Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Archive for Mai 2022

Das Ungeheuer von Laster, das nicht einmal den Namen Feigheit verdient

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Update zu Weder Schuh und weder Strümpf (und einen Striffel um den Hals),
Ein Haufen belebter Maschinen, welche von der Natur hervor getrieben worden wären, für sie zu arbeiten,
Gefühl kann man zu Markt nicht bringen, doch Manuskripte jederzeit,
Адвент 1: Über Nacht bin ich tot
und Makkaroni, Melonen und Feigen, musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine commode Religion:

Lady Schnaps, Suitcases & Goldfishes – Liézey, featuring Mélanie, Vogesen August 2013

Je mehr sie zerstören und plündern, je mehr man ihnen gibt und je mehr man ihnen dient, desto stärker und kraftvoller, alles zu zernichten und zu zerstören, werden sie; aber sobald man ihnen nichts mehr gibt, sobald man ihnen nicht mehr gehorcht, stehen sie, ohne dass es weiterer Gewalttätigkeit bedarf, nackt und kraftlos da und sind nichts mehr und dörren ab, gleich der Pflanze, welcher man die Feuchtigkeit und Nahrung entzogen hat.

Das schreibt Étienne de La Boétie 1548 über Tyrannen, was wir auf heutige Verhältnisse übersetzen dürfen: über jegliche übergeordnete Instanzen, die ein freies Subjekt regieren.

Als Grundaussage halten wir fest: Tyrannei, ja jede Form der Bevormundung wäre nicht möglich ohne jemanden, der sie zulässt, also eine gewisse Freiwilligkeit. Was von den falschen Händen zur Täter-Opfer-Umkehr, vulgo Victim blaming im Munde herumgedreht werden kann, ist als Grundkonstellation gut durchbegründet und hat, ob La Boétie recht hat oder nicht, schon als theoretische Möglichkeit etwas Befreiendes. Trotzig aufkeimend erreicht uns hier eine Auffassung, ohne die eine Französische Revolution nicht mögllich gewesen wäre.

Lady Schnaps, Suitcases & Goldfishes – Liézey, featuring Mélanie, Vogesen August 2013

Das alte Paradox: Wenn es jeder lesen würde, hätte es niemand schreiben müssen. Was ein vielleicht sechzehn-, vielleicht achtzehnjähriger Franzose ungefähr im Jahr 1548 auf seinem heißen Herzen hatte, muss man uns Heutigen wieder als „zeitlos“ und „hochaktuell geblieben“ andienen – aber so hat es sich ergeben: Jemand musste es sagen.

Insofern ist es wieder typisch, dass der Discours de la servitude volontaire, in deutschen Abhandlungen gern als die Abhandlung apostrophiert, Wikipedia-Artikel in elf Sprachen hat, nur keinen in der deutschen – und ich bin fürs erste auch zu faul, einen anzulegen. Beziehen wir uns also auf den quasi-originalen: Der Volltext jener Abhandlung ist leider noch auf dem Stand vom Mai 2017 mangelhaft durch Quellen oder externe Links belegt – und nie perfekt, aber oft brauchbar übersetzt von Google.

In seiner Vergangenheit ist es nicht mit Sicherheit nachzuverfolgen, kann aber gut sein, dass erst Michel de Montaigne in seinem Essai Buch 1, Nr. XXVIII De l’amitié, der sehr viel weiter verbreitet ist und nachdrücklicher auf Details durchforscht wird, die revolutionäre Schrift seines drei Jahre älteren, in der Rückschau kleiner gebliebenen, aber besten Freundes La Boétie für das Interesse der Nachwelt gerettet hat. Dafür spricht Montaignes anrührende Beschreibung eines verlorenen Alter ego, das man biographisch als niemand anders denn La Boétie einordnen kann. Vor die Welt die Abhandlung zuerst nur fragmentarisch in der noch weithin geläufigen Lingua franca Latein 1574, die erste deutsche Übersetzung entstand 1593.

Empfohlene Würdigungen und Fachliteratur kommen von

Die Übersetzung von Johann Benjamin Erhard als Ueber freiwillige Knechtschaft und Alleinherrschaft steht sogar noch in einem zweiten Scan online jedem, den es interessiert oder nicht, zur Verfügung. Allerdings ist das kein ernsthafter Ersatz für die wunderschöne, engagierte und wünschenswert mit allem möblierte Ausgabe Étienne de La Boétie: Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft, vollständige Ausgabe bei Limbus Preziosen, Nachwort Bernd Schuchter, 88 Seiten. Kleinformat, Limbus, Innsbruck 2019.

If you like it, buy it — nein: Si vous l’aimez, achetez-le. Es folgt eine gemeinfreie, vollständige deutsche Version:

Lady Schnaps, Suitcases & Goldfishes – Liézey, featuring Mélanie, Vogesen August 2013

——— Étienne de La Boétie:

Von der freiwilligen Knechtschaft des Menschen

ca. 1548, ca. 18-jährig,
Übs. Gustav Landauer, 1910:

Vorbemerkung des Übersetzers

Étienne de La Boëtie hat von 1530 bis 1563 gelebt; die vorliegende Schrift ist vor dem Jahr 1550 von ihm verfaßt worden, vor mehr als 360 Jahren also. Sie kursierte schon bei Lebzeiten des jungen Verfassers, der in seiner Verborgenheit blieb, in Abschriften; eine solche Abschrift kam in die Hände Michel Montaignes, der darum seine Bekanntschaft suchte und sein Freund wurde. Den revolutionären Republikanern, die in den nächsten Jahrzehnten in England, den Niederlanden und Frankreich gegen den Absolutismus kämpften und die man die Monarchomachen nennt, muß die Schrift wohl bekannt gewesen sein. Aus dem Kreise dieser französischen Revolutionäre des 16. Jahrhunderts heraus ist sie auch zuerst gedruckt worden – gegen Montaignes Willen, dessen widerspruchsvolle Äußerungen auf seine behutsame Vorsicht zurückzuführen sind. Diese Herausgeber gaben der Schrift den treffenden Namen „Le Contr’un“, der sich nicht ins Deutsche übersetzen läßt; den Sinn würde wiedergeben die Fremdwörterübersetzung: Der Anti-Monos, wobei unter Monos eben der Eine, der Monarch zu verstehen wäre, als dessen grundsätzlicher Gegner der Verfasser auftritt. Später ist die Abhandlung dann doch von den Herausgebern von Montaignes Essais anhangsweise dem Essai über die Freundschaft, der zu großem Teil Etienne de la Boëtie gewidmet ist, beigegeben, aber immer nur als eine Art literarisches Kuriosum betrachtet worden, bis in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Lameunais die politische Bedeutsamkeit der grundlegenden Schrift erkannte. Näheres über den Zusammenhang, in den diese einzige Erscheinung gehört, habe ich in meinem Buche „Die Revolution“ gesagt.

Gustav Landauer

Lady Schnaps, Suitcases & Goldfishes – Liézey, featuring Mélanie, Vogesen August 2013

Feigheit

i>“Mehrern Herren untertan sein, dieses find‘ ich schlimm gar sehr, Nur ein einziger sei Herrscher, einer König und nicht mehr“, so sagt Ulysses bei Homer vor versammeltem Volke. Hätte er nur gesagt: „Mehreren Herren untertan sein, dieses find‘ ich schlimm gar sehr“, so wäre das eine überaus treffliche Rede gewesen; aber anstatt daß er, wenn er mit Vernunft reden wollte, gesagt hätte, die Herrschaft von mehreren könnte nichts taugen, weil schon die Gewalt eines einzigen, sowie er sich als Herr gebärdet, hart und unvernünftig ist, fuhr er gerade umgekehrt fort:

„Nur ein einziger sei Herrscher, einer König und nicht mehr.“

Immerhin jedoch kann Ulysses entschuldigt werden; etwa mußte er diese Sprache führen und sie klüglich benutzen, um die Empörung des Kriegsvolks zu sänftigen; mich dünkt, er hat seine Rede mehr den Umständen als der Wahrheit angepaßt. Um aber in guter Wahrheit zu reden, so ist es ein gewaltiges Unglück, einem Herrn untertan zu sein, von dem man nie sicher sein kann, ob er gut ist, weil es immer in seiner Gewalt steht, schlecht zu sein, wenn ihn das Gelüste anwandelt; und gar mehrere Herren zu haben, ist gerade so, als ob man mehrfachen Grund hätte, gewaltig unglücklich zu sein. Gewißlich will ich zur Stunde nicht die Frage erörtern, die schon mehr als genug abgedroschen ist; ob nämlich die andern Arten der Republiken besser seien als die Monarchey. Wenn ich darauf kommen wollte, dann müsste ich, ehe ich ausforschte, welchen Rang die Monarchey unter den Republiken haben soll, erst ausmachen, ob sie überall einen haben darf, denn es ist schwerlich zu glauben, daß es in dieser Form der Regierung, wo alles Einem gehört, irgendwas von gemeinem Wesen gebe. Aber diese Frage bleibe einer andern Zeit überlassen und müßte wohl in einer sonderlichen Abhandlung geprüft werden wobei ich freilich fürchte, daß die politischen Streitigkeiten alle miteinander aufs Tapet kämen.

Für dieses Mal will ich nur untersuchen, ob es möglich sei und wie es sein könne, daß so viele Menschen, so viele Dörfer, so viele Städte, so viele Nationen sich manches Mal einen einzigen Tyrannen gefallen lassen, der weiter keine Gewalt hat, als die, welche man ihm gibt; der nur soviel Macht hat, ihnen zu schaden, wie sie aushalten wollen; der ihnen gar kein Übel antun könnte, wenn sie es nicht lieber dulden als sich ihm widersetzen möchten. Es ist sicher wunderbar und doch wieder so gewöhnlich, daß es einem mehr zum Leid als zum Staunen sein muß, wenn man Millionen über Millionen von Menschen als elende Knechte und mit dem Nacken unterm Joch gewahren muß, als welche dabei aber nicht durch eine größere Stärke bezwungen, sondern (scheint es) lediglich bezaubert und verhext sind von dem bloßen Namen des EINEN, dessen Gewalt sie nicht zu fürchten brauchen, da er ja eben allein ist, und dessen Eigenschaften sie nicht zu lieben brauchen, da er ja in ihrem Fall unmenschlich und grausam ist. Das ist die Schwäche bei uns Menschen: wir müssen oft der Stärke botmäßig sein; kommt Zeit, kommt Rat; man kann nicht immer der Stärkere sein. Wenn demnach eine Nation durch kriegerische Gewalt gezwungen ist, Einem zu dienen, wie die Stadt Athen den dreißig Tyrannen, dann darf man nicht darüber staunen, daß sie dient, sondern darf nur das Mißgeschick beklagen: oder man soll vielmehr nicht staunen und nicht klagen, sondern das Übel geduldig tragen und ein besseres Glück in der Zukunft erwarten.

