Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Archive for September 2018

The Art of Asking vs. was man bei manchen jungen Leuten ein insinuantes Wesen nennt

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Update zu Wähle dir ein Lied:

I think when we really see each other, we want to help each other.

Amanda Palmer, a. a. O.

Mit seinem populären Kreuzworträtsel-Halbwissen verortet man den Anfang der Psychologie allzugern bei Sigmund Freud. Am Anton Reiser bleibt der Untertitel Ein psychologischer Roman über seine vier Bände hinweg nicht das einzige Frappante.

Karl Friedrich Klischnig für Karl Philipp Moritz via Münchner Digitalisierungszentrum, Digitale BobliothekWie aktuell des Knaben Reisers Seelennöte geblieben sind, zeigt das erste Fachbuch darüber, das erst im November 2014 eine Musikerin vorlegen musste: Amanda Palmer: The Art of Asking: How I Learned to Stop Worrying and Let People Help, Grand Central Publishing, New York City; deutsch: The Art of Asking: Wie ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und lernte, mir helfen zu lassen, Eichborn, Frankurt, September 2015.

Selbst darin bieten sich die Problemlösungen auf autobiographischen Umwegen, es soll aber trotz — oder wegen — all seiner Subjektivität in hohem Grade hilfreich sein. Anekdotischer Beweis: Seit Neil Gaiman mit Amanda Palmer verheiratet ist, haut er ein erfolgreiches Großprojekt nach dem anderen raus und wird oft im selben Satz mit dem Wort „Nobelpreis“ erwähnt. Da sollte es uns, die wir für ihre Bücher Geld löhnen sollen, allemal für unseren bescheidenen Alltag reichen.

Moritz‘ Problemschilderung ist gemeinfrei.

Der in Anton Reisers Pflegefamilie verwendete „Benjamin Schmolke“ schreibt sich gelegentlich auch Benjamin Schmolck und ist der pietistische Pfarrer mit zahlreichen geistlichen Liedern und Erbauungsschriften wie Der Lustige Sabbath/ Jn der Stille Zu Zion Mit Heiligen Liedern gefeyert/ Nebst einem Anhange Täglicher Morgen- und Abend- Kirch- Beicht- Buß- und Abendmahls-Andachten, Liebig, Reimann, Jauer, Schweidnitz 1712, oder Das Saiten-Spiel des Hertzens, Am Tage des Herrn, Oder Sonn- und Fest-tägliche Cantaten : Nebst einigen andern Liedern, Breßlau/Liegnitz 1720. Bei Moritz sind vermutlich Benjamin Schmolckens Gott-geheiligte Morgen- und Abend-Andachten in Bitte, Gebet, Fürbitte, und Dancksagung, nebst etlichen Liedern auf Begehren guter Freunde also ausgefertiget, durch Friederich Roth-Scholzen, Siles., Nürnberg und Altdorff, bey Johann Daniel Taubers, seel. Erben, 1720 u. ö. gemeint.

——— Karl Philipp Moritz:

Anton Reiser.

Ein psychologischer Roman.

Zweiter Theil. Friedrich Maurer, Berlin 1786,
cit. via Bibliotheca Augustana nach:

Karl Phillip Moritz, Anton Reiser, Ein psychologischer Roman (Karl Philipp Moritz, Die Schriften in 30 Bänden, hg. v. Petra Nettelbeck-Uwe Nettelbeck, Nördlingen 1987) nach der digitalen Ausgabe der Akademie der Wissenschaften in Göttingen (DWB-Thesaurus), die leider im Netz nicht mehr verfügbar ist.

