten Erinnerung nach drei Mädchen in ihrer romantischen Post an mich eine (jedenfalls ohne internetbasierte Möglichkeiten zur Recherche) obskure Stelle, die offensichtlich etwas mit Rotkäppchen zu tun hatte, aber auch in der erweiterten Version der Brüder Grimm, mehrere Auflagen seit 1812, nicht vorkam. Zur Erinnerung: Nachdem der Jäger dem Wolf den Pelz abgezogen hat, kommt ein alternatives Ende:

Es wird auch erzählt, dass einmal, als Rotkäppchen der alten Großmutter wieder Gebackenes brachte, ein anderer Wolf es angesprochen und vom Wege habe ableiten wollen. Rotkäppchen aber hütete sich und ging geradefort seines Wegs und sagte der Großmutter, dass es dem Wolf begegnet wäre, der ihm guten Tag gewünscht, aber so bös aus den Augen geguckt hätte: „Wenn’s nicht auf offener Straße gewesen wäre, er hätte mich gefressen.“ […]

Wie zu erwarten, stammt das folgende Gedicht, das mir wiederholt gewidmet wurde, weder aus Grimm noch sonst einer besonders verbreiteten Version von Rotkäppchen, die man von Kind auf lernt, ohne sie aktiv aufzusuchen. Dazu noch gereimt in einer Qualität, die gerade mal so volljährige Mädchen wahrscheinlich nicht ohne weiteres aus dem Ärmel schütteln:

——— Die Zeit der Wölfe, 1984,
Drehbuch: Neil Jordan und die Autorin der literarischen Vorlage, Angela Carter:

Und die Moral von der Geschicht‘:
Mädchen, weich vom Wege nicht!
Bleib allein und halt nicht an,
Traue keinem fremden Mann!
Geh‘ nie bis zum bitt’ren Ende,
Gib Dich nicht in fremde Hände!

Deine Schönheit zieht sie an
Und ein Wolf ist jeder Mann!
Merk Dir eines: In der Nacht
Ist schon mancher Wolf erwacht!
Weine um sie keine Träne!
Wölfe haben scharfe Zähne!

Solche Widmungen schmeicheln einem gerade mal so volljährigen Jungen natürlich bis in fortgeschrittene Lebensjahrzehnte. Sobald er Zugang zum Internet hat, beginnt er sich dafür zu interessieren, wo seine Verflossenen unabhängig voneinander das Zeug hergenommen haben, und sobald er heraus hat, dass man eine DVD mit der Leertaste pausieren kann, erfährt er ganz am Ende des Nachspanns von Die Zeit der Wölfe, einem leider heillos überschätzten und mit Filmpreisen fehlausgezeichneten Sammelsurium beliebig zusammengeklebter Episoden, die irgendwie von Wölfen handeln, um sich als geschlossene Filmhandlung auszugeben:

Es sind die letzten Worte in Die Zeit der Wölfe in der deutschen Synchroniation der englischen Übersetzung des französischen Originals von Charles Perrault, welch letzteres die Vorlage für die Brüder Grimm bildete. Gesprochen werden sie aus dem Off von Angela „Mord ist ihr Hobby“ Lansbury, die darin so lange die Großmutter gespielt hat, bis sie stirbt, indem ihr Kopf malerisch in ein Rauchwölkchen aufgeht, aber sonst eine höchst verdiente Schauspielfachkraft ist. — Das Original aus dem Film wird im Nachspann nachgewiesen als:

Quotation from ‚Petit Chaperon Rouge‘
by Charles Perrault
translated from the original
by S. R. Littlewood (1912)

——— The Company of Wolves, 1984:

Little girls, this seems to say
Never stop upon your way,
Never trust a stranger friend,
No-one knows how it will end,
As you’re pretty, so be wise,
Wolves may lurk in every guise.
Now, as then, ‚tis simple truth:
Sweetest tongue has sharpest tooth.

In der deutschen Version gegenüber der englischen stimmen also weder Form noch Inhalt überein, die Off-Stimme muss sich nicht einmal in der Verszahl ans Timing des parallel ablaufenden Filmgeschehens halten. Was man als Original vermuten möchte, weil es als Übersetzung von Charles Perrault ausgewiesen erscheint, ist dieselbe Stelle in der französischen Synchronfassung:

——— La Compagnie des loups, 1984:

Petite fille jamais en chemin ne vous arrêté,
jamais ne faites confiance à l’étranger
car nul ne sait comment cela peut se terminer.
Plus vous êtes jolies, plus il vous faut être avisée,
car l’homme le plus séduisant peut être un loup déguisé.
Aujourd’hui comme demain, resté donc sur vos gardes.
Car les paroles les plus belles se cachent les dents cruelles.

Das ist wesentlich näher am englischen Original-Drehbuch, nicht aber an Perrault. In dessen Histoires ou contes du temps passé, avec des moralités. Les Contes de ma mère l’Oye — übrigens gerade schmale acht an der Zahl — heißt es nämlich anno 1697 als abschließende Moral seines Ur-Rotkäppchens, in vergleichbarer dramaturgischer Funktion wie in Die Zeit der Wölfe, hier in der Rechtschreibung von 1697:

——— Charles Perrault: Le Petit Chaperon rouge, 1697:

Moralité

On voit icy que de jeunes enfans,
Sur tout de jeunes filles,
Belles, bien faites et gentilles,
Font tres-mal d’écouter toute sorte de gens,
Et que ce n’est pas chose étrange
S’il en est tant que le loup mange.
Je dis le loup, car tous les loups
Ne sont pas de la mesme sorte :
Il en est d’une humeur accorte,
Sans bruit, sans fiel et sans couroux,
Qui, privez, complaisans et doux,
Suivent les jeunes demoiselles
Jusque dans les maisons, jusque dans les ruelles.
Mais, hélas ! qui ne sçait que ces loups doucereux
De tous les loups sont les plus dangereux !

Und schließlich diese Stelle in der Übersetzung von Ulrich Friedrich Müller, 1962 im zweisprachigen Paralleldruck Contes de Fées/Märchen bei dtv:

——— Charles Perrault: Rotkäppchen, 1697:

Moral

Hier sieht man, dass ein jedes Kind
und dass die kleinen Mädchen (die schon gar,
so hübsch und fein, so wunderbar!)
sehr übel tun, wenn sie vertrauensselig sind,
und dass es nicht erstaunlich ist,
wenn dann ein Wolf so viele frisst.
Ich sag ein Wolf, denn alle Wölfe haben
beileibe nicht die gleiche Art:
Da gibt es welche, die ganz zart,
ganz freundlich leise, ohne Böses je zu sagen,
gefällig, mild, mit artigem Betragen
die jungen Damen scharf ins Auge fassen
und ihnen folgen in die Häuser, durch die Gassen.
Doch ach, ein jeder weiß, gerade sie, die zärtlich werben,
gerade diese Wölfe locken ins Verderben.

Es war also ein langer Weg seit 1697, bis freundliche Mädchen mir gegen 1986 kokette Wolfsgedichte widmen konnten. Bildmaterial im Übermaß erspare ich deswegen taktvoll uns allen.

Charles Perrault, Le petit chaperon rouge, 1695

Bilder/images/images: The Company of Wolves, 1984;
Charles Perrault: Contes de ma Mère l’Oye, [eigenes] manuscrit de 1695 (pièce ou n° 3 / 6),
The Pierpont Morgan Library, New York, MA1505, via Utpictura. Die bildliche Vorstellung, wie der Wolf die Großmutter im Bett überfällt, war also schon zwei Jahre vor Ur-Rotkäppchens Veröffentlichung ausgeprägt.

Soundtrack: First Aid Kit: Wolf, aus: The Lion’s Roar, 2012:

Written by Wolf

8. März 2019 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Das Tier & wir

Das Angedenken der Zuckerlust

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Update zu Du Uhu du:

Auf die Gefahr hin zu nerven, falls es nicht bis in die letzten Winkel vorgedrungen sein sollte: Ich sammle Gedichte mit siebenzeiligen Strophen. Wenn jemandem eins auffällt, mag er es mir bitte nicht verschweigen.

Mein bisher ältestes ist aus dem Minnesang, das jüngste von 1932. Falls das nicht gleichzeitig das liebste ist, nehm ich die 1797er Braut von Korinth, weil Goethe durchaus seine Momente haben konnte.

Dieser Tage hab ich eins aus dem Barock gefunden. Memento mori macht Spaß:

——— Christian Hofmann von Hoffmannswaldau:

Wo sind die stunden

1658, aus: Deutsche Vbersetzungen vnd Getichte, Jesaja Fellgiebel, Breslau 1679–1727,
in: Herrn von Hoffmannswaldau und anderer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte erster theil / nebenst einer vorrede von der deutschen Poesie, bey Thomas Fritsch, Leipzig 1697:

Pavel Kiselev, Strawberry Portrait, 15. Juni 2017Wo sind die stunden
Der süssen zeit /
Da ich zu erst empfunden /
Wie deine lieblichkeit
Mich dir verbunden?
Sie sind verrauscht / es bleibet doch dabey /
Daß alle lust vergänglich sey.

Das reine scherzen /
So mich ergetzt /
Und in dem tieffen herzen
Sein merckmal eingesetzt /
Läst mich in schmerzen /
Du hast mir mehr als deutlich kund gethan /
Daß freundlichkeit nicht anckern kan.

Das angedencken
Der zucker-lust /
Will mich in angst versencken.
Es will verdammte kost
Uns zeitlich kräncken /
Was man geschmeckt / und nicht mehr schmecken soll /
Ist freuden-leer und jammer-voll.

Olivia Frolich, Frida Gustavsson, Eurowoman Denmark, Juni 2016Empfangne küsse /
Ambrirter safft /
Verbleibt nicht lange süsse /
Und kommt von aller krafft;
Verrauschte flüsse
Erquicken nicht. Was unsern geist erfreut /
Entspringt aus gegenwärtigkeit.

Ich schwamm in freude /
Der liebe hand
Spann mir ein kleid von seide /
Das blat hat sich gewand /
Ich geh‘ im leide /
Ich wein‘ itzund / daß lieb und sonnenschein
Stets voller angst und wolcken seyn.

Vertonungen: Hans Gál: Vergängliches. Fünf Lieder, opus 33 Nr. 1, 1921, veröffentlicht bei N. Simrock, Berlin 1929;
Franz Krause: Wo sind die Stunden, aus: Gedichte aus alter Zeit, opus 51 Nr. 1, 1972.

Der Sommer war sehr groß: Pavel Kiselev: Strawberry Portrait, via j’ai envie de toi, 15. Juni 2017;
Olivia Frolich: Forever, featuring Frida Gustavsson für Eurowoman Denmark, Juni 2016.

Soundtrack: R.E.M.: Imitation of Life, aus: Reveal, 2001:

Written by Wolf

24. August 2018 at 00:01

Drum dein Stimmlein lass erschallen

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Update zu Trost der Welt, du stille Nacht,
Umfing ihn sein feins Liebchen: Leb wol, du Herzensbübchen! Leb wol! Viel Heil und Sieg!
und Doktor Faust thu dich bekehren:

Wird, gesungen, herzerfreulich seyn.

Goethe, 21. Januar 1806.

Da sieht man, woher die Herren von Arnim und Brentano ihre Volkslied-Raritäten für Des Knaben Wunderhorn aufgesammelt haben: Ab und zu wurde da wirklich ein Schatz in Form eines vorbarocken Flugblatts gehoben — und dann bedienen sie sich wieder aus dem alles andere als verschollenen Abentheuerlichen Simplicissimus von Grimmelshausen — immerhin barock, von 1669.

Giuseppe Calì, Woman in the Moon, 1912Das war ein Lieblingsbuch der beiden Sammler, vor allem Brentanos, weshalb wohl er es ins Wunderhorn hineingetragen und wortgetreu dafür bearbeitet haben wird. Wenn schon nicht redaktionell, versteht man ihn immerhin menschlich: Was Barocklyrik angeht, ist das ein unverwüstlich schönes, auf natürliche Weise inniges Juwel.

Eichendorff verwendete die Wunderhorn-Fassung, welcher Bestseller ihm bis dahin bekannt sein konnte und sogar 1810 von Brentano selbst überreicht wurde, für sein Gedicht Der Einsiedler — nach allen Fundstellen „um 1837“ entstanden, aber schon „um 1836“ in Eine Meerfahrt eingebaut. Wieder unter Brentanos Händen entstand 1846 doch noch die Rarität im Märchen von dem Schulmeister Klopfstock und seinen fünf Söhnen — das von Brentano vermutlich nicht ausdrücklich als verstecktes Nebenwerk beabsichtigt war, wo aber der Klausner eine Version in wesentlich nachbarockem Deutsch und vor allem in einem erfreulich grotesken Kontext singt.

In den folgenden Versionen erhellt, dass bei Grimmelshausen noch die Überschrift fehlt. Von Brentano wurde sie wohl nach einem Vers aus einem der Lieder nach Ossian aus der Volksliedsammlung von Herder 1779 gestaltet: „Der weckt den Schall der Nacht“, dort Buch 2, Nr. 15 — übrigens in der Reihe die Version, die als schroffer, schwer verständlicher Fremdkörper heraussticht.

Im gesamten Material liegt genügend Schönheit, um es versammelt sehen zu wollen. — Chronologisch:

L. Friday Comerre, 2017

——— Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen:

Das siebente Kapitel.

Simplex wird in einer Herberg tractiret /
ob gleich wird sehr grosser Mangel gespühret.

aus: Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch, I. Buch, 7. Capitul, 1669, ungekürzt:

WAs gestalten mir wieder zu mir selbst geholffen worden / weiß ich nicht / aber dieses wol / daß der Alte meinen Kopff in seinem Schos / und vornen meine Juppen geöffnet gehabt / als ich mich wieder erholete / da ich den Einsidler so nahe bey mir sahe / fieng ich ein solch grausam Geschrey an/ als ob er mir im selben Augenblick das Hertz auß dem Leib hätte reissen wollen: Er aber sagte / mein Sohn / schweig / ich thue dir nichts / sey zu frieden / etc. je mehr er mich aber tröstete / und mir liebkoste: Je mehr ich schrye / O du frisst mich! O du frisst mich! du bist der Wolf / und wilst mich fressen: Ey ja wol nein / mein Sohn / sagte er / sey zu frieden / ich friß dich nicht. Diß Gefecht währete lang / biß ich mich endlich so weit liesse weisen / mit ihm in seine Hütten zu gehen / darin war die Armut selbst Hofmeisterin / der Hunger Koch / und der Mangel Küchenmeister / da wurde mein Magen mit einem Gemüß und Trunck Wassers gelabt / und mein Gemüt / so gantz verwirret war / durch deß Alten tröstliche Freundligkeit wieder auffgericht und zu recht> gebracht: Derowegen ließ ich mich durch die Anreitzung deß süssen Schlaffes leicht bethören / der Natur solche Schuldigkeit abzulegen. Der Einsidel merckte meine Notdurfft / darumb liesse er mir den Platz allein in seiner Hütten / weil nur einer darin ligen konte; ohngefähr umb Mitternacht erwachte ich wieder / und hörete ihn folgendes Lied singen / welches ich hernach auch gelernet:

Carl Schweninger, Der Morgenstern und der MondKOmm Trost der Nacht / O Nachtigal /
Laß deine Stimm mit Freudenschall /
Auffs lieblichste erklingen :/:
Komm / komm / und lob den Schöpffer dein /
Weil andre Vöglein schlaffen seyn /
Und nicht mehr mögen singen:
     Laß dein / Stimmlein /
          Laut erschallen / dann vor allen
               Kanstu loben
Gott im Himmel hoch dort oben.

Ob schon ist hin der Sonnenschein /
Und wir im Finstern müssen seyn /
So können wir doch singen :/:
Von Gottes Güt und seiner Macht /
Weil uns kan hindern keine Nacht /
Sein Lob zu vollenbringen.
     Drumb dein / Stimmlein /
          Laß erschallen / dann vor allen
               Kanstu loben /
Gott im Himmel hoch dort oben.

Echo, der wilde Widerhall /
Will seyn bey diesem Freudenschall /
Und lässet sich auch hören :/:
Verweist uns alle Müdigkeit /
Der wir ergeben allezeit /
Lehrt uns den Schlaff bethören.
     Drumb dein / Stimmlein /
          Laß erschallen / dann vor allen
               Kanstu loben /
Gott im Himmel hoch dort oben.

Die Sterne / so am Himmel stehn /
Lassen sich zum Lob Gottes sehn /
Und thun ihm Ehr beweisen :/:
Auch die Eul die nicht singen kan /
Zeigt doch mit ihrem heulen an /
Daß sie Gott auch thu preisen.
     Drumb dein / Stimmlein /
          Laß erschallen / dann vor allen
               Kanstu loben /
Gott im Himmel hoch dort oben.

Nur her mein liebstes Vögelein /
Wir wollen nicht die fäulste seyn /
Und schlaffend ligen bleiben :/:
Sondern biß daß die Morgenröt /
Erfreuet diese Wälder öd /
Im Lob Gottes vertreiben.
     Laß dein / Stimmlein /
          Laut erschallen / dann vor allen
               Kanstu loben /
GOtt im Himmel hoch dort oben.

