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Sie werden stets die Menschheit quälen: – der Teufel selber holt sie nicht
Update zu Was denn sonst, bei diesem Sauwetter
und Gefühl kann man zu Markt nicht bringen, doch Manuskripte jederzeit:
Das ist nun von jenem Heinrich Hoffmann mit dem Struwwelpeter. Die schwarze Pädagogik hält er offensichtlich seit seinem berüchtigten Kinderbuch 1844 durch, aber in der Ballade aus seinen Humoristischen Studien, die aus siebenzeiligen Strophen besteht, muss man sich nicht so um das Seelenheil einer kindlichen Zielgruppe sorgen.
Die Strophenform mit Schema ABABCCB, das sinnvoll begründet vom einem Sonett unterbrochen wird, rettet das Werk vor dem Ruch der Büttenrede.
Moderne Wiedergaben unterschlagen gern die dritte Strophe mit der Anrede an die Muttersprache.
——— Heinrich Hoffmann:
Wie der Teufel den Schwanz verlor
aus: Humoristische Studien, Literarische Anstalt J. Rütten, Frankfurt am Main 1847, Seite 307 bis 320:
Der Teufel hat den Schwanz verloren,
Er sitzt beschämt daheim und klagt.
So hört mir zu, spitzt eure Ohren!
Die Mähr‘ sei nicht umsonst gesagt.
Vor allen euch, Poeten, gilt es;
Bedient euch gleichen Schirms und Schildes,
Wenn euch einmal der Teufel plagt!
Im Schweiß des Angesichts, des blassen,
Saß einst ein Dichterling und schrieb,
Indeß der Schnee, toll ausgelassen,
Sich um die matten Scheiben trieb.
Doch heute ging es nicht, das Reimen,
Trotz zwängen, flicken, biegen, leimen,
Wie er die Stirn‘ auch glühend rieb.
Du gute, deutsche Muttersprache,
Was bist du ein gesundes Weib!
Wie hat mit Folter man und Plage
Zerschunden dir den schönen Leib!
Und doch voll Kraft die jungen Glieder!
Wann kommt dein Simson, daß er wieder
Zu Paaren die Philister treib‘!
Verzweifelnd nagte an dem Kiele
Der Dichter, plötzlich sprang er auf:
„Zum Teufel mit dem dummen Spiele!
Zu was die Waare, wo kein Kauf?
Die ganze Welt hab‘ ich besungen,
Durch Eis und Wüsten mich gerungen;
Zu Bergen steigt der Hefte Hauf.“
„Allein die Menschheit liegt im Argen;
Die Mode gilt bei Buch und Frack.
Den Lorbeerkranz, den dürren, kargen,
Man wirft ihn weg an Lumpenpack.
Indeß sie meinen glühend heißen
Gesängen kalt den Rücken weisen,
Herrscht allwärts dummer Ungeschmack.“
„Was ich euch biet‘, ist lauter Honig;
Ihr lauft, als wär‘ es saurer Wein!
Wie in dem Pestspitale wohn‘ ich
Mit meinen Versen hier allein.
Verdammtes Recensentenwesen!
Hielt Jemand mir nur aus beim Lesen,
Und sollt’s der Teufel selber sein!“
Kaum hat er dieses Wort gesprochen,
So hört er Schritte auf der Flur,
Dann an der Thür ein leises Pochen.
„Ach, war‘ es ein Verleger nur!
Herein! Herein!“ – O Graus und Schrecken!
Er sieht sich durch die Thüre strecken
Des Satan’s höllische Figur.
Mit Horn und Schwanz und Pferdefüßen
Der Teufel, wie er leibt und lebt,
Nach wechselseitigem Begrüßen
Nun also an zu sprechen hebt:
„Ich hörte Euer Wohlgeboren
Hier oben schimpfen und rumoren,
Daß mir das Herz im Leib gebebt.“
„Drum nahm ich mir heraufzukommen
Die Freiheit, und bin gern bereit
Nach Eurem Wunsch, den ich vernommen,
Euch zuzuhören ein’ge Zeit.
Ist gleich das Publikum ein kleines,
So ist’s geduldig doch wie eines
Nur irgend ringsum weit und breit.“
„Ei, seid willkommen mir, Verehrter!“
Rief lauten Jubels der Poet.
„Ich will Euch lesen, Hochgelehrter,
Mit tausend Freuden, wie Ihr seht.
Hier ist ein Stuhl; kommt, laßt Euch nieder!
Roman, Novelle, Drama, Lieder,
Sagt, was Euch zu Befehle steht!“
„Gemach! Zu was so stürmisch eilen?“
Spricht jener: „Glaubt’s ich bleibe hier!
Doch gebt zuvor mir ein paar Zeilen;
So ist’s bei uns Geschäftsmanier.
Ich schüre unterdes das Feuer;
Mich friert’s hier oben ungeheuer.
Ich bin verwöhnt; verzeiht es mir!“
„Erlaubt, daß ich Euch gleich bediene;
Die Kleinigkeit ist flugs gemacht.“
Indeß er schreibt, hat im Kamine
Der Teufel ’s Feuer angefacht;
Und kaum war er damit zu Ende,
So hat der Dichter schon behende
Ein zierlich Blatt ihm dargebracht.
„Den Reim, den ich hier schreibe, sei’s mein letzter,
Den möcht‘ ich recht mit Gift und Galle tränken,
Dich feiles Publikum damit zu kränken,
Ich ein Poet, ein schnöd zurückgesetzter.
Stumpf ist dein Sinn, ein schmählich ungewetzter;
Blind ist dein Aug‘, ja blind den plumpsten Ränken.
Den Tagesaffen magst du dich verschenken,
Ich mag dich nicht, ich ein gehetzt zerfetzter.
Weltmüde bin ich längst ja schon gewesen;
So will ich denn dem Teufel mich verschreiben;
Dem Publikum ruf ich noch: Gott befohlen!
Doch muß der Teufel ruhig sitzen bleiben,
Bis ich ein einzig Trauerspiel gelesen;
Dann kann er mich und meine Verse holen!“
Dem Teufel schien dieß sehr zu munden,
Und schmunzelnd sprach er, lustverklärt:
„Ein jeder hat für freie Stunden
Noch so ein Lieblingssteckenpferd.
Ich nun, ich sammle Autographen.
Welch Glück, daß wir zusammentrafen!
Dieß Blättchen ist mir vieles wert.
Doch jetzt genug, mein lieber Dichter;
Der Worte sind schon viel zu viel!
Seit lang war ich auf nichts erpichter
Als heut‘ auf Euer Trauerspiel.“
Er rückt zwei Sessel mit Behagen,
Und jenen scheint ein Blick zu fragen,
Ob Platz zu nehmen ihm gefiel.
Der Satan setzt sich. – Armer Satan!
Der Handel da gefällt mir nicht.
Ein kluger Mann hört klugen Rath an,
Eh‘ er in Händel sich verflicht. –
Der Dichter aber schließt die Thüre,
Damit ihn heut bei der Lectüre
Kein Unberuf’ner unterbricht.
Der Dichter setzt sich, liest den Namen,
Sodann ein langes Personal.
Was da für Leut‘ zusammenkamen!
Raubmörder, Gauner sonder Zahl,
Buhldirnen, Heuchler, Henkersknechte,
Giftmischer, Pfaffen, geile schlechte,
Und and’re Schufte nach der Wahl.
Dem Teufel läuft’s ob dieser Horde
Wie Eiseskälte durch die Haut.
Er brummt halb ärgerlich die Worte:
„Ich glaube, alter Narr, dir graut!
Was hat der Gimpel denn gelesen,
Als ein Register solcher Wesen,
Wie täglich sie die Hölle schaut?“
Der erste Akt schien noch erträglich;
Der Teufel denkt: „Bald bin ich quitt!“
Im zweiten aber war’s schon kläglich,
Was da er für Gesichter schnitt!
Ihr saht wohl Einen schon sich zwingen,
Zu grobe Bissen zu verschlingen;
So war es, wie der Aermste litt.
Im dritten Akte ward’s noch schlimmer,
Dem Teufel selbst verging der Spaß.
Es häuften Greu’l auf Greu’l sich immer;
Ihm wurde weh, er wurde blaß.
Verstopft hätt‘ er sich gern die Ohren;
Der Angstschweiß brach aus allen Poren;
Bleich saß er, zitternd da und naß.
Der Dichter liest mit neuem Feuer
Den vierten Akt, er glüht und schnaubt.
Des Teufels Angst wird ungeheuer,
Er springt empor, ihm brennt das Haupt,
Er hält den Leib, er dehnt die Glieder,
Geht händeringend auf und nieder,
Er wimmert laut, des Sinns beraubt.
Der fünfte Akt! – Nun gilt’s sich retten!
Er muß in’s Freie, schnappt nach Luft;
Und läg‘ er zehnfach auch an Ketten,
Er muß aus dieser Todtengruft.
Die Thüre, ach! ist fest verschlossen;
Der Teufel hat sich rasch entschlossen.
„Hör‘ auf mit deinem Lesen, Schuft!“
„Verdammter Unsinn! Pfui! Abscheulich!
Die Hölle dankt für solchen Gast!“
Und zum Kamine springt er eilig,
Er klettert aufwärts voller Hast;
Doch wie er eben will verschwinden,
Hat ihn der Dichter rasch von hinten,
Zu rechter Zeit am Schwanz erfaßt.
„Halt Satan! Schurke, trugerfüllter!“
Schreit laut der Dichter, „halte Wort!“ –
Der Teufel zappelt, wüthend brüllt er
Im engen Rauchfang: Feuer! Mord!
Er muß es sich gefallen lassen;
Der Dichter weiß ihn gut zu fassen,
Und liest mit Pathos weiter fort.
Dem Teufel blutet Kopf und Seite.
Da reißt das unglücksel’ge Band,
Und wimmernd sucht er rasch das Weite,
Doch mit dem Schweife in der Hand
Steht der Poet und mit dem Buche.
Erzürnt mit einem derben Fluche
Wirft Schwanz und Heft er an die Wand. –
Als Christen hör‘ ich euch nun fragen
Nach der Moral in dem Gedicht.
Nun seht! Es giebt auf Erden Plagen,
Die dauern, bis die Welt zerbricht.
Viel‘ Dichter sind dahin zu zählen;
Sie werden stets die Menschheit quälen: –
Der Teufel selber holt sie nicht.
Bilder: Jacobus de Teramo: Der Teufel Belial am Tor zur Hölle, aus: Das Buch Belial, Augsburg 1473,
via Danse Macabre, 7. Januar 2014;
Matthias Gerung, Zuschreibung: Der Klerus schlemmt im Rachen eines Teufels, Satire auf den Ablaß, Holzschnitt vor 1536.
Soundtrack: Elvis Presley: (You’re the) Devil in Disguise, 1963:
Blumenstück 011: Er ward wie ein Sieb, ohne Außen und Innen
Update zu And such a life I wish to live,
Du warst den Meeren mitternachts entstiegen
und Psalmen gottverbrämter Bücher:
Unterschätzte Fränkinnen und Franken; heute: Maria Luise Weissmann: Gebürtig 1899 aus Schweinfurt wie Friedrich Rückert, zehnjährig mit dem professoralen Vater nach Hof und während des Weltkriegs nach Nürnberg versetzt, dort Sekretärin des Nürnberger Literarischen Bundes und Teil der literaturrevolutionären Vereinigung Das Junge Franken, ab 1919 in München Buchhändlerin in der neugegründeten Bücherkiste, 1929 mit zarten 30 Sommern schon wieder an Angina gestorben, seitdem idyllisches Fleckchen auf dem Müncher Waldfriedhof.
Ihre Veröffentlichungen sind typischerweise schmale Lyriksammlungen in bibliophilen Kleinauflagen. Erst drei Jahre nach ihrem Tod geriet Der Einsiedler überhaupt ans Licht einer potenziellen Öffentlichkeit: rilkewürdig und wunderschön.
——— Maria Luise Weissmann:
Der Einsiedler
entstanden 1922–1929,
Erstdruck in: Gesammelte Dichtungen, Heinrich F. S. Bachmair, Pasing bei München 1932,
in: Imago. Ausgewählte Dichtungen, 1946:
Er hatte seit Jahren nicht mehr gesät;
verstreut noch reifte ihm das Getreide,
zuletzt ließ er den Hafer ungemäht.
Sein Pferd verlor sich auf der Weide.Er brach eine Zeit noch Beeren vom Ast,
als müsste er einen Hunger stillen,
dann vergaß er auch diese letzte Last,
um seiner tieferen Ruhe willen.Er saß vor der Hütte bei Tag und Nacht,
die Hütte verfiel in Wind und Regen,
allmählich wuchsen die Gräser sacht
seinen Füßen und Knien entgegenund wuchsen langsam durch seine Hand.
Er ward wie ein Sieb, ohne Außen und Innen.
Gleichmäßig und ganz ohne Widerstand
konnten die Jahre durch ihn rinnen.
Bilder: Carl Spitzweg: Der Einsiedler vor seiner Klause, 1844, Öl auf Leinwand, 30,5 auf 34,5 cm;
Strickender Einsiedler, ca. 1865–1875, Öl auf Karton, 18 auf 23 cm.
Soundtrack: Samuel Barber: Hermit Songs, 1953,
Aufnahme 1954 mit Samuel Barber höchstselbst am Klavier; Sopran: Leontyne Price:
Die Welt ist rund. Was nützt es am End‘, zu schaukeln auf müßiger Welle!
Update zu Before Frühstück:
Auf Dagobert Duck hab ich schon immer gehört. In der Geschichte vom fliegenden Teppich, i. e. Rug Riders in the Sky, 26. Dezember 1963, die ich aus eigenem Bestand nur in der Melzer-Übersetzung zitieren kann, findet sich seine luzide Beobachtung, die er zu dem Teppich sagt, der immer nur nach Osten fliegen will:
Egal … Wenn du lange genug nach Osten fliegst, kommst du nach Westen.
Eine Einsicht, die er mit E. T. A. Hoffmann in einer Parodie, die ich seit Jahren wiederzufinden suche, und Heinrich Heine teilt. Onkel Dagobert, wie wir ihn von ferne familiär anreden dürfen, hat es am nüchternsten in der gedrängtesten Form gesagt. Heine dafür zweimal in verschiedener Form.
——— Heinrich Heine:
Unsere Marine.