Amanda Palmer via Connie Dee, Amanda Fucking Palmer, Pinterest, 2014Seine Eltern reißten nun auch weg, und er zog mit seinen wenigen Habseeligkeiten bei dem Hauboisten F… ein, dessen Frau insbesondre sich schon von seiner Kindheit an, seiner mit angenommen hatte. — Es herrschte bei diesen Leuten, die keine Kinder hatten, die größte Ordnung in der Einrichtung ihrer Lebensart, welche vielleicht nur irgendwo statt finden kann. Da war nichts, keine Bürste und keine Scheere, was nicht seit Jahren seinen bestimmten angewiesenen Platz gehabt hätte. Da war kein Morgen, der anbrach, wo nicht um acht Uhr Kaffee getrunken, und um neun Uhr der Morgenseegen gelesen worden wäre, welches allemal knieend geschahe, indes die Frau F… aus dem Benjamin Schmolke vorlaß, wobei denn Reiser auch mit knieen mußte. Des Abends nach neun Uhr wurde auf eben die Art indem jeder vor seinem Stuhle kniete, auch der Abendseegen aus dem Schmolke gelesen, und dann zu Bette gegangen. Dies war die unverbrüchliche Ordnung welche von diesen Leuten schon seit beinahe zwanzig Jahren, wo sie auch beständig auf derselben Stube gewohnt hatten, war beobachtet worden. Und sie waren gewiß dabei sehr glücklich, aber sie durften auch schlechterdings durch nichts darin gestört werden, wenn nicht zugleich ihre innre Zufriedenheit, die gröstentheils auf diese unverbrüchliche Ordnung gebaut war, mit darunter leiden sollte. Dieß hatten sie nicht recht erwogen, da sie sich entschlossen, ihre Stubengesellschaft mit jemanden zu vermehren, der sich unmöglich auf einmal in ihre seit zwanzig Jahren etablirte Ordnung, die ihnen schon zur andern Natur geworden war, gänzlich fügen konnte.

Es konnte also nicht fehlen, daß es ihnen bald zu gereuen anfieng, daß sie sich selbst eine Last aufgebürdet hatten, die ihnen schwerer wurde, als sie glaubten. Weil sie nur eine Stube und eine Kammer hatten, so mußte Reiser in der Wohnstube schlafen, welches ihnen nun alle Morgen, so oft sie herein traten, einen unvermutheten Anblick von Unordnung machte, dessen sie nicht gewohnt waren, und der sie wirklich in ihrer Zufriedenheit störte. — Anton merkte dieß bald, und der Gedanke, lästig zu seyn, war ihm so ängstigend und peinlich, daß er sich oft kaum zu husten getrauete, wenn er an den Blicken seiner Wohlthäter sahe, daß er ihnen im Grunde zur Last war. — Denn er mußte doch seine wenigen Sachen nun irgendwo hinlegen, und wo er sie hinlegte, da störten sie gewissermaßen die Ordnung, weil jeder Fleck hier nun schon einmal bestimmt war. — Und doch war es ihm nun unmöglich, sich aus dieser peinlichen Lage wieder herauszuwickeln. — Dieß alles zusammengenommen versetzte ihn oft Stundenlang in eine unbeschreibliche Wehmuth, die er sich damals selber nicht zu erklären wußte, und sie anfänglich bloß der Ungewohnheit seines neuen Aufenthaltes zuschrieb.

Amanda Palmer via Connie Dee, Amanda Fucking Palmer, Pinterest, 2014Allein es war nichts als der demüthigende Gedanke des Lästigseyns, der ihn so danieder druckte. Hatte er gleich bei seinen Eltern, und bei dem Hutmacher L… auch nicht viel Freude gehabt, so hatte er doch ein gewisses Recht da zu seyn. Bei jenen, weil es seine Eltern waren, und bei diesem, weil er arbeitete. — Hier aber war der Stuhl worauf er saß eine Wohlthat. — Möchten dieß doch alle diejenigen erwägen, welche irgend jemanden Wohlthaten erzeigen wollen, und sich vorher recht prüfen, ob sie sich auch so dabei nehmen werden, daß ihre gutgemeinte Entschließung dem Bedürftigen nie zur Quaal gereiche.

Das Jahr, welches Reiser in dieser Lage zubrachte, war, obgleich jeder ihn glücklich prieß, in einzelnen Stunden und Augenblicken, eines der qualvollsten seines Lebens.

Reiser hätte sich vielleicht seinen Zustand angenehmer machen können, hätte er des nur gehabt, was man bei manchen jungen Leuten ein insinuantes Wesen nennt. Allein zu einem solchen insinuanten Wesen gehört ein gewisses Selbstzutrauen, das ihm von Kindheit auf war benommen worden; um sich gefällig zu machen, muß man vorher den Gedanken haben, daß man auch gefallen könne. — Reisers Selbstzutrauen mußte erst durch zuvorkommende Güte geweckt werden, ehe er es wagte, sich beliebt zu machen. — Und wo er nur einen Schein von Unzufriedenheit andrer mit ihm bemerkte, da war er sehr geneigt, an der Möglichkeit zu verzweifeln, jemals ein Gegenstand ihrer Liebe oder ihrer Achtung zu werden. Darum gehörte gewiß ein großer Grad von Anstrengung bei ihm dazu, sich selber Personen als einen Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit vorzustellen, von denen er noch nicht wußte, wie sie seine Zudringlichkeit aufnehmen würden.