Unsre Natur ist also beschaffen, daß die allgemeinen Pflichten der Freundschaft ein gut Teil unsres Lebens in Anspruch nehmen; das Gute, das man von Einem empfangen hat, dankbarlich zu erkennen und oft auf ein Teil seiner Bequemlichkeit zu verzichten, um die Ehre und den Gewinn dessen, den man liebt und der es verdient, zu erhöhen. Wenn demnach die Einwohner eines Landes eine große Persönlichkeit gefunden haben, einen Mann, der die Probe einer großen Voraussicht, um sie zu behüten, einer großen Kühnheit, um sie zu verteidigen, einer großen Sorgfalt, um sie zu leiten, bestanden hat; wenn sie um dessentwillen sich entschließen, ihm zu gehorsamen und ihm dergestalt zu vertrauen, daß sie ihm etliche Vorteile über sich einräumen, so weiß ich nicht, ob das klug wäre, insofern man ihn von da wegnimmt, wo er gut tat, und ihn an eine Stelle befördert, wo er schlimm tun kann: aber gewiß ist es der menschlichen Güte zu Gute zu halten, daß sie von einem solchen nichts Schlimmes fürchten mag, der ihr nur Gutes getan hat.

Aber mein Gott! was kann das sein? wie sagen wir, daß das heißt? was für ein Unglück ist das? oder was für ein Laster? oder vielmehr was für ein Unglückslaster? Daß man nämlich eine unendliche Zahl Menschen nicht gehorsam, sondern leibeigen sieht; nicht geleitet, sondern unterjocht; Menschen, die nicht Güter noch Eltern, noch Kinder, noch ihr eigenes Leben haben, das ihnen selber gehört! Daß sie die Räubereien, die Schindereien, die Grausamkeiten nicht einer Armee, nicht einer Barbarenhorde, gegen die man sein Blut und sein Leben kehrt, dulden, sondern eines einzigen Menschleins, das oft gar der feigste und weibischste Wicht in der ganzen Nation ist; eines Menschen, der nicht an den Pulverrauch der Schlachten, sondern kaum an den Sand der Turnierspiele gewöhnt ist; nicht eines solchen, der gewaltiglich Männer befehligen kann, sondern eines solchen, der ein jämmerlicher Knecht eines armseligen Weibchens ist! Werden wir das Feigheit nennen? Werden wir sagen, daß diese Knechte Tröpfe und Hasen sind? Wenn zwei, wenn drei, wenn vier sich eines Einzigen nicht erwehren, dann ist das seltsam, aber immerhin möglich; dann kann man schon und mit gutem Recht sagen, es fehle ihnen an Herzhaftigkeit; wenn jedoch hundert, wenn tausend unter einem Einzigen leiden, dann sagt man doch wohl, daß sie sich nicht selbst gehören wollen, nein, daß sie es nicht wagen; und das nennt man nicht mehr Feigheit, sondern Schmach und Schande. Wenn man aber sieht, wie nicht hundert, nicht tausend Menschen, sondern hundert Landschaften, tausend Städte, eine Million Menschen sich eines Einzigen nicht erwehren, der alle miteinander so behandelt, daß sie Leibeigene und Sklaven sind, wie könnten wir das nennen? Ist das Feigheit?

Lady Schnaps, Suitcases & Goldfishes – Liézey, featuring Mélanie, Vogesen August 2013

Von der Freiheit und Trägheit eines Volkes

Alle Laster haben ihre natürlichen Grenze, die sie nicht überschreiten können: zwei Menschen, vielleicht auch noch zehn, können Einen fürchten; aber wenn tausend, wenn eine Million, wenn tausend Städte mit Einem nicht fertig werden, dann ist das keines Weges Feigheit; soweit geht sie nicht; ebenso wenig wie sich die Tapferkeit so weit erstreckt, daß ein Einziger eine Festung stürmt, eine Armee angreift, ein Königreich erobert. Welches Ungeheuer von Laster ist das also, das nicht einmal den Namen Feigheit verdient? das keinen Namen findet, weil die Natur keinen so scheußlichen gemacht hat, weil die Zunge sich weigert, ihn auszusprechen?

Man stelle fünfzigtausend bewaffnete Männer auf eine Seite und ebenso viele auf die andere; man ordne sie zur Schlacht; sie sollen handgemein werden: die einen sollen freie Männer sein, die für ihre Freiheit kämpfen, die andern sollen ausziehen, um sie ihnen zu rauben: welchen von beiden wird vermutungsweise der Sieg in Aussicht zu stellen sein? Welche, meint man, werden tapferer in den Kampf gehen? Diejenigen, die zum Lohne für Ihre Mühen die Aufrechterhaltung ihrer Freiheit erhoffen, oder diejenigen, die für die Streiche, die sie versetzen oder empfangen, keinen andern Preis erwarten können, als die Knechtschaft der andern? Die einen haben immer das Glück ihres bisherigen Lebens, die Erwartung ähnlichen Wohlstands in der Zukunft vor Augen; es kommt ihnen nicht so sehr zu Sinn, was sie in der kurzen Spanne einer Schlacht durchzumachen, wie was sie, ihre Kinder und all ihre Nachkommenschaft für immer zu ertragen haben. Die andern haben zu ihrer Erkühnung nur ein kleines Quentchen Begehrlichkeit, das sich gegen die Gefahr verblendet, das aber nicht so gar glühend sein kann, vielmehr mit dem kleinsten Blutstropfen, der aus ihren Wunden fließt, erlöschen muß. Gedenke man nur an die hochberühmten Schlachten des Miltiades, Leonidas, Themistokles, die vor zweitausend Jahren geschlagen worden sind und noch heute so frisch im Gedächtnis der Bücher und Menschen leben, als hätten sie ehegestern in Griechenland zum Heil des griechischen Volkes und der ganzen Welt Exempel sich zugetragen; was, glaubt man wohl, gab einer so kleinen Schar wie den Griechen nicht die Gewalt, sondern den Mut, dem Ansturm so vieler Schiffe, daß das Angesicht des Meeres von ihnen verändert wurde, standzuhalten; so viele Nationen zu überwinden, die in so gewaltigen Massen angerückt waren, daß das Häuflein Griechen den feindlichen Armeen noch nicht einmal die Hauptleute hätte stellen können? Was anders, als daß es uns dünkt, in jenen glorreichen Tagen sei gar nicht die Schlacht der Griechen gegen die Perser geschlagen worden, sondern der Sieg der Selbständigkeit über die Tyrannei und der Freiheit über die Willkür!

Seltsam genug, von der Tapferkeit zu vernehmen, welche die Freiheit ins Herz derjenigen trägt, die zu ihrem Schutze erstehen; aber was alle Tage in allen Ländern von allen Menschen getan wird, daß ein einziger Kerl hunderttausend Städte notzüchtigt und ihnen die Freiheit raubt, – wer möchte es glauben, wenn er nur davon reden hörte und es nicht vor Augen sähe? Und wenn es nur bei fremden Völkern und in entfernten Ländern zu sehen wäre und man davon erzählte, wer möchte nicht sagen, eine so unwahrscheinliche Geschichte müßte erdichtet und erfunden sein? Noch dazu steht es so, daß man diesen einzigen Tyrannen nicht zu bekämpfen braucht; man braucht sich nicht gegen ihn zur Wehr zu setzen; er schlägt sich selbst. Das Volk darf nur nicht in die Knechtschaft willigen; man braucht ihm nichts zu nehmen, man darf ihm nur nichts geben; es tut nicht not, daß das Volk sich damit quäle, etwas für sich zu tun; es darf sich nur nicht damit quälen, etwas gegen sich zu tun. Die Völker lassen sich also selber hunzen und schuriegeln, oder vielmehr, sie lassen es nicht, sie tun es, denn wenn sie aufhörten, Knechtsdienste zu leisten, wären sie frei und ledig; das Volk gibt sich selbst in den Dienst und schneidet sich selber die Gurgel ab; es hat die Wahl, untertan oder frei zu sein und läßt seine Freiheit und nimmt das Joch; es fügt sich in sein Elend und jagt ihm gar nach. Wenn es das Volk etwas kostete, seine Freiheit wieder zu erlangen, würde es sich nicht beeilen, obwohl es nichts Köstlicheres geben kann, als sich wieder in den Stand seines natürlichen Rechtes zu setzen und sozusagen aus einem Tier wieder ein Mensch zu werden; aber ich gebe nicht einmal zu, daß es die Sicherheit des Lebens und die Bequemlichkeit ist, die es der Freiheit vorzieht. Wie! Wenn man, um die Freiheit zu haben, sie nur wünschen muß; wenn weiter nichts dazu not tut, als einfach der Wille, sollte sich wirklich eine Nation auf der Welt finden, der sie zu teuer ist, wenn man sie mit dem bloßen Wunsche erlangen kann? Eine Nation, der es leid täte, zu wollen, was um den Preis des Blutes nicht zu teuer erkauft wäre? Nach dessen Verlust alle Menschen, die auf Ehre halten, das Leben widerwärtig und den Tod eine Erlösung nennen müssten? Gewisslich, ganz ebenso, wie das Feuer eines Fünkleins groß wird und immer mehr zunimmt und, je mehr es Holz findet, um so gieriger entbrennt; und wie es, ohne daß man Wasser herzuträgt, um es zu löschen, wenn man bloß kein Holz mehr daran legt und es nichts mehr zu lecken hat, sich in sich selbst verzehrt und formlos wird und kein Feuer mehr ist: also werden die Tyrannen, je mehr sie rauben, je mehr sie heischen, je mehr sie wüsten und wildern, je mehr man ihnen gibt, je mehr man ihnen dient, um so stärker und kecker zum Vernichten und alles Verderben; und wenn man ihnen nichts mehr gibt, wenn man ihnen nicht mehr gehorcht, stehen sie ohne Kampf und ohne Schlag nackt und entblößt da und sind nichts mehr; wie eine Wurzel, die keine Feuchtigkeit und Nahrung mehr findet, ein dürres und totes Stück Holz wird.