Nautisches Gedicht
in: Zeitgedichte, Mai 1844:
Wir träumten von einer Flotte jüngst,
Und segelten schon vergnüglich
Hinaus aufs balkenlose Meer,
Der Wind war ganz vorzüglich.Wir hatten unsern Fregatten schon
Die stolzesten Namen gegeben,
Prutz hieß die eine, die andre hieß
Hoffmann von Fallersleben.Da schwamm der Kutter Freiligrath,
Darauf als Puppe die Büste
Des Mohrenkönigs, die wie ein Mond
(Versteht sich ein schwarzer) grüßte.Da kamen geschwommen ein Gustav Schwab,
Ein Pfizer, ein Kölle, ein Mayer;
Auf jedem stand ein Schwabengesicht
Mit einer hölzernen Leier.Da schwamm die Birch-Pfeiffer, eine Brigg,
Sie trug am Fockmast das Wappen
Der deutschen Admiralität
Auf schwarzrotgoldnem Lappen.Wir kletterten keck an Bugspriet und Rahn
Und trugen uns wie Matrosen,
Die Jacke kurz, der Hut beteert,
Und weite Schifferhosen.Gar mancher, der früher nur Tee genoß
Als wohlerzogener Eh’mann,
Der soff jetzt Rum und kaute Tabak,
Und fluchte wie ein Seemann.Seekrank ist mancher geworden sogar,
Und auf dem Fallersleben,
Dem alten Brander, hat mancher sich
Gemütlich übergeben.Wir träumten so schön, wir hatten fast
Schon eine Seeschlacht gewonnen –
Doch als die Morgensonne kam,
Ist Traum und Flotte zerronnen.Wir lagen noch immer im heimischen Bett
Mit ausgestreckten Knochen.
Wir rieben uns aus den Augen den Schlaf,
Und haben gähnend gesprochen:„Die Welt ist rund. Was nützt es am End‘,
Zu schaukeln auf müßiger Welle!
Der Weltumsegler kommt zuletzt
Zurück auf dieselbe Stelle.“
Weltumseglerinnenbilder: Anahita Zarineh Paul: 1; 2; 3; 4, 31. Juli 2011.
Soundtrack: The Stranglers: Always The Sun, aus: Dreamtime, 1986.
Hab ich immer fast so gemocht wie den Onkel Dagobert:
Schlummernde Mieze, drawn from life, 1s 6d
Update zu I should be stronger than weeping alone
(und mit pragmatischen Messingdrähten zum Skelett zusammengeworfelt),
Und ich singe was ich fühle,
Im Bewusstsein seines Wertes sitzt der Kater auf dem Dach
und Hier liegt ein Kater der schönsten Art:
Bleiben wir vorerst bei der Kernkompetenz des Internets: Katzenbilder.
Ein Prachtexemplar erblicken wir in George Baxter: Puss Napping, 1856, Druck nach dem Baxter Process auf Papier, 109 auf 153 Millimeter, was annähernd DIN A6, der Postkartengröße entspricht.
Dargestellt ist eine sitzend schlafende, tabby-farbene Katze, vermutlich der Rasse Britisch oder Europäisch Kurzhaar, nach einer späteren Beschreibung nach einem lebenden Modell gemalt – was im Falle der Katze glaubwürdig erscheint, aber schon weniger im Falle der sechs Mäuse, die sie in vorsichtiger Neugier betrachten.
Der Maler George Baxter firmiert nicht als Maler, sondern als Drucker, und wird nach manchen Definitionen als Erfinder des modernen Farbdrucks gefeiert. Gebürtig 1804, meldete Baxter 1835, also 31-jährig, das Patent für den Baxter Process an: der Sammelausdruck für mehrere verschiedene Tiefdruckverfahren, bei denen mehrere meist holzgeschnitzte Blöcke Farbe auf eine Hauptplatte aufbringen.
Laut seinem Biographen Courtney Lewis verwendete Baxter für Puss Napping vier Zinkblöcke – also ein minder aufwändiger Druck. Baxter verkaufte das Bild am 21. Januar 1856 für 1 Shilling und Sixpence, nach der Kaufkraft des vorletzten Jahrhunderts geschätzt eher der Preis für ein Stück reproduzierbaren Kunsthandwerks denn für ein Kunstwerk im engeren Sinne.
Erst in einem Kunstkatalog von 1860 wurde es als „nach dem Leben gezeichnet“ beschrieben. Der verwendete Block wurde ebenfalls 1860 bei Southgate and Barrett versteigert. Die Druckplatten erschienen in den Wiederverkaufslisten von Baxter, Vincent Brooks, Vincent Brooks, Day & Son sowie Le Blond. Letzterer verwendete den Block weiter; die so entstandenen Drucke sind nicht mehr von Baxter signiert.
1936 wurde das Exemplar vom Britischen Museum erworben, müsste also nach allen erhältlichen Beschreibungen recto signiert sein. Derzeit wird es nicht ausgestellt.
Bild: a. a. O., via Victorians, Vile Victorians, 24. Juni 2021.
Soundtrack: Harry S. Miller: The Cat Came Back, 1893 in der Version der allezeit herzwärmenden (und bekennend lesbischen) Anna Roberts-Gevalt und Joe DeJarnette live zu Hause in Baltimore, 2010:
Die pelzige Squaw mit der Eisernen Jungfrau
Update zu Gespräch mit einem frischerstandenen Vampyren (was niemand hören wollte),
The clock may stop, the hand be broken, then Time be finished unto me!
und Unvorworm is alderbest:
Desillusionierend genug, dass der verbreitete Gebrauch Eiserner Jungfrauen weitgehend als blutrünstig romantisierend widerlegt ist: Beweisstück A, B, C, D. Beweisstück E, dass sicher keine Folterknechte ihre frisch exekutierten Delinquenten aus einer Eisernen Jungfrau durch Öffnen der Vorderhälfte in den Burggraben plumpsen ließen: 1.) hat der Nürnberger Burggraeben nie Wasser geführt, und wenn 2.) doch oder wenn 3.) auch nicht, wozu hätten Folterknechte und sonstige Verantwortliche für Burghygiene frisch oder – schlimmer – vor längerem exekutierte Leichen darin wissen wollen?
Wie fest ich daran geglaubt habe – aber im Mittelalterverein hat man nur was über Kalligraphie, Nadelbinden, Brettchenweben und Wie man eyn teutsches Mannsbild bey Kräfften hält gelernt. Das konnte nur von einer Katzengeschichte aus geschehen, die mich als Welpe zu einer Phase der Vampirromantik um den Dracula-Roman weitergereicht hat. Die Jungfrauen sind allesamt Nachbildungen des schwarzromantischen 19. Jahrhunderts, wie die ganzen schon als Ruine konzipierten Burgruinen auch.
Soweit ich mich an Die Squaw von Bram Stoker erinnere, war die in der Stadtbücherei meiner Kindheit im Diogenes-Sampler Die besten klassischen und modernen Katzengeschichten – von denen es auch Ausprägungen in Hund und Pferd gab –, und die Jungfrau war wohl mal auf der Burg.
Die Stokersche Squaw stammt von 1893, aber man weiß nicht, auf welcher Erinnerung beruhend, denn:
Bram Stoker war nie in Siebenbürgen, dafür nachweislich zweimal in Nürnberg, 1885 und 1893.
wie Michael Kroner von der Siebenbürgischen Zeitung, 1. Mai 2003 weiß – und an gleicher Stelle, dass die Nürnbergische Folterei einst im Fünfeckturm stattfand, bevor er erst ein ein beliebter Kinder- und Jugendtreff und danach aus Brandschutzgründen geschlossen wurde.
Also neben dem Bahnhof im Germanischen findet sich schon mal nix, sondern dou moumä zum Haubdmargd nunder und widder en Burchberch nauf (ortsübliche Mundart). Nachdem man da droben rezenterweise einen Tiefen Brunnen, in dem wie überall woanders auch der Kaiser Barbarossa dauerschlafen soll, eine Jugendherberge und den gleichzeitig höchsten, niedrigsten, dicksten und dünnsten Turm der Stadt und dann noch besagten fünfeckigen kennt, aber keine Folterkammer, hätte man die alte junge Dame am ehesten in den Lochgefängnissen vermutet, also gor ned am Burchberch drom, sondern glei newerm Haubdmargd, wo immerhin einiges Foltergerät herumrostet. Ist da aber nicht. Aus der New York Times vom 26. November 1893 – FAMOUS TORTURE INSTRUMENTS.; The Earl of Shrewsbury’s Collection Soon to be exhibited Hero – weiß man heute: Die Jungfrau „wurde möglicherweise bereits 1802 ausgestellt. Das Original ging 1945 bei den alliierten Luftangriffen auf Nürnberg verloren.“
Jaja, möglicherweise, gell. Zur Belustigung elendsbewusster Touristen und ausfliegender Schulklassen steht immerhin eine 1890er Kopie davon — die möglicherweise Bram Stoker spätestens auf seiner zweiten Nürnbergreise 1893 zu Gesichte bekommen haben kann — nach einiger Weltreise im Rothenburger Kriminalmuseum. Das läge immer noch unweit Nürnbergs im unterschätzten Regierungsbezirk Mittelfranken, hätte aber einem Jahrgang nach dem andern die Schulausflüge mit interdisziplinärer Literaturauslegung versaut.
Auffallend bleibt bei Stoker, dass Nürnberg nicht Nuremberg, sondern Nurnberg heißt, und die Burg kein castle, sondern the Burg ist. Der Irving, der dort um 1893 den Faust hätte spielen sollen, ist vermutlich die viktorianische Shakespeare-Kapazität Henry Irving. – Es folgt der Volltext der Fiktion auf gleich zwei Ebenen:
——— Bram Stoker:
The Squaw
in: Holly Leaves: The Christmas Number, aus: The Illustrated Sporting and Dramatic News, 2. Dezember 1893,
gesammelt in: Dracula’s Guest and Other Weird Stories, George Routledge & Sons, Ltd., London 1914:
Nurnberg at the time was not so much exploited as it has been since then. Irving had not been playing Faust, and the very name of the old town was hardly known to the great bulk of the travelling public. My wife and I being in the second week of our honeymoon, naturally wanted someone else to join our party, so that when the cheery stranger, Elias P. Hutcheson, hailing from Isthmian City, Bleeding Gulch, Maple Tree County, Neb. turned up at the station at Frankfort, and casually remarked that he was going on to see the most all-fired old Methuselah of a town in Yurrup, and that he guessed that so much travelling alone was enough to send an intelligent, active citizen into the melancholy ward of a daft house, we took the pretty broad hint and suggested that we should join forces. We found, on comparing notes afterwards, that we had each intended to speak with some diffidence or hesitation so as not to appear too eager, such not being a good compliment to the success of our married life; but the effect was entirely marred by our both beginning to speak at the same instant—stopping simultaneously and then going on together again. Anyhow, no matter how, it was done; and Elias P. Hutcheson became one of our party. Straightway Amelia and I found the pleasant benefit; instead of quarrelling, as we had been doing, we found that the restraining influence of a third party was such that we now took every opportunity of spooning in odd corners. Amelia declares that ever since she has, as the result of that experience, advised all her friends to take a friend on the honeymoon. Well, we “did” Nurnberg together, and much enjoyed the racy remarks of our Transatlantic friend, who, from his quaint speech and his wonderful stock of adventures, might have stepped out of a novel. We kept for the last object of interest in the city to be visited the Burg, and on the day appointed for the visit strolled round the outer wall of the city by the eastern side.
The Burg is seated on a rock dominating the town and an immensely deep fosse guards it on the northern side. Nurnberg has been happy in that it was never sacked; had it been it would certainly not be so spick and span perfect as it is at present. The ditch has not been used for centuries, and now its base is spread with tea-gardens and orchards, of which some of the trees are of quite respectable growth. As we wandered round the wall, dawdling in the hot July sunshine, we often paused to admire the views spread before us, and in especial the great plain covered with towns and villages and bounded with a blue line of hills, like a landscape of Claude Lorraine. From this we always turned with new delight to the city itself, with its myriad of quaint old gables and acre-wide red roofs dotted with dormer windows, tier upon tier. A little to our right rose the towers of the Burg, and nearer still, standing grim, the Torture Tower, which was, and is, perhaps, the most interesting place in the city. For centuries the tradition of the Iron Virgin of Nurnberg has been handed down as an instance of the horrors of cruelty of which man is capable; we had long looked forward to seeing it; and here at last was its home.
In one of our pauses we leaned over the wall of the moat and looked down. The garden seemed quite fifty or sixty feet below us, and the sun pouring into it with an intense, moveless heat like that of an oven. Beyond rose the grey, grim wall seemingly of endless height, and losing itself right and left in the angles of bastion and counterscarp. Trees and bushes crowned the wall, and above again towered the lofty houses on whose massive beauty Time has only set the hand of approval. The sun was hot and we were lazy; time was our own, and we lingered, leaning on the wall. Just below us was a pretty sight—a great black cat lying stretched in the sun, whilst round her gambolled prettily a tiny black kitten. The mother would wave her tail for the kitten to play with, or would raise her feet and push away the little one as an encouragement to further play. They were just at the foot of the wall, and Elias P. Hutcheson, in order to help the play, stooped and took from the walk a moderate sized pebble.
“See!” he said, “I will drop it near the kitten, and they will both wonder where it came from.”
“Oh, be careful,” said my wife; “you might hit the dear little thing!”
“Not me, ma’am,” said Elias P. “Why, I’m as tender as a Maine cherry-tree. Lor, bless ye. I wouldn’t hurt the poor pooty little critter more’n I’d scalp a baby. An’ you may bet your variegated socks on that! See, I’ll drop it fur away on the outside so’s not to go near her!” Thus saying, he leaned over and held his arm out at full length and dropped the stone. It may be that there is some attractive force which draws lesser matters to greater; or more probably that the wall was not plump but sloped to its base—we not noticing the inclination from above; but the stone fell with a sickening thud that came up to us through the hot air, right on the kitten’s head, and shattered out its little brains then and there. The black cat cast a swift upward glance, and we saw her eyes like green fire fixed an instant on Elias P. Hutcheson; and then her attention was given to the kitten, which lay still with just a quiver of her tiny limbs, whilst a thin red stream trickled from a gaping wound. With a muffled cry, such as a human being might give, she bent over the kitten licking its wounds and moaning. Suddenly she seemed to realise that it was dead, and again threw her eyes up at us. I shall never forget the sight, for she looked the perfect incarnation of hate. Her green eyes blazed with lurid fire, and the white, sharp teeth seemed to almost shine through the blood which dabbled her mouth and whiskers. She gnashed her teeth, and her claws stood out stark and at full length on every paw. Then she made a wild rush up the wall as if to reach us, but when the momentum ended fell back, and further added to her horrible appearance for she fell on the kitten, and rose with her black fur smeared with its brains and blood. Amelia turned quite faint, and I had to lift her back from the wall. There was a seat close by in shade of a spreading plane-tree, and here I placed her whilst she composed herself. Then I went back to Hutcheson, who stood without moving, looking down on the angry cat below.