Dass ich mich darüber so komparativ ausbreite, könnte dem aufmerksamen Leser sagen, dass ich selber ein Problem damit hab, und damit hätte der aufmerksame Leser recht: Auch mir ist Geben seliger denn Nehmen. Lieber mit Hurra Arm und Haxen brechen als einmal mit ausgewichenem Blick verhuscht „danke“ murmeln müssen; nur „bitte“ ist schlimmer. Meine künftige Pflegekraft, die noch innerhalb dieser Generation ihre Ausbildung abschließen müsste, beneide ich nicht. Wenn ich mal regelmäßiger auf Hilfe angewiesen bin als „Kann ich mal das Salz haben — bitte?“, Gnade allen Beteiligten Gott.

Amanda Palmer reading live on stage The Art of Asking, Facebook, 8. April 2015

Bilder: Karl Friedrich Klischnig für Karl Philipp Moritz
via Münchner Digitalisierungszentrum, Digitale Bibliothek;
Amanda Palmer von hinten: via Connie Dee: Amanda Fucking Palmer, 2014;
Amanda Palmer von vorn: via From the inside cover of The Art of Asking
und reading live on stage The Art of Asking, 8. April 2015.

Soundtrack: Amanda Palmer: Ich bau dir ein Schloss,
live beim Wiener Standard Player, 5. November 2016,
ohne die anerkannte Schnulze von Heintje 1967 als minderwertig zu denunzieren:

Written by Wolf

28. September 2018 at 00:01

The admirable symmetry of her person

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Update for Zwischennetzsurferey:

Perhaps, after all, it is possible to read too many novels.

Jane Austen, op. cit., 1817.

Felicity Jones as Catherine Morland in Northanger Abbey, 2007

In Northanger-Abbey-the-book, the heroine „in training“ Catherine Morland is not in terms driven by Jane Austen’s society novels, but by Ann Radcliffe’s Gothic novels, explicitly by The Mysteries of Udolpho, 1794.

In Northanger-Abbey-the-film, Catherine Morland’s most circumstantial quotation is neither from Austen nor Radcliffe, but Matthew Gregory Lewis, explicitly from The Monk, 1796:

——— Matthew Gregory Lewis:

The Monk: A Romance

J. Saunders, Masterford 1796,
in: Jon Jones: Northanger Abbey, 2007,
as read by Felicity Jones as Catherine Morland:

Felicity Jones as Catherine Morland in Northanger Abbey, 2007The Friar pronounced the magic words and a thick smoke arose over the magic mirror. At length, he beheld Antonia’s lovely form. She was undressing to bathe herself and the amorous monk had full opportunity to observe the voluptuous contours and admirable symmetry of her person as she drew off her last garment.

At this moment, a tame linnet flew towards her, nestled its head between her breasts and nibbled them in wanton play. Ambrosio could bear no more. The blood boiled in his veins and a raging fire rushed through his limbs.

„l must possess her,“ he cried. „No, no, Ambrosio. I shall no longer be able to combat my passions. I am convinced with every moment, that I have but one alternative… I must enjoy you, or die!“

Today, we might regret Ms. Austen’s decision not to refer to herself in extent, since Northanger Abbey – her fifth, however first completed novel, and first one to be published posthumously, which is 19 years after its first draft –, offered plenty of space for self parody. We might even more regret Jon Jones‘ decision, due to dramatic brevity and tension, to feature only some neatly trimmed peak selections from Lewis‘ Chapters 2 and 7. Most of all, we might regret everybody’s decision not to feature Felicity Jones in a film adaptation of The Monk.

Film and images: Jon Jones: Northanger Abbey, ITV Studios London, WGBH-TV Boston, 2007.

Felicity Jones as Catherine Morland in Northanger Abbey, 2007

Written by Wolf

21. September 2018 at 00:01

Veröffentlicht in Ehestand & Buhlschaft, Romantik

Mit dem Faust im Ranzen

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Update zu The Metrum is the Message
und Mephisto ist ein mieser Verräter
(So schreitet in dem engen Bretterhaus den ganzen Kreis der Schöpfung aus):

Faktum 1: Am Montag, den 10. September 2018 hat in Bayern, wie immer als dem letzten Bundesland, die Schule wieder angefangen. Faktum 2: Am 14. September 2018 erscheint die neue CD von LEA namens Zwischen meinen Zeilen, die ein Soundtrack-Lied für Das schönste Mädchen der Welt enthält.