Unter währendem diesem Gesang bedunckte mich warhafftig / als wann die Nachtigal so wol / als die Eul und Echo, mit eingestimmt hätten / und wann ich den Morgenstern jemals gehört / oder dessen Melodey auff meiner Sackpfeiffen aufzumachen vermöcht / so wäre ich auß der Hütten gewischt / meine Karten mit einzuwerffen / weil mich diese Harmonia so lieblich zu seyn bedunckte / aber ich entschlieff / und erwachte nicht wieder / biß wol in den Tag hinein / da der Einsidel vor mir stunde / und sagte: Uff Kleiner / ich will dir Essen geben / und alsdann den Weg durch den Wald weisen / damit du wieder zu den Leuten / und noch vor Nacht in das nächste Dorff kommest; Jch fragte ihn / was sind das für Dinger / Leuten und Dorff? Er sagte / bist du dann niemalen in keinem Dorff gewest / und weist auch nicht / was Leut oder Menschen seynd? Nein / sagte ich / nirgends als hier bin ich gewest / aber sag mir doch / was seynd Leut / Menschen und Dorff? Behüt GOtt / antwortet der Einsidel / bist du närrisch oder gescheid? Nein / sagte ich / meiner Meüder und meines Knans Bub bin ich / und nicht der närrisch oder der gescheid: Der Einsidel verwundert sich mit Seufftzen und Becreutzigung / und sagte: Wol liebes Kind / ich bin gehalten / dich umb GOttes willen besser zu unterrichten: Darauff fielen unsere Reden und Gegen-Reden / wie folgend Capitel außweiset.

~~~\~~~~~~~/~~~

Jules Joseph Lefebvre, Le rêve

——— Johann Gottfried Herder:

15. Fillans Erscheinung und Fingals Schildklang

Aus Ossian

aus: „Stimmen der Völker in Liedern“. Volkslieder, Zweiter Theil, Zweites Buch, Nummer 15, 1778:

Luis Ricardo Falero: Moon Nymph, detail, 1883Kein Schlaf in deinem Dunkel ist auf dir,
Blauaugigte Tochter Konmors, des Hügels.
Es hört Sulmalla den Schlag,
Auf stand sie in Mitte der Nacht,
Ihr Schritt zum Könige Atha’s des Schwerts,
„Kann ihm erschrecken die starke Seele?“
Sie stand in Zweifel, das Auge gebeugt.
Der Himmel im Brande der Sterne. – –

Sie hört den tönenden Schild,
Sie geht, sie steht, sie stutzet, ein Lamm,
Erhebt die Stimme; die sinkt hinunter – –
Sie sah ihn im glänzenden Stahl,
Der schimmert zum Brande der Sterne – –
Sie sah ihn in dunkler Locke,
Die stieg im Hauche des Himmels – –
Sie wandte den Schritt in Furcht:
„Erwachte der König Erins der Wellen!
Du bist ihm nicht im Traume des Schlafs,
Du Mädchen Inisvina des Schwerts.“

Noch härter tönte der Schall;
Sie starrt; ihr sinket der Helm.
Es schallet der Felsen des Stroms,
Nachhallets im Traume der Nacht;
Kathmor hörets unter dem Baum,
Er sieht das Mädchen der Liebe,
Auf Lubhars Felsen des Bergs,
Rothes Sternlicht schimmert hindurch
Dazwischen der Schreitenden fliegendem Haar.

Wer kommt zu Kathmor durch die Nacht?
In dunkler Zeit der Träume zu ihm?
Ein Bote vom Krieg im schimmernden Stal?
Wer bist du, Sohn der Nacht?
Stehst da vor mir, ein erscheinender König? –
Ruffen der Todten, der Helden der Vorzeit? –
Stimme der Wolke des Schauers? –
Die warnend tönt vor Erins Fall.

„Kein Mann, kein Wandrer der Nachtzeit bin ich,
Nicht Stimme von Wolken der Tiefe,
Aber Warnung bin ich vor Erins Fall.
Hörst du das Schallen des Schildes?
Kein Todter ists, o König von Atha der Wellen,
Der weckt den Schall der Nacht!“

„Mag wecken der Krieger den Schall!
Harfengetön ist Kathmor die Stimme!
Mein Leben ists, o Sohn des dunkeln Himmels,
Ist Brand auf meine Seele, nicht Trauer mir.
Musik den Männern im Stale des Schimmers
Zu Nachts auf Hügeln fern.
Sie brennen an denn ihre Seelen des Strals,
Das Geschlecht der Härte des Willens.
Die Feigen wohnen in Furcht,
Im Thal des Lüftchens der Lust,
Wo Nebelsäume des Berges sich heben
Vom blauhinrollenden Strom u.f.“

~~~\~~~~~~~/~~~

Wytch Photos, Spirit of the New Moon, 9. September 2016

——— Clemens Brentano & Achim von Arnim:

Schall der Nacht.

Simplicissimi Lebenswandel. Nürnberg 1713. I. B. S. 28.

aus: Des Knaben Wunderhorn, Band 1, 1806:

William-Adolphe Bouguereau, L'Étoile Perdue, 1884Komm Trost der Nacht, o Nachtigall!
Laß deine Stimm mit Freuden-Schall
Aufs lieblichste erklingen,
Komm, komm, und lob den Schöpfer dein,
Weil andre Vögel schlafen seyn,
Und nicht mehr mögen singen;
Laß dein Stimmlein
Laut erschallen, denn vor allen
Kannst du loben
Gott im Himmel, hoch dort oben.

Obschon ist hin der Sonnenschein,
Und wir im Finstern müssen seyn,
So können wir doch singen
Von Gottes Güt und seiner Macht,
Weil uns kann hindern keine Nacht,
Sein Loben zu vollbringen.
Drum dein Stimmlein
Laß erschallen, denn vor allen
Kannst du loben
Gott im Himmel, hoch dort oben.

Echo, der wilde Wiederhall,
Will seyn bei diesem Freudenschall,
Und läßet sich auch hören;
Verweist uns alle Müdigkeit,
Der wir ergeben allezeit,
Lehrt uns den Schlaf bethören.
Drum dein Stimmlein
Laß erschallen, denn vor allen
Kannst du loben
Gott im Himmel, hoch dort oben.

Die Sterne, so am Himmel stehn,
Sich lassen Gott zum Lobe sehn,
Und Ehre ihm beweisen;
Die Eul‘ auch, die nicht singen kann,
Zeigt doch mit ihrem Heulen an,
Daß sie auch Gott thu preisen.
Drum dein Stimmlein
Laß erschallen, denn vor allen
Kannst du loben
Gott im Himmel, hoch dort oben.

Nur her, mein liebstes Vögelein!
Wir wollen nicht die faulsten seyn,
Und schlafen liegen bleiben,
Vielmehr bis daß die Morgenröth
Erfreuet diese Wälder-Oed,
In Gottes Lob vertreiben;
Laß dein Stimmlein
Laut erschallen, denn vor allen
Kannst du loben
Gott im Himmel, hoch dort oben.

~~~\~~~~~~~/~~~

Jan Saudek

——— Joseph von Eichendorff:

Der Einsiedler

aus: Deutscher Musenalmanach, 1837; gesammelt in: Gedichte 1831–1836, 6. Geistliche Gedichte:

Albert Aublet, Sélène, 1880Komm, Trost der Welt, du stille Nacht!
Wie steigst du von den Bergen sacht,
Die Lüfte alle schlafen,
Ein Schiffer nur noch, wandermüd‘,
Singt übers Meer sein Abendlied
Zu Gottes Lob im Hafen.

Die Jahre wie die Wolken gehn
Und lassen mich hier einsam stehn,
Die Welt hat mich vergessen,
Da tratst du wunderbar zu mir,
Wenn ich beim Waldesrauschen hier
Gedankenvoll gesessen.

O Trost der Welt, du stille Nacht!
Der Tag hat mich so müd gemacht,
Das weite Meer schon dunkelt,
Laß ausruhn mich von Lust und Not,
Bis daß das ew’ge Morgenrot
Den stillen Wald durchfunkelt.

~~~\~~~~~~~/~~~

Pompeo Batoni: Truth and Mercy, ca. 1745

——— Clemens Brentano:

Komm, Trost der Nacht

aus: Das Märchen von dem Schulmeister Klopfstock und seinen fünf Söhnen, 1846:

„[…] Ich rührte mich nicht und hörte nach einer Weile ein ganz entsetzliches Schnarchen, als wenn man Holz säge. Ach, dachte ich, was muß das Tier für ein abscheulich großes Maul haben, das so gewaltig schnarchen kann! Nun ging der Mond über dem Walde auf und goß seinen wunderbaren Glanz durch die Bäume; da blickte ich mit Angst in das Gelaube des Baumes hinein, von dem ich gefallen war, um etwas zu erkennen, wie das Tier aussähe, weil ich in meinem Leben nichts von einem Tiere gehört hatte, das einem Wildschweine eine Ohrfeige gäbe und dann wie ein Hund bellend in den Bäumen herumlaufe. Bald sah ich seinen schwarzen Schatten in einem Astwinkel liegen, wo es schnarchte; aber es wehten so lange Haare herum, daß ich es nicht erkennen konnte. Indem ich so hinaufsah, hatte ich einen neuen Schrecken: das Tier streckte sich und gähnte ganz entsetzlich uah, uah, und nieste so heftig, daß die Eicheln wie ein Hagelwetter mir auf die Nase rasselten. Aber ich wagte nicht, mich zu rühren, und wie groß war mein Erstaunen, als ich das Tier auf einmal mit lauter heller Stimme folgendes schöne Lied singen hörte:

Artemisia Gentileschi: Allegoria dell'inclinazioneKomm, Trost der Nacht, o Nachtigall!
Laß deine Stimm mit Freudenschall
Aufs lieblichste erklingen;
Komm, komm und lob den Schöpfer dein,
Weil andre Vöglein schlafen sein
Und nicht mehr mögen singen:
Laß dein Stimmlein laut erschallen,
Denn vor allen
Kannst du loben
Gott im Himmel hoch dort oben.

Obschon ist hin der Sonnenschein
Und wir im Finstern müssen sein,
So können wir doch singen
Von Gottes Güt und seiner Macht,
Weil uns kann hindern keine Nacht,
Sein Lobe zu vollbringen:
Drum dein Stimmlein laß erschallen,
Denn vor allen
Kannst du loben
Gott im Himmel hoch dort oben.

Echo, der wilde Wiederhall,
Will sein bei diesem Freudenschall
Und lässet sich auch hören;
Verweist uns alle Müdigkeit,
Der wir ergeben alle Zeit,
Lehrt uns den Schlaf betören;
Drum dein Stimmlein laß erschallen,
Denn vor allen
Kannst du loben
Gott im Himmel hoch dort oben.

Die Sterne, die am Himmel stehn,
Sich lassen zum Lobe Gottes sehn
Und Ehre ihm beweisen;
Die Eul auch, die nicht singen kann,
Zeigt doch mit ihrem Heulen an,
Daß sie Gott auch tu preisen;
Drum dein Stimmlein laß erschallen,
Denn vor allen
Kannst du loben
Gott im Himmel hoch dort oben.

Nur her, mein liebstes Vögelein!
Wir wollen nicht die Faulsten sein
Und schlafend liegen bleiben;
Vielmehr, bis daß die Morgenröt
Erfreuet diese Wälder öd,
In Gottes Lob vertreiben;
Laß dein Stimmlein laut erschallen,
Denn vor allen
Kannst du loben
Gott im Himmel hoch dort oben.“

„Ei, das war sein Lebtag kein wildes Tier, welches dieses Lied sang!“ rief da der Schulmeister Klopfstock aus, und Trilltrall sagte: „Ihr habt gut reden, lieber Vater! Ihr habt es nicht gesehen auf allen Vieren ans Wasser kriechen, dem Wildschwein die Ohrfeige geben und dann auf dem Baum herumbellen; freilich, als es das schöne fromme Lied so recht aus Herzensgrund durch den Baum sang, in welchen der Mond hineinschien wie in eine schöne Kirche, und als Echo, der wilde Wiederhall, und die liebe Frau Nachtigall auch sangen zu diesem Freudenschall, und der Quell lieblicher rauschte und der Wald andächtiger lauschte, da zogen die Wölkchen am Himmel nicht mehr so schnell, und der Mond ward noch einmal so hell, und alle meine Angst besänftigte sich; meine Seele, welche gewesen war wie ein Meer, in welches ein großer Felsen hineinstürzte, verwirrt und trüb voll niederschlagender Wellen, wurde nach dem ersten Verse schon wie ein See, in den ein Fisch, den ein Geier herausgeraubt, frisch und gesund wieder hineinfällt; und nach dem zweiten Vers wie ein See, auf welchen ein singender Schwan niederfliegt und schimmernde Gleise zieht; und nach dem dritten Vers wie ein See, in welchen eine vorüberreisende Taube ein Zweiglein von dem friedlichen Ölbaum fallen läßt; und nach dem vierten Vers wie ein See, in den ein vorüberziehendes Lüftlein ein Rosenblatt weht; und nach dem fünften Vers war es mir, als sei ich wie ein müdes Bienlein, das über den See fliegen wollte und gar nicht weiter konnte und in großer Angst war, da es zum Wasser herabfiel, auf dieses Rosenblatt gefallen, und als schiffe ich sicher und ruhig auf dem Rosenblättlein hinüber und lande jenseits in einem blumenvollen Garten, aus dem mir die Nachtigallen entgegenschmetterten; mein Herz war so ruhig wie ein Spiegel, in dem sich der Mond anschaut und vor dem der Friede sang:

Ach, hört das süße Lallen
Der kleinen Nachtigallen!“

Auguste Raynaud: La nuit, 1887

Bilder:

  1. Gustave Moreau, Nyx, Göttin der Nacht, 1880Giuseppe Calì: Woman in the Moon, 1912, via Silence for My Soul;
  2. L. Friday Comerre, 2017, via Eudaimonia;
  3. Carl Schweninger (1854-1903): Der Morgenstern und der Mond, via Silence for My Soul;
  4. Jules Joseph Lefebvre: Le rêve;
  5. Luis Ricardo Falero: Moon Nymph (detail), 1883, via Mademoiselle la Piquante;
  6. Wytch Photos: Spirit of the New Moon, 9. September 2016;
  7. William-Adolphe Bouguereau: L’Étoile Perdue, 1884, via Wikiquote;
  8. Jan Saudek, via Jan Saudek Moodboard;
  9. Albert Aublet: Sélène, 1880, via Paintings Daily, 23. Mai 2017;
  10. Pompeo Batoni: Truth and Mercy, ca. 1745, via Centuries Past;
  11. Artemisia Gentileschi: Allegoria dell’inclinazione, via Art;
  12. Auguste Raynaud: La nuit, 1887, via Notes From A Superfluous Man, 11. Februar 2017;
  13. Gustave Moreau: Nyx, Göttin der Nacht, 1880, via Wikimedia Commons.

Vertonungen: Robert Schumann: Der Einsiedler, opus 83 Nr. 3;
Max Reger: Der Einsiedler, opus 144a, 1915:


Soundtrack: Freakwater: Lullaby, aus: Feels Like the Third Time, 1994:

Written by Wolf

29. Juni 2018 at 00:01

Scheißen Sie also nach Belieben

with 2 comments

Update zu Spitz wie Wetzlarer Karotte,
Schmerz, Tod und Graus gar spaßig zu erfassen,
Impotence proved I’m superman
und Lessing Luther Lemnius:

Dieser Brief musste früher oder später kommen. Umso verwunderlicher, dass davon keine zuverlässige oder auch nur vollständige Vorlage aufzutreiben war. Realistisch erreichbar ist die Auswahl Briefe der Liselotte von der Pfalz. Herausgegeben und eingeleitet von Helmuth Kiesel. Mit zeitgenössischen Porträts, Insel Verlag 1981; die verbindlichen Ausgaben sind diejenigen, nach denen sich Kiesel nach eigenen Angaben richtet: Briefe der Herzogin Elisabth Charlotte von Orléans (…). Herausgegeben von Dr. Wilhelm Ludwig Holland. 6 Bände. Stuttgart 1867–81 und Aus den Briefen der Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans an die Kurfürstin Sophie von Hannover. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. Herausgegeben von Eduard Bodemann. 2 Bände. Hannover 1891.

Von 1881 und 1891 — wobei die letztere sich schon in der Themenstellung ihrerseits als Auswahl ankündigt, und als modernste Ausgabe erwähnt Kiesels Literaturverzeichnis noch Briefe der Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans, gen. Liselotte. Herausgegeben von Hermann Bräuning-Oktavio — Leipzig 1913. Die ach so sprachlich erfrischend und unverblümt sich äußernde Liselotte soll gegen 60000 briefe geschrieben haben, von denen 5000 erhalten sind, und wird offenbar immer nur als Zitat eines Zitats eines Zitats weitergereicht, der berüchtigte Brief mit seiner Ballung an Kraftausdrücken — genauer: eines einzigen Kraftausdrucks — fehlt in der 1981er Auswahl des Insel-Verlags ganz. Und ab hier will man schon gar nicht mehr so genau wissen, in welchen wissenschaftlich verwendbaren Ausgaben er „entschärft“ erscheint oder ganz unterschlagen wird.