As I joined him, he said:
“Wall, I guess that air the savagest beast I ever see—’cept once when an Apache squaw had an edge on a half-breed what they nicknamed ‘Splinters’ “cos of the way he fixed up her papoose which he stole on a raid just to show that he appreciated the way they had given his mother the fire torture. She got that kinder look so set on her face that it jest seemed to grow there. She followed Splinters mor’n three year till at last the braves got him and handed him over to her. They did say that no man, white or Injun, had ever been so long a-dying under the tortures of the Apaches. The only time I ever see her smile was when I wiped her out. I kem on the camp just in time to see Splinters pass in his checks, and he wasn’t sorry to go either. He was a hard citizen, and though I never could shake with him after that papoose business—for it was bitter bad, and he should have been a white man, for he looked like one—I see he had got paid out in full. Durn me, but I took a piece of his hide from one of his skinnin’ posts an’ had it made into a pocket-book. It’s here now!” and he slapped the breast pocket of his coat.
Whilst he was speaking the cat was continuing her frantic efforts to get up the wall. She would take a run back and then charge up, sometimes reaching an incredible height. She did not seem to mind the heavy fall which she got each time but started with renewed vigour; and at every tumble her appearance became more horrible. Hutcheson was a kind-hearted man—my wife and I had both noticed little acts of kindness to animals as well as to persons—and he seemed concerned at the state of fury to which the cat had wrought herself.
“Wall, now!” he said, “I du declare that that poor critter seems quite desperate. There! there! poor thing, it was all an accident—though that won’t bring back your little one to you. Say! I wouldn’t have had such a thing happen for a thousand! Just shows what a clumsy fool of a man can do when he tries to play! Seems I’m too darned slipperhanded to even play with a cat. Say Colonel!” it was a pleasant way he had to bestow titles freely—“I hope your wife don’t hold no grudge against me on account of this unpleasantness? Why, I wouldn’t have had it occur on no account.”
He came over to Amelia and apologised profusely, and she with her usual kindness of heart hastened to assure him that she quite understood that it was an accident. Then we all went again to the wall and looked over.
The cat missing Hutcheson’s face had drawn back across the moat, and was sitting on her haunches as though ready to spring. Indeed, the very instant she saw him she did spring, and with a blind unreasoning fury, which would have been grotesque, only that it was so frightfully real. She did not try to run up the wall, but simply launched herself at him as though hate and fury could lend her wings to pass straight through the great distance between them. Amelia, womanlike, got quite concerned, and said to Elias P. in a warning voice:
“Oh! you must be very careful. That animal would try to kill you if she were here; her eyes look like positive murder.”
He laughed out jovially. “Excuse me, ma’am,” he said, “but I can’t help laughin’. Fancy a man that has fought grizzlies an’ Injuns bein’ careful of bein’ murdered by a cat!”
When the cat heard him laugh, her whole demeanour seemed to change. She no longer tried to jump or run up the wall, but went quietly over, and sitting again beside the dead kitten began to lick and fondle it as though it were alive.
“See!” said I, “the effect of a really strong man. Even that animal in the midst of her fury recognises the voice of a master, and bows to him!”
“Like a squaw!” was the only comment of Elias P. Hutcheson, as we moved on our way round the city fosse. Every now and then we looked over the wall and each time saw the cat following us. At first she had kept going back to the dead kitten, and then as the distance grew greater took it in her mouth and so followed. After a while, however, she abandoned this, for we saw her following all alone; she had evidently hidden the body somewhere. Amelia’s alarm grew at the cat’s persistence, and more than once she repeated her warning; but the American always laughed with amusement, till finally, seeing that she was beginning to be worried, he said:
“I say, ma’am, you needn’t be skeered over that cat. I go heeled, I du!” Here he slapped his pistol pocket at the back of his lumbar region. “Why sooner’n have you worried, I’ll shoot the critter, right here, an’ risk the police interferin’ with a citizen of the United States for carryin’ arms contrairy to reg’lations!” As he spoke he looked over the wall, but the cat on seeing him, retreated, with a growl, into a bed of tall flowers, and was hidden. He went on: “Blest if that ar critter ain’t got more sense of what’s good for her than most Christians. I guess we’ve seen the last of her! You bet, she’ll go back now to that busted kitten and have a private funeral of it, all to herself!”
Amelia did not like to say more, lest he might, in mistaken kindness to her, fulfil his threat of shooting the cat: and so we went on and crossed the little wooden bridge leading to the gateway whence ran the steep paved roadway between the Burg and the pentagonal Torture Tower. As we crossed the bridge we saw the cat again down below us. When she saw us her fury seemed to return, and she made frantic efforts to get up the steep wall. Hutcheson laughed as he looked down at her, and said:
“Goodbye, old girl. Sorry I injured your feelin’s, but you’ll get over it in time! So long!” And then we passed through the long, dim archway and came to the gate of the Burg.
When we came out again after our survey of this most beautiful old place which not even the well-intentioned efforts of the Gothic restorers of forty years ago have been able to spoil—though their restoration was then glaring white—we seemed to have quite forgotten the unpleasant episode of the morning. The old lime tree with its great trunk gnarled with the passing of nearly nine centuries, the deep well cut through the heart of the rock by those captives of old, and the lovely view from the city wall whence we heard, spread over almost a full quarter of an hour, the multitudinous chimes of the city, had all helped to wipe out from our minds the incident of the slain kitten.
We were the only visitors who had entered the Torture Tower that morning—so at least said the old custodian—and as we had the place all to ourselves were able to make a minute and more satisfactory survey than would have otherwise been possible. The custodian, looking to us as the sole source of his gains for the day, was willing to meet our wishes in any way. The Torture Tower is truly a grim place, even now when many thousands of visitors have sent a stream of life, and the joy that follows life, into the place; but at the time I mention it wore its grimmest and most gruesome aspect. The dust of ages seemed to have settled on it, and the darkness and the horror of its memories seem to have become sentient in a way that would have satisfied the Pantheistic souls of Philo or Spinoza. The lower chamber where we entered was seemingly, in its normal state, filled with incarnate darkness; even the hot sunlight streaming in through the door seemed to be lost in the vast thickness of the walls, and only showed the masonry rough as when the builder’s scaffolding had come down, but coated with dust and marked here and there with patches of dark stain which, if walls could speak, could have given their own dread memories of fear and pain. We were glad to pass up the dusty wooden staircase, the custodian leaving the outer door open to light us somewhat on our way; for to our eyes the one long-wick’d, evil-smelling candle stuck in a sconce on the wall gave an inadequate light. When we came up through the open trap in the corner of the chamber overhead, Amelia held on to me so tightly that I could actually feel her heart beat. I must say for my own part that I was not surprised at her fear, for this room was even more gruesome than that below. Here there was certainly more light, but only just sufficient to realise the horrible surroundings of the place. The builders of the tower had evidently intended that only they who should gain the top should have any of the joys of light and prospect. There, as we had noticed from below, were ranges of windows, albeit of mediaeval smallness, but elsewhere in the tower were only a very few narrow slits such as were habitual in places of mediaeval defence. A few of these only lit the chamber, and these so high up in the wall that from no part could the sky be seen through the thickness of the walls. In racks, and leaning in disorder against the walls, were a number of headsmen’s swords, great double-handed weapons with broad blade and keen edge. Hard by were several blocks whereon the necks of the victims had lain, with here and there deep notches where the steel had bitten through the guard of flesh and shored into the wood. Round the chamber, placed in all sorts of irregular ways, were many implements of torture which made one’s heart ache to see—chairs full of spikes which gave instant and excruciating pain; chairs and couches with dull knobs whose torture was seemingly less, but which, though slower, were equally efficacious; racks, belts, boots, gloves, collars, all made for compressing at will; steel baskets in which the head could be slowly crushed into a pulp if necessary; watchmen’s hooks with long handle and knife that cut at resistance—this a speciality of the old Nurnberg police system; and many, many other devices for man’s injury to man. Amelia grew quite pale with the horror of the things, but fortunately did not faint, for being a little overcome she sat down on a torture chair, but jumped up again with a shriek, all tendency to faint gone. We both pretended that it was the injury done to her dress by the dust of the chair, and the rusty spikes which had upset her, and Mr. Hutcheson acquiesced in accepting the explanation with a kind-hearted laugh.
But the central object in the whole of this chamber of horrors was the engine known as the Iron Virgin, which stood near the centre of the room. It was a rudely-shaped figure of a woman, something of the bell order, or, to make a closer comparison, of the figure of Mrs. Noah in the children’s Ark, but without that slimness of waist and perfect rondeur of hip which marks the aesthetic type of the Noah family. One would hardly have recognised it as intended for a human figure at all had not the founder shaped on the forehead a rude semblance of a woman’s face. This machine was coated with rust without, and covered with dust; a rope was fastened to a ring in the front of the figure, about where the waist should have been, and was drawn through a pulley, fastened on the wooden pillar which sustained the flooring above. The custodian pulling this rope showed that a section of the front was hinged like a door at one side; we then saw that the engine was of considerable thickness, leaving just room enough inside for a man to be placed. The door was of equal thickness and of great weight, for it took the custodian all his strength, aided though he was by the contrivance of the pulley, to open it. This weight was partly due to the fact that the door was of manifest purpose hung so as to throw its weight downwards, so that it might shut of its own accord when the strain was released. The inside was honeycombed with rust—nay more, the rust alone that comes through time would hardly have eaten so deep into the iron walls; the rust of the cruel stains was deep indeed! It was only, however, when we came to look at the inside of the door that the diabolical intention was manifest to the full. Here were several long spikes, square and massive, broad at the base and sharp at the points, placed in such a position that when the door should close the upper ones would pierce the eyes of the victim, and the lower ones his heart and vitals. The sight was too much for poor Amelia, and this time she fainted dead off, and I had to carry her down the stairs, and place her on a bench outside till she recovered. That she felt it to the quick was afterwards shown by the fact that my eldest son bears to this day a rude birthmark on his breast, which has, by family consent, been accepted as representing the Nurnberg Virgin.
When we got back to the chamber we found Hutcheson still opposite the Iron Virgin; he had been evidently philosophising, and now gave us the benefit of his thought in the shape of a sort of exordium.
“Wall, I guess I’ve been learnin’ somethin’ here while madam has been gettin’ over her faint. “Pears to me that we’re a long way behind the times on our side of the big drink. We uster think out on the plains that the Injun could give us points in tryin’ to make a man uncomfortable; but I guess your old mediaeval law-and-order party could raise him every time. Splinters was pretty good in his bluff on the squaw, but this here young miss held a straight flush all high on him. The points of them spikes air sharp enough still, though even the edges air eaten out by what uster be on them. It’d be a good thing for our Indian section to get some specimens of this here play-toy to send round to the Reservations jest to knock the stuffin’ out of the bucks, and the squaws too, by showing them as how old civilisation lays over them at their best. Guess but I’ll get in that box a minute jest to see how it feels!”
“Oh no! no!” said Amelia. “It is too terrible!”
“Guess, ma’am, nothin’s too terrible to the explorin’ mind. I’ve been in some queer places in my time. Spent a night inside a dead horse while a prairie fire swept over me in Montana Territory—an’ another time slept inside a dead buffler when the Comanches was on the war path an’ I didn’t keer to leave my kyard on them. I’ve been two days in a caved-in tunnel in the Billy Broncho gold mine in New Mexico, an’ was one of the four shut up for three parts of a day in the caisson what slid over on her side when we was settin’ the foundations of the Buffalo Bridge. I’ve not funked an odd experience yet, an’ I don’t propose to begin now!”
We saw that he was set on the experiment, so I said: “Well, hurry up, old man, and get through it quick!”
“All right, General,” said he, “but I calculate we ain’t quite ready yet. The gentlemen, my predecessors, what stood in that thar canister, didn’t volunteer for the office—not much! And I guess there was some ornamental tyin’ up before the big stroke was made. I want to go into this thing fair and square, so I must get fixed up proper first. I dare say this old galoot can rise some string and tie me up accordin’ to sample?”
This was said interrogatively to the old custodian, but the latter, who understood the drift of his speech, though perhaps not appreciating to the full the niceties of dialect and imagery, shook his head. His protest was, however, only formal and made to be overcome. The American thrust a gold piece into his hand, saying: “Take it, pard! it’s your pot; and don’t be skeer’d. This ain’t no necktie party that you’re asked to assist in!” He produced some thin frayed rope and proceeded to bind our companion with sufficient strictness for the purpose. When the upper part of his body was bound, Hutcheson said:
“Hold on a moment, Judge. Guess I’m too heavy for you to tote into the canister. You jest let me walk in, and then you can wash up regardin’ my legs!”
Whilst speaking he had backed himself into the opening which was just enough to hold him. It was a close fit and no mistake. Amelia looked on with fear in her eyes, but she evidently did not like to say anything. Then the custodian completed his task by tying the American’s feet together so that he was now absolutely helpless and fixed in his voluntary prison. He seemed to really enjoy it, and the incipient smile which was habitual to his face blossomed into actuality as he said:
“Guess this here Eve was made out of the rib of a dwarf! There ain’t much room for a full-grown citizen of the United States to hustle. We uster make our coffins more roomier in Idaho territory. Now, Judge, you jest begin to let this door down, slow, on to me. I want to feel the same pleasure as the other jays had when those spikes began to move toward their eyes!”
“Oh no! no! no!” broke in Amelia hysterically. “It is too terrible! I can’t bear to see it!—I can’t! I can’t!” But the American was obdurate. “Say, Colonel,” said he, “why not take Madame for a little promenade? I wouldn’t hurt her feelin’s for the world; but now that I am here, havin’ kem eight thousand miles, wouldn’t it be too hard to give up the very experience I’ve been pinin’ an’ pantin’ fur? A man can’t get to feel like canned goods every time! Me and the Judge here’ll fix up this thing in no time, an’ then you’ll come back, an’ we’ll all laugh together!”