Wenn die Kühnen das Gut erlangen wollen, nach dem ihnen der Sinn steht, fürchten sie keine Gefahr; die Vorsichtigen scheuen die Mühe nicht; die Feigen und Trägen können weder dem Übel standhalten noch das Gute erobern; sie begnügen sich damit, es zu wünschen; die Tugend aber, die Hand danach zu recken, enthält ihre Feigheit ihnen vor; nur der Wunsch, es zu haben, wohnt in ihnen von Natur. Dieser Wunsch, dieser Wille, ist den Weisen und den Toren, den Mutigen wie den Feigen gemein; sie wünschen alle Dinge, in deren Besitz sie glücklich und zufrieden sein möchten; ein einziges ist zu nennen, von dem ich nicht weiß, wie die Natur den Menschen den Wunsch darnach versagt haben kann: das ist die Freiheit, die doch ein so großes und köstliches Gut ist, daß, wenn sie verloren ist, alle Übel angerückt kommen und selbst die guten Dinge, die noch geblieben sind, ihren Duft und ihre Würze verlieren, weil die Knechtschaft sie verderbt hat: die Freiheit allein begehren die Menschen nicht, aus keinem andern Grunde, dünkt mich, als weil sie, wenn sie ihrer begehrten, die Freiheit hätten; wie wenn sie nur darum verschmähten, diese schöne Beute zu machen, weil sie zu leicht ist.

Lady Schnaps, Suitcases & Goldfishes – Liézey, featuring Mélanie, Vogesen August 2013

Über die Natur des Menschen

O ihr armen, elenden Menschen, ihr unsinnigen Völker, ihr Nationen, die auf euer Unglück versessen und für euer Heil mit Blindheit geschlagen seid, ihr laßt euch das schönste Stück eures Einkommens wegholen, eure Felder plündern, eure Häuser berauben und den ehrwürdigen Hausrat eurer Väter stehlen! Ihr lebet dergestalt, daß ihr getrost sagen könnt, es gehöre euch nichts; ein großes Glück bedünkt es euch jetzt, wenn ihr eure Güter, eure Familie, euer Leben zur Hälfte euer Eigen nennt; und all dieser Schaden, dieser Jammer, diese Verwüstung geschieht euch nicht von den Feinden, sondern wahrlich von dem Feinde und demselbigen, den ihr so groß machet, wie er ist, für den ihr so tapfer in den Krieg ziehet, für dessen Größe ihr euch nicht weigert, eure Leiber dem Tod hinzuhalten. Der Mensch, welcher euch bändigt und überwältiget, hat nur zwei Augen, hat nur zwei Hände, hat nur einen Leib und hat nichts anderes an sich als der geringste Mann aus der ungezählten Masse eurer Städte; alles, was er vor euch allen voraus hat, ist der Vorteil, den ihr ihm gönnet, damit er euch verderbe. Woher nimmt er so viele Augen, euch zu bewachen, wenn ihr sie ihm nicht leiht? Wieso hat er so viele Hände, euch zu schlagen, wenn er sie nicht von euch bekommt? Die Füße, mit denen er eure Städte niedertritt, woher hat er sie, wenn es nicht eure sind? Wie hat er irgend Gewalt über euch, wenn nicht durch euch selber? Wie möchte er sich unterstehen, euch zu placken, wenn er nicht mit euch im Bunde stünde? Was könnte er euch tun, wenn ihr nicht die Hehler des Spitzbuben wäret, der euch ausraubt, die Spießgesellen des Mörders, der euch tötet, und Verräter an euch selbst? Ihr säet eure Früchte, auf daß er sie verwüste; ihr stattet eure Häuser aus und füllet die Scheunen, damit er etliches zu stehlen finde; ihr zieht eure Töchter groß, damit er der Wollust fröhnen könne; ihr nähret eure Kinder, damit er sie, so viel er nur kann, in den Krieg führe, auf die Schlachtbank führe; damit er sie zu Gesellen seiner Begehrlichkeit, zu Vollstreckern seiner Rachbegierden mache; ihr rackert euch zu Schanden, damit er sich in seinen Wonnen räkeln und in seinen gemeinen und schmutzigen Genüssen wälzen könne; ihr schwächet euch, um ihn stärker und straff zu machen, daß er euch kurz im Zügel halte: und von so viel Schmach, daß sogar das Vieh sie entweder nicht spürte, oder aber nicht ertrüge, könnt ihr euch frei machen, wenn ihr es wagt, nicht euch zu befreien, sondern nur es zu wollen. Seid entschlossen, keine Knechte mehr zu sein, und ihr seid frei. Ich will nicht, daß ihr ihn verjaget oder vom Throne werfet; aber stützt ihn nur nicht; und ihr sollt sehen, daß er, wie ein riesiger Koloß, dem man die Unterlage nimmt, in seiner eigenen Schwere zusammenbricht und in Stücke geht.

Aber freilich, die Ärzte raten gut, wenn sie warnen, man solle die Hand nicht in unheilbare Wunden legen; und es ist nicht weise von mir, das Volk in diesem Stück tadeln zu wollen, das schon seit langem nichts mehr von der Freiheit weiß und dessen Krankheit sich gerade dadurch als tödlich erweist, daß es sein Übel nicht mehr spürt. Suchen wir also, wenn es irgend zu ermachen ist, herauszubekommen, wie sich dieser hartnäckige Wille zur Botmäßigkeit so eingewurzelt hat, daß es jetzt scheint, als ob sogar die Freiheitsliebe nicht so natürlich wäre.

Zum ersten steht es, dünkt mich, außer Zweifel, daß wir, wenn wir nach den Rechten, welche die Natur uns verliehen hat, und nach ihren Lehren lebten, in natürlicher Art gehorsam den Eltern, untertan der Vernunft und niemand zu eigen wären. Des Gehorsams, den jedweder, ohne weitern Zuruf als seiner Natur, zu Vater und Mutter in sich findet, sind alle Menschen sich inne, jeder in sich und für sich. Ob die Vernunft uns eingeboren ist oder nicht, worüber die Akademiker geteilter Meinung sind und was jede philosophische Schule für sich entscheiden muß, davon, meine ich, genügt es zur Stunde, soviel zu sagen: es gibt in unserer Seele irgendwie eine natürliche Ansaat von Vernunft, die, wenn sie durch guten Rat und Sitte gehegt wird, zur Tugend erblüht, gegenteils aber, wenn sie sich oft gegen die aufschießenden Laster nicht halten kann, erstickt, verkümmert und eingeht. Aber gewißlich, wenn irgend etwas klar und natürlich einleuchtend ist, und wogegen niemand blind sein darf, ist das: die Natur, die Gehülfin Gottes und die Lenkerin der Menschen, hat uns alle in derselben Form und sozusagen nach dem nämlichen Modell gemacht, damit wir uns einander als Genossen oder vielmehr als Brüder erkennen sollten; und wenn sie bei der Austeilung der Geschenke, die sie uns gespendet hat, die einen am Körper oder am Geist mehr bevorzugt hat wie die andern, so war es doch nicht ihre Meinung, uns in diese Welt wie in ein Kriegslager zu setzen und sie hat nicht die Stärkeren und Gewitzteren auf die Erde geschickt, damit sie wie bewaffnete Räuber im Wald, über die Schwächeren herfallen sollten; vielmehr muß man glauben, daß sie, wenn sie dergestalt den einen die größern und den andern die kleinem Gaben schenkte, der brüderlichen Liebe Raum schaffen wollte, damit sie habe, wo sie sich betätigen könne: die einen haben die Macht, Hilfe zu leisten, und die andern die Not, sie zu empfangen.

Da nun also diese gute Mutter uns alle aus dem nämlichen Teige geknetet hat, damit jeglicher Mensch sich in dem andern spiegeln und einer im andern sich gleichsam selber erkennen kann; wenn sie uns allen zur gemeinsamen Gabe die Stimme und die Sprache gegeben hat, um uns noch traulicher zueinander zu bringen und zu verbrüdern und durch den Umgang und den gegenseitigen Austausch der Gedanken eine Gemeinschaft unseres Willens zu schaffen; und wenn sie mit allen Mitteln versucht hat, den Knoten unseres Bundes und unserer Gesellschaft zu Stücken gezeigt hat, daß sie uns alle nicht sowohl vereinigt als ganz eins hat machen wollen: dann gibt es keinen Zweifel, daß wir alle Genossen sind und es darf keinem zu Sinn steigen, die Natur habe irgend einen in Knechtschaft gegeben.

Lady Schnaps, Suitcases & Goldfishes – Liézey, featuring Mélanie, Vogesen August 2013

Drei Arten von Tyrannen

In Wahrheit ist es ganz nichtig, darüber zu streiten, ob die Freiheit natürlich ist, da man keinen in Knechtschaft halten kann, ohne ihm Unrecht zu tun, und da nichts in der Welt der Natur (die völlig vernünftig ist) so entgegen ist wie die Unbill. So bleibt zu sagen, daß die Freiheit natürlich ist, und in derselben Art, nach meiner Meinung, daß wir nicht nur im Besitz unserer Freiheit, sondern auch mit dem Trieb, sie zu verteidigen, geboren werden. Wenn wir nun daran zweifeln können und wenn wir so entartet sind, daß wir unsere Eigenschaften und unsere ursprünglichen Triebe nicht zu erkennen scheinen, dann tut es not, daß ich euch die Ehre erweise, die euch zukommt, und die wilden Tiere sozusagen aufs Katheder stelle, damit sie euch eure Natur und Verfassung lehren. Denn bei Gott, wenn die Menschen nicht gar zu taub sind, rufen ihnen die Tiere zu: Es lebe die Freiheit! Etliche unter ihnen sterben, wenn sie in Gefangenschaft geraten: wie der Fisch, der das Leben aufgibt, wenn er aus dem Wasser kommt so schwinden sie dahin und wollen ihre natürliche Freiheit nicht überleben. Ich meine, wenn es bei den Tieren Rangstufen und Vorrechte gäbe, dann wäre die Freiheit ihr Adel. Die andern, von den größten bis zu den kleinsten, setzen ihrer Gefangennahme mit Krallen, Hörnern, Füßen und Schnäbeln so heftigen Widerstand entgegen, daß darin genugsam zum Ausdruck kommt, wie wert ihnen das ist, was sie verlieren; wenn sie dann gefangen sind, geben sie uns so lebhafte Zeichen von ihrer Kenntnis ihres Unglücks, daß sie von Stund an mehr hinschmachten als leben, und daß sie ihr Dasein mehr fortsetzen, um ihr verlorenes Glück zu beklagen, als nun sich in der Knechtschaft wohlzufühlen.

Da also alles, was Empfindung hat, unter der Unterjochung leidet und der Freiheit nachgeht; da die Tiere, wenn sie schon vom Menschen vergiftet und an die Knechtschaft gewöhnt sein könnten, sich doch noch dagegen auflehnen und ihren Widerwillen kundgeben: was für ein Unglück hat den Menschen so unnatürlich machen können, daß er, der wahrhaftig nur zur Freiheit geboren ist, die Erinnerung an sein erstes Wesen und das Verlangen, wieder zu ihm zu kommen, verloren hat?