——— Deutschlandfunk Kultur:

Germanistin über Umgang mit klassischer Literatur:
Vereinfachen ist der falsche Weg.
Beate Kennedy im Gespräch mit Dieter Kassel

Donnerstag, 6. September 2018:

Wie kann man Schüler für klassische Literaturstoffe interessieren? Ein Weg könnte radikale Vereinfachung sein – wie in der Filmkomödie „Das schönste Mädchen der Welt„, der aus Cyrano de Bergerac einen Rapper macht. […]

Aber ist es eigentlich ein sinnvoller Weg, einen klassischen Stoff aus einem Roman oder einem Theaterstück so stark modernisiert und vereinfacht zu präsentieren, zum Beispiel auch an Schulen, damit heutige Schülerinnen und Schüler das Ganze überhaupt noch verstehen?

Das wollen wir jetzt von Beate Kennedy wissen. […]

Beate Kennedy: Guten Morgen, Herr Kassel! […]

Kassel: Aber wenn wir ein in Deutschland an Berühmtheit nicht mehr zu übertreffendes Beispiel nehmen, Goethes „Faust“, dann ist es natürlich so, dieses Grundmotiv des Menschen, der seine Seele an den Teufel verkauft, dieses Grundmotiv war selbst zu Goethes Zeit schon sehr alt. Das hat er nicht erfunden, er hat nur dieses geniale Theaterstück daraus gemacht.

Wenn Sie nun sagen, ich möchte aber nicht die Grundidee des Seelenverkaufs allein thematisieren im Unterricht, sondern ich möchte diesen Text von Johann Wolfgang von Goethe vermitteln, heißt das ja, dann geht es nicht mehr um den Inhalt, sondern um die Sprache, oder?

Kennedy: Ja, ganz genau. Da geht es um die Sprache und eben um das, was wir als meisterhaft gelungene Form empfinden, wo wir eben sagen, da hat jemand ein Grundmotiv so auf den Punkt gebracht, dass es mustergültig ist und dass wir uns daran auch dann kreativ abarbeiten können.

Kreativ heißt, wir müssen es natürlich dann immer für uns selbst in seiner Bedeutung erschließen. Ein Beispiel jetzt aus meinem Unterricht. Wir haben hier Profiloberstufe, da wählen also die Schüler nach Neigung, und wo man Mathematiker hat, die logisch denken können, empfiehlt es sich vielleicht dann, die Annotationen von Goethe sich besonders anzuschauen oder die Entwicklung des Charakters anhand eines Zeitstrahls auch zu visualisieren, also viel mit dem Computer zu arbeiten, viel mit Listen zu arbeiten, mit logischen Verknüpfungen zu arbeiten, die es ja bei Goethe reichlich gibt. Also die Sprache systematisch, wie ein Philologe es eben auch macht, zu analysieren.

Oder in einer anderen Klasse, die vielleicht eher haptisch orientiert ist, also sich einfach an visuellen Bildern berauscht, ist es natürlich dann ganz empfehlenswert, gleich ins Theater zu gehen, wo die Theater sowieso heutzutage die sind, die die Stoffe noch mal für die heutige Jugend auch interessant und spannend präsentieren.

Das schönste Mädchen der Welt, Tobis Film 2018, IMDbMeine Rede seit Jahren: Der Faust ist berühmt und, nun ja, eben „klassisch“ aus mancherlei Gründen, aber bestimmt nicht wegen seiner dramaturgisch durchoptimierten, todspannenden Handlung mit wunder wie überraschenden Wendungen, vom Ende ganz zu schweigen: Die Expertendiskussion, ob jetzt eigentlich Gott oder der Teufel (oder Faust? oder gar Gretchen?) gewonnen hat, hält an.

Die bis auf weiteres gern kolportierte Tatsache, dass die Soldaten des Ersten Weltkriegs allesamt „mit dem Faust im Tornister“ ins Feld gezogen seien, den sie selbstverständlich bis dahin in der Kneipe gern mit verteilten Rollen gelesen hatten, ist keine „aus heutiger Sicht befremdliche Überzeugung“ — was ich langsam wirklich mal aus Wikipedia herauseditieren muss — hängt eben nur nicht mit dem Bildungshunger faustischer Existenzen zusammen, falls es im Schützengraben mal allzu langweilig hergehen sollte, sondern damit, dass der Kaiser auf Staatskosten die Reclamheftchen austeilen ließ. Das einzig Befremdliche daran ist, dass derselbe Kaiser für seinen Krieg tatsächlich die Schulbuben rekrutierte, die keinen Tornister, sondern einen Schulranzen tragen sollten.