Once more the resolution that is born of curiosity triumphed, and Amelia stayed holding tight to my arm and shivering whilst the custodian began to slacken slowly inch by inch the rope that held back the iron door. Hutcheson’s face was positively radiant as his eyes followed the first movement of the spikes.
“Wall!” he said, “I guess I’ve not had enjoyment like this since I left Noo York. Bar a scrap with a French sailor at Wapping—an’ that warn’t much of a picnic neither—I’ve not had a show fur real pleasure in this dod-rotted Continent, where there ain’t no b’ars nor no Injuns, an’ wheer nary man goes heeled. Slow there, Judge! Don’t you rush this business! I want a show for my money this game—I du!”
The custodian must have had in him some of the blood of his predecessors in that ghastly tower, for he worked the engine with a deliberate and excruciating slowness which after five minutes, in which the outer edge of the door had not moved half as many inches, began to overcome Amelia. I saw her lips whiten, and felt her hold upon my arm relax. I looked around an instant for a place whereon to lay her, and when I looked at her again found that her eye had become fixed on the side of the Virgin. Following its direction I saw the black cat crouching out of sight. Her green eyes shone like danger lamps in the gloom of the place, and their colour was heightened by the blood which still smeared her coat and reddened her mouth. I cried out:
“The cat! look out for the cat!” for even then she sprang out before the engine. At this moment she looked like a triumphant demon. Her eyes blazed with ferocity, her hair bristled out till she seemed twice her normal size, and her tail lashed about as does a tiger’s when the quarry is before it. Elias P. Hutcheson when he saw her was amused, and his eyes positively sparkled with fun as he said:
“Darned if the squaw hain’t got on all her war paint! Jest give her a shove off if she comes any of her tricks on me, for I’m so fixed everlastingly by the boss, that durn my skin if I can keep my eyes from her if she wants them! Easy there, Judge! don’t you slack that ar rope or I’m euchered!”
At this moment Amelia completed her faint, and I had to clutch hold of her round the waist or she would have fallen to the floor. Whilst attending to her I saw the black cat crouching for a spring, and jumped up to turn the creature out.
But at that instant, with a sort of hellish scream, she hurled herself, not as we expected at Hutcheson, but straight at the face of the custodian. Her claws seemed to be tearing wildly as one sees in the Chinese drawings of the dragon rampant, and as I looked I saw one of them light on the poor man’s eye, and actually tear through it and down his cheek, leaving a wide band of red where the blood seemed to spurt from every vein.
With a yell of sheer terror which came quicker than even his sense of pain, the man leaped back, dropping as he did so the rope which held back the iron door. I jumped for it, but was too late, for the cord ran like lightning through the pulley-block, and the heavy mass fell forward from its own weight.
As the door closed I caught a glimpse of our poor companion’s face. He seemed frozen with terror. His eyes stared with a horrible anguish as if dazed, and no sound came from his lips.
And then the spikes did their work. Happily the end was quick, for when I wrenched open the door they had pierced so deep that they had locked in the bones of the skull through which they had crushed, and actually tore him—it—out of his iron prison till, bound as he was, he fell at full length with a sickly thud upon the floor, the face turning upward as he fell.
I rushed to my wife, lifted her up and carried her out, for I feared for her very reason if she should wake from her faint to such a scene. I laid her on the bench outside and ran back. Leaning against the wooden column was the custodian moaning in pain whilst he held his reddening handkerchief to his eyes. And sitting on the head of the poor American was the cat, purring loudly as she licked the blood which trickled through the gashed socket of his eyes.
I think no one will call me cruel because I seized one of the old executioner’s swords and shore her in two as she sat.
Bilder:
- Nürnberg, Stadtansicht ca. 1902;
- Eiserne Jungfrau, E. Nister, ca. 1900;
- Eiserne Jungfrau, ca. 1910;
- Nürnberg – Fünfeckiger Turm mit Folterkammer, Ansichtskarte 1917;
- Nürnberg, Aus der Folterkammer, ca. 1910,
via Pot Pourri: Bram Stoker, Nuremberg and the Iron Virgin, 5. November 2012;
Cover Die besten klassischen und modernen Katzengeschichten, Diogenes, Zürich 1973,
via TF-Versandhandel, Tirschenreuth.
Soundtrack: Iron Maiden: Iron Maiden, aus: Iron Maiden, 1980:
Won’t you come into my room, I wanna show you all my wares.
I just want to see your blood, I just want to stand and stare.
See the blood begin to flow as it falls upon the floor.
Iron Maiden can’t be faught, Iron Maiden can’t be sought.Oh Well, wherever, wherever you are,
Iron Maiden’s gonna get you, no matter how far.
See the blood flow watching it shed up above my head.
Iron Maiden wants you for dead.
Fruchtstück 0007: In meinem Leben weiß ich einen Kranken (Drum fass ich diese Menschen nicht)
Update zu Dornenstück 0009: Die Kinder verdarben (Schauderhaft, höchst schauderhaft),
Die leichtfüßige passive Aggression der Revolution
und Psalmen gottverbrämter Bücher:
Lebenshilfe in Schweifreimen, in der die Zigaretten noch duften. Das können nur Österreicher.
——— Anton Wildgans:
Das Lächeln
Eine Frühlingsballade
14. Mai 1907:
Wie doch die Menschen sind: sie sorgen,
Was morgen werden wird und übermorgen –
Und ihre Seelen bleiben blind und arm.
An Gärten wandern sie vorbei, an Gittern,
Die von dem Drängen junger Sträucher zittern,
Und ihre Seelen füllt der ewig gleiche Harm.Daß über Nacht ein Wunder neu geboren,
Daß aus der alten Häuser tiefen Toren
Nun wieder Kinderlaut und Kühle weht –
Und daß sich Wölkchen bilden in den Lüften
Von Zigaretten- und Orangendüften
Oder Parfum, wenn eine schöne Frau vorübergeht –Sie fühlen dieses nicht und nicht das Neigen
Der Abende, wenn sich in langen Reigen
Müd-armes Volk die Straßen heimwärts drängt,
Sie sehen nicht, wie diese bleichen Wangen
Der jungen Mädchen vor dem Frühling bangen,
Der so viel Sehnsucht und Gefahr verhängt …In meinem Leben weiß ich einen Kranken,
Gelähmt an Gliedern, Willen und Gedanken,
Nur seine Seele war dem Wunder heil –
Der konnte lächeln, wenn der erste Schimmer
Der Frühlingssonne in sein traurig Zimmer
Sich leise schob, ein goldner, zarter Keil.Der konnte lächeln über jede Blüte,
Daß dieses Lächelns wundervolle Güte
Dem toten Auge flüchtig Leben gab:
Der konnte weinen über Kinderlieder
Und tiefer atmen, wenn der Duft vom Flieder
Ihn grüßen kam in seiner Kissen Grab.Und dieses Lächeln, diese Tränen waren
So überreich an jenem Wunderbaren,
Des alle darben, die so dumpf-gesund.
Und ich hielt dieses Mannes Hand im Sterben,
Und ward zu seines Lächelns Erben,
Das wie ein Blühen lag um seinen blassen Mund.Drum faß ich diese Menschen nicht, die sorgen,
Was morgen werden wird und übermorgen,
Und ihre Seelen bleiben blind und arm.
An Gärten wandern sie vorbei, an Gittern,
Die von dem Drängen junger Sträucher zittern,
Und ihre Seelen füllt der ewig gleiche Harm.
Bild: Maximilian Florian: Der Gelähmte (Kranker Mann), 1933, Sammlung Belvedere, Wien.
Soundtrack: Ludwig van Beethoven: Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit, in der lydischen Tonart. Molto adagio – neue Kraft fühlend. Andante – Molto adagio – Andante – Molto adagio. Mit innigster Empfindung, aus: Streichquartett Nr. 15 in a-Moll op. 132, 1825:
Bonus Track: Lael Neale: Faster Than the Medicine, aus: Star Eaters Delight, 2023:
Heuer ist’s Vöglein nicht wiederkommen
Update zu Barfußwochen 05: Weder Schuh und weder Strümpf
(und einen Striffel um den Hals),
Flämmchen,
So war’s dem Doctor Faust nicht halb zu Muth,
Wer weiß, wem sie geigen – hüt‘ dich, Gesell!
und Nachtstück 0031: Deine Augen sind die Nacht and the wind will be my hands
(Der Nachtwächter aber schüttelte den Kopf):
Mit der vereinzelt gebliebenen Strophe Es sang ein Vöglein hier jedes Jahr ist es wie mit dem Wetterleuchten fern im Dunkeln: Die hat Eichendorff weder ausgebaut noch in eine seiner Gedichtsammlungen hinübergerettet, vielmehr nur im Roman Dichter und ihre Gesellen 1833 verwendet. Grund genug, es ans Licht der weltweit verbreiteten Computerbildschirme zu heben.
Dagegen stammt die Stelle darin, an der das Kränzlein schon wieder herausgerissen erscheint, noch aus der Ballade Der armen Schönheit Lebenslauf in Aus dem Leben eines Taugenichts und das Marmorbild. Zwei Novellen nebst einem Anhange von Liedern und Romanzen 1826.
Gleichzeitig dient der Ausschnitt als Beleg für eine Flämmchen-Figur.
——— Joseph von Eichendorff:
Siebzehntes Kapitel
aus: Dichter und ihre Gesellen, Duncker & Humblot, Berlin 1833:
Auf einmal bog er rasch mitten in das Blütenmeer von Gärten hinein. Sie kamen an ein kleines, aber wohlgebautes, reinliches Haus, von Efeu, Weinlaub und blühenden Bäumen reizend überwachsen und verdeckt; die Tauben, die sich auf dem Dache in der Abendsonne spiegelten, die offenstehenden Fenster und Türen, wo bunte Schmetterlinge flimmernd ein und aus flatterten, alles gab ein wunderliches Bild südlicher Häuslichkeit. Otto führte seinen Begleiter ohne weiteres gerade durch das Haus in ein dahinter gelegenes einsames Gärtchen, umgeben von Nachbargärten, die von allen Seiten blühend hereinhingen und jede Aussicht verschlossen.
„Wo sind wir denn hier?“ fragte endlich Fortunat erstaunt. Indem aber erschien ein Mädchen in der Haustür, er erkannte sogleich die schöne Annidi wieder. Sie begrüßte ihn etwas verwirrt und beschämt, dann trat sie unter eine Weinlaube und begann aus ihrem Handkörbchen einen Tisch reinlich zu decken, Gläser und Teller aufzustellen. Draußen im Nachbargarten hörten sie einen Knaben fröhlich singen:
Es sang ein Vöglein hier jedes Jahr:
Wie schön das Kränzlein im dunklen Haar!
Heuer ist’s Vöglein nicht wiederkommen;
Wer hat dir das schöne Kränzlein genommen?Nun hielt sich Otto nicht länger, es kam alles heraus: daß Annidis Eltern seine Besuche ohne bestimmte Erklärung nicht weiter dulden wollten, daß er seit einigen Tagen mit dem Mädchen verheiratet und sich nun samt den Ihrigen hier eingenistet habe. Fortunat erschrak über diese ganz unerwartete Entdeckung und überdachte schnell die wunderlichen Folgen, die diese Übereilung für Otto herbeiführen mußte. Doch wurde er bald durch die liebliche Erscheinung der jungen Frau wieder beschwichtigt, die sich, ihrer neuen Lage noch ungewohnt, fortwährend mehr zierlich dienend als mitgenießend erwies, als sie sich nun fröhlich unter der Laube um den Tisch setzten. Auch ihre Eltern gesellten sich jetzt zu ihnen, zu Fortunats heimlichem Unbehagen, den die gewöhnlichen, welsch gekniffenen Gesichter störten. Sie mischten sich öfters ungeschickt mit in das Gespräch, redeten viel von guter Wirtschaft und dem nötigen Fleiße ihres Schwiegersohnes im Büchermachen, und Fortunat konnte wohl bemerken, daß sie ihn selbst als einen Zeitverderber und zweideutigen Kameraden Ottos scheel ansahen. – Unbekümmert saß und schmauste unterdes das glückliche Ehepaar, Annidi auf einem Fußbänkchen mit beiden Armen auf Ottos Knie gestützt und die gebratenen Kastanien ausschälend, die sie jede zur Hälfte miteinander teilten. Der Mond schimmerte schon durch das Weinlaub, Otto war seligstill, die junge Frau überaus schön, drüben sang der Knabe wieder:
„Wer hat dir das Kränzlein genommen?“
Fortunaten aber überwältigte mitten in dieser Stille eine unwiderstehliche Wehmut, als sei Otto nun hier in der Fremde märchenhaft verzaubert. Es wollte ihm das Herz zersprengen, er schützte ein dringendes Geschäft vor, ergriff schnell seinen Hut und nahm tief gerührt Abschied von dem Freunde, wie von einem Verstorbenen. Als er zurückblickte, standen Otto und Annidi noch in der Haustür. Glühwürmchen schwärmten leuchtend durch das Rebengelände, er sah von der schönen Frau nur noch die glänzenden Augen und Schultern, Otto erschien todbleich im Mondschein.
In wirren Gedanken war Fortunat hastig nach Hause geeilt. Der Mond schien prächtig über den alten Garten, er lauschte, ob er Fiametta nicht wieder singen hörte, doch alles blieb still. Als er aber um den Pfeiler des Schlosses trat, fuhr er heftig zusammen, denn in einer der Alleen glaubte er plötzlich sich selber zu erblicken. Unverwandt starrte er hin, die Gestalt zeigte sich noch einmal im hellsten Mondlicht, es war seine Kleidung, sein Gang, seine Haltung, und doch schien es wieder ein ganz fremder junger Mann. Jetzt blieb der Unbekannte lauernd hinter einer Hecke stehen. Da kam auf einmal Fiametta aus dem Gebüsch hervorgesprungen, besah ihn lachend rundum, dann gingen sie Arm in Arm tiefer in den Garten hinein. Mitten im fröhlichen Plaudern aber schienen sie plötzlich Fortunats Schatten auf dem Rasen zu bemerken, er sah sie erschrocken entfliehen, und bald war die ganze Erscheinung im Dunkel wieder verschwunden.