Es gibt drei Arten Tyrannen (ich meine die schlechten Fürsten): die einen haben die königliche Gewalt kraft der Wahl des Volkes; die andern durch die Gewalt ihrer Waffen; die dritten auf Grund der Erbfolge ihres Geschlechtes. Diejenigen, so das Königtum vermöge des Kriegsrechts erworben haben, führen sich derart darin auf, daß man wohl merkt, daß sie, wie man sagt, in erobertem Lande hausen. Die, so als Könige zur Welt kommen, sind gemeiniglich nicht viel besser; sie sind mit dem Blut der Tyrannei geboren und aufgewachsen, sie saugen mit der Muttermilch die Tyrannenart ein und springen mit den Völkern, die unter ihnen stehen, wie mit ihren vererbten Leibeigenen um; und je nach ihrem Charakter, ob sie nun habgierig oder verschwenderisch sind, tun sie mit dem Königreich wie mit ihrem Erbe. Derjenige, dem das Volk das Königreich anvertraut hat, sollte, dünkt mich, erträglicher sein; und er wäre es auch, glaube ich, wenn nicht von dem Augenblick an, wo er sich über die andern so hoch erhoben weiß, die Eitelkeit über ihn käme, daß er so groß dasteht; und nun beschließt er von dem Orte nicht mehr zu wanken; die Macht, die das Volk ihm geliehen hat, will er nun seinen Kindern vererben. Sowie die Tyrannen dieser Sorte nun so weit gekommen sind, ist es erstaunlich, wie sie in Lastern aller Art, selbst in der Grausamkeit über die andern hinausgehen; sie sehen kein anderes Mittel, um die neue Tyrannei zu sichern, als die Knechtschaft zu verstärken und die Untertanen der Freiheit, wenn auch die Erinnerung an sie noch frisch ist, so sehr zu entfremden, daß sie ihnen selbige rauben können. Um also die Wahrheit zu sagen, so gibt es zwischen ihnen allerdings einen gewissen Unterschied, aber Vorzug kann ich keinen erkennen, und so verschieden die Mittel sind, durch die sie zur Herrschaft kommen, so ist doch die Manier der Herrschaft immer recht ähnlich: die Erwählten regieren, wie wenn sie Stiere gefangen hätten und sie zähmen wollten; die Eroberer verfahren mit den Untertanen wie mit Ihrer Beute; und die Erbfürsten wie mit ihren natürlichen Sklaven.

Aber gesetzt den Fall, es kämen heute etliche Völker ganz neu zur Welt, die nicht an die Untertänigkeit gewöhnt und auch nicht auf Freiheit erpicht wären, und sie sollten von der einen wie der andern nichts wissen und kaum die Namen gehört haben: wenn man denen die Wahl ließe, entweder untertan oder frei zu sein, wofür würden sie sich entscheiden? jeder sieht ein, daß sie lieber der Vernunft gehorchen als einem Menschen dienstbar sein wollten; es müßten denn nur die Völker Israels sein, die sich ohne Zwang und ohne irgend eine Not einen Tyrannen gemacht haben: die Geschichte welchen Volkes ich nie lesen kann, ohne so großen Abscheu zu haben, daß ich bis zur Unmenschlichkeit gehe und mich über die vielen Leiden freue, die ihnen daraus zugestoßen sind. Aber sonst muß es für alle Menschen gewiß, wenn sie nur einigermaßen Menschen sind, ehe sie sich unterjochen lassen, eines von zweien geben: entweder sie werden gezwungen oder betrogen. Gezwungen von fremder Waffengewalt, wie Sparta und Athen durch die Streitkräfte Alexanders, oder von den Parteien, so wie die Landesherrlichkeit von Athen ehbevor in die Hände des Pisistratus gekommen war. Durch Betrug verlieren sie oft die Freiheit, und dabei werden sie nicht so oft von andern überlistet wie von sich selber getäuscht: so wie das Volk von Syrakus, der Hauptstadt von Sizilien, die heute Saragossa heißt, als es im Kriege bedrängt war, nur an die Gefahr dachte und Dionys zu seinem Obersten machte und ihm die Führung des Heeres übertrug; es achtete nicht darauf, daß es ihn so groß gemacht hatte, daß dieser Verschmitzte, als er als Sieger heimkehrte, sich, wie wenn er nicht die Feinde, sondern seine Mitbürger besiegt hätte, aus dem Kriegshauptmann zum König und aus dem König zum Tyrannen machte.

Es ist nicht zu glauben, wie das Volk, sowie es unterworfen ist, sofort in eine solche und so tiefe Vergessenheit der Freiheit verfällt, daß es ihm nicht möglich ist, sich zu erheben, um sie wieder zu bekommen. Es ist so frisch und so freudig im Dienste, daß man, wenn man es sieht, meinen könnte, es hätte nicht seine Freiheit, sondern sein Joch verloren. Im Anfang steht man freilich unter dem Zwang und ist von Gewalt besiegt; aber die, welche später kommen und die Freiheit nie gesehen haben und sie nicht kennen, dienen ohne Bedauern und tun gern, was ihre Vorgänger gezwungen getan hatten. Das ist es, daß die Menschen unter dem Joche geboren werden; sie wachsen in der Knechtschaft auf, sie sehen nichts anderes vor sich, begnügen sich, so weiter zu leben, wie sie zur Welt gekommen sind und lassen es sich nicht in den Sinn kommen, sie könnten ein anderes Recht oder ein anderes Gut haben, als das sie vorgefunden haben; so halten sie den Zustand ihrer Geburt für den der Natur. Und doch gibt es keinen so verschwenderischen und nachlässigen Erben, daß er nicht manchmal in sein Inventarverzeichnis blickte, um sich zu überzeugen, ob er alle Rechte seines Erbes genieße oder ob man ihm oder einem Vorgänger etwas entzogen habe. Aber gewiß hat die Gewohnheit, die in allen Dingen große Macht über uns hat, nirgends solche Gewalt wie darin, daß sie uns lehrt, Knechte zu sein und (wie man sich erzählt, daß Mithridates sich daran gewöhnte, Gift zu trinken) uns beibringt, das Gift der Sklaverei zu schlucken und nicht mehr bitter zu finden.

Lady Schnaps, Suitcases & Goldfishes – Liézey, featuring Mélanie, Vogesen August 2013

Über die Ursachen freiwilliger Knechtschaft

Wie dem Menschen alle Dinge natürlich sind, von denen er sich nährt und an die er sich gewöhnt, während ihm nur das eingeboren ist, wozu seine einfache und noch nicht veränderte Natur ihn beruft, so ist die erste Ursache der freiwilligen Knechtschaft die Gewohnheit. Sie sagen, sie seien immer untertan gewesen, ihre Väter hätten geradeso gelebt; sie meinen, sie seien verpflichtet, sich den Zaum anlegen zu lassen, und gründen selbst den Besitz derer, die ihre Tyrannen sind, auf die Länge der Zeit, die verstrichen ist; aber in Wahrheit geben die Jahre nie ein Recht, Übel zu tun, sondern sie vergrößern das Unrecht. Es bleiben immer ein paar, die von Natur aus besser Geborene sind: die spüren den Druck des Joches und müssen den Versuch machen, es abzuschütteln. Die gewöhnen sich nie an die Unterdrückung; wie Ulysses, der auf langen Reisen zu Wasser und zu Land sich nach der Heimat und seinem Herde sehnte, vergessen sie nie ihre natürlichen Rechte und gedenken immer der Vorfahren und ihres ursprünglichen Wesens: das sind freilich die, die einen guten Verstand und einen hellen Geist haben und sich nicht wie die große Masse mit dem Anblick dessen begnügen, was ihnen zu Füßen liegt; die nach vorwärts und rückwärts schauen, die Dinge der Vergangenheit herbeiholen, um die kommenden zu beurteilen und die gegenwärtigen an ihnen zu messen; das sind die, welche von Haus aus einen wohlgeschaffenen Kopf haben und ihn noch durch Studium und Wissenschaft verbessert haben; diese würden die Freiheit, wenn sie völlig verloren und ganz aus der Welt wäre, in ihrer Phantasie wieder schaffen und sie im Geiste empfinden und ihren Duft schlürfen; die Knechtschaft schmeckt ihnen nie, so fein man sie auch servieren mag.

Der Sultan hat das wohl gemerkt, daß die Bücher und die Ausbildung den Menschen mehr als sonst irgend etwas den Sinn geben, zum Bewußtsein zu kommen und die Knechtschaft zu hassen, und darum gibt es in seinem Lande nicht mehr Gelehrte, als er zuläßt. Nun bleibt gewöhnlich der Eifer und die Begeisterung derer, die der Zeit zum Trotz die Hingebung an die Freiheit bewahrt haben, so groß auch ihre Zahl sein mag, ohne Wirkung, weil sie sich untereinander nicht kennen: die Freiheit zu handeln und zu reden, ja sogar zu denken, ist ihnen unter dem Tyrannen ganz geraubt; sie bleiben in ihren Phantasien ganz vereinzelt: und Momus hatte nicht Unrecht, als er an dem Menschen, den Vulkan gemacht hatte, das zu tadeln fand, daß er ihm nicht ein Fensterchen vor dem Herzen angebracht hatte, damit man seine Gedanken sehen konnte.

Und doch, wer Geschehnisse der Vergangenheit und die alten Geschichtsbücher durchgeht, wird finden, daß die, welche ihr Vaterland in schlechter Verfassung und in schlimmen Händen sahen und es unternahmen, es zu befreien, fast immer ans Ziel gelangt sind, und daß die Freiheit sich selbst zum Durchbruch verhilft: Harmodius, Aristogiton, Thrybul. Brutus der Ältere, Valerius und Dion waren in der Ausführung ebenso glücklich, wie ihr Denken das rechte war: in diesem Fall fehlt dem guten Willen fast nie das Glück. Brutus der jüngere und Cassius waren in der Befreiung vom Joch sehr glücklich; aber als sie eben die Freiheit zurückbrachten, starben sie, nicht kläglich, denn was für ein Tadel läge darin, wenn man sagte, wie man sagen muß, daß an diesen Männern weder im Tod noch im Leben etwas zu tadeln war? Aber sie starben zum großen Schaden und ewigen Unglück und völligen Untergang der Republik, die wirklich, dünkt mich, mit ihnen ins Grab gelegt worden ist. Die andern Unternehmungen gegen die späteren römischen Kaiser waren nur Verschwörungen von Ehrgeizigen, die wegen des Mißgeschicks, das sie traf, nicht zu beklagen sind: sie wollten den Tyrannen verjagen und es bei der Tyrannei lassen. Denen wünschte ich gar nicht, daß ihr Unternehmen geglückt wäre; es ist mir ganz recht, daß sie mit ihrem Beispiel gezeigt haben, daß der heilige Name der Freiheit nicht zu Unternehmungen der Bosheit mißbraucht werden darf.