Dann doch lieber nach Frau Dr. Kennedys Empfehlung die Entwicklung von Charakteren anhand eines Zeitstrahls visualisieren, wie immer das gehen soll. Um den Faust zu wertschätzen oder — was zulässig wäre — zu gegenteiligen Resultaten zu gelangen, bleibt also, wieder nach Dr. Kennedy, die Sprache dem Philologen gleich systematisch zu analysieren. Das gibt auch wirklich einiges her: The Metrum is the Message; das war einer meiner hiesigen Einträge mit dem höchsten Aufwand, von dessen Erkenntnissen ich bis heute persönlich zehre. Da kann es gut sein, dass ein Schüler, der nicht aus freien Stücken auf dergleichen verfallen wird, unter Anleitung was fürs Leben mitnimmt.

Die ebenfalls empfohlenen „Annotationen von Goethe“ finden sich übrigens in Buchform am besten in der aktualisierten Frankfurter Ausgabe als Taschenbuch oder in der Reclam-Studienausgabe; die historisch-kritische Faust-Edition ist zur Stund noch in der Beta-Phase, kommt aber noch.

In diesem Sinne noch die angenehm aufrichtige Moderatorenfrage vom Schluss des angeführten Interviews:

Kassel: Wir haben eigentlich keine Zeit mehr, aber ich kann es nicht lassen: Glauben Sie, wer Goethes „Faust“ versteht, versteht definitiv auch eine moderne Gebrauchsanleitung?

Kennedy: Ja, das ist möglich, wenn diejenigen, die diese Gebrauchsanleitung schreiben, daran denken, dass Menschen geführt werden wollen und eben auch das Fremde erklärt haben wollen. Und das Fremde nicht verklausulieren oder nur ansatzweise beschreiben.

Wichtig wäre mir eben, dass man da auch digital und analog immer nebenher hat. Mir geht es ja so, als promovierte Literaturwissenschaftlerin bin ich teilweise nicht in der Lage, die Gebrauchsanweisung meiner Aufnahmegeräte zu verstehen oder meines Autos — also eine Gebrauchsanweisung, wenn die eben nur digital verfügbar ist, ich aber im Auto ganz konkret, ganz analog auf der Straße stehe und gerade jetzt ein Problem habe, dann erwarte ich eigentlich, dass ich noch den gedruckten Text möglichst bebildert auch vor Augen habe.

Kassel: Das war, glaube ich jetzt ein schönes Beispiel für das Phänomen „Dumme Frage, kluge Antwort“. Frau Kennedy, ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch!

Kennedy: Ja, Danke auch, Herr Kassel, auf Wiederhören!

Kassel: Wiederhören. Beate Kennedy war das, Lehrerin und Literaturwissenschaftlerin, über Sinn und Unsinn von Vereinfachung und von Klassikern an der Schule.

Das schönste Mädchen der Welt, Tobis Film 2018, IMDb

Das schönste Mädchen der Welt: via IMDb, 2018.

Soundtrack — nämlich zu Das schönste Mädchen der Welt:
LEA & Cyril: Immer wenn wir uns sehn, aus: Zwischen meinen Zeilen, 2018:

Und weil das, wie fühlende Menschen bemerken werden, nicht mitanzuhören ist,
noch was wirklich Schönes als Bonus Track:
Miley Cyrus: Wildflowers von Tom Petty, aus: Wildflowers, 1994:

Written by Wolf

14. September 2018 at 00:01

Veröffentlicht in Herrschaft & Revolte, Klassik

Nachtstück 0016: Du nicht

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Update zu Des eigenen Herzens süße Melodie und
Jean Paul, sein erster Kuss, meine Bedienung und ich:

Paloma Lanna Wool via Surmise-en-scene, 13. November 2014——— Peter Rosegger:

Heb Dich weg und küss mich nicht!

in: Mein Lied (Vollständige Sammlung).
Über 180 Titel in einem Buch:
Heimat + Liebe + Welt + Hölle + Himmel,
Musaicum Books — Innovative digitale Lösungen
& Optimale Formatierung —
2017 OK Publishing:

Heb‘ Dich weg und küss‘ mich nicht!
Du nicht, ich bitte Dich,
Ein Kuß von Dir — o, küss‘ mich nicht!
Ein Kuß, er wär‘ mein Tod.
Kleine Schelmin, lächle nicht!
Du nicht; — blick‘ mich nicht an!
Das traute Du, o nenn‘ es nicht!
Sprich nichts, kein Wort zu mir!
O laß mich gehn, berühr‘ mich nicht!
Ich weiß, mein Kind, Du liebst mich nicht.
Und ist nicht auch die Seele mein,
Den Leib allein, den mag ich nicht.