Fortunat aber hatte sich im Schloß gewandt und ging heftig in seinem Zimmer auf und nieder. »Also diesem galt das Abendliedchen letzthin, o ich Tor!« sagte er mit einem bittern Gefühl, das er sich selbst nicht eingestehen mochte. Es war fest beschlossen, er wollte sogleich morgen weiter nach Neapel reisen, ohne Fiametta noch einmal wiederzusehen. Noch in der Nacht schrieb er sein Vorhaben dem Marchese, der eben auf dem Lande war, und packte, in geheimer Wut lustige deutsche Lieder singend, seinen Koffer. Dabei schwirrten ihm die Worte aus einem alten Liede:
Das Kränzlein ist herausgerissen,
Ganz ohne Scheu sie mich anlacht:
Geh du vorbei: sie wird dich grüßen,
Winkt dir zu einer schönen Nacht.immerfort durch den Sinn, daß er darüber aus Herzensgrunde hätte weinen mögen.
Und das ist nur eins von den nicht wiederverwendeten Gedichten aus dem Gesellen-Roman. Die übrigen retten wir auch noch. Sie erinnern mich dran, ja?
Bilder: Hundred-Eyed Fox: Bird Girl, 2022;
Daniel Bilmes: Descending Into the Unknown, via Aqua Regia, 2. Januar 2023;
Happy Heidi: birds in art, 2. November 2022.
Soundtrack: Pink Floyd: Several Species of Small Furry Animals Gathered Together in a Cave and Grooving with a Pict, aus: Ummagumma, 1969:
Und als Bonus Track etwas, das man ohne innere Verletzungen anhören kann:
Lael Neale: Dead Bird, aus: I’ll Be Your Man, 2015:
Je ne suis pas d’accord / Je déteste ce que vous écrivez / Je n’aime pas vos idées
Update zu Begräbnis des Glaubens (L’enterrement de la foi):
Ich hab nichts gegen Vorurteile.
Harry Rowohlt.
Je meurs en adorant dieu, en aimant mes amis, en ne détestant pas mes ennemis, en haissant la superstition.
Voltaire, 8. Februar, † „erst“ 30. Mai 1778.
50 Jahre lesen können, davon 25 im Internet, und man kennt alle Kalendersprüche. Alle. Von „Anonym“ bis „Oscar Wilde“, erstaunlich viele sollen von Coco Chanel sein, der Bestand ist die letzten 50 Jahre recht stabil geblieben, höchstens dass mal ein „Arbeit macht das Leben süß“ ausscheidet. Nachhaltig beeindruckt hat mich um 1980 ein einziger, den ich schon nicht mehr so oft antreffe, von Voltaire:
Ich bin nicht einverstanden mit dem, was Sie sagen, aber ich würde bis zum Äußersten dafür kämpfen, daß Sie es sagen dürfen.
Das mit dem Sagen-Dürfen wird in letzter Zeit weithin am liebsten für die eigene Person eingefordert, gern unter Berufung auf einen Freiheitsbegriff, der sich an den eigenen, keiner Definition werten Vorlieben orientiert; „bis zum Äußersten“ wird dabei allenfalls eine längst bestehende Meinungsfreiheit strapaziert, die zugleich geleugnet wird. Lange Geschichte.
Beeindruckend und aufgeklärt, ja selbstlos genug von Monsieur Voltaire. Eine viel interessantere und menschlich zuträglichere Frage als die, ob in dem Deutschland, wie wir es seit 1990 kennen, nun eine Meinungsfreiheit gewährleistet sei oder nicht, ist daher: Wo ist das Zitat genau her? — Im Original kursieren die Versionen:
Je ne suis pas d’accord avec ce que vous dites, mais je me battrai jusqu’à la mort pour que vous ayez le droit de le dire.
Monsieur l’abbé, je déteste ce que vous écrivez, mais je donnerai ma vie pour que vous puissiez continuer à écrire.
Oder zahmer:
Je n’aime pas vos idées mais je me battrai pour que vous puissiez les exprimer.
Wer sonst nichts über Voltaire weiß, kennt immer noch seine Portraits mit dem verschmitzten Mausegesicht unter den kleidsam gebrannten Locken und mindestens eine dieser Versionen in unwesentlich voneinander abweichenden Eindeutschungen. Auf der Suche nach dem französischen Original kommt man dem Wust an populär-unwissenschaftlichen „Quellenangaben“ und leichtfüßigen Auslassungen am besten im französischen Wikipédia-Artikel über Tolérance bei. Zur Zeit meines letzten Aufsuchens war derselbe immer noch alles andere denn gültig abgeschlossen, bot aber immerhin in einer Fußnote ein Sprungbrett. Im weiteren Verlauf der Bearbeitungen, die nicht ich vornehmen möchte, erwarte ich eher größere Prominenz denn Streichung der Quelle. Die persönliche Anrede in der Version an den Monsieur l’abbé deutet noch auf die größte biographische Zuverlässigkeit.
Eine prominente Fundstelle, die es wissen sollte, nämlich Sandrine Campese vom zitierten Projet Voltaire, räumt gleich als erstes in der Überschrift auf: „Voltaire n’a jamais dit : « Je ne suis pas d’accord avec vous, mais je me battrai… »“ — und aus der Traum vom Kalenderspruch von Voltaire, und die Brennlocken waren eine Perücke. Konstruktiv führt Madame Campese eine Evelyn Beatrice Hall ins Feld, die eine der Variationen verwendet hat:
I disapprove of what you say, but I will defend to the death your right to say it.
— und zwar genau so, als englisches Original. Unter dem zeittypisch geschlechtsneutralen Pseudonym S. G. Tallentyre ist Frau Hall 1903 mit der englischsprachigen Biographie The Life of Voltaire, 1906 mit der Biographiensammlung The Friends of Voltaire und 1919 mit den Brief-Übersetzungen Voltaire In His Letters hervorgetreten. Der angeführte englische Satz erscheint 1906 in The Friends of Voltaire, in Kapitel VII. Helvétius: The contradiction (1715–1771):
What the book could never have done for itself, or for its author, persecution did for them both. „On the Mind“ became not the success of a season, but one of the most famous books of the century. The men who had hated it, and had not particularly loved Helvétius, flocked round him now. Voltaire forgave him all injuries, intentional or unintentional. „What a fuss about an omelette!“ he had exclaimed when he heard of the burning. How abominably unjust to persecute a man for such an airy trifle as that! „I disapprove of what you say, but I will defend to the death your right to say it,“ was his attitude now.
Online findet sich dieses englische Original digitalisiert im Kontext auf Seite 199. Sinnigerweise wurde die Stelle im Exemplar der Reese Library of the University of California irgendwann zwischen 1906, als es veröffentlicht, und 2008, als es digitalisiert wurde, sehr gezielt handschriftlich angestrichen — mitsamt den Anführungszeichen, die sehr schnell und sehr leichtfertig so ausgelegt wurden, als ob Hall hier Voltaire direkt zitiert hätte.
Man hätte es wissen können, wenn man wollte: Der gerade zweiseitige Artikel in den Modern Language Notes, Band 58, No. 7, pp. 534 bis 535 von Burdette Kinne: Voltaire Never Said it! stammt schon vom November 1943.
Überhaupt zeigt sich die englischsprachige Literatur hier sehr viel schlauer, im Falle Voltaires sagt sich treffender: aufgeklärter als die deutsche: Auf einem Gegenwert von ebenfalls ungefähr zwei Seiten überhschaut der Stammtisch Beau Fleuve. A multidisciplinary collaboration for Communication, Research, and Lunch unter dem Stichwort Voltaire die gesamte Quellenlage:
The phrase
„I disapprove of what you say, but I will defend to the death your right to say it“
is widely attributed to Voltaire, but cannot be found in his writings. With good reason. The phrase was invented by a later author as an epitome of his attitude.
It appeared in The Friends of Voltaire (1906), written by Evelyn Beatrice Hall under the pseudonym S[tephen] G. Tallentyre. Chapter VII is devoted to Helvétius (1715-1771), whom she depicts as a kindly, generous person, with a hint of more talent to raise him above mediocrity. He married and settled in the sticks, with a new wife who was unfashionably old (32), and they were happy. This was ended by his tragic aspiration, to earn some small glory for himself as a philosopher.
In 1758, he published „De l’Esprit,“ which Hall renders „On the Mind.“ From the little Hall says of it directly, I take it that this was a moral-relativist tract, adducing bad social conditions as the cause of immoral behavior, regarding humans essentially as animals, and skeptical of the validity of moral claims generally.
This was unpopular with everyone – secular philosophers, all of the church, the government. It certainly got him noticed, but not by all at once. Voltaire immediately regarded the work as a serious disappointment from one who had been a somewhat promising protege. He was most insulted to have been compared in it with lesser intellectual lights (Crébillon and Fontenelle). It was widely criticized by other wits of their enlightened social circle. For a few months, however, it escaped the notice of the government.
Then the Dauphin read it.
The privilege to publish was revoked; the censor who approved its publication was sacked. A rolling wave of official condemnation began, culminating with the Pope (Jan. 31, 1759) and the Parliament of Paris (Feb. 6) and public book-burning by the hangman (Feb. 10), an honor shared with Voltaire’s „Natural Law.“
On the principle that anything so unpopular with the government must ipso facto be pretty good, the official condemnation permanently established Helvétius’s philosophical repute among the fashionable salon crowd, and rehabilitated him among the intellectual elite as well, to a great extent. He became popular in Protestant Germany and England.
Hall wrote:
…The men who had hated [the book], and had not particularly loved Helvétius, flocked round him now. Voltaire forgave him all injuries, intentional or unintentional. `What a fuss about an omelette!‘ he had exclaimed when he heard of the burning. How abominably unjust to persecute a man for such an airy trifle as that! `I disapprove of what you say, but I will defend to the death your right to say it,‘ was his attitude now. But he soon came, as a Voltaire would come, to swearing that there was no more materialism in `On the Mind‘ than in Locke, and a thousand more daring things in `The Spirit of Laws.‘
(Boldface added here for emphasis.) Friends is not a scholarly work, but Hall is fairly scrupulous throughout the book to state within the text whether she is quoting speech or text, and whether various reports are first-person or likely hearsay. I believe it was reasonable of her to expect that `I disapprove … say it‘ would be recognized as her own characterization of Voltaire’s attitude. I think some readers were confused because of the way she follows this with paraphrases of his spoken criticisms.
In any case, the phrase was too eloquent, so it became quoted, and famous names attach themselves to quotes, to the detriment of the less well-known originators.
Hall herself claimed later that she had been paraphrasing Voltaire’s words in his Essay on Tolerance:
„Think for yourselves and let others enjoy the privilege to do so too.“
Hall died in 1919 [laut Wikipedia erst 1956]. In his A Book of French Quotations (1963), Norbert Guterman suggested that the probable source for the quotation was a line in a 6 February 1770 letter to M. le Riche:
„Monsieur l’abbé, I detest what you write, but I would give my life to make it possible for you to continue to write.“
Laut Sandrine Campese im Projet Voltaire sollte Evelyn Beatrice Hall später bestätigen, dass das Zitat ihre eigene Formulierung war und daher nicht in Anführungszeichen gesetzt werden sollte. Ob das aufgrund einer Ungeschicklichkeit des Autors, Verlegers oder Setzers geschah, das Zitat wurde schnell ins Französische übersetzt und gewann die bekannte Eigendynamik.
Voltaire war also, wenn man nichts als dieses eine Zitat benutzt, mit spätestens 75 Jahren zu einer recht mehrheitsfähigen Auffassung von Toleranz gelangt. Allein das wäre schon ganz ordentlich für eine Lebensaufgabe, dabei stammt sein Traité sur la Tolérance schon von 1763. Der Monsieur l’abbé ist seinem Beruf bis heute wirksam genug nachgekommen, dass er auf Voltaires Ablehnung stoßen konnte, alles andere wäre eine Verfehlung eines kirchlichen Auftrags gewesen. Frau Hall bleibt das Verdienst, eine Formulierung zu finden, die man offensichtlich ohne weiteres Voltaire zutraut, auf der Gegenseite nur vielleicht die lässliche Sünde eines Satzzeichenfehlers.
„Dieu est un comédien jouant devant un public trop effrayé pour rire.“ Das soll auch von Voltaire sein.
Weiterführende Studien zur Toleranz: Voltaire: Traité sur la Tolérance,
das ist: Über die Toleranz, 1763, Lesung Friedhelm Ptok:
Bilder: Voltaire mit verschmitztem Mausegesicht, aber ohne Brennlocken:
Jean-Baptiste Pigalle: Voltaire nu, 1776, via Images d’Art;
Evelyn Beatrice Hall: The friends of Voltaire, 1906, Seite 198 und 199.
Beiträge zur Toleranz: Monty Python: Das Leben des Brian, 1979:
Ich möchte, dass ihr mich von jetzt an Loretta nennt.
Dieselben: Der Sinn des Lebens, 1983, Schluss:
Ach naja, das ist ja nichts Besonderes. Seien Sie nett zu Ihren Nachbarn, vermeiden Sie fettes Essen, lesen Sie in paar gute Bücher, machen Sie Spaziergänge und versuchen Sie, in Frieden und Harmonie mit Menschen jeden Glaubens und jeder Nation zu leben.
Bonus Track: Guy Davis: We Don’t Need More Banjos in This World, aus: Legacy, 2004:
Nachtstück 0031: Deine Augen sind die Nacht and the wind will be my hands (Der Nachtwächter aber schüttelte den Kopf)
Update zu Nachtstück 0015: Bis die Zeit auch Dich verspeist und
Ein Haufen belebter Maschinen, welche von der Natur hervor getrieben worden wären, für sie zu arbeiten:
Soviele Eichendorff-Gedichte – was wir nahezu als Gattungsbegriff verwenden – man auswenig kennt, ist Wetterleuchten fern im Dunkeln selten unter ihnen. Das hat Eichendorff nämlich in keine Gedichtsammlung aufgenommen, sondern nur in seinem zweiten und letzten Roman Dichter und ihre Gesellen 1833 verwendet. Man muss also davon wissen oder abseitige Spätromantik wälzenderweise zufällig darauf stoßen – auch wenn seine Aufforderung „Schüttle nur die dunklen Locken“ wörtlich noch einmal in Verlorne Liebe 1834 erging. Dazu passt unschlagbar des Dichters selten verwendete Daguerrotypie aus seinem Todesjahr 1857. Und das Lied der Handsome Family in ähnlicher Grundstimmung. Und einmal mehr erscheinen uns die drei Stränge Text, Bild und Musik wie zum Zopf geflochten.