Coturnix, Erbauliche Enzy-Clo-Pädie, Meyster Verlag 1979Was ist eigentlich das Beschämende? Dass der Mensch (in Klammern: ich) so gern in hohen Gegenständen nach dem Niederen wühlt, bis er feststellen muss, dass das Niedere aus dem Hohen gerade dann herausgehalten wird, wenn es kulturhistorisch interessant wird — oder dass ich das ausführlichste Zitat — immer noch nicht den vollständigen Brief — in einem populären Brevier von 1979 finden musste?

Erbauliche Enzy-Clo-Pädie. Kulturgeschichte eines verschwiegenen Örtchens, herausgegeben von einem gewissen „Coturnix“ (wissenschaftlicher Name der Wachtel) im Meyster Verlag, der schon nicht mehr dingfest zu machen ist, habe ich mir 1979 oder kurz danach in der Buchabteilung vom Nürnberger Karstadt spendieren lassen — von meiner Frau Mutter, die dabei pflichtschuldig die Augen verdrehte, aber froh war, dass es mit 5,80 D-Mark abging statt mit den 14,80 für einen Karl May der Bamberger Reihe. Da war ich elf und musste mit irgendetwas auf dem Schulhof angeben können; das Bändchen (128 Seiten — es liegt mir noch vor) richtete sich wohl an Erwachsene bei gutbürgerlicher Freizeitgestaltung, die sich ansonsten auch gezielt „Herrenwitze“ merken, um sie ungefragt mit zuverlässigem Lacherfolg zu erzählen, und gern in hohen Gegenständen nach dem Niederen wühlen.

Den Liselotte-Brief habe ich seit 1979 öfter zitiert gesehen, genauer als bei „Coturnix“ werden wir ihn lange nicht vorfinden — mindestens bis 2022, wenn Liselotte 370. Geburtstag und 300. Todestag auf einmal feiern kann, worüber auch aus feministischer Sicht einiges zu holen sein dürfte — aber nicht so lange, wie eine seriöse, dabei lesbare Kulturgeschichte der Toilettenhygiene noch ausstehen wird.

Die Rechtschreibung ist alles andere als Liselottes originale, die in Kiesels Auswahl immer noch „behutsam modernisiert“, aber in ihrem übermütigen, sinnstiftenden Geiste belassen wäre.

——— Elisabeth Charlotte „Liselotte“ von der Pfalz:

Fontainebleau, den 9. Oktober 1694

Fontainebleau, den 9. Oktober 1694, an ihre Tante Sophie von der Pfalz:

Sie sind in der glücklichen Lage, scheißen gehen zu können, wann Sie wollen, scheißen Sie also nach Belieben. Wir hier sind nicht in derselben Lage, hier bin ich verpflichtet, meinen Kackhaufen bis zum Abend aufzuheben; es gibt nämlich keinen Leibstuhl in den Häusern an der Waldseite. Ich habe das Pech, eines davon zu bewohnen und darum den Kummer, hinausgehen zu müssen, wenn ich scheißen will, das ärgert mich, weil ich bequem scheißen möchte, und ich scheiße nicht bequem, wenn sich mein Arsch nicht hinsetzen kann. Dazu wäre noch zu bemerken, daß uns jeder beim Scheißen sieht: Da laufen Männer, Frauen, Mädchen und Jungen vorbei, Pfarrer und Schweizergarden können einander zusehen; nun, kein Vergnügen ohne Mühe und wenn man überhaupt nicht scheißen müßte, dann fühlte ich mich in Fontainebleau wie der Fisch im Wasser.

Es ist äußerst betrüblich, daß meine Freuden von Scheißhaufen behindert werden; ich wünschte, daß der, der das Scheißen erfunden hat, er und seine ganze Sippschaft, nur durch eine Tracht Prügel scheißen könnte! Wie war das am Dienstag? Man müßte leben können, ohne zu scheißen. Setzen Sie sich zu Tisch mit der besten Gesellschaft der Welt, wenn Sie scheißen müssen, müssen Sie scheißen gehen oder verrecken. Ach, die verdammte Scheißerei! Ich weiß nichts Ekeligeres als das Scheißen. Sie sehen eine hübsche Person, niedlich, reinlich, Sie rufen aus: ach wie reizend wäre das, wenn sie nicht schisse! Den Lastenträgern, Gardesoldaten, Sänfteträgern, dem Volk dieses Kalibers billige ich es zu. Aber: die Kaiser scheißen, die Kaiserinnen scheißen, die Könige scheißen, die Königinnen scheißen, der Papst scheißt, die Kardinäle scheißen, die Fürsten scheißen und die Erzbischöfe und Bischöfe scheißen, die Pfarrer und die Vicare scheißen. Geben Sie zu, die Welt ist von von ekelhaften Leuten! Denn schließlich scheißt man in der Luft, man scheißt auf die Erde, man scheißt ins Meer, das Weltall ist angefüllt mit Scheißern und die Straßen von Fontainebleau mit Scheiße, vor allem mit Schweizerscheiße und die pflanzen Haufen — ebenso große wie Sie, Madame. Wenn Sie glauben, einen hübschen kleinen Mund zu küssen, mit ganz weißen Zähnen — Sie küssen eine Scheißemühle: alle Köstlichkeiten, die Biscuits, die Pasteten, Torten, Füllungen, Schinken, Rebhühner und Fasanen usw. Das Ganze existiert nur um daraus gemahlene Scheiße zu machen …

Heidelinde Weis als Liselotte von der Pfalz, 1966

BIlder: Coturnix (Hrsg.): Erbauliche Enzy-Clo-Pädie. Kulturgeschichte eines verschwiegenen Örtchens,
Meyster Verlag 1979;
Heidelinde Weis in: Liselotte von der Pfalz, 1966 (vermutlich von Regisseur Hoffmann mit Absicht ausnahmsweise nicht mit Liselotte Pulver besetzt), via TV Movie, ca. 2013. Der Film war wie alle von Kurt Hoffmann übrigens nicht vollends … nun ja: scheiße:

Written by Wolf

22. Juni 2018 at 00:01

Wir rechnen jahr auff jahre / in dessen wirdt die bahre vns für die thüre bracht

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Update zu Zwischenmaschine:

Ich war im Stillen herzlich erfreut gestern Abend mit Ihnen das Jahr und da wir einmal Neunundneunziger sind auch das Jahrhundert zu schließen. Lassen Sie den Anfang wie das Ende sein und das künftige wie das vergangene.

Goethe an Schiller, Weimar am 1. Januar 1800.

Zweifarbig lackiertDamit das Jahr anfängt, wie es aufgehört hat, musste man sich sich auf die alte Tugend der Wollust besinnen, die Wölfin hat sich die Zehennägel gleich zweifarbig lackiert und wurde während einiger freundlicher Begegnungen zu Bette unversehens dermaßen laut, dass unser einst liebgewordener Spanner uns am Erdgeschoßfenster wiederenteckt hat, und Sie hätten mir jetzt fast geglaubt:

Das süsse jubiliren /
Das hohe triumphiren
Wirdt oft in hohn vnd schmach verkehrt.

Siehe unten: Wir unterscheiden nach Prediger Salomos tautologischem Spruch vanitas vanitatum et omnia vanitas (Kohelet 1,2) Andreas Gryphius‘ Sonett Es ist alles eitel, 1637 in Alexandrinern, von dessen späterer Ode Vanitas! Vanitatum Vanitas!, 1643 in dreihebigen Jamben — also in einer Art aufgeteilten und aufgelockerten Alexandrinern mit vierhebiger Variation in den letzten Strophenversen, die gleich wesentlich mehr Rock’n’Roll ins Metrum tragen. Goethe bezieht sich in seinem Gedicht Ich hab mein Sach auf Nichts gestellt 1806 qua Überschrift und Metrum eindeutig auf Gryphius‘ Ode, parodiert aber inhaltlich Adam Reusner: Ich hab mein Sach Gott heimgestellt, 1533 in der Melodie von Johann Leon, 1589.

Theoretisch passen auf den Text die Melodien von Innsbruck, ich muss dich lassen und Der Mond ist aufgegangen. — Theoretisch, hab ich gesagt.

Gesegnetes 2018.

Titti Garelli, Vanitas

——— Andreas Gryphius:

Vanitas! Vanitatum Vanitas!

Ode, 1643:

Die Herrlikeit der Erden
Mus rauch undt aschen werden /
Kein fels / kein ärtz kan stehn.
Dis was vns kan ergetzen /
Was wir für ewig schätzen /
Wirdt als ein leichter traum vergehn.

Was sindt doch alle sachen /
Die vns ein hertze machen /
Als schlechte nichtikeit?
Waß ist der Menschen leben /
Der immer vmb mus schweben /
Als eine phantasie der zeit.

Der ruhm nach dem wir trachten /
Den wir vnsterblich achten /
Ist nur ein falscher wahn.
So baldt der geist gewichen:
Vnd dieser mundt erblichen:
Fragt keiner / was man hier gethan.

Es hilfft kein weises wissen /
Wir werden hingerissen /
Ohn einen vnterscheidt /
Was nützt der schlösser menge /
Dem hie die Welt zu enge /
Dem wird ein enges grab zu weitt.

Dis alles wirdt zerrinnen /
Was müh‘ vnd fleis gewinnen
Vndt sawrer schweis erwirbt:
Was Menschen hier besitzen /
Kan für den todt nicht nützen /
Dis alles stirbt vns / wen man stirbt.

Was sindt die kurtzen frewden /
Die stets / ach! leidt / vnd leiden /
Vnd hertzens angst beschwert.
Das süsse jubiliren /
Das hohe triumphiren
Wirdt oft in hohn vnd schmach verkehrt.

Du must vom ehre throne
Weill keine macht noch krone
Kan vnvergänglich sein.
Es mag vom Todten reyen /
Kein Scepter dich befreyen.
Kein purpur / gold / noch edler stein.

Wie eine Rose blühet /
Wen man die Sonne sihet /
Begrüssen diese Welt:
Die ehr der tag sich neiget /
Ehr sich der abendt zeiget /
Verwelckt / vnd vnversehns abfält.

So wachsen wir auff erden
Vnd dencken gros zu werden /
Vnd schmertz / vnd sorgenfrey.
Doch ehr wir zugenommen /
Vnd recht zur blütte kommen /
Bricht vns des todes sturm entzwey.

Wir rechnen jahr auff jahre /
In dessen wirdt die bahre
Vns für die thüre bracht:
Drauff müssen wir von hinnen /
Vnd ehr wir vns besinnen
Der erden sagen gutte nacht.

Weil uns die lust ergetzet:
Vnd stärcke freye schätzet;
Vnd jugendt sicher macht /
Hatt vns der todt gefangen /
Vnd jugendt / stärck vnd prangen /
Vndt standt / vndt kunst / vndt gunst verlacht!

Wie viel sindt schon vergangen /
Wie viell lieb-reicher wangen /
Sindt diesen tag erblast?
Die lange räitung machten /
Vnd nicht einmahl bedachten /
Das ihn ihr recht so kurtz verfast.

Wach‘ auff mein Hertz vndt dencke;
Das dieser zeitt geschencke /
Sey kaum ein augenblick /
Was du zu vor genossen /
Ist als ein strom verschossen
Der keinmahl wider fält zu rück.

Verlache welt vnd ehre.
Furcht / hoffen / gunst vndt lehre /
Vndt fleuch den Herren an /v
Der immer könig bleibet:
Den keine zeitt vertreibet:
Der einig ewig machen kan.

Woll dem der auff ihn trawett!
Er hat recht fest gebawett/
Vndt ob er hier gleich fält:
Wirdt er doch dort bestehen
Vndt nimmermehr vergehen
Weil ihn die stärcke selbst erhält.

Burgfräulein von Strechau, 17. Jahrhundert

Bilder: Titti Garelli: Vanitas, Acryl auf Holz, verkauft;
N. N.: Burgfräulein von Strechau, Ölgemälde, 17. Jahrhundert,
Kunsthistorisches Museum Benediktinerstift Admont.
Sie soll rotblond gewesen sein.

Die Wölfin so: „Deine Creative-Writing-Kundschaft glaubt hoffentlich nicht alles, was geschrieben steht?“ Ich so: „Meine umfassend gebildete Zielgruppe glaubt Bilder.“ Die Wölfin so: „Um Gottes willen, dass du einen Sprung hast. Nimm das sofort raus, du Familiensparhengst.“ Ich so: „Jahahaha.“

Soundtrack: Element of Crime: Der weiße Hai, aus: Immer da wo du bist bin ich nie, 2009:

Written by Wolf

2. Januar 2018 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Vier letzte Dinge: Tod

Gute Vorsätze 1650–2018

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Update zu Cit. Schmidt, A., Faust IV, 1960
und Historische Post vom Verleger:

——— Friedrich von Logau:

Das neue Jahr.

1650, aus: Salomons von Golaw deutscher Sinn-Getichte andres Tausend.
Desz andren Tausend andres Hundert:

Son verschwommenen Lyriker-Typ, Will lieber nicht kritisiert werden, dafür aber Radioaufträge. Großmeister Schmidt, in Bargfeld residierend, ca. 1972Abermals ein neues Jahr! immer noch die alte Noth! —
O das Alte kümmt von uns, und das Neue kümmt von Gott.
Gottes Güt ist immer neu; immer alt ist unsre Schuld;
Neue Reu verleih‘ uns Herr und beweis‘ uns alte Huld!

——— Arno Schmidt:

Aus dem Leben eines Fauns

1953, Bargfelder Studienausgabe Band 1, Seite 335:

Müssen gute Vorsätze gehalten werden, oder ist es ausreichend, daß man sie faßt ? !

~~~\~~~~~~~/~~~

Bild: So’n verschwommenen Lyriker-Typ: Will lieber nicht kritisiert werden, dafür aber Radioaufträge: Großmeister Schmidt, in Bargfeld residierend, ca. 1972,
via Tilman Spreckelsen: Der erste Leser. Martin Walser und Arno Schmidt,
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. März 2017.

Alte Schuld und neue Reu: Anti Cornettos: Korsakov Syndrom, aus: Dohuggandedeoiweidohuggan, 2014:

Written by Wolf

1. Januar 2018 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Nahrung & Völlerei

Unheilige Nacht: Liaber boarisch sterbm ois kaiserlich verderbm

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Update zu Peregrini Bavarici:

Gerci Beck, Schmied von Kochel, 1. März 2010

Über die Sendlinger Mordweihnacht von 1705 merken wir uns sinnvollerweise:

  1. Sie beendete zusammen mit der Schlacht von Aidenbach am 8. Januar 1706
  2. die Bayerische Volkserhebung, vulgo Oberländer Bauernaufstand,
  3. innerhalb des Spanischen Erbfolgekrieges 1701–1714
  4. mit dem Kurfürstentum Bayern auf der Seite von Frankreich;
  5. Sendling war noch kein dreiteiliger Münchner Stadtteil, sondern selbstständiges Dorf;
  6. der ungleiche Kampf bayerischer Bauern und Handwerker gegen die österreichische Kavallerie ergab
  7. etwa 10.000 sinnlose Todesopfer;
  8. bayerischer Herrscher war der Wittelsbacher Kurfürst Maximilian II. Emanuel, vulgo „Max Emanuel“ oder „Max Zwo“,
  9. gegnerischer Kaiser der Habsburger Joseph I.;
  10. im groben ging es um Widerstand gegen das unterdrückerische Besatzungsregime des deutschen Reiches,
  11. der aktuelle Bezug ist die Notwendigkeit, sich einerseits gegen Faschismus,
  12. andererseits gegen Hochverrat zu wehren;
  13. legendenträchtiger Volksheld der Herzoglich-Bayerischen war der der Schmied von Kochel, den es
  14. höchstwahrscheinlich nicht gab und
  15. dessen ungeachtet seiner Virtualität bis ins 21. Jahrhundert ungebrochen mit Hilfe von Denkmälern, Freilichttheaterstücken und sonstiger Folklore gedacht wird.

Anschauliche und lehrreiche Darstellungen bringen

  1. Dr. Michaela Karl: Wider der Besatzung: Lieber bayrisch sterben, als kaiserlich verderben: Der Bauernaufstand von 1705/06, Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek im Literatur-Portal Bayern;
  2. Birgit Magiera: Sendlinger Mordweihnacht als Kalenderblatt für de 24. Dezember 2013,
  3. Jan von Flocken: In der „Mordweihnacht“ starben Tausende Bayern, Die Welt, 25. Dezember 2015.

Zur besagten einschlägigen Folklore merken wir uns

  1. Karl Schillinger, Im Alten Südfriedhof in München steht dieses Denkmal an die Sendlinger Bauernschlacht von 1705, 23. September 2012den bäuerlichen Schlachtruf „Lieber bayrisch sterben als kaiserlich verderben!“;
  2. das Schmied-von-Kochel-Denkmal mit Brunnen in Sendling (Plastik: Carl Ebbinghaus, Architektur: Carl Sattler, Guß: Gießerei Noack) an der Einmündung von der Lindwurm- in die Plinganserstraße;
  3. das Schmied-von-Kochel-Denkmal in Kochel am See;
  4. die in unregelmäßigen Abständen aufgeführten Schmied-von-Kochel-Festspiele ebenda;
  5. die Münchner historische Gruppe „Schmied von Kochel“ e. V., die seit 1981 „alljährlich am Heiligabend um Mitternacht der Hunderten von niedergemetzelten Bauern“ gedenkt. Regelmäßige Treffen jeden zweiten Montag des Monats, 20 Uhr im Augustiner, Neuhauser Straße 27, 1. Stock im Vogelzimmer, Gäste willkommen.

Volkstümlich affirmative Lyrik stammt von

  1. N. N.: Trauerlied zur Gedächtnisfeyer der in der Sendlinger Schlacht gefallenen Gebirgs-Bewohner, Bayerische Landbötin. München 1831,
  2. Johann Carl Mielach: Die Sendlinger Schlacht: ein Oktoberfest-Lied, 1832;
  3. Johann Carl Mielach: Die Sendlinger-Schlacht: eine Ballade, Augsburg 1832;
  4. Sebastian Franz von Daxenberger: Die Sendlinger Schlacht am Christtage 1705: Romantisches Gedicht, München 1833.

Die hiesigen Buidln: stammen von

  1. Gerci Beck: Schmied von Kochel [der in Sendling], 1. März 2010,
  2. Karl Schillinger: Denkmal an die Sendlinger Bauernschlacht, Alter Südfriedhof München, 23. September 2012
  3. mir selber, mit besonders großem Dankeschön an Ralf samt seiner ausgeliehenen Zweitkamera Lexus NX 200, weil mein Akku wieder alle war: Sendlinger Mordweihnacht 1705, Votivtafel Kalvarienberg Lenggries, Schloss Hohenburg, 11. Februar 2014, Kapelle zum schmerzhaften Jesu am Kreuze. Das war mein erstes Wort, das ich je von einer „Sendlinger Mordweihnacht“ gehört hab, und dabei schon der zweite Kalvarienberg, den ich am selben Tag mit dem Ralf erklommen hab. Da fetzt es einen dann doch in die Fresse, wenn man so als tageswandernder Pilger auf einem Juwel der Volksfrömmigkeit lesen muss:

    Mit dieser Tafel haben sich vier unverheirathete Männer, zu dem schmerzhaften Jesu am Kreuze hieher verlobt, nehmlich Johann Schöfman, von dem untern Muerbach, Franz Propst vom Graben, Johann Hochenwiser und Georg Letner, aus der Pfarre von Lengrieß, wegen der großen Gefahr in welcher sie bey der Revolution vor München schwebten, weil sie glaubten daß es unmöglich wäre mit dem Leben mehr davon zu kommen. Aber durch Hülfe und Beystand des schmerzhaften Jesu am Kreuze, kamen sie glücklich wieder zurück. Gott dem Höchsten sey Dank gesagt, Amen.

Oder vereinfacht gesagt: Dann doch lieber nachts um zehne in die Christmette.

Wolf G., Sendlinger Mordweihnacht 1705, Votivtafel Kalvarienberg Lenggries, Schloss Hohenburg, 11. Februar 2014

Stille Nacht: Tom Waits: Silent Night, aus: SOS United, 1989:

Written by Wolf

24. Dezember 2017 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Herrschaft & Revolte

Da entkomm ich aller Not, die mich noch auf der Welt gebunden

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Für Andrea S. aus R. (42).

Mariä Lichtmess oder Mariä Reinigung ist der liebenswerteste Feiertag im ganzen Jahreskreis, was man schon daran erkennt, dass er auch von jenen Glaubensrichtungen begangen wird, die sich als allen Glaubensrichtungen entgegengesetzt verstehen. Und dass zum Fest der Darstellung des Herrn die Weihnachtszeit endlich auch ihr liturgisches Ende findet, ist auch kein Schaden. Den Anfang von etwas markiert er in den heutigen Wicca- und paganischen Religionen, die ihm gern eine dunkelschwärzliche Seite verleihen; bei denen heißt Lichtmess Imbolc und gilt der Göttin Brigid — „a woman of poetry, and poets worshipped her, for her sway was very great and very noble. And she was a woman of healing along with that, and a woman of smith’s work, and it was she first made the whistle for calling one to another through the night.“ (Lady Augusta Gregory: Gods and Fighting Men, 1904.)

Lichtmess bedeutet, dass die Tage schon messbar länger und heller werden. Lichtmess handelt von hoffnungsfrohem Erwachen und Zuversicht. Das und women of poetry sind allgemeinmenschliche Bedürfnisse, die sich nicht an engherzige Sektenregeln ketten lassen, auch wenn sie christlich vertretbaren Werten verpflichtet bleiben. Außerdem ist Lichtmess nicht so überladen mit Feier- und Geschenkverpflichtungen: Lichtmess wird nur freiwillig gefeiert, von jedem, dem es am Herzen liegt.

Frontcover Johann Sebastian Bach, John Eliot Gardiner, BWV 82, 83, 125, 200Wie günstig trifft es sich da, dass die beste CD mit Bach-Kantaten — Cantatas for the Feast of the Purification of Mary unter John Eliot Gardiner von 2000 — sich aus Verzechnisnummern zusammensetzt, die dem 2. Februar zugeordnet sind. Jedenfalls wurden alle vier an 2. Februaren in der Leipziger Thomaskirche uraufgeführt: BWV 83 Erfreute Zeit im neuen Bunde 1724, BWV 82 Ich habe genug 1727, BWV 125 Mit Fried und Freud ich fahr dahin 1725 und BWV 200 Bekennen will ich seinen Namen 1742.

Dass es die beste Bach-CD auf dem unüberschaubaren Markt für Bach-CDs ist, behaupte ich jetzt einfach. Man hat nicht gleich mit einer so viel Spaß. Allein dass Aussagen wie „Ich habe genug“ mit dem Smash-Hit und Anspieltipp der Bass-Arie „Ich freue mich auf meinen Tod, ach hätt‘ er sich schon eingefunden“ von Lebensfreude und Hoffnung zeugen sollen, gemahnt an die besten Momente bei Tom Waits. „I like beautiful melodies telling me terrible things“, soll der nach unsicherer Quellenlage gesagt haben.

Etwas belastbarer wird ihre Qualität im Hinblick auf die Ausführenden: John Eliot Gardiner ist zusammen mit Nikolaus Harnoncourt und noch ganz wenigen anderen einer der Leithirsche der historisch informierten Aufführungspraxis, und die zieht er seit 1964, als er 21 war, mit seinem selbstgegründeten Monteverdi Choir und seit 1978 mit seinem Stammorchester der English Baroque Soloists so gnadenlos durch, dass es zweifellos besser klingt als Vater Bachs Empore voller sächselnder Schulkinder anno 1724.

Das ist nun eine steile These, aber so wenig widerleg- wie beweisbar, und wenn man schon die Auswahl anhand so tragfähigen Musikmaterials hat, warum sollte man etwas anderes glauben wollen? Immerhin nicht im CD-Booklet steht, aber von Sir Gardiner stammt die Unterscheidung:

Interessant ist nicht das Klangbild, das Bach bei der Aufführung hörte, sondern das Ideal, das ihm beim Komponieren vorschwebte. Insofern verstehe ich auch die Diskussion um die solistische Besetzung der Leipziger Kantaten nicht. Denn in seiner Eingabe hat der Thomaskantor die vorgefundene Situation genau beschrieben und skizziert, welche Besetzung er gerne hätte. Insofern hilft der Maßstab „Authentizität“ bei Bach wenig. […] Denn jede Interpretation ist authentisch, wenn sie ernst gemeint ist und den jeweiligen Stand des Wissens berücksichtigt. Deshalb waren Karl Straubes Bach-Interpretationen auch authentisch, und deshalb wird Gardiner in 20 Jahren wohl altmodisch sein. Wir sind keine besseren Musiker, wir wissen nur etwas mehr.

Backcover Johann Sebastian Bach, John Eliot Gardiner, BWV 82, 83, 125, 200Das Dreigestirn aus Sir Gardiner, Monteverdi Choir und English Baroque Soloists, das einen sphärenklingenden Sternenhimmel bilden kann, hat sich ab 23. Dezember 1999 bis 31. Dezember 2000 anlässlich Bachs 250. Todestag auf eine Bach Cantata Pilgrimage durch 60 europäische Kirchen — keine Konzertsäle — begeben, um alle 198 erhaltenen geistlichen Bach-Kantaten an den Sonn- und Feiertagen aufzuführen, für die Bach sie komponiert hat. Aus organisatorischen Gründen sind es nicht alle 198, sondern 186 Kantaten in 56 Auftritten geworden — statistisch etwas mehr als ein Auftritt pro Woche. Die daraus hervorgegangenen 56 CDs sind Live-Mitschnitte, aber auf ganz und gar ungewohnt hohem Niveau. Live bedeutete schon anno 2000 nicht mehr die Dokumentation erkälteter Italiener wie auf den Callas-Bootlegs.

Die Aufnahme für Mariä Reinigung stammt vom 2. Februar 2000 aus der Priory Church in Christchurch im britischen Dorset, die sehr ehrwürdig daherkommt, und ist, ohne alle 56 Aufnahmen der verschiedenen Anlässe und Kirchen durchverglichen zu haben, ein Highlight unter ihnen.

Ich muss echt einen Sprung haben, das Ding zu verschenken. Alles Gute, Andrea.

The English Baroque Soloists, 19. Januar 2008

Bilder: die CD von vorn und hinten, 2000;
The English Baroque Soloists via Volkers Klassikseiten J.S. Bach von der Renaissance bis zur Romantik, 19. Januar 2008.

Als Soundtrack dienen uns die aufgeführten Bach-Kantaten als Playlist, wenngleich in anderer Zusammensetzung und Einspielung, die sich bestimmt auch ehrbar begründen lassen. Die brauchbaren Videos sind nämlich ständig verboten.

Und als Bonus Track extra für die ewig junge und knarzend coole Andrea: eine wahrhafte Andreaoidin, bei der sie selber ganz zusammenfahren wird, wie sehr die junge und knarzend coole Frau Mackenzie Scott ihr in Auftreten und Blondheit (und Tierkreiszeichen) gleicht. Frau Scotts tomboyische Aufführung scheint einer feministischen, wenn nicht gar lesbischen Botschaft zu dienen, jedenfalls scheut sie sich nicht zu singen: „When I was a young boy“ und ein „girl“ zu suchen — eine der überzeugendsten Coverversionen, egal welcher geschlechtlichen Orientierung. Andrea würde sich schön bedanken, wenn sie mit so einer Mission durch französische Radiostudios tingeln sollte, aber sie würde es unterstützen und das ist gut so.

Gott ist groß.

Written by Wolf

2. Februar 2017 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Schall & Getöse

Von dem Holz des Lebens essen und der bittern Schmach vergessen (im Leben ist da kein Verlag drin!)

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Update zu Music kennt nichts als lauter Güte
und Wer weis, wie lang ich hier noch bin:

Man mag es bedauern oder nicht, aber jetzt.de ist praktisch tot. Gut, die Domain scheint noch von jemandem bezahlt und häufig aktualisiert zu werden, wahrscheinlich von der Süddeutschen Zeitung, und man hat zumindest eine theoretische Möglichkeit aufrecht erhalten, die sicher täglich eingehenden Journalismen zu kommentieren, aber die einst wirklich vorbildliche Community ist zugunsten irgendwie „jugendlich“ gemeinter Artikel, die in Form und Anspruch ungefähr den Blogeinträgen Minderjähriger von 2003 ähneln, abgeschafft.

Eigentlich schade. Um 2003 muss ich da viel Zeit verschleudert und auch viel Blödsinn getrieben haben, auf den ich schon während des Verzapfens nicht stolz war, aber wenn man den zwischenmenschlichen Umgang auf jetzt.de kannte, hat man erst gemerkt, was auf dem damaligen Spiegel Online, dem heutigen Facebook, von Don Alphonsos wild wuchernden Wirkungsstätten und dem allzeit berüchtigten heise online ganz zu schweigen, für ein Herumgerüpel herrscht. Zum ersten Mal kippte die Stimmung auf jetzt.de, als ein „Relaunch“ mit „User-generated content“ versucht wurde. Über zehn Jahre haben sie durchgehalten, was sich gar nicht so schlecht anhört, dann wollte wohl keiner mehr generaten. So groß das Zetern und Fäusteschütteln 2005 darüber geriet, was gegen die Auflösung der Möglichkeiten zu Kontaktaufnahme und Veröffentlichung Anfang 2016 wie eine mindere Farbangleichung anmutete, so schulterzuckend wurde die jüngere hingenommen. Wenn die Gäste ausbleiben, wird nicht besser gekocht oder das Bier besser eingeschenkt, sondern die Kneipe gesprengt, klar.

Mit der einen wichtigen, ausnahmsweise hoffentlich nicht ganz so blöden Frage hab ich wieder zu lange gewartet:

Geschätzte [sehr schrulliger Username],

wir kennen uns nicht näher. Nicht erschrecken bitte, ich komme in Frieden :o)

Du hast vor Zeiten mal in einem Kommentar zu einem Beitrag der von uns gelöschten [nicht ganz so schrulliger Username] ein barockes Figurengedicht angebracht: von einem gewissen Johann Karst, Jahrgang 1624, in Form eines Baums, offenbar aus einer Sammlung namens Geistliche Waldfaren oder Engelsüß / von der Bitterkeit dieses und der Süssigkeit des Künftigen Lebens. In fallenden und steigenden Reimen aus: Deutscher Dicht-Kunst Lust- und Schauplatz, 1667, überliefert in: Fünfundzwanzig Figurengedichte des Barock, herausgegeben von Karl Severin, Verlag Basse & Lechner, München 1983.

Du hast, ich erinnere mich da nicht genau, kann aber schon meine angefangene Recherche dreinmischen, auch das Gedicht bildlich dazu gebracht; die Quelle war allerdings in janreichow.de, der 2014 seinen Blog nochmal von vorn angefangen hat und seitdem verspricht, auch das alte Material wieder zugänglich zu machen. Seitdem steht der Gedichttext unformatiert, rudimentär und bis auf weiteres gut versteckt in der Nebenstelle eines abseitigen Internetarchivs, womit niemand eine rechte Freude hat. Er geht:

——— Johann Karst:

Geistliche Waldfaren oder Engelsüß /
von der Bitterkeit dieses und der Süssigkeit des Künftigen Lebens.
In fallenden und steigenden Reimen

aus: Deutscher Dicht-Kunst Lust- und Schauplatz, 1667,
in: Karl Severin (Hg.): Fünfundzwanzig Figurengedichte des Barock, Verlag Basse & Lechner München. MCMLXXXIII (1983):

Johann Karst, Geistliche Waldfaren oder Engelsüß, von der Bitterkeit dieses und der Süssigkeit des Künftigen Lebens, Deutscher Dicht-Kunst Lust- und Schauplatz, 1667

Liese erstlich den Stengel von oben bis an die Wurzel / und hernach die Wurzel

Ach! ach / WIE MUS EJN MENSCH AUFF dieser Welt sich leiden. Zu allen Zeiten Mit Feinden streiten. Dein Reich o Welt / Das Schwarem Gezelt / Mir nit gefällt / In dir ist eitel Leit /Betrübnuß / Müh und Streit /. Unmuht / Kreutz und Schmertzen Nagen unsre Herzen Bald ist Trauren bald Gefahr Also daß wir immerdar Schweres Elend kläglich leiden. Und in Kummer täglich weiden Biß wir von der Erde scheiden Da wir in erwünschten Freuden. Von dem Holtz des Lebens essen Und der bittern Schmach vergessen. Drum Welt hab gute Nacht Ich geb auf eines acht. [?] Zu allen Zeiten Mit Feinden streiten. [?].

Praktischerweise hab ich das Bild, von dem das Figurengedicht ja lebt, selber gespeichert und an geeigneter Stelle verlinkt. Das fällt leicht, das dauert ungefähr so lange, wie ich dich hiermit belämmere .ò) Das letzte Änderungsdatum meiner .jpg-Datei ist übrigens der 12. August 2013, woran man wohl ungefähr einordnen kann, wann du das kommentiert hast.

Wie du da jetzt nach Jahren wieder reinkommst? — Nun, über die — teuer — noch erhältliche Sammlung mit den Fünfundzwanzig Figurengedichten von 1983. Die ist nämlich, s.o., aus dem Verlag Basse & Lechner, der wiederum laut Impressum in der Mallnitzer Straße 24 zu München resideren soll. Google findet den noch — aber auf dessen Street View ersichtlich ist die Adresse das gutbürgerlichste Reihenhaus der Welt in Obermenzing/Blumenau, im Leben ist doch da kein Verlag drin (bösartig könnte einer „spießig“ dazu sagen, aber einige meiner ehrbarsten Freunde wohnen in Reihenhäusern) — außer vielleicht einer Druckerpresse im Partykeller, die wenigstens potenziell solche bibliophilen, auf handnummerierte 350 Exemplare limitierten Schätze wuppt. Würde das jemand tun?

Darum die Frage an dich: Besitzest du wohl ein Exemplar der 350? Weißt du mehr über den Verlag, über das Buch, über Johann Karst, über sein Gedicht, über seine Geistlichen Waldfaren oder Engelsüß?

Das schieb ich schon eine Ewigkeit vor mir her, es war ja immer noch haufenweise Zeit. Jetzt, wo diese heil’gen Hallen alsbald zugesperrt werden, hab ich mich endlich aufgerafft. Schon klar, wenn du für mich nicht mehr in derselben Community erreichbar bist, kann ich immer noch den Herrn Jan Reichow fragen, der immerhin Blogger ist und sich bestimmt über egal was für ein Feedback freut — ich weiß sowas –, oder den Kontakt zum Verlag und ergoogelten Bewohner der Mallnitzer Straße 24, der weder in der Website noch außen auf Google seine Telefonnummer verschweigt. Das kann ich alles machen und werde davor nicht zurückschrecken. Aber warum nicht zuerst mal dich hören, die du dich ja offenbar persönlich für sowas interessierst :o)

Was ich selber damit will: Was darüber erzählen in Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt — was einen erheblichen Anteil meiner Freizeit und Ambitionen ausmacht und gerade dir den einen oder anderen Blick wert sein mag. Du bist, nach allem, was ich von dir verstreut gelesen hab, Zielgruppe. Es würde mich freuen, wenn du da Gast wirst — viel Zeit mitbringen bitte! — Was ich denn mit dem Buch will, wenn ich’s hab? — Ach Gott, erstens was man mit Büchern halt so will, und zweitens will ich’s ja gar nicht zwingend haben. Höchstens genauer davon wissen, das muss drittens ohnehin meistens reichen.

Und schon ist die kuriose Situation entstanden, dass du durch einen hingeworfenen Kommentar unter den verschwundenen Text einer ebensolchen Nutzerin vor zwei, drei Jahren einen Blog-Eintrag, den es noch nicht gibt, in einem Blog, den du gar nicht kennst, maßgeblich mitgestaltet hast, ob du nun jemals antwortest oder nicht. Gott ist groß.