Aber um auf meinen Faden zurückzukommen, den ich fast verloren hätte: der erste Grund, warum die Menschen freiwillig Knechte sind, ist der, daß sie als Knechte geboren werden und so aufwachsen. Aus diesem folgt ein zweiter: daß nämlich die Menschen unter den Tyrannen leicht feige und weibisch werden. Mit der Freiheit geht wie mit einem Mal die Tapferkeit verloren. Geknechtete haben im Kampf keine Frische und keine Schärfe: sie gehen wie Gefesselte und Starre und, als ob’s nicht Ernst wäre, in die Gefahr; in ihren Adern kocht nicht die Glut der Freiheit, die die Gefahr verachten läßt und die Lust hervorbringt, durch einen schönen Tod inmitten der Genossen die Ehre des Ruhms zu erkaufen. Die Freien wetteifern untereinander, jeder kämpft fürs Gemeinwohl und jeder für sich, alle wissen, daß die Niederlage oder aber der Sieg ihre eigene Sache sein wird, während die Geknechteten außer dem kriegerischen Mut auch noch in allen andern Stücken die Lebendigkeit verlieren und ein niedriges und weichliches Herz haben und zu allen großen Dingen unfähig sind. Die Tyrannen wissen das wohl, und tun ihr Bestes, wenn die Völker erst einmal so weit gekommen sind, sie noch schlaffer zu machen.

Die Theater, die Spiele, die Volksbelustigungen und Aufführungen aller Art, die Gladiatoren, die exotischen Tiere, die Medaillen, Bilder und anderer Kram der Art, das waren für die antiken Völker der Köder der Knechtschaft, der Preis für ihre Freiheit, das Handwerkszeug der Tyrannei. Dieses Mittel, diese Praktik, diesen Köder hatten die antiken Tyrannen, um ihre antiken Untertanen unters Joch der Tyrannei zu schläfern. So gewöhnten sich die Völker in ihrer Torheit, an die sie selbst erst gewöhnt waren, an diesen Zeitvertreib, und vergnügten sich mit eitlem Spielzeug, das man ihnen vor die Augen hielt, damit sie ihre Knechtschaft nicht merkten. Die römischen Tyrannen verfielen noch auf etwas weiteres: sie sorgten für öffentliche Schmäuse, damit die Kanaille sich an die Gefräßigkeit gewöhnte: sie rechneten ganz richtig, daß von solcher Gesellschaft keiner seinen Suppentopf lassen würde, um die Freiheit der platonischen Republik wiederherzustellen. Die Tyrannen ließen Korn, Wein und Geld verteilen: und wie konnte man da „Es lebe der König!“ zum Ekel schreien hören! Den Tölpeln fiel es nicht ein, daß sie nur einen Teil ihres Eigentums wiederbekamen und daß auch das, was sie wiederbekamen, der Tyrann ihnen nicht hätte geben können, wenn er es nicht vorher ihnen selber weggenommen hätte. Da hatte einer heute sich auf der Straße nach dem ausgeworfenen Geld gebückt, oder ein anderer hatte sich beim öffentlichen Mahle vollgefressen, und am Tag darauf wurde er gezwungen, sein Hab und Gut der Habgier, seine Kinder der Ausschweifung, sein Blut der Grausamkeit dieser prächtigen Kaiser auszuliefern: da war er stumm wie ein Stein und wagte kein Wort zu sagen und war reglos wie ein Klotz. So ist die Volksmasse immer gewesen: beim Vergnügen, das sie in Ehren nicht bekommen dürfte, ist sie ganz aufgelöst und hingegeben: und beim Unrecht und der Qual, die sie in Ehren nicht dulden dürfte, ist sie unempfindlich.

Lady Schnaps, Suitcases & Goldfishes – Liézey, featuring Mélanie, Vogesen August 2013

Wurzeln der Herrschaft

Ich komme nun zu einem andern Schwindel, den die antiken Völker für bare Münze nahmen. Sie glaubten steif und fest, daß der große Zeh an dem einen Fuße des Pyrrhus, Königs von Epirus, Wunder tun könnte und die Krankheiten der Milz heilte: sie schmückten sogar das Märchen noch weiter aus und erzählten, diese Zehe hätte sich, nachdem der ganze Leichnam verbrannt worden wäre, unversehrt in der Asche gefunden und hätte dem Feuer widerstanden. Immer hat sich so das Volk selbst die Lügen gemacht, die es später geglaubt hat. Als Vespasjan von Assyrien heimkehrte und auf dem Wege nach Rom durch Alexandrien kam, tat er Wunder (siehe Sueton, Das Leben Vespasians, Kapitel 7):

die Lahmen machte er gehend und die Blinden sehend und eine Menge andere schöne Dinge, bei denen der, der den Schwindel nicht merken konnte, blinder war, als die, die er heilte. Selbst die Tyrannen fanden es seltsam, daß die Menschen sich von Einem beherrschen ließen, der ihnen übles tat: sie wollten sich darum die Religion zur Leibgarde machen und borgten, wenn es irgendwie ging, eine Portion Göttlichkeit, um ihrem verruchten Leben eine Stütze zu geben.

Bei uns zu Lande wurden auch so ähnliche Sächelchen gesät: weiße Lilien und heilige Salbgefäße und göttliche Oriflammen und derlei Fähnchen. Wie dem aber auch sei, ich will durchaus keinen Unglauben daran verbreiten, denn wir und unsre Vorfahren haben keine Gelegenheit gehabt, nicht daran zu glauben: wir haben ja immer Könige gehabt, die im Frieden so gut und im Kriege so tapfer waren, daß es, wenn sie schon als Könige geboren wurden, doch scheint, daß sie nicht wie die andern von der Natur dazu gemacht worden sind, sondern schon vor ihrer Geburt vom allmächtigen Gott zur Regierung und zum Schutz dieses Reiches erkoren wurden! Aber auch wenn es nicht so wäre, möchte ich es doch unterlassen, hier mich in einen Streit über die Wahrheit unsrer Geschichten einzulassen … Ich wäre wahrlich toll, wenn ich unsre Überlieferungen leugnen und mich so auf das Gebiet begeben wollte, das unsern Dichtern vorbehalten ist. Aber, um den Faden da wieder aufzunehmen, wo ich ihn, ich weiß nicht, wie’s kam, fallen ließ: ist es nicht allezeit so gewesen, daß die Tyrannen, um sich zu sichern, versucht haben, das Volk nicht nur an Gehorsam und Knechtschaft, sondern geradezu an eine Art religiöse Anbetung ihrer Person zu gewöhnen?

Ich will jetzt von einem Punkt sprechen, der das Geheimnis und die Erklärung der Herrschaft, die Stütze und Grundlage der Tyrannei ist. Wer vermeint, die Hellebarden der Wachen oder die Büchsen der Posten beschütze die Tyrannen, der ist nach meinem Urteil sehr im Irrtum: sie bedienen sich ihrer, glaube ich, mehr zur Form und als Vogelscheuche, als daß sie Vertrauen in sie setzten. Diese Wachen hindern die Ungeschickten, die wehrlos sind, aber nicht Wohlbewaffnete, die zu einem Unternehmen gerüstet sind. Man erinnere sich nur der römischen Kaiser: deren gibt es nicht so viele, die durch die Hilfe ihrer Wachen einer Gefahr entronnen sind, wie solche, die von ihren Wachen umgebracht worden sind. Nicht die Reitertruppen, nicht die Kompagnien der Fußsoldaten, nicht die Waffen schützen den Tyrannen; sondern, man wird es nicht gleich glauben wollen, aber es ist doch wahr, viere oder fünfe sind es jeweilen, die den Tyrannen schützen; viere oder fünfe, die ihm das Land in Knechtschaft halten. Immer ist es so gewesen, daß fünfe oder sechse das Ohr des Tyrannen gehabt und sich ihm genähert haben oder von ihm berufen worden sind, um die Gesellen seiner Grausamkeiten, die Genossen seiner Vergnügungen, die Zuhälter seiner Lüste und die Teilhaber seiner Räubereien zu sein. Diese sechse richten ihren Hauptmann so fein her, daß er für die Gesellschaft nicht bloß den Urheber seiner eigenen Schändlichkeiten, sondern auch der ihrigen vorstellt. Diese sechse haben sechshundert, die unter ihnen schmarotzen, und diese sechshundert verhalten sich zu ihnen, wie diese sechs sich zum Tyrannen verhalten. Diese sechshundert halten sich sechstausend, denen sie einen Rang gegeben haben, die durch sie entweder die Verwaltung von Provinzen oder von Geldern erhalten, damit sie ihrer Habgier und Grausamkeit hilfreiche Hand leisten und sie zur geeigneten Zeit zur Ausführung bringen und überdies so viel Böses tun, daß sie nur unter ihrem Schutz sich halten und unter ihrem Beistand den Gesetzen und der Strafe entgehen können. Davon kommt viel her. Und wer sich das Vergnügen machen will, dem Sack auf den Grund zu gehen, der wird merken, daß sich an diesem Strick nicht die sechstausend, sondern die hunderttausend und Millionen dem Tyrannen zur Verfügung stellen, der sich dieses Seiles bedient wie Jupiter beim Homer, der sich rühmt, wenn er an der Kette zieht, alle Götter zu sich herziehen zu können. Kurz, man bringt es durch die Günstlingswirtschaft, durch die Gewinne und Beutezüge, die man mit dem Tyrannen teilt, dahin, daß es fast ebenso viel Leute gibt, denen die Tyrannei nützt, wie solche, denen die Freiheit eine Lust wäre. Sowie ein König sich als Tyrann festgesetzt hat, sammelt sich aller Unrat und aller Abschaum des Reiches um ihn: ich spreche nicht von kleinen Gaunern und Galgenstricken, die in einem Gemeinwesen nicht viel Gutes oder Böses anstellen können, sondern von denen, die von brennender Ehrsucht und starker Gier befallen sind: sie stützen den Tyrannen, um an der Beute Teil zu haben, und unter dem Haupttyrannen sich selber zu kleinen Tyrannen zu machen. So verfahren auch die großen Diebe und berüchtigten Seeräuber: die einen kundschaften die Gelegenheit aus, die andern überfallen die Reisenden; die einen liegen im Hinterhalt, die andern führen sie hinein; die einen morden und die andern plündern; und dazu gibt es unter ihnen noch Rangunterschiede, die einen sind nur Bediente, und die andern die Führer der Bande, obzwar am Ende alle an der Beute oder wenigstens an der Nachlese Teil haben wollen.