——— Joseph von Eichendorff:
Eilftes Kapitel
aus: Dichter und ihre Gesellen, Duncker & Humblot, Berlin 1833, Kapitelschluss:
Da betete die Alte still vor sich, denn nun glaubte sie’s selbst auch, daß in der Abendstille ein Engel an ihrem Hause vorübergegangen. – Währenddes stieg der Maler Albert, bis an die Zähne bewaffnet, still und ernst den Waldberg hinan. Er hatte vorhin die Gräfin auf dem Felsen, dann den Fürsten heimlich hinaufschleichen gesehen und in seiner Tugendhaftigkeit sogleich beschlossen, mit Gut und Blut die Unschuld zu beschützen. Die Nacht war schon hereingebrochen, die ganze Gegend stand wie in Gedanken im Mondglanz umher, und als Juanna wieder im Schloß an ihrem Fenster stand, hörte sie unter sich den Strom aufrauschen, wie von Ruderschlägen. Es war Lothario, der unten auf einem Nachen vorüberfuhr und sang, sie konnte durch den Nachtwind nur folgende Worte verstehen:
Wetterleuchten fern im Dunkeln,
Wunderbar die Berge stehn,
Nur die Bäche manchmal funkeln,
Die im Grund verworren gehn,
Und ich schaue froh erschrocken
Wie in eines Traumes Pracht
Schüttle nur die dunklen Locken,
Deine Augen sind die Nacht.Der Nachtwächter unter den Fenstern aber schüttelte den Kopf und sah zu seiner Verwunderung auf dem Felsen drüben eine lange Gestalt, auf ihr Schwert gestützt, die halbe Nacht hindurch gleich einer verlornen Schildwacht stehen.
——— The Handsome Family:
Far from Any Road
aus: Singing Bones, 2003, verwendet als Vorspann für True Detective ab 2014:
From the dusty mesa, her looming shadow grows
Hidden in the branches of the poison creosote
She twines her spines up slowly towards the boiling sun
And when I touched her skin, my fingers ran with blood.In the hushing dusk, under a swollen silver moon
I came walking with the wind to watch the cactus bloom
A strange hunger haunted me; the looming shadows danced
I fell down to the thorny brush and felt a trembling hand.When the last light warms the rocks and the rattlesnakes unfold
Mountain cats will come to drag away your bones
And rise with me forever across the silent sand
And the stars will be your eyes and the wind will be my hands.
Bilder: Joseph von Eichendorff, Daguerrotypie 1857, via Zeno;
Hans Zatzka: Feentanz, frühes 20. Jahrhundert, via Happy Heidi, 30. Dezember 2021;
Emil Supp: Mondscheinpartie mit Mädchenreigen im Augenschein von Satyrn, 1923,
via Very Important Lot, 15. Januar 2021.
Dornenstück 0013: Heute spielen die letzten Schrammeln
Update zu Oh my, oh my, oh my, what if it was true? (O wolle nicht ergründen, was einmal unergründlich ist),
Der poetische Act,
Durch die Mumie einer altägyptischen Prinzessin bereichert
und Dornenstück 0007: Non stabat pater dolorosus:
Das requiem viennense aus dem harten Kern der Wiener Gruppe ist leider keine direkte Übersetzung des bekanntesten Requiems, das von dem deutschgebürtigen Salzburger Mozart 1791 stammt, aber formal eine vollauf gültige Sequenz einer Missa pro defunctis mit wahrnehmbaren Anspielungen auf die Mozarteische Lösung: So bedeutet „gib eana ka rua / leicht eana ham / mid deina latean“, wörtlich ins Bundesdeutsche übersetzt „gib ihnen keine Ruhe, leuchte ihnen heim mit deiner Laterne“, wohl das bekannte „Requiem aeternam dona eis, Domine, / Et lux perpetua luceat eis“ aus dem Introitus. Und so geht das weiter, stellenweise nicht ohne Brillanz. Wer im oberdeutschen Sprachraum aufgewachsen ist, mag alledem folgen können, Leser ab dem Mitteldeutschen abwärts tun mir leid. Und das ist überaus passend für ein Wienerisches Requiem zum Karfreitag.
Die nicht nur kon-, sondern ganz allgemein geniale Vertonung stammt erst von Peter Hudler und Andreas Teufel von Schrammelbach, aus: Ka rua, 2021.
——— H. C. Artmann, Gerhard Rühm:
requiem viennense
aus: Gerhard Rühm, Hrsg.: Die Wiener Gruppe, Rowohlt, Hamburg 1985,
cit. nach H. C. Artmann: Sämtliche Gedichte, Jung und Jung, Salzburg und Wien 2003, Seite 250 bis 254:
requiem
ka rua
ka rua
ka rua
gib eana ka rua
leicht eana ham
mid deina latean
daß blean
und rean
in weansei ned fäu
aum zenträu
olle bana
unta d schdana
schdeck ins mäu
happ dein deuka rua
ka rua
ka rua
gib eana ka rua
leicht eana ham
mid deina latean
daß bleandies irae
saf und oschn
s nutzt ka woschn
graus von hintn
graus von vuan
und an gachn
und an zuan
sacramentum in favilla
dies irae, dies illatuba mirum
heite schbün die letztn schrammen
duach die finstan gäng und kuchln
daß die foeschn beißaln scheppan
aus n heampa foen die rammenduach die luft do saust a biachl
und die buchschdam die foen obe
druckaschwäaz dreibt oes aus d lecha
rotz, di foßt ka doschndiachl!söbst die äagstn raunza guschn
schmähschdad sans und ohne aufdrog
schdengan do in fleckalbodschn
und haum nix mea zum vaduschnrex tremendae
kan pardon
kan pardon
zinseszins und wochnlohnrecordare
jo, des woan hoet fesche zeitn
wia ma no an guidn gschepft haum
schnitzln, schdötzn, brodne antn
hauma mit vöslaua guagltjo, des woan hoet fesche zeitn
wo ma di duli gschdödn madln
einezwickt haum in die wadln
oda viregricht die wadlnjo, des woan hoet fesche zeitn
wo noch sel’ge walzer klangen
und der himmel voller geigen
und die geigen walzer sangenjo, des woan hoet fesche zeitn
wia die zeitn no gnua zeit ghobt
wia die zeitn no gnua zeit ghobt
und der ausgang noch in weiten …confutatis
charon, laß dein ruderplätschern
wir, die wir uns vor zwetschgen bäumen
winden uns vor lethes schäumen
wenn zum aufbruch du uns winkestlacrimosa
rean rean rean
blean blean blean
rean rean rean
blean blean blean
saf und oschn
s nutzt ka woschn
rean rean rean
blean blean bleanbenedictus
wer kommt denn da
wer kommt denn da
wie ist doch gleich der namel
den kenn ich doch
den kenn ich doch
des is da neiche schrammelagnus dei
jetzt samma
jetzt samma
jetzt samma aus n schneida
und wuaschtln
und wuaschtln
und wuaschtln wieda weida
jetzt samma
jetzt samma
jetzt samma aus n schneida
und wuaschtln
und wuaschtln
und wuaschtln wieda weida
jetzt samma
jetzt samma
jetzt samma aus n schneida
und wuaschtln
und wuaschtln
und wuaschtln wieda weida
~~~\~~~~~~~/~~~
Bilder: Ansichten der bärtigen Jungfau und fiktiven Volksheiligen Wilgefortis, das ist: Kümmernis,
aus nicht mehr nachvollziehbaren Stellen meist erloschener Tumblr-Sammlungen,
nebst einer Serie von Pietàs mit anderen gekreuzigten heiligen Jungfrauen von Hieronymus Wierix,
spätestens 1609, Radierung via Britisches Museum.
Soundtrack: Wolfgang Amadeus Mozart: Requiem in d-Moll, KV 626, 1791,
live unter dem berlingebürtigen Steirer Nikolaus Harnoncourt, ca. 1981:
Filetstück 0004: Kindergeschrei ist auch ein Gesangbuchvers
Update zu Geibels Wesen und Beruf,
Hochwaldklangwolke: Die einzelnen Minuten, wie sie in den Ozean der Ewigkeit hinuntertropfen,
Uns eine Drehorgel kaufen und unsere eigene Geschichte auf eine Leinwand malen lassen und ein Lied davon machen und es absingen auf allen Gassen des Vaterlandes!
und Frankonachten 5/5: Du bist schon lange gestorben:
Es ist eigentlich eine böse Zeit! Das Lachen ist teuer geworden in der Welt, Stirnrunzeln und Seufzen gar wohlfeil. Auf der Ferne liegen blutig dunkel die Donnerwolken des Krieges, und über die Nähe haben Krankheit, Hunger und Not ihren unheimlichen Schleier gelegt; – es ist eine böse Zeit!
A. a. O., Anfang.
Wie schon längst versprochen, wenngleich nur mir selber, habe ich mich unter den Großlangweilern der Weltliteratur zum wiederholten Mal auf das nächste Niveau gewagt: an Wilhelm Raabe.
Schon sein Debut Die Chronik der Sperlingsgasse von 1854 f., gedruckt 1857, experimentiert Raabe mit den Erzählkategorien: Der Ich-Erzähler spricht deutlich nicht mit der Stimme des 24-jährigen Autors Raabe, sondern ist in Gestalt des greisen Chronisten „Johannes Wachholder“ ein halb unzuverlässiger Erzähler, der sich eine durchweg assoziative Chronologie, Abschweifungen, persönliche Wertungen und sogar das Eingreifen fremder Erzählerstimmen erlaubt.
Eine der letzteren ist die des leutseligen Karikaturenzeichners „Ulrich Strobel“, der sich über die Auffassung des Deutschtums im späten Biedermeier auslässt, wie sie vermutlich der Autor Raabe selbst vertreten hat. Ich bringe Strobels Gastbeitrag namens Strobeliana zur Chronik, um einen Block gekürzt und mit erklärenden Links zu den Stellen, die der Winkler-Ausgabe eine Anmerkung wert waren.
Mit oder ohne Verlaub meiner versammelten lesenden Bekanntschaft, also nicht allzuvieler Menschen, die allenfalls, dem deutschen Feuilleton folgend, nur zu dessen Jubiläen zwei Minuten lang Gutes über Wilhelm Raabe sprechen, kann ich das für politisch diskutierwürdig, aber ums Verrecken nicht langweilig finden.
——— Wilhelm Raabe:
Strobeliana.
aus: Die Chronik der Sperlingsgasse, 1857; Winkler-Ausgabe Seite 139 bis 143:
3 Uhr. – Ich habe mir eine Zigarre angezündet, den Bogen neben mich ins Fenster gelegt und beginne meine Beobachtungen. […]
Es war an einem Sonntagmorgen im Juli, als ich auf braunschweigschem Grund und Boden am Uferrand der Weser lag und hinüberblickte nach dem jenseitigen Westfalen. Früh vor Sonnenaufgang war ich, über Berg und Tal streifend, mit dem ersten Strahl im Osten in ein gleichgültiges Dorf hinabgestiegen. Ich hatte Kaffee getrunken unter der Linde vor dem Dorfkrug, hatte behaglich das Treiben des Sonntagsmorgens im Dorf belauscht und andächtig der kleinen Glocke zugehört, die in dem spitzen, schiefergedeckten Kirchturm läutete. Manchem hübschen, drallen niedersächsischen Mädchen, das sich über den sonderbaren, plötzlich ins Dorf geschneiten Fremdling wunderte, hatte ich lächelnd zugenickt; ich hatte Bekanntschaft mit der gesamten Kinder-, Hühner-, Gänse- und Entenwelt des „Krugs“ gemacht, dem weißen Spitz den Pelz gestreichelt und manche Frage über „Woher und Wohin“ beantwortet. Mit meinem Wirt (der zugleich Ortsvorsteher war) hatte ich das Bienenhaus besucht, darauf die Gemeinde, den Kantor und Pastor in die Kirche gehen sehen und hatte mich zuletzt allein im Hofe unter der Linde gefunden, nur umgehen von der quackenden, piepsenden geflügelten Schar des Federviehs. Aus diesem dolce far niente hatte mich plötzlich das Schreien eines Kindes aufgeschreckt. Es drang aus dem Haus hinter mir und bewog mich, aufzustehen und in das niedere, vom Weinstock umsponnene Fenster zu sehen. Eine alte Frau war eben beschäftigt, einen widerspenstigen, heulenden, strampelnden Bengel von vier Jahren mit Wasser, Seife und einem wollenen Lappen tüchtig zu waschen, welcher Prozedur drei bis vier andere kleine „Blaen“ angstvoll zusahen, wartend, bis die Reihe an sie kommen würde.
„Nun, Mutter“, sagte ich, mich auf die Fensterbank lehnend; „und Ihr seid nicht in der Kirche?“
Die Alte sah auf und sagte lachend: „Et geit nich immer; ek mott düsse lüttgen Panzen waschen und antrecken – Herre – Kinderschrieen is ok een Gesangbauksversch!“
Ich nahm den Hut ab und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Welch eine wunderbar schöne Predigt lag in den fünf Worten des alten Weibes! Eine Schwalbe beschrieb eben ihren Bogen um mich, ihrem Neste unter dem niedrigen Dachrande zu, und klammerte sich, ihre Beute im Schnabel, an die Tür ihrer kleinen Wohnung, begrüßt von dem jubelnden Gezwitscher der federlosen Brut. Ich konnte der alten Frau kein Wort mehr sagen.
„Kinderschrieen is ok een Gesangbauksversch!“ murmelte ich leise, zu meinem Tisch unter der Linde zurückgehend. Ich riß ein Blatt aus meiner Brieftasche, schrieb darauf: Kinderschreien is ok een Gesangbauksversch, und zog es mit einem Strauß Waldblumen unter das Hutband.
Träumend schritt ich dann durch die Tür des Dorfkirchhofs, vorüber an den bunten, geputzten Gräbern, zu dem offnen Kirchtor (auf dem Lande braucht der Protestantismus seine Kirchen während des Gottesdienstes noch nicht zu schließen) und lehnte andächtig an der Esche davor. Mit großer Freude hörte ich, wie der junge Pastor eine Gellertsche Fabel in das Gleichnis aus dem fernen Orient schlang, während die Schwalben in dem heiligen Gebäude hin und her schossen und ein verirrter Schmetterling seinen Weg durch die geöffnete Kirchtür eben wieder zurückfand.