Ich grüße dich!
Wolf

Das war drei oder vier Wochen vor dem Shutdown der jetzt.de-Community, in denen die Userin mit dem schrulligen Namen erkennbar noch ihren Account benutzt hat, und das als gar nicht so schrulliges, eher freundliches Haus. Offenbar habe ich noch viel an meinem zwischenmenschlichen Umgang zu arbeiten. Und schon ist die kuriose Situation entstanden, dass ich machen muss, was ich gesagt hab: den Herrn Jan Reichow oder den Kontakt zum Verlag und ergoogelten Bewohner der Mallnitzer Straße 24 fragen, ob die nun jemals antworten oder nicht. Aus nichtigen Gründen einem seltenen Buch hinterherspüren, wie sieht denn das aus. Gott ist groß und Erwachsensein scheint richtig anstrengend.

Basse & Lechner GmbH Verlag und Agentur, Mallnitzer Straße 24, 80687 München, Google Street View

Bilder: Basse & Lechner GmbH Verlag und Agentur, München; Google Street View, 2008.
Als Soundtrack wäre mir am liebsten Sportfreunde Stiller: Tage wie dieser aus: Die gute Seite, 2002 gewesen, weil die Jungs eine typische jetzt.de-Band waren und das Lied ein offizielles Video hat, für das man sich nicht fremdgenieren muss, mit Münchner Ansichten, wie man sie wirklich ab und zu erlebt, das anzuschauen aber wieder so ein Affront gegen die versammelte Musikindustrie scheint.
Es gibt deswegen was Älteres: Bally Prell: Isarmärchen, ca. 1953, mit Münchner Ansichten, wie man sie man gern ab und zu erleben würde:

Written by Wolf

15. April 2016 at 00:01

Zeig uns durch deine Passion, dass du, der wahre Gottessohn, zu aller Zeit, auch in der größten Niedrigkeit, verherrlicht worden bist!

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Update zu Lamento lacrimoso in Zick-Moll
und Show me a guy that doesn’t want to come down off the cross:

Karfreitag ist der geeignete Moment, um sich endlich die Passionen von Bach draufzuschaffen. Das lohnt sich tatsächlich. Um sie durchzuhören, reicht gerade mal so ein langes Osterwochenende, um sie zu verstehen, reicht kein ganzes Leben.

Roberto Ferri, Dark-Winged AngelsWir belassen es deshalb bei einer groben Bestandsaufnahme: Pflicht sind die Matthäus-Passion und die Johannes-Passion, was sich leicht merken lässt: das erste und das letzte Evangelium.

Warum sollte Bach aber genau den Anfang und den Schluss einer Tetralogie geschrieben haben? Um den Rest bei Gelegenheit aufzufüllen, die sich nie ergab?

Hat er gar nicht: Die restlichen zwei Passionen existieren; Bachs offizieller Nekrolog zählt sogar fünf Passionen, leider ohne sie zum Direktvergleich namentlich aufzuführen, und Bach über Bach insinuiert sogar sechs. Optimisten dürfen dabei gerade den Umstand schätzen, dass es von der süffigeren, kürzeren, beliebteren — Johannes — keine vom Komponisten autorisierte Endfassung gibt, sondern nur rekonstruierwürdige Fassungen aus einem 520-seitigen Notenblätterkonvolut.

Allerdings ist die Lukas-Passion eine Zuschreibung — also „weitestgehend“ gar nicht von Bach und somit apokryph — aber immerhin von ihm aus Zeitgründen aus fremdem Material umarrangiert. Sie könnte also von ihm sein — umso mehr, als er es selbst durch seine Umarbeit tätig bekräftigt hat — und zur Stunde mindestens vier Gesamtaufnahmen davon umgehen.

Die Markus-Passion ist dagegen „nur“ verschollen, allen Aussichten nach unwiederbringlich, erhalten ist nur das Libretto von Christian Friedrich „Picander“ Henrici. Die Geschichte der Rekonstruktionen von Bachs Musik ist eine Geschichte voller Missverständnisse, Irrtümer und Wirrnis, über die sich hoffentlich alle ebenfalls vier Gesamtaufnahmen in ausführlichen (und notorisch dreisprachigen …) Booklets äußern. Besonders interessant findet mein innerer Lästerhansel, dass die Markus-Passion als Parodie geplant war, wie das Weihnachtsoratorium auch, was leider nicht eine heute übliche Persiflage bedeutet, und Bachs eigene — weltliche — Kantate Laß, Fürstin, laß noch einen Strahl verwendet (BWV 198).

Merken wir uns also: Matthäus ist ein mords Gedröhn, Johannes ist wirklich schön, Lukas ist Stückwerk und Markus reine Hypothese. — Es folgt Bachs gesamte Passionentetralogie in der Reihenfolge ihrer Werkverzeichnisnummern. Das sind insgesamt 9 Stunden, 17 Minuten und 15 Sekunden Laufzeit. Ostern ist gerettet.

Matthäus-Passion, BWV 244:

Johannes-Passion, BWV 245:

Lukas-Passion, BWV 246:

Markus-Passion, BWV 247:

Geigerin von hinten: Roberto Ferri: Dark-Winged Angels;
Geigerin von oben: Girls and Violin, 27. November 2015.

Girls and Violin, White Dress in Violin

Written by Wolf

25. März 2016 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Schall & Getöse

Solang der Alte Peter

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Werner Böhm, Make a Wish, 11. November 2014, Alter Peter, München

Bitt für uns.

Tafel des Missionskreuzes im Alten Peter, München

Missions=Kreuz

Missionskreuz St. Peter, Münchenzum Andenken an die hl. Mission bei St. Peter in München
abgehalten durch die P. P. Franziskaner (2.–20. März 1960)
Unvollkommene Ablässe.
7 Jahre u. 7 Quadrigenen Ablaß gewinnt, wer vor diesem Missionskreuze
reumüthig 7 Ave Maria betet.
300 Tage Ablaß, wer hier reumüthig 5 Vater unser u. Ave Maria zu
Ehren der fünf Wunden Christi betet.
Vollkommene Ablässe.
Einen vollkommenen Ablaß gewinnt, wer
1) am Jahrestage der Errichtung dieses Kreuzes (19. März),
2) am Feste Kreuzerfindung (3 Mai)
3) am Feste Kreuzerhöhung (14 Sept.) — oder jedesmal am darauffolgende
Sonntag nach wahrhaft reumüthigem Empfange der hl. Sakramente vor
diesem Missionskreuze oder in einer Kirche nach Meinung des hl. Vaters betet.
Alle diese Ablässe können fürbittweise den armen Seelen zugewendet werden.
Leo XIII. 9. Mai 1892.

Unter anderem am 19. März, der sowieso immer Josephitag ist und heuer in den Endspurt der Fastenzeit fällt. Es wäre also gerade günstig.

Alter Peter

Bilder: Werner Böhm: Make a Wish, 11. November 2014;
Missionskreuz ohne Tafel und Tafel ohne Missionskreuz, Alter Peter, München. Hier ist das Missionskreuz in seiner Lage im Raum sichtbar: im Mittelschiff backbord. Jesus crucifuxus und seine Mutter Maria dolorosa sind die vierten von vorne, gegenüber der Kanzel;
die junge Petra M. im Alten Peter, M. in Kontemplation der Missionstafel und Erwägung eines unvollkommenen Sündenablasses, 31. Dezember 2013. Vollkommene sind irgendwie so unmäßig und am Ende schon wieder die nächste Versündigung in einer Art moralischer Völlerei, außerdem nur an so speziellen Terminen zu erreichen;
Soundtrack: Gerd und Walter Fitz mit Orchester Ambros Seelos: Solang der Alte Peter, aus: Leut‘ sauft’s aus. Alte und neue Münchener Sauf- und Fress-Lieder, 1971.

Written by Wolf

18. März 2016 at 00:01

Engführung in mikrokosmisch strukturiertem Material (musikalisches Lustspiel)

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——— Knut Franke:

Liner Notes

zu Glenn Gould: Die zwei- und dreistimmigen Inventionen. Inventionen und Sinfonien Nr. 1–15 BWV 772–801, Aufnahme 1963–1964, LP 1975:

Zwar sind auch den Inventionen und Sinfonien „Deutungen“ widerfahren, die uns Heutigen in ihrer spekulativen Anschaulichkeit zutiefst widerstreben. Es sei hier ein Beispiel genannt: die Invention in B-Dur hat gegen Ende eine Engführung, die Steglich dazu veranlaßte zu schreiben, sie zeige, „wie friedlich und fröhlich zwei, zwar wie Mann und Weib verschiedene, aber wesensverwandte, zur gegenseitigen Ergänzung bestimmte Motive durchs Leben gehen können. Die Invention ist ein Musterstück eines musikalischen Lustspiels“ (zitiert nach Keller, Seite 116). Das Fragezeichen, das Keller hinter diesen Satz in Klammern setzt, ist mehr als Forscher-Ironie. Es zeigt, daß man sich gerade in so mikrokosmisch strukturiertem Material, wie es die beiden Zyklen sind, an die Sache halten soll.

Engführung: Jenni Tapanila: Grand Piano, 2002.

Jenni Tapanila, Grand Piano

Written by Wolf

29. März 2015 at 16:56

Veröffentlicht in Barock, Ehestand & Buhlschaft

Fünfhundert Jahre Mädchengestaltung

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Neulich im Südstadt:

„Und was machst du so?“

„Mediengestaltung.“

„Mädchengestaltung? Coooool …“

„Me … di … en!“

„Ach so. Na, is ja auch schön.“

——— Andreas Gryphius:

An eine Geschminckte

ca. 1650:

Quentin Massys, Eine groteske alte Frau, ca. 1513--1530Was ist an Euch / das Ihr Eur Eigen möget nennen?
Die Zähne sind durch Kunst in leeren Mund gebracht;
Euch hat der Schmincke Dunst das Antlitz schön gemacht /
Dass Ihr tragt frembdes Haar / kan leicht ein jeder kennen /

Und dass Eur Wangen von gezwungner Röte brennen /
Ist allen offenbahr / des Halses falsche Pracht /
Und die polirte Stirn wird billich ausgelacht /
Wenn man die Salben sich schaut umb die Runtzeln trennen.

Wenn diß von aussen ist / was mag wol in Euch sein /
Als List und Trügerey? Ich bild mir sicher ein /
Dass unter einem Haupt / das sich so falsch gezieret /

Auch ein falsch Hertze steh / voll schnöder Heucheley.
Sambt eim geschminckten Sin und Gleißnerey darbey /
Durch welche (wer Euch traut) wird jammerlich verführet.

——— Philip Scott Johnson: 500 Years of Female Portraits in Western Art, 2007:

  1. Mit Bach: 1. Cello-Suite G-Dur, BWV 1007, Sarabande;
    Cello: Yo-Yo Ma:

  2. Mit Händel: 2. Violinsonate g-Moll, 1.: Andante;
    Violine: Javid Asadov, Klavier: Ayna Isababayeva:

Bild: Quentin Massys: Eine groteske alte Frau, ca. 1513–1530, Öl auf Holz, 64,2 cm × 45,4 cm, National Gallery London, bekannt als „Hässliche Herzogin“, möglicherweise Portrait von Margarete „Maultasch“ von Tirol-Görz (1318–1369), sicher aber Vorbild für die Königin in Alice im Wunderland, 1865.

Written by Wolf

6. März 2015 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Ehestand & Buhlschaft

Nunc dimittis mit Fried und Freud

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Update zu Christen haben alle Stunden ihre Qual und ihren Feind, doch ihr Trost sind Christi Wunden, Den Bach runter, Ein schön Exempel Quasimodogeniti, Lieblingsbiber und Barfußläufte (Shakespeare im Freibad):

Manchmal ist eine Zigarre nur eine Zigarre.

Sigmund Freud, * 1856.

Es ist was es ist.

Erich Fried, * 1921.

Heute vor 290 Jahren, am 2. Februar 1725, ließ Johann Sebastian Bach zu Unser Lieben Frauen Lichtweihe, vulgo Mariä Lichtmess, Mariä Reinigung (Purificatio Mariae), Jesu Opferung im Tempel (Praesentatio Jesu in Templo) oder Darstellung des Herrn, seine Kantate Mit Fried und Freud ich fahr dahin, BWV 125, in der Leipziger Thomaskirche uraufführen.

Goddess BrigidMartin Luthers Text mit der Urmelodie von 1524 nach Simeons Lobgesang im Lukas-Evangelium (Lk 2,29–32) ist ein Komplet-, also Abend- Sterbe- und Begräbnislied, bei den Anglikanern stellt er den Evensong. Nur bei den Protestanten ist er weiterhin dem 2. Februar zugeordnet — mit seinem Winteraustrieb, allerersten Frühlingserwachen, all den im Rest der Christenheit gefeierten Ahnungen von Aufbruch, Hoffnung, Fruchtbarkeit und Neuanfang.

So kann man’s nämlich auch hindrehen:

——— August Müller, 1685:

Bist du ein Christ? Du sagest ja. Hast du Jesum lieb? Du sagest auch ja. Hast du Jesum lieb / so hast du auch Lust bey ihm zu seyn. Wie gern ist eine Braut beym Bräutigamb / ein Kind bey der Mutter / ein Schaf beym Hirten: daß macht die Liebe. Ich frage weiter: Hast du denn nicht Lust zum sterben der Tod bringet dich ja zu deinem Jesu.

Es kann nur ein Lied von Deutschen sein: Sobald von ferne in egal welchem Kontext etwas mit Frieden und Freude vorkommt, reicht denen so eine Novemberstimmung allemal als Frühlingslied; Luther soll es im 1524er Frühjahr gedichtet und vertont haben. Wo ja Lichtmess überhaupt ein recht einnehmender Termin ist, der sich als Lieblingsfeiertag eignet, an dem man niemandem was schenken muss: Da ist es endlich warm genug, dass man gerade mal so wieder an die Luft — und per definitionem ans Licht — kann, und da werden die Dingverträge für die Dienstboten um ein Jahr verlängert — oder eben nicht, und weiter geht’s mit der Walz. Wer Lichtmess noch da ist, bleibt noch ein Jahr. Und Vater Bach, der latent depressive Thüringer, der da geboren wurde, wo Luther in Gefangenschaft das Neue Testament überackerte, nicht faul, walzt das Lutheraner Kirchenlied zu einer ausgewachsenen Lichtmess-Kantate aus. Typisch Evangelen.

Kein Zweifel, mit Fried und Freud lässt sich gut fahren. Haben Erich Fried und Sigmund Freud doch am selben Tag Geburtstag, wenngleich nicht am 2. Februar (Imbolg, Samhain oder Groundhog Day) und einige Jahre auseinander, sondern am 6. Mai — und ich selber dazu.

Wenn das kein Beweis ist! Aber wofür bloß?

Erich Fried, 18-jährigSigmund Freud 1885, 29-jährig

Fried & Freud: 18-jährig & 29-jährig.

Imbolc: Goddess Brigid bei Ginger Goddess Eleonora.

Written by Wolf

2. Februar 2015 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Vier letzte Dinge: Tod

Peregrini Bavarici

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Café Heimat, Bad Tölz

Ein inniges Vergnügen in GOtt ist, wenn man einst katholisch war, aus freiem Willen aufgehört hat, es zu sein, aber immer noch nach Ablass für seine Sünden suchen kann.

Besonderen Spaß macht das, wenn man sich für einen Tag keine längere Strecke Weges vornimmt als die elf Kilometer von Bad Tölz bis Lenggries.

„Naa, da fang ma net glei zerscht mitn Frühstücken an. Zerscht hungrighaatschen, dann fuadern.“

„Obacht gebm. Ma bereut im Leben nie, was ma gmacht hat, bloß was ma glassn hat.“

Das gibt uns zu denken. Wir beschließen trotzdem, für die Heimat nochmal extra in die Fremde zu fahren.

„Aa recht. Da samma glei dorten“, freut sich Ralf, „da kömma hinterher no ins Erlebnisbad.“

„Was wollma denn groß derleben?“

„Da schaug ma si di stramma Wadln vo die Rentnerinnen oo.“

„Au weh“, sag ich, „des gibt erscht den richtigen Sündenablass.“

Als erstes ergibt sich in Bad Tölz die Gelegenheit, den dasigen Kalvarienberg zu erklimmen — immer wieder ein Unterfangen von hohem Surrealitätswert: Erst hyperventiliert man sich von dem gnadenlos steilen Anstieg über sieben Stationskapellen frühmorgendliche Hosianna-Gefühle und Engelserscheinungen herbei, und oben ist die Kirche in einem Ausmaß mit Volksfrömmigkeit vollgestellt, dass man sich so als Ausgetretener ganz als schlechter Mensch vorkommt. Die Heilige Stiege im letzten Schiff ist der gleichnamigen zu Rom nachgebildet — wobei Reliquien zahlreicher Heiliger eingearbeitet wurden. Darüber ist die Treppe dermaßen heilig geraten, dass man sie nicht hinaufsteigen darf, sich nur kniend hinaufbeten. Für den Erhalt der angeschlossenen Leonhardikapelle hat das Bad Tölzer Handwerk noch im neunzehnten Jahrhundert seinen einzigen Volksaufstand gegen den eigenen Klerus angezettelt, so arg mögen die ihr Kircherl.

„Sogar zeitversetzt dreiteilig ham’s ihr Hallelujaburg da naufbaut“, keuche ich, im Kirchenführerheftl blätternd.

Ralf lässt sich auf das Bankerl mit Blick ins Isartal fallen, das vorher ein Ozean war, eine rauchen, und bemerkt: „Und da zahln die Leut Eintritt fürn Herrn der Ringe.“

Marterl Bad Tölz, Kalvarienberg. Aufi braucht er 7 Stund' in 2 Minut'n war er unt'Auf dem Abstieg haben sie in einem stark abschüssigen Hausgarten ein Marterl stehen: „Aufi braucht er 7 Stund‘ / in 2 Minut’n war er unt‘.“ Auf dem nicht ganz so abschüssigen Marktplatz gibt Ralf zwei Auszogne zum Frühstück aus, von zwei Mühlfeldbräu muss er abgehalten werden mit dem Argument, dass sie später in Lenggries gleich noch einen Kalvarienberg haben sollen und so ein zweiter am selben Tag bestimmt viel besser flasht.

Die elf Kilometer sausen vorbei wie nix. „Ha“, meint Ralf, „da schaff ma’s fast no in die Isarwelle zu die Rentnerinnen.“

„Was du dauernd mit dene Rentnerinnen hast“, sag ich, ohne Schwimmhose oder Handtuch dabei, „dass du gar so auf die stehst.“

„Turnbeutelvergesser. — Naa, mei Frau war bloß früher da drobm im Internat“, rückt er raus und deutet links oben auf Schloss Hohenburg.

„Ursulinnerinnen ham’s“, entnehme ich den Informationstafeln der zuständigen Tourismusbehörde, die 1950 bestimmt mordsmäßig was hergemacht haben.

„Und Tatsach an Kalvarienberg“, entdeckt Ralf. Die zwei Leberkässemmeln vom Metzger sind meine Runde. Beim Mampfen auf der Bank vorm Kirchhof in dem, was Lenggries statt eines Zentrums hat, setzen sich zwei schnurrbärtige Burschen in der Gestalt bayerischer Eichen in Maurerhosen neben uns, auch mit Brotzeit halten. „Habt’s ihr in Lenggries no a ältere Kirch als wie die da?“ fragt Ralf, weil sie einheimisch aussehen.

„Freili“, sagt der eine, „da hinter, oan, zwoa Kilometer en Radlweg lang, dann sehgt’s es scho.“

„Is des dann de mitn Kalvarienberg?“

„Freili.“

„Globt sei Jesus Christus.“

„Ewichkeit amen.“

„V’gelt’s Gott.“

„Segn’s Gott.“

„Hast du die kennt?“ frage ich Ralf später auf den ein, zwei Kilometern Radlweg, kurz bevor man den Kalvarienberg sieht.

„Wieso? Warst du koa Ministrant net?“

„I? Schmarrn.“

„Weichei.“

Und einmal mehr zeigt sich, dass man im Leben immer mehr bereut, was man unterlassen, und nicht, was man getan hat.

Der Lenggrieser Kalvarienberg ist von 1694, somit der älteste im Isartal und alt genug, um dem von Bad Tölz als Vorbild zu dienen.

„Was brauchn’s dann in Tölz glei scho den nächsten?“ frage ich.

„Stadtkind. Hast du a Ahnung, wia do der Tölzer Burgermoaster seine Mannen auf Florenz obegscheucht ham wird: Und kemmts ma fei bloß nimma hoam ohne a paar heiliche Knochen, sunst mach i eich Gebeine.“

„Drum kamma den Petrus heit glei hundertmal aus seine eignen Reliquien zamsetzen. Weil jeds Kaff an no heilichern Friedhof braucht als wie die Nachbarn.“

„Und wenn ma’s in zwoa Stund derhatschen kann.“

„Hu, was kommt’n dann noch alles aufm Weg bis Venedig?“

„Wohin?“

München–Venedig, Marienplatz–Markusplatz. Der Traumpfad. Du bist grad auf der drittn Tagestour. Scho glei gschafft.“

„Globt sei Jesus Christus.“

„Ewichkeit amen.“

„Na siehgst, kannst es ja.“

Außer älter sieht der Lenggrieser ungleich düsterer aus als der Tölzer Nachbarkalvarienberg.

Die Parole der Oberländer lautete: „Lieber bayerisch sterben als kaiserlich verderben“. Vor 300 Jahren zogen sie nach München, um sich gegen das Joch der Österreicher aufzulehnen. Der Volksaufstand wurde in der legendären Christnacht im Jahr 1705 blutig niedergeschlagen (der damalige Lenggrieser Pfarrvikar Elias Khaiser notierte 30 tote „Jünglinge“ im Sterbebuch). Vier junge Lenggrieser kamen schwer verwundet zurück und stifteten aus Dankbarkeit eine Votivtafel für die Kalvarienbergkirche in Hohenburg. In der Inschrift heißt es:

Sendlinger Mordweihnacht 1705, Kalvarienberg Lenggries, Kapelle zum schmerzhaften Jesu am Kreuze, 11. Februar 2014

Mit dieser Tafel haben sich vier unverheirathete Männer, zu dem schmerzhaften Jesu am Kreuze hieher verlobt, nehmlich Johann Schöfman, von dem untern Muerbach, Franz Propst vom Graben, Johann Hochenwiser und Georg Letner, aus der Pfarre von Lengrieß, wegen der großen Gefahr in welcher sie bey der Revolution vor München schwebten, weil sie glaubten daß es unmöglich wäre mit dem Leben mehr davon zu kommen. Aber durch Hülfe und Beystand des schmerzhaften Jesu am Kreuze, kamen sie glücklich wieder zurück. Gott dem Höchsten sey Dank gesagt, Amen.

„Und?“ fragt Ralf, „immer no auf dem Trip, dass ma mehr bereut, was ma lasst, ois was ma macht?“

„Net zwingend.“

Dass uns das erst am Bahnhof auffällt: „Ham jetz mir tatsächlich ohne Schmarrn zwoa Kalvarienberg am selbm Tag packt?“

„Hat net amal der Jesus gschafft.“

Noch ein halbes Jahr bis Weihnachten.