So unterjocht der Tyrann die Untertanen, die einen durch die andern, und wird von eben denjenigen gehütet, vor denen er, wenn sie Männer wären, auf seiner Hut sein müßte. Er schnitzt, wie das Sprichwort sagt, den Keil aus demselben Holze, das er spalten will: das sind seine Wachen, seine Trabanten, seine Jäger. Sie leiden freilich manchmal unter ihm: aber diese Verlorenen, diese von Gott und den Menschen Verlassenen, lassen sich das Unrecht gefallen, und geben es nicht dem zurück, der es ihnen antut, nein, sie geben es an die weiter, die darunter leiden wie sie und sich nicht helfen können.

Manchmal, wenn ich diese Leute betrachte, die untertänig vor der Tür des Tyrannen stehen, um die lieben Diener seiner Tyrannei und der Knechtung des Volkes zu sein, dann staune ich über ihre Schlechtigkeit und habe Mitleid mit ihrer großen Torheit. Denn wahrlich, was bringt ihnen ihre Nähe beim Tyrannen anderes ein, als daß sie sich noch weiter von ihrer Freiheit entfernen und die Sklaverei sozusagen mit beiden Händen packen und an sich reißen? Möchten sie doch ihren Ehrgeiz ein wenig ablegen und einen Augenblick lang von ihrer Gier lassen; möchten sie sich umsehen und sich erkennen: dann werden sie klar sehen, daß die Ackerknechte, die Bauern, die sie nach Kräften mit Füssen treten und schlimmer behandeln als Sträflinge oder Sklaven, trotzdem, so schlimm sie daran sind, im Vergleich zu ihnen glücklich und einigermassen frei zu nennen sind. Der Landmann und der Handwerker, so sehr sie auch geknechtet sind, haben doch nur zu tun, was man ihnen sagt und sind dann ledig; aber der Tyrann hat die, die um ihn sind und um seine Gunst betteln und scharwenzeln, immer vor Augen; sie müssen nicht nur tun, was er will, sie müssen denken, was er will, und müssen oft, um ihn zufrieden zu stellen, sogar seinen Gedanken zuvorkommen. Es genügt nicht, daß sie ihm gehorsam sind; sie müssen ihm gefällig sein; sie müssen sich in seinen Diensten zerreißen und plagen und kaputt machen; sie müssen in seinen Vergnügen vergnügt sein, immer ihren Geschmack für seinen aufgeben, müssen ihrem Temperament Zwang antun und ihre Natur verleugnen, sie müssen auf seine Worte, seine Stimme, seine Winke, seine Augen achten; Augen, Füße, Hände, alles muß auf der Lauer liegen, um seine Launen zu erforschen und seine Gedanken zu erraten. Heißt das glücklich leben? Heißt das leben? Gibt es auf der Welt etwas Unerträglicheres als das, ich sage nicht, für einen Menschen höherer Art, nur für einen mit gesundem Verstand, oder noch weniger, für einen, der Menschenantlitz trägt? Welche Lage ist kläglicher als diese; in nichts sich selbst zu gehören, von einem andern seine Wohlfahrt, seine Freiheit, Leib und Leben zu nehmen?

Aber sie wollen dienen, um Reichtum zu erwerben, wie wenn sie damit etwas erlangen könnten, was ihnen gehört, da sie freilich von sich selbst nicht sagen können, daß sie sich selbst gehören; und, wie wenn einer unter einem Tyrannen etwas Eigenes haben könnte, wollen sie erreichen, daß ihnen der Reichtum zu eigen sei, und sie denken nicht daran, daß sie es sind, die ihm die Macht geben, allen alles zu nehmen.

Der Tyrann wird nie geliebt und kann nie lieben. Freundschaft ist ein heiliger Name, ist eine heilige Sache; Freundschaft knüpft sich nur unter Guten, gründet sich nur auf gegenseitige Achtung; sie entsteht und erhält sich nicht durch eine Wohltat oder irgend eine rechte Tat, sondern durch das rechte Leben. Ein Freund ist des andern gewiß, weil er seine Reinheit kennt; die Bürgen, die er dafür hat, sind seine gute Natur, seine Zuverlässigkeit und seine Treue. Wo Grausamkeit ist, wo Unehrlichkeit ist, wo Ungerechtigkeit ist, da kann nicht Freundschaft sein. Wenn sich die Bösen versammeln, sind sie nicht Genossen, sondern Helfershelfer; sie sind nicht traulich beisammen, sondern ängstlich; sie sind nicht Freunde, sie sind Mitschuldige.

Sehen wir nun, was den Dienern des Tyrannen ihr elendes Leben für einen Lohn einbringt. Das Volk klagt für seine Leiden weniger den Tyrannen an, als die, die ihn lenken: die Völker, die Nationen, alle Welt, bis zu den Bauern und Tagelöhnern, alle kennen ihre Namen, alle wissen ihre Laster auswendig, häufen tausend Flüche auf sie; all ihre Gebete und Wünsche erheben sich gegen sie; jedes Unglück, jede Pest, jede Hungersnot wird ihnen zur Last gelegt; auch wenn sie ihnen manchmal äußerlich Ehren erweisen, verfluchen sie sie im Herzen und verabscheuen sie mehr als wilde Tiere. Sehet da den Ruhm, sehet die Ehre, die ihnen ihre Dienste einbringen; wenn ein jeglicher im Volke ein Stück aus ihren Leibern hätte, wären sie, glaube ich, noch nicht befriedigt und in ihrer Rache gesättigt; aber auch, wenn sie gestorben sind, gibt die Nachwelt ihnen noch keine Ruhe: der Name dieser Volksfresser wird von tausend Federn geschwärzt und ihr Ruhm in tausend Büchern zerrissen und bis auf die Knochen werden sie sozusagen von der Nachwelt gepeinigt, die sie auch nach dem Tode noch für ihr schlechtes Leben bestraft.

Lernen wir also, lernen wir, das Rechte zu tun: heben wir die Augen zum Himmel, um unserer Ehre willen oder aus Liebe zur ewig gleichen Tugend, blicken wir zu Gott dem Allmächtigen auf, dem immerwährenden Zeugen all unserer Taten und dem gerechten Richter unserer Verfehlungen. Ich meinerseits glaube und irre mich nicht, da unserem Gott, der immer sanft und mild ist, nichts so zuwider ist als die Tyrannei, daß er für die Tyrannen und ihre Mitschuldigen dorten noch eine besondere Strafe in Bereitschaft hält.

Lady Schnaps, Suitcases & Goldfishes – Liézey, featuring Mélanie, Vogesen August 2013

Bilder: Lady Schnaps: Suitcases & Goldfishes – Liézey, featuring Mélanie, August 2013, Vogesen:

Ôh Vosges tant aimées. Fin d’été 2013. L’idée trottait déjà depuis un moment de travailler avec des poissons rouges & des valises. Journée rêvée pour s’essayer à tout cela. Nous voilà donc parties, coffre rempli, vers les Hautes Vosges. Certains reconnaitront peut être cette petite utopie de foret, déjà prise comme décor à mes débuts.

Soundtrack: Caleb Klauder Country Band: C’est Le Moment, live August 2013:

Written by Wolf

27. Mai 2022 at 00:01

Veröffentlicht in Herrschaft & Revolte, Renaissance

Als der Bund Spargel einmal tausend Francs kostete

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Update zu Auf der Suche nach den aufgegebenen Blogs,
So eine Art Käse-Cocktail oder Mehl-Flip
und Goethes Kindergartenfutter:

Zu meiner gutbürgerlichen Ausbildung gehörte noch: Spargel gibt’s bis Fronleichnam, danach allenfalls Schwarzwurzeln aus dem Glas. Zur Ausbildung von Marcel Proust und dem Bildungsblogger Silvae gehörten derlei Bauernregeln bestimmt nicht, dafür bringt uns letzterer in seinem Artikel über Spargel vom 12. Juni 2013 auf allerlei künstlerische Darstellungen des Königsgemüses.

Nach Jahrzehnten des Spargelgebrauchs war mir gar nicht bewusst, dass man beim Pinkeln nach dem Zeug riechen soll – ohne mich in hässliche spekulative Details zu verlieren. Nach dem Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache bedeutet das das griechische ἀσπάραγος einfach einen jungen Keim, das spätlateinische asparagus den fetten Keim einer Pflanze, ehe sich die Blätter entwickeln. Allerdings heißt aspergere auch soviel wie bespritzen oder beschmutzen, was der phallischen Symbolik des Spargels entgegenkäme, ohne die kein Bericht über Spargel auskommt, der über Kochrezepte hinausgeht, und die selbst mir bewusst war. Dagegen wird das Asperges me, Domine in der lateinisch-katholischen Messe zum priesterlichen Besprenkeln der Gemeinde mit Weihwasser gesungen, also einem Ritual der Reinigung zum Nachlass der Sünden, und ist dort nicht mit Spargel, sondern Ysop assoziiert. Der galoppierenden Volksetymolgie muss vor allem im Französischen, wo Spargel bis heute l’asperge heißt, Tür und Tor geöffnet sein.

——— Marcel Proust:

Du côté de chez Swann

éditions Bernard Grasset, Paris 1913, übs. Eva Rechel-Mertens 1953 ff.:

Zu der Stunde, da ich hinunterging, um mich nach dem Küchenzettel zu erkundigen, war das Abendessen schon in der Zubereitung begriffen, und Françoise, den hilfreichen Kräften der Natur gebietend wie in den Märchenspielen, in denen Riesen sich als Köche verdingen, klopfte die Kohle klein, brachte Kartoffeln zum Weichwerden in den Dampf und ließ auf dem Feuer kulinarische Meisterwerke gar werden, die zuvor in irdenen Gefäßen, von großen Bottichen, Schüsseln, Kesseln und Fischbassins bis zu Terrinen für die Wildpastete, Kuchenformen und kleinen Rahmschüsselchen, vorbereitet wurden, wozu noch eine vollständige Sammlung von Kochtöpfen aller Größen kam. Ich blieb an einem Tisch stehen, an welchem das Küchenmädchen grüne Erbsen enthülst und dann in abgezählten Häufchen aufgereiht hatte wie kleine grüne Kugeln für ein Spiel; besonders aber die Spargel hatten es mir angetan, die wie mit Ultramarin und Rosa bemalt aussahen und deren in Violett und Himmelblau getauchte Spitze nach dem anderen Ende zu – das noch Spuren des nährenden Ackerbodens trug – lauter Abstufungen von irisierenden Farben aufwies, die nichts Irdisches hatten. Es schien mir, dass diese himmlischen Tönungen das Geheimnis von köstlichen Geschöpfen enthüllten, die sich aus Neckerei in Gemüse verwandelt hatten und durch ihre aus feinem essbaren Fleisch bestehende Verkleidung hindurch in diesen Farben der zartesten Morgenröte, in diesen hinschwindenden Nuancen von Blau jene kostbare Substanz verrieten, die ich noch die ganze Nacht hindurch, wenn ich am Abend davon gegessen hatte, in den nach Art Shakespearescher Feenkomödien gleichzeitig poetischen und derben Possen wiedererkannte, die sie zum Spaße aufzuführen schienen, wenn sie sogar noch mein Nachtgeschirr in ein Duftgefäß umschufen.