„Kinderschrieen is ok een Gesangbauksversch!“ rief ich, über die niedere Mauer in das freie Feld springend und durch die gelben Kornwogen mit ihrem Kranz von Flatterrosen am Rande der Weser zu wandernd. Da hatte ich mich ins Gras unter einen Weidenbusch geworfen und träumte in das Murren des alten Stromes neben mir hinein, während drüben im katholischen Lande eine Prozession singend den Kapellenberg zu dem Marienbild hinaufzog und hinter mir die protestantischen Orgeltöne leise verklangen. Welch ein wundervoller, blauer, lächelnder Himmel über beiden Ufern, über beiden Religionen, welch eine wogende Gefühlswelt im Busen, anknüpfend an die fünf Worte der alten Bäuerin! Ich war damals jünger als jetzt und legte das Gesicht in die Hände:
„Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott!
Ich habe keinen Namen
Dafür! Gefühl ist alles – – –“
Ein näher kommender Gesang weckte mich plötzlich: ich blickte auf. Brausend und schnaufend, die gelben Fluten gewaltig peitschend, kam der „Hermann“ die Weser herunter. Der Kapitän stand auf dem Räderkasten und griff grüßend an den Hut, als das Schiff vorbeischoß. Hunderte von Auswandrern trug der Dampfer an mir vorüber, hinunter den Strom, der einst so viele Römerleichen der Nordsee zugewälzt hatte. Ein Männerchor sang: „Was ist des Deutschen Vaterland„, und die alten Eichen schienen traurig die Wipfel zu schütteln; sie wußten keine Antwort darauf zu geben, und das Schiff flog weiter. Die Weser trägt keine fremden Leichen mehr zur Nordsee hinab, wohl aber murrend und grollend ihre eigenen unglücklichen Söhne und Töchter! – Ich verließ meinen Ruheplatz und ging durch den Buchenwald den nächsten Berg hinauf bis zu einer freien Stelle, von wo aus der Blick weit hinausschweifen konnte ins schöne Land des Sachsengaus. Welch eine Scholle deutscher Erde! Dort jene blauen Höhenzüge – der Teutoburger Wald! Dort jene schlanken Türme – die große germanische Kulturstätte, das Kloster Corvey! Dort jene Berggruppe – der Ith, cui Idistaviso nomen, sagt Tacitus. Ich bevölkerte die Gegend mit den Gestalten der Vorzeit. Ich sah die achtzehnte, neunzehnte und zwanzigste Legion unter dem Prokonsul Varus gegen die Weser ziehen und lauschte ihrem fern verhallenden Todesschrei. Ich sah den Germanicus denselben Weg kommen und lauschte dem Schlachtlärm am Idistavisus, bis der große Arminius, der „turbator Germaniae“, durch die Legionen und den Urwald sein weißes Roß spornte, das Gesicht unkenntlich durch das eigene herabrieselnde Blut, geschlagen, todmüde. Ich sah, wie er die Cheruska von neuem aufrief zum neuen Kampf gegen die „urbs“, wie das Volk zu den Waffen griff: Pugnam volunt, arma rapiunt plebes, primores, juventus, senes!
Aber wo ist denn die Puppe? kam mir damit plötzlich in den Sinn. Ich schleuderte den Tacitus ins Gras, stellte mich auf die Zehen, reckte den Hals aus, so lang als möglich, und schaute hinüber nach dem Teutoburger Walde. Da eine vorliegende „Bergdruffel“ (wie Joach. Heinr. Campe sagt) mir einen Teil der fernen, blauen Höhen verbarg, gab ich mir sogar die Mühe, in eine hohe Buche hinaufzusteigen, wo ich auch das Fernglas zu Hülfe nahm. Vergeblich – nirgends eine Spur vom Hermannsbild! Alles, was ich zu sehen bekam, war der große Christoffel bei Kassel, und mit einem leisen Fluch kletterte ich wieder herunter von meinem luftigen Auslug. Hatte ich aber eben einen leisen Segenswunsch von mir gegeben, so ließ ich jetzt einen um so lautern los. Ich sah schön aus! „Das hat man davon“, brummte ich, während ich mir das Blut aus dem aufgeritzten Daumen sog, „das hat man davon, wenn man sich nach deutscher Größe umguckt: einen Dorn stößt man sich in den Finger, die Hosen zerreißt man, und zu sehen kriegt man nichts als – den großen Christoffel.“ Ärgerlich schob ich mein Fernglas zusammen, steckte den Tacitus zurück in die Tasche und ging hinkend den Berg hinunter wieder der Weser zu. Ärgerlich warf ich mich, am Rande des Flusses angekommen, abermals ins Gras. Was hatte sich alles zwischen die gefühlsselige Stimmung von vorhin und den jetzigen Augenblick gedrängt! Der Himmel war noch ebenso blau, die Berge noch ebenso grün, der Papierstreifen von vorhin steckte noch neben den Waldblumen an meinem Hute, und doch – wie verändert blickte mich das alles an! Hätte das Dampfschiff mit seinen Auswandrern nicht später kommen können, da es doch sonst immer lange genug auf sich warten läßt? Hätte ich Narr nicht unterlassen können, nach dem Hermannsbild auszuschauen? Wie ruhig könnte ich dann jetzt im Grase meinen Mittagsschlaf halten, ohne mich über den großen Christoffel, den so viele brave Katten mit ihrem Blute bezahlt haben, zu ärgern! – Ich versuchte mancherlei, um meinen Gleichmut wiederzugewinnen; ich kitzelte mich mit einem Grashalm am Nasenwinkel, ich porträtierte einen dicken, gemütlichen Frosch, der sich unter einem Klettenbusch sonnte – es half alles nichts! – Der Dämon Mißmut ließ mich nicht los, wütend sprang ich auf, schrie: Hole der Henker die Wirtschaft! und marschierte brummend auf Rühle zu – – – Wetter, was ist das für ein Lärm in der Sperlingsgasse?! Heda – da ist ein Hundefuhrwerk in einen Viktualienkeller hinabgepoltert, und ich – ich, der Karikaturenzeichner Ulrich Strobel, sitze hier und schmiere Unsinn zusammen! Hol der Henker auch die Chronik der Sperlingsgasse! – Adieu, Wachholder!
Bilder:
- die Sperlingsgasse, ehemals Spreestraße in Berlin-Mitte:
-
Zentralbild Klein Bn-Ku. 2 Motive 24.10.1955 Alt-Berlin Ein Stück Alt-Berlin ist die Sperlingsgasse, die durch Wilhelm Raabe’s „Chronik der Sperlingsgasse“ berühmt wurde. Das Haus, in dem Frau Konarske, von den Berlinern „Joldelse“ genannt, die Raabe Diele als Wirtin betreut, ist mit Unterstützung des nationalen Aufbauwerkes renoviert worden. UBz: Raabe Diele und Blick in die Sperlingsgasse.
Bundesarchiv Bild 183-33625-0001, 24. Oktober 1955;
- Fridolin Freudenfett (Peter Kuley), 23. Oktober 2010;
- Achim Bodewig: Haus Sperlingsgasse 1 / Ecke Friedrichsgracht: Wandmosaik Walter Womacka: Der Mensch, das Maß aller Dinge (ursprünglich am Ministerium für Bauwesen, Breite Straße), 13. Dezember 2013;
-
- Thomas Wolf: Hermannsdenkmal 2015, 2. Juli 2015;
- Ralf Roletschek: Herkules-Statue im Bergpark Wilhelmshöhe in Kassel, 26. September 2018.
Soundtrack: „Ein Männerchor sang: ‚Was ist des Deutschen Vaterland'“, Ernst Moritz Arndt 1813:
Bonus Track: Hannes Wader: Vaters Land, aus: Wünsche, 2001:
Würste sprechen kein Hochdeutsch (ziemlich trunken eines billigen süßlichen Weines)
Update zu Die alte und neue Inertia (Warum hast du nichts gelernt?),
Dieses treffliche Märchen vom Schmidt
und Dornenstück 0010: Antisterntaler:
——— Rio Reiser / Dietmar Robert / Ignaz Semmel:
Je wodewi dehacka
als Hoffmanns Comic Teater, aus: Die wunderliche Gasterey, 1965,
cit. nach: Blackbox, Möbius Records (Buschfunk), 2016:
Je wodewi dehacka
De knohe ide knacka
De wide in desa!
De sine bide knöhel
Bore wi in löhel
Un hänge ihn danuff
Je wodewi dehacka
De knohe ide knacka
De wide in desa!
„Hä?“ – Gute und berechtigte Frage.
Rio „Ralph Christian Möbius“ Reiser, der erklärtermaßen nach dem Anton Reiser bei Karl Philipp Moritz heißt, nur leider seit dem 20. August 1996 ebenso 46-jährig wie schmerzlich abgeht, befehligte mit 15 Jahren sein erstes Kunstprojekt namens Hoffmanns Comic Teater. Darin unterläuft uns erst der Einakter Die Wunderliche Gasterey nach dem fast gleichnamigen Grimmschen Kinder- und Hausmärchen, nach dem Aarne-Thompson-Uther-Index aus der Motivkategorie ATU 334: Haushalt der Hexe, und darin ein dadaistisch anmutendes Vokalstück, gefolgt von dem Instrumentalstück Blut- Und Leberwurst, das offensichtlich nach den Haupthandelnden des Grimmschen Märchens heißt.
Rio Reiser war nämlich vier Jahre auf dem Nürnberger Melanchthon-Gymnasiumy, weswegen ich ihn um seine humanistische Grundausbildung beneide, und erinnert sich an den Zusammenhang aus nicht allzulanger Zeit danach in König von Deutschland. Von Ton, Steine, Scherben bis in die Hitparaden 1994:
Anfang Juni kam ein Anruf aus Nürnberg. Ich wurde dort gebraucht. Das Teater – die Fantastischen Vier – wollten drei Einakter aufführen. Ich fuhr hin. Ich war ja der Hauskomponist. Die vier wohnten in einer Ladenwohnung, Nähe Plärrer, in der Schreyerstraße. Zwei Zimmer. Beide waren von der Scheuerleiste bis zur Decke bemalt. Selbst die Zimmerdecken waren bemalt. Jeder der vier war an diesem Kunstwerk beteiligt. Ihre vier Stile zusammen ergaben eine Art galaktisches Barock. Hier wurde eine Dauer-Arbeits-Party gefeiert. Während im Hintergrund ständig die Beach Boys „Pet Sounds“ oder Johnny Cash „Orange Blossom Special“ zum Besten gaben, saßen sie zwischen leeren und halb vollen Martini- und Portweinflaschen und schnitzten und malten an Requisiten.
Die drei Einakter, die für die Aufführung ausgesucht waren, hießen „Rückkehr nach Terra“, „Gibt es Geister und Phantome?“ und „Die wunderliche Gasterey“. „Rückkehr nach Terra“ spielte in der Pilotenkanzel eines Raumschiffs, das sich auf die Erde zubewegt. Der Kapitän des Raumschiffs ist Adolf Hitler. „Gibt es Geister und Phantome“ war eine Art Jahrmarkts-Show, in der alle mögichen PSI-Phänomene vorgeführt wurden. Das Filetstück aber war „Die wunderliche Gasterey“ nach einem düsteren Grimm-Märchen, das Dietmar Robert alias Ignaz Semmel zu einem Stück umgearbeitet hatte. Es handelte von dem Mordkomplott einer Blutwurst gegen eine Leberwurst. Die Blutwurst, gespielt vom Autor selbst, hatte zwei düstere Arien: „Jetzt woll’n wir ihn zerhacken“ und „Das Wasser kocht“. Es fiel reichlich dramatische Musik an, auch bei den anderen beiden Stücken. Kostüme und Masken konnten größtenteils aus dem Teater-Fundus übernommen werden. Dietmar baute sich auch noch einen übergroßen dreistöckigen Hut. Außerdem brauchte er ein „langes, langes Messer, das blinkte, als wäre es frisch gewetzt“. An diesem Messer zu schnitzen und zu polieren, war eine seiner Hauptbeschäftigungen. Der „Ich-weiß-nicht-wer’s-gewesen-ist“, dargestellt von Blalla, bekam ein Kostüm und eine Maske, über und über mit Glühbirnchen besetzt, die von Taschenlampenbatterien gespeist waren. Der „Affe mit der großen Wunde“ wurde durch eine Esel ersetzt, der lateinische Lehrsätze von sich gab: „Plenus venter non studet libenter.“ Aus „Besen und Schippe“ wurden zwei Hähne, die Gehilfen der Blutwurst. Die beiden sollten auch Gitarre spielen. Für die Hähne schlug ich Richard Schorr und Georg Brütting vor. Die beiden hatten Lust, sie ahnten ja nicht, dass sie am Ende des Stücks von Dietmar – Sohn der beiden Speerwurf-Olympiasieger von 1936 – mit dem langen, langen Messer, an dem er schon so liebevoll schnitzte, durchbohrt werden sollten. So wollte es der Autor und Hauptdarsteller.
Geprobt werden konnte nur nachts, nach der letzten Vorstellung des „Neuen Theater Nürnberg“. Bei „Rückkehr nach Terra“ und „Gibt es Geister und Phantome“ gab es keine Probleme. Nur bei der „Wunderlichen Gasterey“, dem Lieblingskind, hatten wir noch nicht die richtige Lösung. Eines Nachts behauptete Blalla, Würste würden nicht Hochdeutsch sprechen und erst recht nicht das merkwürdige Barock-Deutsch, das Dietmar ihnen in den Mund gelegt hatte. Aber wie spechen Würste? – „Kannakkisch!“
Aber was ist Kannakkisch? Wir zerbrachen uns die Köpfe, schon ziemlich trunken eines billigen süßlichen Weines namens Lambrusco. Nach drei Stunden hatten wir’s geschafft. Das Stück war übersetzt. Die Blutwurst sagte jetzt nicht mehr: „Bon Matin, Bruder, ist eine kleine Visite gefällig?“ sondern „Bomati Budda, is gefälli i kli visit?“, „Oder stör ich?“ – „Odde story?“, „Ich geh schon wieder, ich geh schon wieder!“ – „Igoschowodda, Igoschowodda!“ – Und so weiter. Nur Latein blieb Latein. Nach einer Woche war die Musik fertig, entweder auf Tonband aufgenommen oder mit Richard und Georg eingeprobt, und ich verließ die Gasterey bei den Fantastischen Vier. Mein Geld war alle. […]
Die Premiere der drei Stücke war einer der beeindruckendsten Theaterabende, die ich erlebt habe. Das Publikum war entgeistert. Dergleichen war in Nürnberg noch nie gesehen worden. Wunderlich-Galaktisches-Kabuki-Theater-Ballett.