Buidl: Kalvarienberg Lenggries, Kapelle zum schmerzhaften Jesu am Kreuze,
mit besonderem Dank & Preis an Ralf und seine Lexus NX 200, 11. Februar 2014.

Written by Wolf

24. Juni 2014 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Herrschaft & Revolte

Wer weis, wie lang ich hier noch bin

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Update zu Mille tre und What shalbe, shalbe:

Christopher Clarke, 3. Oktober 2010

——— Johann Christian Günther:

Studentenlied

1712:

Das Haupt bekränzt, das Glas gefüllt!
So leb ich, weil es Lebens gilt,
Und pflege mich bei Ros- und Myrthen.
Fort, Amor, wirf den Bogen hin
Und komm, mich eiligst zu bewirthen!
Wer weis, wie lang ich hier noch bin?

Komm, bring ein niedliches Coffee,
Komm, geuß der Sorgen Panacee,
Den güldnen Nectar in Chrysthallen!
Seht, wie die kleinen Perlen stehn!
Mir kan kein beßrer Schmuck gefallen,
Als die aus dieser Muschel gehn.

Mein Alter ist der Zeiten Raub,
In kurzem bin ich Asch und Staub;
Was wird mich wohl hernach ergözen?
Es ist, als flöhen wir davon.
Ein Weiser muß das Leben schäzen,
Drum folg ich dir, Anacreon.

Werft Blumen, bringt Cachou und Wein
Und schenckt das Glas gestrichen ein
Und führt mich halb berauscht zu Bette!
Wer weis, wer morgen lebt und trinckt?
Was fehlt mir mehr? Wo bleibt Brunette?
Geht, holt sie, weil der Tag schon sinckt!

Christopher Clarke, 3. Oktober 2010

Niedliches Coffee: Christopher Clarke, 3. Oktober 2010.

Kaffeekantate BWV 211: Ei! wie schmeckt der Coffee süße, Liesgens Sopran-Arie mit Traversflöte und Continuo, ca. 1734, M: Johann Sebastian Bach; T: Christian Friedrich „Picander“ Henrici; Janet Perry (mit Peter Schreier und Robert Holl), Contentus Musicus Wien unter Nikolaus Harnoncourt, auf DVD 2009.

Written by Wolf

1. Juni 2014 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Nahrung & Völlerei

Seht, Ehrenbreitstein mit gesprengter Mauer

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Frage in die Leserrunde: War schon mal jemand am Deutschen Eck? Und ist begeistert oder bereichert zurückgekommen? So abwegig ist das ja nicht, und ich finde solche innerdeutschen Vergnügungsreisen mit der Ausrede des Bildungsanspruchs immer am lustigsten.

Für die Bebilderung musste ich diesmal gar nicht lange ausschwärmen, um leicht geschürzte Elfen herbeizuzerren; das Bildmaterial aus den Wikipedia-Einträgen über die Festung Ehrenbreitstein samt Deutschem Eck ist faszinierend genug.

Die ersten drei Zitate sind eher kurios, das lange vierte von Arno Schmidt ist wirklich interessant (ja, Schmidt entspringt dem Novecento, ist aber lehrreicher über die deutsche Romantik als mancher, der es sein will). Besondere Empfehlung ergeht für den Poetry Atlas: Warum bauen Deutsche nie solche tollen Websites?

——— Lord Byron: Childe Harold’s Pilgrimage,
Canto III, verse 58, 1816:

     Here Ehrenbreitstein, with her shattered wall
     Black with the miner’s blast, upon her height
     Yet shows of what she was, when shell and ball
     Rebounding idly on her strength did light;
     A tower of victory! from whence the flight
     Of baffled foes was watch’d along the plain:
     But Peace destroy’d what War could never blight,
     And laid those proud roofs bare to Summer’s rain —
On which the iron shower for years had pour’d in vain.

——— Lord Byron: Childe Harold’s Pilgrimage, Canto III, Vers 58, 1816, Übs. Otto Gildemeister:

     Seht, Ehrenbreitstein mit gesprengter Mauer,
     Von Rauch geschwärzt! Noch zeigt es jene Macht,
     An welcher Bomben einst und Kugelschauer
     Ohnmächtig abgeprallt sind und zerkracht.
     Ein Turm des Sieges, der oft von hoher Wacht
     Die Feinde sah in wilder Flucht ergossen;
     Doch Friede stürzte, was getrotzt der Schlacht:
     Dem Regen steht das stolze Dach erschlossen,
Das nie sich öffnete den feindlichen Geschossen.

Ehrenbreitstein und Helfenstein. Ausschnitt aus der Stadtansicht von Braun & Hogenberg, 1573

——— Herman Melville: Moby-Dick,
Chapter VIII: The Pulpit, 1851:

Yes, for replenished with the meat and wine of the word, to the faithful man of God, this pulpit, I see, is a self-containing stronghold—a lofty Ehrenbreitstein, with a perennial well of water within the walls.

——— Herman Melville: Moby-Dick, Kapitel VIII: Die Kanzel, 1851,
Übs. Friedhelm Rathjen (Gründungsmitglied Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser, Hrsg. Bargfelder Bote):

Jawohl, denn von neuem angereichert mit dem Fleisch und Wein des Wortes ist diese Kanzel dem glaubensstarken Gottesmann, muß ich sagen, eine auf sich selbst gestellte Feste — ein hochragendes Ehrenbreitstein, mit immerwährendem Wasserquell in seinen Wänden.

Koblenz im Buga-Jahr 2011 - Das Deutsche Eck mit der Festung Ehrenbreitstein im Hintergrund

——— Herman Melville: Pierre; or, The Ambiguities,
Book IV, II., 1852:

As the vine flourishes, and the grape empurples close up to the very walls and muzzles of cannoned Ehrenbreitstein; so do the sweetest joys of life grow in the very jaws of its perils.

——— Herman Melville: Pierre; or, The Ambiguities, Buch IV, II., 1852,
Übs. Christa Schuenke:

Wie der Weinstock gedeiht und die Traube purpurn sich rötet bis dicht hinauf an die Mauern und Schießscharten der kanonenbewehrten Feste Ehrenbreitstein, so wachsen just im Rachen der Gefahr des Lebens süßeste Freuden.

Das rekonstruierte Reiterstandbild Wilhelms I. wird wieder auf den Sockel des Deutschen Ecks gehoben, 2. September 1993

——— Arno Schmidt: aus Die Umsiedler, Kapitel VII
in: die umsiedler. 2 prosastudien, Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1953
= studio frankfurt 6, hrsg. von Alfred Andersch,
cit. Zürcher Kassette, Band 2, Seite 44 f.:

Der lange gerunzelte Strom, hohl und schmutzig, schwang sich faul an uns entlang; überschwemmte Werder; trauernde Gruppen von Bäumen; saure Häuserfronten wie „Lorelei“, als sei eben ein Auto davor weggefahren; Anleger und schwarzer Schlepper Gestank; schraffiert vom Nieselregen (auch der Güterzug auf der anderen Rheinseite: „Wenn er 60 Wagen hat, geht Alles gut!“ – – –: „58–?“. Sie strahlte dennoch herum: „Also: Kleine Schwierigkeiten.“ Augenbannung, Lippenhexe, Kinnzauber, Beinbeschwörung. Katrin la sorcière. Ihre Finger tanzten vor Vergnügen um die Handtasche auf ihrem Schoß und schnippten mir’s zu). Die Weinberge sahen trostlos aus, wie ihr Kartenzeichen.

„Er schob nun einen Armsessel herbei und bat den Kurfürsten, in denselben sich zu setzen und unter keinerlei Umständen sich daraus zu erheben und kein Wort zu sprechen – sonst sehe er seinen sicheren Tod vor Augen. Der Kämmerier ward unter gleicher Verwarnung hinter den Stuhl gestellt. Darauf legte der Ungar um den Becher mit den Heidenköpfen einen Draht und führte diesen in den Schmelzofen. Demnächst zog er unter beständigem leisen Sprechen drei Kreise um den Kurfürsten und führte zuletzt von dem äußersten Kreise einen geraden Strich nach dem Schmelzofen. Die Lichter wurden in Gestalt eines Triangulums um den Teller gesetzt. Der Ungar kniete nun gerade vor dem Ofen nieder und fuhr fort leise zu beten (?). Von Zeit zu Zeit warf er aus einer neben ihm stehenden Büchse eine Species in die Flamme, worauf denn jedesmal ein gewaltiges Prasseln im Ofen entstand und die Glut aufs Äußerste zunahm. Das mochte eine Stunde gewährt haben und der Kämmerier sah, wie der vom Ofen zum Becher gehende Draht erglühte, auf dem Becher dicke Tropfen standen, inwendig aber es in den schönsten Farben blitzte und spielte, wie er es oftmals auf der Silbehütte gesehen. Allmählich gewahrte er ein Dehnen und Recken an dem Becher, der auseinander ging und an Höhe zunahm, wie auch die Heidenköpfe sichtlich zu wachsen schienen. Immer eifriger murmelte der Ungar und immer höher schwoll der Becher, bis er beinahe an die Decke mit den Rändern stieß. Da erscholl ein donnernder Knall und heraus sprangen die Heidenköpfe als Männer mit langen Mänteln und Bärten, gar schauerlich anzusehen. Sie schlossen einen Kreis um den Kurfürsten; einer der Männer fiel vor dem, der dem Kurfürsten zunächst stand, auf die Knie, zeigte auf den Kurfürsten und rief: Das ist der, der das Reich den Galliern zu überliefern begehrt! Darauf steckten die Männer die Köpfe zusammen, als gingen sie zu Rat. Zuletzt brachte der am entferntesten Stehende ein breites Schwert unter dem Mantel hervor und rief laut: Das schickt das Gesetz dem Verräter! Zugleich tat er einige Schritte vorwärts, als wollte er auf den Kurfürsten einhauen. Da rief dieser mit erstickter Stimme: Helf, helf, Michel – und sofort war Alles verschwunden …“ Sie nickte billigend; noch einmal: „und das ist alles auf dem Ehrenbreitstein passiert?!“ Pfüüüt: ein Tunnel (Schön!) Noch atemlos: „Und wann ist das gewesen?“. Auf soviel Wißbegier ohne Übergang war nun wieder ich nicht vorbereitet, sagteaber fest: „am zweiten Juni Sechzehnhundertzwounddreißig.“

Library of Congress, Old Glory flies from Ehrenbreitstein fortress, where the Rhine and Mosel meet, Coblenz, Germany, 1919, view from Festung Ehrenbreitstein in Koblenz

Bilder: Ehrenbreitstein und Helfenstein, Stadtansicht von Braun & Hogenberg, 1573;
Holger Weinandt: Koblenz im Buga-Jahr 2011: Das Deutsche Eck mit der Festung Ehrenbreitstein im Hintergrund, 23. April 2011;
Kowelenzer: Das rekonstruierte Reiterstandbild Wilhelms I. wird wieder auf den Sockel des Deutschen Ecks gehoben;
Library of Congress: Old Glory flies from Ehrenbreitstein fortress, where the Rhine and Mosel meet, Coblenz, Germany, view from Festung Ehrenbreitstein in Koblenz, 1919.

Written by Wolf

4. April 2014 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Herrschaft & Revolte

Unser lieber Vatter

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Update zu Doppeltgänger:

„Knan“ heißt „Vater“; zitiert wird nach dem Digitalisat im Deutschen Textarchiv der 1. Nürnberger Ausgabe bei Felsecker 1669, geändert — und kenntlich gemacht — um Hans Heinrich Borcherdt (Hg.) im Deutschen Verlagshaus Bong & Co, 1921. Das Bild ist von der 31-teiligen Hörbuchfassung bei Pidax Film Media Ltd. Das Cover war schon anno 1979 auf dem Hörbuch, lange bevor Ältere als Fünfjährige etwas mit Hörbüchern anfangen sollten, und war 2013 bei der Zusammenpressung auf eine einzige CD mit .p3-Dateien offenbar immer gut genug.

——— Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch / Das ist: Die Beschreibung deß Lebens eines seltzamen Vaganten / genant Melchior Sternfels von Fuchshaim / wo und welcher gestalt Er nemlich in diese Welt kommen / was er darinn gesehen / gelernet / erfahren und außgestanden / auch warumb er solche wieder freywillig quittirt. Überauß lustig / und maenniglich nutzlich zu lesen. An Tag geben Von German Schleifheim von Sulsfort. Monpelgart / Gedruckt bey Johann Fillion / Jm Jahr MDCLXIX. Das VIII. Capitel:

Simplex gibt seinen Verstand an den Tag
Durch seine törichte Antwort und Frag.

Einsiedel: Wie heissestu?

Simpl. Ich heisse Bub.

Einsid. Ich sihe wol/ daß du kein Mägdlein bist/ wie hat dir aber dein Vatter und Mutter geruffen?

Simpl. Jch habe keinen Vatter oder Mutter gehabt:

Einsid. Wer hat dir dann das Hemd geben?

Simpl. Ey mein Meuder.

Einsid. Wie heisset dich dann dein Meuder?

Simpl. Sie hat mich Bub geheissen/ auch Schelm/ [langöhrichter Esel/ ungehobelter Rültz/] ungeschickter Dölpel/ und Galgenvogel.

Einsid. Wer ist dann deiner Mutter Mann gewest?

Simpl. Niemand.

Einsid. Bey wem hat dann dein Meuder deß Nachts geschlaffen?

Simpl. Bey meinem Knan:

Einsid. Wie hat dich dann dein Knan geheissen?

Simpl. Er hat mich auch Bub genennet:

Einsid. Wie hiesse aber dein Knan?

Simpl. Er heist Knan:

Einsid. Wie hat ihm aber dein Meuder geruffen?

Simpl. Knan/ und auch Meister:

Einsid. Hat sie ihn niemals anders genennet?

Simpl. Ja/ sie hat:

Einsid. Wie dann?

Simpl. Rülp/ grober Bengel/ volle Sau/ [alter Scheisser/] und noch wol anders, wann sie haderte:

Einsid. Du bist wol ein unwissender Tropff/ daß du weder deiner Eltern noch deinen eignen Nahmen nicht weist!

Simpl. Eya, weist dus doch auch nicht:

Einsid. Kanstu auch beten?

Simpl. Nain/ unser Ann und mein Meuder haben als das Bett gemacht:

Einsid. Jch frage nicht hiernach/ sondern ob du das Vatter unser kanst?

Simpl. Ja ich:

Einsid. Nun, so sprichs dann:

Simpl. Unser lieber Vatter/ der du bist Himel/ hailiget werde nam/ zrkommes d Reich/ dein Will schee Himmel ad Erden/ gib uns Schuld/ als wir unsern Schuldigern geba/ führ uns nicht in kein döß Versucha/ sondern erlöß uns von dem Reich/ und die Krafft, und die Herrlichkeit/ in Ewigkeit/ Ama.

Einsid. Bistu nie in die Kirchen gangen?

Simpl. Ja ich kann wacker steigen/ und hab als ein gantzen Busem voll Kirschen gebrochen:

Einsid. Jch sage nicht von Kirschen/ sondern von der Kirchen:

Simpl. Haha/ Kriechen/ gelt, es seynd so kleine Pfläumlein? gelt du?

Einsid. Ach daß GOtt walte/ weistu nichts von unserm HERR Gott?

Simpl. Ja/ er ist daheim an unsrer Stubenthür gestanden auf dem Helgen/ mein Meuder hat ihn von der Kürbe mitgebracht/ und hin gekleibt:

Einsid. Ach gütiger GOtt/ nun erkenne ich erst/ was vor eine grosse Gnad und Wohlthat es ist/ wem du deine Erkantnus mittheilest/ und wie gar nichts ein Mensch seye/ dem du solche nicht gibst: Ach HERR verleyhe mir deinen heiligen Nahmen also zu ehren/ daß ich würdig werde/ umb diese hohe Gnad so eyferig zu dancken/ als freygebig du gewest/ mir solche zu verleyhen: Höre du Simpl. (dann anderst kan ich dich nicht nennen) wann du das Vatter unser betest/ so mustu also sprechen: Vatter unser/ der du bist im Himmel/ geheiliget werde dein Nahm/ zukomme uns dein Reich/ dein Wille geschehe auff Erden wie im Himmel/ unser täglich Brod gib uns heut/ und:

Simpl. Gelt du/ auch Käß darzu?

Einsid. Ach liebes Kind/ schweige und lerne/ solches ist dir viel nötiger als Käß/ du bist wol ungeschickt/ wie dein Meuder gesagt hat/ solchen Buben wie du bist/ stehet nicht an/ einem alten Mann in die Red zu fallen/ sondern zu schweigen/ zuzuhören und zu lernen/ wüste ich nur/ wo deine Eltern wohneten/ so wolte ich dich gerne wieder hin bringen/ und sie zugleich lehren/ wie sie Kinder erziehen solten;

Simpl. Jch weiß nicht, wo ich hin soll/ Unser Hauß ist verbrennet/ und mein Meuder hinweg geloffen/ und wieder kommen mit dem Ursele/ und mein Knan auch/ und unser Magd ist kranck gewest/ und ist im Stall gelegen[/ die hat mich fortlaufen heißen, was gist do, was host].

Einsid. Wer hat dann das Hauß verbrennt?

Simpl. Ha/ es sind so eiserne Männer kommen/ die seynd so auff Dingern gesessen/ groß wie Ochsen/ haben aber keine Hörner/ dieselbe Männer haben Schaffe und Kübe und Säu gestochen/ [Ofen und Fenster eingeschlagen] und da bin ich auch weg geloffen/ und da ist darnach das Haus verbrennt gewest:

Einsid. Wo war dann dein Knan?

Simpl. Ha/ die eiserne Männer haben ihn angebunden/ da hat ihm unser alte Geiß die Füß geleckt/ da hat mein Knan lachen müssen/ und hat denselben eisernen Männern viel Weißpfenning geben/ grosse und kleine/ auch hübsche gelbe/ und sonst schöne klitzerechte Dinger/ und hübsche Schnür voll weisse Kügelein.

Einsid. Wan ist diß geschehen?

Simpl. Ey wie ich der Schaf habe hüten sollen/ sie haben mir auch mein Sackpfeifff wollen nemmen.

Einsid. Wann hastu der Schaf sollen hüten?

Simpl. Ey hörstus nicht/ da die eiserne Männer kommen sind/ und darnach hat unser [strobelkopfigte] Ann gesagt/ ich soll auch weg lauffen/ sonst würden mich die Krieger mit nehmen/ sie hat aber die eiserne Männer gemeynet/ und da sein ich weg geloffen/ und sein hieher kommen:

Einsid. Wo hinauß wilst du aber jetzt?

Simpl. Jch weiß weger nit/ ich will bey dir hier bleiben:

Einsid. Dich hier zu behalten/ ist weder mein noch dein Gelegenheit/ esse/ alsdann will ich dich wieder zu Leuten führen:

Simpl. Ey so sag mir dann auch/ was Leut vor Dinger seyn?

Einsid. Leut seynd Menschen wie ich und du/ dein Knan/ dein Meuder und euer Ann seynd Menschen/ und wann deren viel beyeinander seynd/ so werden sie Leut genennt:

Simpl. Haha;

Einsid. Nun gehe und esse.

Diß war unser Discurs, unter welchem mich der Einsidel offt mit den allertieffsten Seufftzen anschauete/ nicht weiß ich/ ob es darum geschahe/ weil er ein so groß Mitleiden mit meiner [überaus großen] Einfalt und dummen Unwissenheit hatte/ oder auß der Ursach/ die ich erst über etliche Jahr hernach erfuhr.

Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch - Die komplette 31-teilige Hörbuchfassung des Abenteuerromans von Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen. Pidax Hörspiel-Klassiker, 1979 und 2013

Written by Wolf

23. Februar 2014 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Herrschaft & Revolte

Lieblingsbiber

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Update zu Den Bach runter:

Mein Lieblingssatz der Woche steht in meiner Lieblingsabteilung: die größte Deutschlands für Klassik im fünften Stock beim Beck am Rathauseck, und darin in meiner Lieblingsunterabteilung, allein schon wegen des Namens: Alte Musik Neuheiten, und darin auf den Violin Sonatas von Franz Biber:

Mit unglaublicher Musizier- und Fabulierlust bringt Andrew Manze uns seinen Biber nahe.

Hach. Wenn es diese Neuheit von 1994 jetzt auch noch auf die Spiegel-Sammlung Die besten guten Klassik-CDs schafft, brauch ich nicht mal mehr den Postillon, sondern allenfalls noch eine Sammlung „Die besten Scheiß-CDs“. Und das halten die Leute für ernste Musik.

Heinrich Ignaz Biber, Violinsonaten Nr.1-8, 1681

Biberbild mit Kranich: Heinrich Ignaz Biber (1644-1704): Violinsonaten Nr.1-8 (1681), Doppel-CD.

Written by Wolf

20. Februar 2014 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Handel & Wandel

Welcher ein lieben Buhlen hat

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Update zu Flög, Auf einen Satz der Wölfin und The Metrum is the Message:

Ein Volkslied ist keins, wenn es nicht in mindestens zwei Versionen überliefert ist. Dem Deutschen Volksliedarchiv zu Freiburg im Breisgau seien Dank für die letzten 100 Jahre und die besten Wünsche fürs nächste Jahrhundert: Wir werden euch noch brauchen.

Einhundert Jahre Deutsches Volksliedarchiv 1914--2014

Ich verbreite hier ein so seltenes Volkslied, dass dafür nicht einmal eine gültige Melodie vorliegt. Die geschmeidige ideale Volksliedstrophe lässt aber viel Platz für eigene Vertonungen — daher Volkslied:

——— Frankfurter Lieder-Büchlein: Maß in allen Dingen, 1582:

Winter, du mußt Urlaub han,
Das hab ich wohl vernommen;
Was mir der Winter hat Leids gethan,
Das klag ich diesem Sommer.

Diesem Sommer nicht allein
Die gelen Blümlein springen;
Welcher ein lieben Buhlen hat,
Mag wohl mit Freuden singen.

Welcher ein lieben Buhlen hat,
Halt ihn in rechter Maßen!
Und wenn es an ein Scheiden geht,
Muß er ihn fahren lassen.

Zu wenig und zu viel ist ungesund,
Hab ich oft hören sagen;
Der Brunn hat einen falschen Grund,
Darein mans Wasser muß tragen.

Des Brunnen des entrink ich nit,
Er hat mich oft betrogen;
Was mir mein Feinslieb hat zugeseit,
Ist ganz und gar erlogen.

Der uns das Liedlein neu gesang,
Von neuem hat gesungen,
Das haben gethan zween Landsknecht gut,
Ein alter und ein junger.

Bethany Rand by Masha Sardari, Weeping for the Summer, 14. Dezember 2013

Winterurlaubsvolkslied: Des Brunnen des entrink ich nit (ganz und gar erlogen):
Bethany Rand by Masha Sardari: Weeping for the Summer, 14. Dezember 2013.

Written by Wolf

15. Februar 2014 at 14:05

Veröffentlicht in Barock, Land & See

Der Kalauer des Monats

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Partiten:

Paar Titten:

Die besten Titten der Welt