Édouard Manet, Bunch of Asparagus, 1880, Spargelbund

An späterer Stelle in Die Welt der Guermantes, die erst 1920 erschien, mokiert sich der Herzog von Guermantes über den Preis eines bloßen Abbildes von Spargel – wie Silvae weiß: ganz entegegengesetzt wie der Bankier und Kunsthistoriker Charles Ephrussi an den Künstler Édouard Manet, indem er ihm freiwillig zuviel zahlte. – Meinte der von Guermantes:

„Swann hatte tatsächlich die Stirn, uns zum Kauf eines Spargelbundes zu raten. Wir haben das Bild daraufhin sogar ein paar Tage im Haus gehabt. Es war nichts weiter als das darauf, ein Bund Spargel, genau wie die, die Sie gerade schlucken, die Spargel von Herrn Elstir aber habe ich nicht geschluckt. Er verlangte dreihundert Francs dafür. Dreihundert Francs für einen Bund Spargel! Einen Louisd’or höchstens sind sie wert, und auch das nur, solange es noch die ersten sind.“

Dagegen Ephrussi laut Silvae:

Manet wollte achthundert Franc für das Bild haben, aber Ephrussi hat ihm tausend gezahlt. Er wusste, dass Édouard Manet in finanziellen Nöten war. Da hat sich Manet auf seine eigene Art und Weise bedankt. Hat dem Monsieur Ephrussi schnell noch eine Spargelstange gemalt und sie mit der kleinen Notiz Il en manquait une à votre botte versehen an den Kunstsammler geschickt.

Édouard Manet, L'Asperge, 1880, 1 Spargel

Luzius Keller, dem wir überall begegnen, wo wir bei Marcel Proust über den Primärtext hinauslesen wollen, abgekürzt: wo wir Marcel Proust lesen wollen, weiß uns das Wesen des Gemüsestilllebens historisch zu verankern:

——— Luzius Keller:

Proust und der Spargel

in: Neue Zürcher Zeitung, 14. November 2009:

Spargelbund und andere Gemüsemotive haben in der Stilllebenmalerei Tradition. So findet sich beispielsweise im Amsterdamer Rijksmuseum ein Spargelbund von Adriaen Coorte (1660–1707), der jenem von Manet erstaunlich ähnlich sieht. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, insbesondere im Umfeld von Impressionismus und Naturalismus, werden jedoch die Gattungen als solche immer mehr in Frage gestellt: Wozu sollen bestimmte Motive auf bestimmte Gattungen beschränkt bleiben? Weshalb sollte ein bestimmtes Motiv an sich wertvoller sein als ein anderes? Bekannt ist das Diktum Max Liebermanns, der in den 1870er Jahren in Paris lebte: „Eine gut gemalte Möhre ist besser als eine schlecht gemalte Madonna“, und in seinem Roman „L’Œuvre“ (1887) lässt Zola seinen Protagonisten, den Maler Etienne Lantier, fragen, ob ein Möhrenbund nicht mehr wert sei als die ewigen Schinken aus der Ecole des Beaux-Arts. Ein erstes Echo auf diese ästhetische Diskussion findet sich in „Guermantes“ in einem Gespräch zwischen Marcel und Norpois, in dem Proust einen Bund Radieschen von Elstir einer Madonna von Hébert gegenüberstellt.

Dass ich nur eine gutbürgerliche Ausbildung voller Bauernregeln, nun ja: genossen habe, erkennt man spätestens daran, dass ich im Ernst nach einem französischen Bild von einem Bund Radieschen gesucht habe, bevor mir dämmerte, dass ein Maler Elstir von Proust ebenso frei erfunden ist wie sein Erzähler Marcel und der Marquis de Norpois. Erfreuen wir uns stattdessen an einem weiteren runden Kilo Spargel von Philippe Rousseau unsicherer Datierung.

Philippe Rousseau, Nature morte aux asperges, ca. 1880, Spargelstillleben

Und selber will man ja auch nicht leben wie ein veganer Hund, wenn schon nicht wie ein französischer Landadliger: Selber erfreut haben wir uns heuer an einem Kilochen vom Penny am Eck Lindwurm-/Zenettistraße, am 14. Mai 2022 für tagesfrische 5,55 Euro, leider in Erdölprodukte eingeschweißt, dafür aus regionalem Anbau. Der Magen isst ja mit, wie der Gutbürgerliche weiß.

1 kg Spargel, Penny, 13. Mai 2022, 5,55 Euro

Bilder:

Soundtrack: Camille Hardouin: Mille bouches, aus: Mille bouches, 2017,
live in la chapelle St Louis de La Rochelle, Comment je me suis mariée avec mille bouches, Juli 2106:

Written by Wolf

20. Mai 2022 at 00:01

Veröffentlicht in Nahrung & Völlerei, Novecento

Blumenstück 008: Zartes, weißes Knospenblümlein, hebe dein Herz

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Update zu Wer hätte da sich um Blumen bekümmert?,
Blumenstück 007: Das Blümchen, das dem Tal entblüht (wenn Krampf dir durch die Nerven glüht)
und Fruchtstück 0004: Der heil’ge Rhythmus in Verselein und Rimelein:

Der Lyrik des Postironismus hinterherspürend kann einem aufmerksamen Leser auffallen, wie rückständig sich eigentlich die Lyriker des Novecento gebärdeten: kein Reim und kein Rhythmus nicht aus Not, sondern als Ideal, der Inhalt nach beliebigen Kriterien in Verse aufgeteilt, und wenn gerade kein Inhalt zur Hand war, umso besser.

Sotane Ansicht klingt heute noch viel rückständiger, als Jörn Pfennig jemals war, aber von der umgekehrten Begeisterung, wie modern uns die alten Recken der wichtigen Jahrhunderte heute noch zu sagen haben, kommt auch nicht mehr Erkenntniswert ums Eck.

Veranschaulichen wir’s am vorgefallenen Beispiel: Auf die Überlegung konnte ich über dem Versuch verfallen, mir Rolf Dieter Brinkmann anzueignen – vorerst antiquarisch, nicht geistig –, und bin dann bei den Polymetern von Jean Paul hängen geblieben.

Was nämlich tut der Aufklärer, Klassiker und Romantiker in einem Jean Paul? Jean Paul geht her und erfindet und kultiviert die halblyrische Form des Streckverses oder Polymeters: rhythmische Prosa, die auf keine Zeilenaufteilung angewiesen ist und sich, wie anarchisch verwildert auch immer, in den sehr viel größeren Rahmen der Romane einfügt. Dem Manne sieht man sogar ein „unbeschreiblich-lieblich lächelnd“ als parodistische Absicht nach. Am Ende hat da die erst später mit Ansage einsetzende Lyrik sogar schon angefangen. Deutschlehrer, übernehmen Sie. Dafür ein paar Schuljahre lang ein, zwei Stunden weniger Erich Fried, ja?

An Bildmaterial waren nur Blümchen mit immerhin weißen Blütenblättern und gelber Mitte aufzutreiben, die thematisch vorgegebenen Convallaria majalis waren zu speziell, flechten sich aber zusammen mit dem Soundtrack der ersten Fun-Punk-Band Deutschlands, den Nürnberger Carsons, doch wieder zum berückendsten Jungfernkranz – … denn ›Wallflower‹ heißt »Goldlack« und Lily of the valley heißt Maiglöckchen.

Try Intimacy, De profil. Mon fils m'a cueilli cette fleur hier, 13. Mai 2014

——— Jean Paul:

Nr. 59. Notenschnecke

angeblich aus dem Poeten-Winkel eines Haslauer Blattes
in: Flegeljahre, Viertes Bändchen, 1805, Cotta, Tübingen 1804 f.:

Sie bat auch um das Setzen des Gesangs; Walt schwur wieder. „Aber sogar um die Verse dazu muß ich Ihren werten Freund angehen“, setzte sie unbeschreiblich-lieblich lächelnd hinzu, „da ich ihn aus unserer Zeitung als einen weichen Dichter des Herzens kenne.“

Ganz froh erstaunt fragte Walt, was Vult darin gemacht. Sie sagt‘ ihm – mit der den Literatoren noch gewöhnlichern Verwechslung gleicher Namen – folgenden Polymeter von ihm selber her:

Das Maiblümchen

Weißes Glöckchen mit dem gelben Klöppel, warum senkst du dich? Ist es Scham, weil du, bleich wie Schnee, früher die Erde durchbrichst als die großen stolzen Farbenflammen der Tulpen und der Rosen? – Oder senkst du dein weißes Herz vor dem gewaltigen Himmel, der die neue Erde auf der alten erschafft, oder vor dem stürmenden Mai? Oder willt du gern deinen Tautropfen wie ein Freuden-Träne vergießen für die junge schöne Erde? – Zartes, weißes Knospenblümlein, hebe dein Herz! Ich will es füllen mit Blicken der Liebe, mit Tränen der Wonne. O Schönste, du erste Liebe des Frühlings, hebe dein Herz!

Walten waren unter dem Zuhören vor Freude und Liebe und vor Dichtkunst die Augen Übergegangen – und Wina hatte mit geweint, ohne es zu merken –; darauf sagt‘ er: „Ich habe wohl den Vers gemacht.“

Try Intimacy, Un peu de dos. Mon fils m'a cueilli cette fleur hier, 13. Mai 2014

Erste Liebe des Frühlings, hebe dein Herz: Try Intimacy: Mon fils m’a cueilli cette fleur hier:
De profil und Un peu de dos, beide 13. Mai 2014, in Flickr erloschen.

Sie bat auch um das Setzen des Gesangs: Carson Sage and the Black Riders:
Red is the Rose, irische Variante eines Scottish Tradtional, arrangiert von M. Nawroth,
aus: Skirl O’Carson, 1991, wiederverwendet in: Walk With an Erection, 1993:

Written by Wolf

13. Mai 2022 at 00:01

Kein Bleiben ist auf Erden

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Update zu Nunc dimittis mit Fried und Freud
und 150 Jahre sind alt genug:

Den originalen Textausschnitt aus The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy muss ich ja nicht eigens hier hereinzerren, weil ich voraussetze, weitgehend geschmackssichere Leser anzuziehen und die verlorenen Seelen sowieso nicht retten kann.