Sprich nichts, kein Wort zu mir:
Paloma Lanna Wool via Surmise-en-scene,
13. November 2014.

Den Leib allein, den mag ich nicht:
Hundreds: Spotless, aus: Wilderness, 2016:

Written by Wolf

7. September 2018 at 00:01

Du hast genug geflennt

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Update zu Das Angedenken der Zuckerlust:

Um wenigstens auf meinem eigenen Speicherplatz nicht zu nerven aufhören zu müssen: Ich sammle Gedichte mit siebenzeiligen Strophen, und wenn jemandem eins auffällt, mag er es mir bitte nicht verschweigen, danke für die Aufmerksamkeit.

Besonders aufmerksam war dieser Tage — das ist: am 24. August 2018 um 20.40 Uhr — der Leser Hugo H., dem ein für hiesige Begriffe funkelnagelneues Gedicht aus drei siebenzeiligen Strophen aufgefallen ist.

Der Schuldchoral II von Robert Gernhardt, Gott hab ihn selig, stammt aus seinem letzten Gedichtband Später Spagat, schon posthum aus seinem Todesjahr 2006. Selber liegen mir leider nur seine Gesammelten Gedichte 1954–2004 von 2005 vor, darin als späteste Sammlung Die K-Gedichte von 2004.

Freiheit bedeutet, eine Auswahl zu haben. So kann ich mir jetzt aussuchen, ob ich mir die inzwischen aktualisierten Gesammelten Gedichte 1954–2006 oder den Späten Spagat als Einzelband anschaffe, damit ich an maßgebender Stelle nachschauen kann, ob Hugo H. richtig zitiert hat. Nicht dass ein persönlicher Zweifel daran bestünde, aber zum Beispiel Gernhardt schreibt sich, mit Verlaub, hinten mit dt. Berufskrankheit.

Robert Gernhardt hat seine siebenzeiligen zweifellos als Lutherstrophen gemeint, wobei er den jeweils siebten Vers nicht frei verwaisen, sondern, wie von diesem Großmeister der eingängigen Verheiratung von Form und Inhalt nicht anders zu erwarten, souverän im Reimschema ababccb ins Schloss schnappen lässt, — und Hugo H. bekommt für seinen Einsatz ein schönes Belohnungsbuch geschickt. Wenn er mir seine Adresse verrät.

——— Robert Gernhardt:

Schuldchoral II

aus: Später Spagat, 2006:

O Robert hoch in Schulden
Vor Gott und vor der Welt,
Was mußt du noch erdulden,
Bevor dein Groschen fällt?
Durch Speien und durch Kotzen,
Läßt der sich nichts abtrotzen,
Der auch dein Feld bestellt.

Dein Feld trägt lauter Dornen
Und Disteln ohne End.
Wie um dich anzuspornen:
Du hast genug geflennt.
Beim Rupfen und beim Jäten
Läßt der wohl mit sich reden,
Den man den Vater nennt.

Dein Vater starb im Morden,
Da warst du noch ein Kind.
So bist du nicht geworden,
Wie andre Menschen sind.
Und mußt dich doch ergeben,
Du hast nur dieses Leben.
Mach also nicht so’n Wind.

Freiheit, sagte ich, bedeutet, eine Auswahl zu haben. Das hat man jetzt, wenn man sich die Gesamtausgaben voreilig kauft, solange die Leute noch leben.

Memphis Green, 2017

Unbekannte Leserin: Memphis Green für Coffee Clubbers, beide auf Tumblr deaktiviert, 2017:

I don’t really have a favorite genre of book. I love fantasy, classics, biographies, and an occasional self help book. Right now I’m reading Ballet and Modern Dance: A Concise History by Jack Anderson. I have a lot of issues with reading comprehension so I usually end up reading most paragraphs twice. Haha. xo Memphis

Soundtrack zum in jeder Hinsicht zentralen Vers „Du hast genug geflennt“ aus dem Schuldchoral II:
Martin Luther featuring Paula Bär-Giese als Katharina von Bora: Das — selbstverständlich siebenzeilige — Auß tieffer noth schrei ich zu dir, 1523, nach Psalm 130, ca. 6. Jahrhundert v. C., für LUTHER 500, 2016 ff.:

Written by Wolf

2. September 2018 at 00:01