~~~\~~~~~~/~~~

Die etwas rüpel-nerdigere, dafür eindeutigere Version mit der vollständigen Musik:

Partiten:

Paar Titten:

TitsDie Bilder stammen von Ralf, der auch die Kamera gestiftet hat, und aus dem frühen Internet, das aus Funny Forwards bestand.
Das Tiny Desk Concert wurde von Hilary Hahn am 21. Oktober 2011 im Büro von NPR Music gegeben: Die Bourrée aus der Partita 3 und Siciliana aus der Sonate 1 von Bach, mit dem Hut auf dann noch ein Medley von Charles Ives und irischen Traditionals. Eine auch sonst empfehlenswerte Reihe.

Written by Wolf

2. November 2013 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Ehestand & Buhlschaft

Music kennt nichts als lauter Güte

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Der Tonsetzer (14. März 1681 bis 25. Juni 1767) zur Musiktheorie:

——— Georg Philipp Telemann: Cantata,
aus: Die MUSIC, als der edelste Zeitvertreib, bey abermaliger Eröffnung desselben. Den 12. Jan. 1723:

Tönet, schallet, klingt, ihr Saiten!
Füllet dieses Freuden=Haus
Mit den besten Liedern aus,
Welche zum Vergnügen leiten!
Tönet, schallet, klingt, ihr Saiten!

Recht so,
Du wehrte Musen=Schar!
Bezeige dich von Herzen froh,
Daß abermals ein neues Jahr
Erschienen,
Bey dem dir Glück und Wolseyn grünen,
Und deine Symphonien
Noch manchen Gönner an sich ziehen.
Drum ruf‘ ich noch einmal bey so beglückten Zeiten:
Tönet, schallet, klingt,ihr Saiten!

Den schön’sten Zeitvertreib in unserm ganzen Leben
weiß doch Music allein zu geben.
Denn alles, was wir sonst nur von der Wollust wissen:
Es sey ein guter Wein, ein leckerhafter Bissen,
Die Schlittenfahrt,
Das Spiel, die Jagd, und was noch mehr von solcher Ahrt;
Sind im Beschluß,
Nach vorgebrauchtem Ueberfluß,
Wo nicht mir Schaden, Schmerz, Verdruß,
Doch wenigstens mit Ungemach gepar’t.

Denis Dunaj, Cello Girl, 30. Juli 2012Allein Music kennt nichts als lauter Güte:
Der Anfang ist bequem,
Das Mittel angenem,
Das Ende wirkt ein ruhiges Gemüte.

Allen Kummer, alles Leid
Kann die Harmonie begraben.
Wie das Meer bey sanfter Stille
Seine Flut, als wiegend, reg’t:
Also wird des Menschen Wille
Durch der Töne Kraft beweg’t,
Daß ihn, frey vom Sorgen=Streit,
Sanfte Ruh‘ und Stille laben.

Da Capo.

Die Lust, der man sich ausser ihr geweyht,
Ist voller Unbeständigkeit.
Sie lässet uns, bevor wir sie verlassen.
Ein Schwelger wird nicht lange prassen,
So schreibet ihn der Arzt zu seinen Kunden an;
Ein Spieler leg’t die Würfel nieder,
Wenn ihm das Glück zugethan;
Ein Jäger, welcher Tag und Nacht
im Walde zugebracht,
Kömmt öfters ohne Wildprett wieder;
Ein Schlittenfahrer hör’t die Schellen nicht mehr klingen,
So bald der feuchte West
Den Schnee zerschmelzen läss’t;
Und also auch in andern Dingen.
Dieß hat Music nicht zu besorgen.
Die klinget heut und klinget morgen,
UJnd bietet sich durchs ganze Jahr,
Ohn‘ allen Nachtheil und Gefahr,
Uns zum Ergetzen dar.