Eine der besonderen Leistungen des Übersetzers Benjamin Schwarz besteht darin, das von Douglas Adams verwendete You’ll Never Walk Alone, einen Musical-Rausschmeißer von 1945, nachmalige Fußballer-„Hymne“, durch das noch viel abgehangenere O Welt, ich muss dich lassen, eine Kantate aus dem Nürnbergischen von 1555 auf eine Melodie von Heinrich Isaac, am bekanntesten als Insprugk, ich muss dich lassen, wiederzugeben. Das hat Größe.

Die Szene wird in der ansonsten recht vergnüglichen Verfilmung 2005 – mit Martin Freeman als Arthur Dent, Zooey Deschanel als Trillian McMillan, Alan Rickman als Stimme von Marvin the Paranoid Android und Stephen Fry vollends aus dem Off nicht verwendet –, vielleicht weil dann Thomas Lennon (nicht verwandt) in seiner Rolle als Stimme des Bordcomputers Eddie hätte singen müssen.

Das ist schade, weil diese Umsetzung von Garth Jennings seitdem weithin die bildliche Vorstellung der Romane prägt; vor allem die von Trillian. Außerdem wäre es eine schöne Kontrafaktur zum Supercomputer HAL 9000 gewesen, der im ansonsten recht überschätzten Stanley-Kubrick-Flaggschiff 2001: Odyssee im Weltraum als Schwanengesang Daisy Bell anstimmt, und damit auch zum einzigen Lied mythischen Ausmaßes, das Frank Zander geleistet hat: Captain Starlight 1979, in dem der Computer „DX4 [Kuckuck] 309, genannt der Ratlose Rudi“ während des Durchschmorens nacheinander Heute blau, morgen blau und Hänschen Klein anstimmt. 1979, das bedeutet ungefähr gleichzeitig mit dem ersten Teil der zitierten Anhalter-Trilogie und war deswegen wohl noch ohne Bezug auf Adams. Nur auf Kubrick, der ein ganzes Filmschaffen lang nie darin nachgelassen hat, um Parodie zu betteln.

Trillian in Burlington socks with Marvin

——— Douglas Adams:

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aus: The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy, 1979,
i. e. Per Anhalter durch die Galaxis, Rogner & Bernhardt, München 1981,
übs. Benjamin Schwarz:

Ungefähr in diesem Augenblick geschah es natürlich, daß sich einer von der Besatzung eine böse Prellung am Oberarm zuzog. Das sollte man besonders hervorheben, denn wie wir ja bereits verraten haben, kommen unsere Freunde ansonsten ohne den geringsten Schaden davon, und auch die tödlichen Atomraketen treffen nicht etwa schließlich doch noch das Raumschiff. Die Sicherheit der Besatzung der „Herz aus Gold“ ist absolut gewährleistet.

„Einschlag in zwanzig Sekunden, Jungs …“, sagte der Computer.

„Dann stell doch die verdammten Triebwerke wieder an!“ schnauzte Zaphod.

„Aber selbstverständlich, Leute“, sagte der Computer. Mit einem subtilen Donner zündeten die Triebwerke, das Raumschiff wurde sanft aus seinem Sturzflug abgefangen und sauste wieder auf die Raketen zu.

Der Computer fing an zu singen.

O Welt, ich muß dich lassen …„, wimmerte er nasal, „ich fahr dahin …

Zaphod schrie ihn an, er solle gefälligst die Klappe halten, aber seine Stimme verlor sich im Getöse dessen, was die vier völlig zu Recht für die auf sie zueilende Katastrophe hielten.

Ich fahr dahin … mein Straßen … ins ewig Vaterland!“ jammerte Eddie.

Als das Raumschiff den Sturzflug abgefangen hatte, flog es mit dem Bauch nach oben weiter, und da nun alle an der Kabinendecke hingen, war es ihnen natürlich auch absolut unmöglich, an die Steuerung heranzukommen.

Mein Geist will ich aufgeben …„, sang Eddie mit Inbrunst.

Die beiden Raketen, die auf das Raumschiff zudonnerten, wurden groß und bedrohlich auf den Monitoren sichtbar.

… dazu mein Leib und Leben …

Durch einen ungewöhnlich glücklichen Zufall hatten die Raketen aber ihre Flugbahn noch nicht exakt korrigiert und schossen genau unter dem ziellos herumkurvenden Raumschiff weg.

Mein Zeit ist nun vollendet … revidierte Zeit bis zum Einschlag fünfzehn Sekunden, Leute … der Tod das Leben endet …

Kreischend vollzogen die Raketen eine Kehrtwendung und gingen wieder auf Zielkurs.

„Das wär’s dann also“, sagte Arthur, der das beobachtete, „jetzt müssen wir also endgültig dran glauben, oder ?“

„Du tätst mir’n Gefallen, wenn du endlich davon aufhören würdest“, sagte Ford.

„Aber es stimmt doch, oder ?“

„Ja.“

Sterben ist mein Gewinn„, sang Eddie.

Da kam Arthur plötzlich ein Gedanke. Er rappelte sich hoch.

„Warum dreht eigentlich keiner dieses Unwahrscheinlichkeitsdingsbums an?“ fragte er. „Da kämen wir doch wahrscheinlich ran.“

„Was, bist du verrückt geworden?“ sagte Zaphod. „Ohne die richtige Programmierung kann alles mögliche passieren.“

„Macht das jetzt noch was aus?“ rief Arthur.

Kein Bleiben ist auf Erden …„, sang Eddie.

Arthur kletterte an einem der enervierend vieleckig gestalteten Simse zwischen der Krümmung der Wand und der Decke nach oben.

… das Ewge muß mir werden …

„Kann mir jemand sagen, warum Arthur den Unwahrscheinlichkeitsdrive nicht einschalten kann?“ schrie Trillian.

Mit Fried und Freud fahr ich dahin … Einschlag in fünf Sekunden, es war nett bei euch, Jungs, Gott segne … Mit Fried und … Freud … fahr ich … dahin!

„Ich fragte soeben“, schrie Trillian, „ob mir jemand sagen kann …“

Was dann passierte, war eine nervenzerfetzende Explosion aus Licht und Lärm.

Staff

Das Liedmaterial:

O Welt, ich muß dich lassen

Anonym aus Nürnberg, ca. 1555:

1     O Welt, ich muß dich lassen,
ich fahr dahin mein Straßen
ins ewig Vaterland.
Mein‘ Geist will ich aufgeben,
dazu mein‘ Leib und Leben
legen in Gottes gnäd’ge Hand.

2     Mein Zeit ist nun vollendet,
Der Tod das Leben schändet,
Sterben ist mein Gewinn;
Kein Bleiben ist auf Erden;
Das Ewig muß mir werden,
Mit Fried und Freud fahr ich dahin.

3     Ob mich gleich hat betrogen
Die Welt von Gott abgzogen
Durch Schand und Büberei;
Will ich doch nicht verzagen
Sondern mit Glauben sagen
Daß mir mein Sünd vergeben sei.

4     Auf Gott steht mein Vertrauen,
Sein Antlitz will ich schauen
Wahrlich durch Jesum Christ,
Der für mich ist gestorben,
Des Vaters Huld erworben
Mein Mittler er auch worden ist.

5     Die Sünd mag mir nicht schanden
Erlöst bin ich aus Gnaden
Umsonst durch Christi Blut;
Kein Werk kömmt mir zu frommen
So ich will zu ihm kommen
Allein durch wahren Glauben gut.

6     Ich bin ein unnütz Knechte
Mein Tun ist viel zu schlechte
Denn daß ich ihm bezahl;
Damit das ewig Leben
Umsonst will er mir geben
Und nicht nach meim Verdienst und Wahl.

7     Drauf will ich fröhlich sterben
Das Himmelreich ererben
Wie er mirs hat bereitt;
Hie mag ich nicht mehr bleiben
Der Tod tut mich vertreiben
Mein Seel sich von meinem Leib scheidt.

8     Damit fahr ich von hinnen
O Welt tu dich besinnen
Wenn du mußt auch hernach;
Tu dich zu Gott bekehren
Und von ihm Gnad begehren
Im Glauben sei du auch nit schwach.

9     Die Zeit ist schon vorhanden
Hör auf von Sünd und Schanden
Und richt dich auf die Bahn;
Mit Beten und mit Wachen
Sonst all irdische Sachen
Solltu gütiglich fahren lan.

10     Das schenk ich dir am Ende
Ade! Zu Gott ich wende
Zu ihm steht mein Begehr;
Hüt dich für Pein und Schmerzen
Nimm mein Abschied zu Herzen
Meins Bleibens ist jetzt nicht mehr hier.

You’ll Never Walk Alone

Richard Rodgers/Oscar Hammerstein II, aus:: Carousel, 1945:

When you walk through a storm
Hold your head up high
And don’t be afraid of the dark

At the end of the storm
Is a golden sky
And the sweet silver song of the lark

Walk on through the wind
Walk on through the rain
Though your dreams be tossed and blown

Walk on walk on with hope in your heart
And you’ll never walk alone
You’ll never walk alone

You’ll never walk alone.

Tonbeispiele:

  1. O Welt, ich muß dich lassen, als BWV 395:
  2. You’ll Never Walk Alone: nicht die üblichen Gerry & The Pacemakers aus How Do You Like It?, 1963,
    sondern – wenn man schon eine britische Science-Fiction-Parodie auf die deutsche Renaissance zurückführen muss – Shirley Jones und Gordon MacRae aus der amerikanischen Musical-Verfilmung 1956:

Und als Bonus Track, weil ich „mit Fried und Freud“ (* 6. Mai 1921 bzw. 1856) Geburtstag hab und mir was wünschen darf und weil Frau Deschanel viel mehr in ihrer Eigenschaft als Musikerin gewürdigt gehört: dieselbe als She & Him: der 1964er Feger von Dusty Springfield Stay Awhile, aus: Classics, 2014:

Bilder featuring Zooey Deschanel als Trillian, die im Film 2005 visuell am meisten hergemacht hat:

  1. Moviepilot: Per Anhalter durch die Galaxis – Bild 32 von 45;
  2. Moria: The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy (2005);
  3. Pun’s House!: Trillian Mcmillan vs. Elizabeth Swann.

Zooey Deschanel as Trillian McMillan in The Hitchhiker's Guide to the Galaxy, 2005, via Pun's House

Written by Wolf

6. Mai 2022 at 00:01