Freude des Himmels, Ergetzen der Erden,
Edelste Klinge=Kunst, süsseste Lust!
Laß uns in deinem begeisterten Wesen
Jener Vollkommenheit Inbegriff lesen,
Wo wir durch Singen belustiget werden,
Welches hier unten noch niemand bewust.

Da Capo.

In ihrer Herrlichkeit
Ist dieses auch zu zählen:
Wenn unser Bau des Leibes Risse kriegt,
Und wenn des Alters Hand den steifen Rücken bieg’t,
Wo aller Lüste Scherz sich von ihm selbst verbeut:
So kann man die Music doch noch zum Labsal wählen.
Die machet uns kein nagendes Gewissen,
Weil sie die Unschuld selbst erlaubt und billig heiss’t;
Es stärkt ihr rührend Werk den halb erstorb’nen Geist,
Und bettet unser Haupt auf sanfte Ruhe=Küssen.

Hagel, Schlossen, Wind und Wetter
Hemmen nicht des Klanges Lauf.
Ist der Winter auf den Gassen?
Wo sich Saiten hören lassen,
Blüht der Anmut Frühling auf.

Da Capo.

Wolan, ihr Musen, fahret fort
Mit Hand und Wort,
Bey dieser neuen Zeit, auf neue zu vergnügen!
Die Schickung wird den Fortgang glücklich fügen,
Und euer Schallen
Nicht eben jedermann mißfallen.

Erquicket noch ferner die Herzen und Sinnen,
Und jag’t durch lieblichen Gesang,
Vermischet mit der Saiten Klang,
Die quälenden Sorgen mit Freuden von hinnen!
Erquicket noch ferner die Herzen und Sinnen!

Der Himmel nem‘ indeß durchs ganze Jahr
Hier diese kleine Welt, das liebste Hamburg, wahr!
Gesegnet müssen seyn die Väter dieser Stadt,
Durch die das Recht im Schwange gehet,
Durch deren Schutz der Bürger Pflicht bestehet,
Daß jedermann sein Brodt in Ruh zu essen hat!
Gesegnet müssen seyn, die für die Selen wachen;
Gesegnet, die ums allgemeine Heyl
Sich Müh‘ und Sorge machen;
Gesegnet Handel, Kunst, Gewerbe, Thun und Lassen;
Und alles kurz zu fassen:
Es neme Groß und Klein hier an dem Segen Theil!
So wird, wenn überall die Wünsche wol gelingen,
Auch unsere Music gedoppelt besser klingen.

Mit Freuden fängt das Jahr sich an;
Mit Lust erwarten wir das Ende.
Mischt ein Lamento sich mit ein:
So lasst Music das Sinnbild seyn.
Wie die bald frisch, bald traurig klingen kann:
So bieten Lust und Last im Leben sich die Hände.
Mit Freuden fängt das Jahr sich an;
Mit Lust erwarten wie das Ende.

Die Musikerin (leibt, lebt und liebt noch) zur Kniegeigenpraxis:

——— Hille Perl: Concertare. Die Lust am Spiel,
aus: Booklet zu Telemann Concertos for Viola da Gamba, Winkelsett, 12. August 2006:

Georg Philipp Telemann, der große und prägende Musiker, dessen Werk vermutlich sowohl in Quantität als auch Qualität unübertroffen ist, hat der Nachwelt das musikalische material hinterlassen, welches diese CD enthält. Für einen Menschen des 21. Jahrhunderts ist es kaum nachzuvollziehen, wie ein Arbeitstag des Großmeisters sich gestaltet haben muss. Er hinterließ uns 1400 Kirchenkantaten, etwa 50 Opern, mehrere hundert Orchesterwerke, daneben Instrumentalmusik für die verschiedensten Besetzungen, Solowerke mit oder ohne Begleitung,. Kaum ein anderer Musiker der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat das musikalische Leben seiner Zeit durch so viele Experimente, Stile und Techniken bereichert. Dadurch, dass er viele seiner Instrumentalwerke persönlich zur Drucklegung stach, erreichte er eine weit reichende Publikation seiner Werke, die eine ungeheure Popularität Telemannscher Musik nach sich zog.

Denis Dunaj, Cello Girl, 30. Juli 2012Sein Sprachwitz befähigte ihn darüber hinaus, sich als Dichter zu betätigen, zahlreiche Sonette, einige Libretti und zwei Autobiographien, daneben viele Briefe sind uns bis heute erhalten. Später im Leben beschäftigte er sich mit Gärtnerei, unter anderem tauschte er Blumenzwiebeln und Pflanzen, auch mit seinen Musikerfreunden Georg Friedrich Händel und Pisendel.

Die Entwicklung des instrumentalen Konzertes von einer simplen Interaktion zwischen zwei oder drei Instrumenten in einer mehr oder weniger traditionellen Sonate, bis hin zu einem Werk, in dem ein Soloinstrument von einem Apparat von Streichern oder einem erweitwerten Orchester begleitet wird, ist in Telemanns Werk ebenso wie auf dieser CD dokumentiert. […]

Vermutlich würden auch Musikwissenschaftler zustimmen, wenn wir behaupten, dass die Orchestersuite in D-Dur für Viola da Gamba und Streicher die Bezeichnung „Konzert“ in jedem Sinne zu tragen berechtigt ist: es gibt ein solistisches Instrument, welches mit dem Orchester interagiert und von ihm begleitet wird. Es gibt eine Ouvertüre im Anfang, bei der übriens die Gambe im Unisono mit den ersten Geigen geführt wird, bis die solistischen Einlagen beginnen, gefolgt von einem binären Charakterstück und fünf normalen Suitensätzen, bei der die Gambe und das Orchester über dem Continuo oft alternierend eingesetzt werden. […]

Meine hauptsächliche musikalische Partnerin in diesem Projekt, sowohl als Solistin als auch als Leiterin und Konzermeisterin des Orchesters, ist Petra Müllejans: Ihre geniale und variable Weise der Klangerzeugung, die Vielfalt an Artikulationen und Farben, die mit ihrem Bogen hervorzaubert, sind für diese Musik und für meine Herangehensweise an diese Musik die perfekte Ergänzung und Inspiration. Diese Art der Kommunikation, die weit über das, was wir mit Worten vermitteln können, hinausgeht, macht diese CD auch zu einem Dokument der schwesterlichen Verständigung zwischen Petra und mir. Vermutlich sind uns einige der langsamen Sätze langsamer geraten, als es historisch korrekt oder vertretbar wäre — aber wir fühlten uns oft in der Musik so wohl, dass wir den Moment strecken und verlängern wollten, so lange es eben geht: Dies ist eine der Freiheiten, die uns die Musik ermöglicht, eine andere ist wohl die, durch die Töne zu fliegen, frei und wild wie die Vögel, ohne Geschwindigkeitsbegrenzungen und ohne die Gefahr, jemals am Baum zu landen.

Vermutlich ist es vermessen, unseren Lebensstil auch nur im Geringsten mit der menschlichen Existenz im 18. Jahrhundert zu vergleichen; trotzdem möchte ich uns daran erinnern, wie ungeheuer produktiv und kommunikativ ein Charakter wie Telemann zu seiner Zeit war, obwohl ihm die technologischen Forschritte unserer Zeit gerade auf diesen Gebieten verwehrt waren.

Den großen Respekt, den ich diesem Meister zolle, möchte ich hiermit zum Ausdruck bringen; sein Leben, sein Leiden, seine fantastische Musik und auch der große Spaß, den er sicherlich hatte, sollen nicht vergessen werden. All das ist ein Teil unserer kulturellen Identität, die wir weiterleben, um uns daran zu erinnern, wohin wir in der Zukunft wollen. Ohne große Musik in unserem Leben haben wir vermutlich keine Zukunft.

Suite in D-Dur für Gambe, Streicher und Basso continuo:
1. Ouverture; 2. La Trompette; 3. Sarabande; 4. Rondeau; 5. Bourée; 6. Courante & Double; 7. Gigue.

Hille Perl: Viola da gamba
Freiburger Barockorchester:
1. Violine: Petra Müllejans, Kathrin Tröger, Gerd-Uwe Klein
2. Violine: Brian Dean, Annelies van der Vegt, Karin Dean
Bratsche: Christa Kittel, Sabine Dziewior
Cello: Ute Persilge
Violon: Matthias Müller
Laute: Lee Santana
Cembalo: Torsten Johann

Aufgenommen im Paulussaal Freiburg im Breisgau, 17. März 2006.

Text- und Videobilder: Denis Dunaj: Cello Girl, 30. Juli 2012.

Written by Wolf

25. Juni 2013 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Schall & Getöse

Ein schön Exempel Quasimodogeniti

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Update zu Den Bach runter am Sonntag Quasimodogeniti:

Den so genannt ungläubigen Thomas konnte ich nie so verworfen finden, wie er liturgisch meistens hingestellt wird. Er hat halt genau nachgefragt. Als er mal anfassen durfte, hat er’s ja auch sofort eingesehen, kein Ding.

Soll das eine Demütigung sein? Ach komm, für heutige Begriffe wäre sogar schon leichtfertig, gleich alles zu glauben, nur weil man’s sehen und anfassen kann. Thomas war vielleicht Empiriker, aber doch nicht kurz vor Judas.

Sie hörten das Laienwort zum Sonntag Quasimodogeniti, der heute der Weiße oder Barmherzigkeitssonntag heißt. Weiter mit Musik:

Quasi modo geniti infantes, halleluja, rationabile sine dolo lac concupiscite, halleluja.

Kantate Am Abend aber desselbigen Sabbats, BWV 42, Leipzig 8. April 1725,
Nikolaus Harnoncourt dirigiert die Wiener Sängerknaben und den Chorus Viennensi, 1974:

1. Rezitativ

Am Abend aber desselbigen Sabbats,
Da die Jünger versammlet
Und die Türen verschlossen waren
Aus Furcht für den Jüden,
Kam Jesus und trat mitten ein.

2. Arie

Wo zwei und drei versammlet sind
In Jesu teurem Namen,
Da stellt sich Jesus mitten ein
Und spricht darzu das Amen.
Denn was aus Lieb und Not geschicht,
Das bricht des Höchsten Ordnung nicht.

3. Duett

Verzage nicht, o Häuflein klein,
Obschon die Feinde willens sein,
Dich gänzlich zu verstören,
Und suchen deinen Untergang,
Davon dir wird recht angst und bang:
Es wird nicht lange währen.

4. Rezitativ

Man kann hiervon ein schön Exempel sehen
An dem, was zu Jerusalem geschehen;
Denn da die Jünger sich versammlet hatten
Im finstern Schatten,
Aus Furcht für denen Jüden,
So trat mein Heiland mitten ein
Zum Zeugnis, daß er seiner Kirch Schutz will sein.
Drum laßt die Feinde wüten!

5. Arie

Jesus ist ein Schild der Seinen,
Wenn sie die Verfolgung trifft.
Ihnen muß die Sonne scheinen
Mit der güldnen Überschrift:
Jesus ist ein Schild der Seinen,
Wenn sie die Verfolgung trifft.

6. Choral

Verleih uns Frieden gnädiglich,
Herr Gott, zu unsern Zeiten;
Es ist doch ja kein andrer nicht,
Der für uns könnte streiten,
Denn du, unsr Gott, alleine.
Gib unsern Fürsten und allr Obrigkeit
Fried und gut Regiment,
Daß wir unter ihnen
Ein geruhig und stilles Leben führen mögen
In aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit.

Amen.

Caravaggio: Der ungläubige Thomas, 1601–1602.

Written by Wolf

7. April 2013 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Vier letzte Dinge: Himmel

Den Bach runter

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„Na?“ Die Wölfin sitzt wie immer am Computer. „Fertig mit Einkaufen? Irgendwelche Schätze gehoben?“

„Aber hallo. Eine CD Mit Bach-Kantaten.“

„Mit Smash-Hits drauf, die man kennen muss?“

„Sicher. Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen. Am Sonntag Jubilate, BWV 146.“

„Um Gottes willen. Du verarschst mich hoffentlich.“

„Würde ich das je tun?“

„Solang du mir mit den Gegenbeweisen vor der Nase wedelst, vielleicht nicht.“

„Durch so viel Trübsal will ich nie.“

„Jubilate? Was singen die dann erst am Sonntag Lamentate?“

„Gar nix, weil’s den nicht gibt.“

„Immerhin. Heißt das, da kommt eine Steigerung?“

„Aber ja! Es folgt: Gottlob! nun geht das Jahr zu Ende. Am Sonntag nach Weihnachten, BWV 28.“

„Stockschwerenot. Eine Art Weihnachtsblues?“

„Wenn du veranschlagst, dass die Blueser heute auch Kirchentonarten verwenden, irgendwie schon.“

„Wie ich nur die neutrale Skalenbasis des dorischen Modus vergessen konnte. Hast du noch mehr solche himmelhoch jauchzenden Kasteiungen?“

„Als letztes: Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen. Am 19. Sonntag nach Trinitatis, BWV 48.“

„Und das willst du dir jetzt anhören …“

„Aber auf sowas von Repeat.“

„Ich bin dann mal Essen machen.“

„Jubilate.“



Nicht mehr käuflich, aber in ungekürzter Folge auf YouTube
und als verkratzter Abschreibungskandidat in der Münchner Gasteig-Bibliothek.

Written by Wolf

8. Februar 2013 at 00:01

Veröffentlicht in Barock, Schall & Getöse

Der Mensch ist gut: Sein Geist strebt nach der Wahrheit!

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Zur Einstimmung in einen jungen Weblog muten wir uns die 106 Minuten Faust — eine deutsche Volkssage von 1926 zu.

Für diese Zeit war das eine außerordentliche Filmdauer. Als Vergleich sind uns Heutigen amerikanische Komödien von Charlie Chaplin oder Buster Keaton geläufig, die meisten in Sketchlänge.

Friedrich Wilhelm Murnau unterschrieb schon auf seiner ersten Amerikareise einen Arbeitsvertrag mit dem Filmproduzenten William Fox. Bevor Murnau endgültig nach Kalifornien auswanderte, drehte er als letzten Film in Deutschland den Faust.

Murnaus Vermächtnis in und für Deutschland ist angefüllt mit einer Ausstattung und technischen Finessen, die in ganz erstaunlicher Weise state of the art gewesen sein müssen. Die Kulissen erreichen nur aus dramaturgischen Gründen nicht die Opulenz wie die in Fritz Langs Nibelungen (1924) oder Metropolis (1927), weil sie (ähnlich wie in seinem eigenen Nosferatu) durch eine ungefähre mittelalterliche Glaubwürdigkeit wirken müssen — dafür arbeitete Murnau mit Doppelbelichtungen. Bis vor wenigen Jahren, seit praktisch alle Großproduktionen wie eine Art animierte Excel-Tortengraphik gebaut werden („cgi-ed“), war das die Methode der Wahl, um Geisterwelten darzustellen.

Murnaus größtes Kapital für den Film war vermutlich Emil Jannings als Mephistopheles. Jannings muss zu seiner Zeit in Deutschland das gewesen sein, was heute Brad Pitt für alle und Rudolph Valentino für Amerika war. Damals durften Filmstars der Oberklasse dick und hässlich sein, und Drehbücher für Blockbuster durften in Untergang und Verderbnis enden — heute ein Privileg für Charakterchargen und Independent-Produktionen mit no budget.

Wie der volle Filmtitel sagt, orientiert sich Murnau weit mehr am originalen Volksbuch Historia von Doktor Johann Fausten – dem weitbeschreyten Zauberer und Schwarzkünstler von 1587 als an den durchgesetzten Bearbeitungen von Christopher „Kid“ Marlowe und — viel später — Goethe.

Wer diesen Film heute noch kennt, kann nicht weit unter 40 sein. Und dann kennt er ihn vermutlich aus der ZDF-Matinee, die einst von Gymnasiasten nach der Sendung mit der Maus geguckt wurde; in der Heavy Rotation der Fernsehwiederholungen findet er sich nicht, im Kino allenfalls in den wenigen Filmmuseen und Specials von Programmhäusern, Saal 7, der vorher der Kartoffelkeller war, gerne mit Live-Piano. Fritz Murnau und Emil Jannings bekommen die Specials, der Hauptdarsteller Gösta Ekman mit seiner beeindruckenden Wandlungsfähigkeit vom rauschebärtigen Gelehrten zum jugendlichen Liebhaber (nicht umgekehrt) ist weitgehend vergessen. Auf Chaplin- und Maus-Fans wirkt sich dieser Teil des frühen Filmschaffens enorm bildend aus.

Ich dachte jahrelang, „Wunderbar sind alle Dinge des Himmels und der Erde! Doch der Wunder Grösstes ist die Freiheit des Menschen: Zu wählen zwischen Gut und Böse!“ in Minute 2:51 sei aus dem Faust von Goethe.

Amerikanisches Filmplakat F.W. Murnau, Faust -- eine deutsche Volkssage via Cinemalane

Amerikanisches Filmplakat via Zoë Walker: The Big Parade, 19. Januar 2010.