Von Hoffmanns Comic Teater ist nicht viel dokumentiert. Vermisst wird mit oder ohne des Künstlers Memoiren, wenngleich nicht ganz so sehr wie dessen feuerköpfichte Person, eine Aufnahme von Je wodewi dehacka samt nachfolgendem Blut- Und Leberwurst, die etwas zugänglicher als in der monumentalen, derweilen streng limitierten und von eifersüchtigen Erben gehüteten Rio Reiser – Blackbox gemacht wird. Traut sich jemand?
Bilder: Rio Reiser, eins via seiner von Peter und Gert Möbius Rio Reiser Haus e. V., offiziell betriebenen Website, eins via Max Hölz und eins aus seinem Polaroid-Archiv, auch via offizielle Website, alle um 1970.
Soundtracks: natürlich wie sich das auf einer anständigen Dauer-Arbeits-Party gehört:
Beach Boys: Pet Sounds, aus: Pet Sounds, 1966;
Johnny Cash: Orange Blossom Special, aus: Orange Blossom Special, 1965:
Wer weiß, wem sie geigen – hüt‘ dich, Gesell!
Update zu Das sind die Realitäten und die muss der Mensch vertreten,
Löblich wird ein tolles Streben, wenn es kurz ist und mit Sinn
und Zum Tanz, den sie schauderlich führen
(und Der Adel und die Revolution):
O Mensch betracht
Hie die Figur,
Die nimmt der Tod
Gleich wie die Blum
Und nicht veracht
All Creatur
Frühe und spoht,
Im Feld vergoht.Der Todten-Tantz, wie derselbe in der weitberühmten Stadt Basel,
als ein Spiegel Menschlicher Beschaffenheit, gantz künstlich mit lebendigen Farben gemahlet,
nicht ohne nutzliche Verwunderung zu sehen ist, 1786.
Eichendorffs Kehraus ist seine vielleicht übermütigste Ballade, da dauert meine private Forschung noch an. Schweifreime mit gerade einmal zwei Hebungen, das muss sich sehr akkurat reimen. Das war Präzisionsarbeit, Herr Baron.
Eine ähnliche Tonart haben Goethe in Der Totentanz 1813, Ludwig Uhland in Der schwarze Ritter 1815, Justinus Kerner in Andreas ans Anna 1828, Otto von Loeben in Der Tanz mit dem Tode 1819 oder Franz von Gaudy in Der Zug des Todes, gerade in der Vorgängernummer 1837 des Deutschen Musenalmanachs angeschlagen, an Anregungen fehlt es Eichendorff also nicht.
Eichendorff selbst bezieht seine Auffassung vom Totentanz nur auf seine eigene Quelle: aus seinem ersten Roman Ahnung und Gegenwart 1812, erschienen 1815, wo sich die Figur Leontin auf dem Maskenball als der bekannte, leider 1805 als Schandfleck abgerisssene Tod von Basel verkleidet. – Beide Stellen im Vergleich:
——— Joseph von Eichendorff:
Der Kehraus
aus: Deutscher Musenalmanach, 1838:
Es fiedeln die Geigen,
Da tritt in den Reigen
Ein seltsamer Gast,
Kennt keiner den Dürren,
Galant aus dem Schwirren
Die Braut er sich faßt.
Hebt an, sich zu schwenken
In allen Gelenken.
Das Fräulein im Kranz:
„Euch knacken die Beine. –“
„Bald rasseln auch deine,
Frisch auf spiel’t zum Tanz!“Ein Kenner im Ringe
Betrachtet die Sprünge,
Er findet’s gemein.
„Dir kann’s auch nicht schaden!“
Die vornehmen Waden
Muß er schwingen im Reih’n.Die Spröde hinter’m Fächer,
Der Zecher vom Becher,
Der Dichter so lind,
Muß auch mit zum Tanze,
Daß die Lorbeern vom Kranze
Fliegen im Wind.So schnurret der Reigen
Zum Saal ‚raus in’s Schweigen
Der prächtigen Nacht,
Die Klänge verwehen,
Die Hähne schon krähen,
Da verstieben sie sacht. –So ging’s schon vor Zeiten
Und geht es noch heute,
Und hörest du hell
Aufspielen zum Reigen,
Wer weiß, wem sie geigen –
Hüt‘ dich, Gesell!
Ahnung und Gegenwart
Zweites Buch, Elftes Kapitel,
1812, Johann Leonhard Schrag, Nürnberg 1815:
Es war schon Abend, als Friedrich in der Residenz ankam. Er war sehr schnell geritten, so daß Erwin fast nicht mehr nach konnte. Je einsamer draußen der Kreis der Felder ins Dunkel versank, je höher nach und nach die Türme der Stadt, wie Riesen, sich aus der Finsternis aufrichteten, desto lichter war es in seiner Seele geworden vor Freude und Erwartung. Er stieg im Wirtshause ab und eilte sogleich zu Rosas Wohnung. Wie schlug sein Herz, als er durch die dunklen Straßen schritt, als er endlich die hell beleuchtete Treppe in ihrem Hause hinaufstieg. Er mochte keinen Bedienten fragen, er öffnete hastig die erste Tür. Das große, getäfelte Zimmer war leer, nur im Hintergrunde saß eine weibliche Gestalt in vornehmer Kleidung. Er glaubte sich verirrt zu haben und wollte sich entschuldigen. Aber das Mädchen vom Fenster kam sogleich auf ihn zu, führte sich selbst als Rosas Kammermädchen auf und versicherte sehr gleichgültig, die Gräfin sei auf den Maskenball gefahren. Diese Nachricht fiel wie ein Maifrost in seine Lust. Es war ihm vor Freude gar nicht eingefallen, daß er sie verfehlen könnte, und er hatte beinahe Lust zu zürnen, daß sie ihn nicht zu Hause erwartet habe. Wo ist denn die kleine Marie? fragte er nach einer Weile wieder. O, die ist lange aus den Diensten der Gräfin, sagte das Mädchen mit gerümpftem Näschen und betrachtete ihn von oben bis unten mit einer schnippischen Miene. Friedrich glaubte, es gälte seiner staubigen Reisekleidung; alles ärgerte ihn, er ließ den Affen stehn und ging, ohne seinen Namen zu hinterlassen, wieder fort.
Verdrüßlich nahm er den Weg zu den Redoutensälen. Die Musik schallte lockend aus den hohen Bogenfenstern, die ihre Scheine weit unten über den einsamen Platz warfen. Ein alter Springbrunnen stand in der Mitte des Platzes, über den nur noch einzelne dunkle Gestalten hin und her irrten. Friedrich blieb lange an dem Brunnen stehen, der seltsam zwischen den Tönen von oben fortrauschte. Aber ein Polizeidiener, der, in seinen Mantel gehüllt, an der Ecke lauerte, verjagte ihn endlich durch die Aufmerksamkeit, mit der er ihn zu beobachten schien.
Er ging ins Haus hinein, versah sich mit einem Domino und einer Larve, und hoffte seine Rosa noch heute in dem Getümmel herauszufinden. Geblendet trat er aus der stillen Nacht in den plötzlichen Schwall von Tönen, Lichtern und Stimmen, der wie ein Zaubermeer mit rastlos beweglichen, klingenden Wogen über ihm zusammenschlug. Zwei große, hohe Säle, nur leicht voneinander geschieden, eröffneten die unermeßlichste Aussicht. Er stellte sich in das Bogentor zwischen beide, wo die doppelten Musikchöre aus beiden Sälen verworren ineinander klangen. Zu beiden Seiten toste der seltsame, lustige Markt, fröhliche, reizende und ernste Bilder des Lebens zogen wechselnd vorüber, Girlanden von Lampen schmückten die Wände, unzählige Spiegel dazwischen spielten das Leben ins Unendliche, so daß man die Gestalten mit ihrem Widerspiel verwechselte, und das Auge verwirrt in der grenzenlosen Ferne dieser Aussicht sich verlor. Ihn schauderte mitten unter diesen Larven. Er stürzte sich selber mit in das Gewimmel, wo es am dichtesten war.
Gewöhnliches Volk, Charaktermasken ohne Charakter vertraten auch hier, wie draußen im Leben, überall den Weg: gespreizte Spanier, papierne Ritter, Taminos, die über ihre Flöte stolperten, hin und wieder ein behender Harlekin, der sich durch die unbehülflichen Züge hindurchwand und nach allen Seiten peitschte. Eine höchst seltsame Maske zog indes seine Aufmerksamkeit auf sich. Es war ein Ritter in schwarzer, altdeutscher Tracht, die so genau und streng gehalten war, daß man glaubte, irgend ein altes Bild sei aus seinem Rahmen ins Leben hinausgetreten. Die Gestalt war hoch und schlank, sein Wams reich mit Gold, der Hut mit hohen Federn geschmückt, die ganze Pracht doch so uralt, fremd und fast gespenstisch, daß jedem unheimlich zumute ward, an dem er vorüberstreifte. Er war übrigens galant und wußte zu leben. Friedrich sah ihn fast mit allen Schönen buhlen. Doch alle machten sich gleich nach den ersten Worten schnell wieder von ihm los, denn unter den Spitzen der Ritterärmel langten die Knochenhände eines Totengerippes hervor.
Friedrich wollte eben den sonderbaren Gast weiter verfolgen, als sich die Bahn mit einem Janhagel junger Männer verstopfte, die auf einer Jagd begriffen schienen. Bald erblickte er auch das flüchtige Reh. Es war eine kleine, junge Zigeunerin, sehr nachlässig verhüllt, das schöne schwarze Haar mit bunten Bändern in lange Zöpfe geflochten. Sie hatte ein Tamburin, mit dem sie die Zudringlichsten so schalkisch abzuwehren wußte, daß ihr alles nur um desto lieber nachfolgte. Jede ihrer Bewegungen war zierlich, es war das niedlichste Figürchen, das Friedrich jemals gesehen.
In diesem Augenblicke streiften zwei schöne, hohe weibliche Gestalten an ihm vorbei. Zwei männliche Masken drängten sich nach. Es ist ganz sicher die Gräfin Rosa, sagte die eine Maske mit düsterer Stimme. Friedrich traute seinen Ohren kaum. Er drängte sich ihnen schnell nach, aber das Gewimmel war zu groß, und sie blieben ihm immer eine Strecke voraus. Er sah, daß der schwarze Ritter den beiden weiblichen Masken begegnete, und der einen im Vorbeigehen etwas ins Ohr raunte, worüber sie höchst bestürzt schien und ihm eine Weile nachsah, während er längst schon wieder im Gedränge verschwunden war. Mehrere Parteien durchkreuzten sich unterdes von neuem, und Friedrich hatte Rosa aus dem Gesichte verloren.
Ermüdet flüchtete er sich endlich an ein abgelegenes Fenster, um auszuruhen. Er hatte noch nicht lange dort gestanden, als die eine von den weiblichen Masken eiligst ebenfalls auf das Fenster zukam. Er erkannte sogleich seine Rosa an der Gestalt. Die eine männliche Maske folgte ihr auf dem Fuße nach, sie schienen beide den Grafen nicht zu bemerken. Nur einen einzigen Blick! bat die Maske dringend. Rosa zog ihre Larve weg und sah den Bittenden mit den wunderschönen Augen lächelnd an. Sie schien unruhig. Ihre Blicke durchschweiften den ganzen Saal und begegneten schon wieder dem schwarzen Ritter, der wie eine Totenfahne durch die bunten Reihen drang. Ich will nach Hause sagte sie darauf ängstlich bittend, und Friedrich glaubte Tränen in ihren Augen zu bemerken. Sie bedeckte ihr Gesicht schnell wieder mit der Larve. Ihr unbekannter Begleiter bot ihr seinen Arm, drängte Friedrich, der gerade vor ihr stand, stolz aus dem Wege und bald hatten sich beide in dem Gewirre verloren.
Der schwarze Ritter war indes bei dem Fenster angelangt. Er blieb vor Friedrich stehen und sah ihm scharf ins Gesicht. Dem Grafen grauste, so allein mit der wunderbaren Erscheinung zu stehn, denn hinter der Larve des Ritters schien alles hohl und dunkel, man sah keine Augen. Wer bist du? fragte ihn Friedrich. Der Tod von Basel, antwortete der Ritter und wandte sich schnell fort. Die Stimme hatte etwas so Altbekanntes und Anklingendes aus längstvergangener Zeit, daß Friedrich lange sinnend stehen blieb. Er wollte ihm endlich nach, aber er sah ihn schon wieder im dicksten Haufen mit einer Schönen wie toll herumwalzen.
Ein Getümmel von Lichtern draußen unter den Fenstern lenkte seine Aufmerksamkeit ab. Er blickte hinaus und sah bei dem Scheine einer Fackel, wie die männliche Maske Rosa nebst noch einer andern Dame in den Wagen hob. Der Wagen rollte darauf schnell fort, die Lichter verschwanden, und der Platz unten war auf einmal still und finster.
Er warf das Fenster zu und wandte sich in den glänzenden Saal zurück, um sich ebenfalls fortzubegeben. Der schwarze Ritter war nirgends mehr zu sehen. Nach einigem Herumschweifen traf er in der mit Blumen geschmückten Kredenz noch einmal auf die nur allzugefällige Zigeunerin. Sie hatte die Larve abgenommen, trank Wein und blickte mit den muntern Augen reizend über das Glas weg. Friedrich erschrak, denn es war die kleine Marie. Er drückte seine Larve fester ins Gesicht und faßte das niedliche Mädchen bei der Hand. Sie zog sie verwundert zurück und zeichnete mit ihrem Finger ratend eine Menge Buchstaben in seine flache Hand, aber keiner paßte auf seinen Namen.
Er zog sie an ein Tischchen und kaufte ihr Zucker und Naschwerk. Mit ungemeiner Zierlichkeit wußte das liebliche Kind alles mit ihm zu teilen, und blinzelte ihm dazwischen oft neugierig in die Augen. Unbesorgt um die Reize, die sie dabei enthüllte, riß sie einen Blumenstrauß von ihrem Busen und überreichte ihn lächelnd ihrem unbekannten, sonderbaren Wirte, der immerfort so stumm und kalt neben ihr saß. Die Blumen sind ja alle schon verwelkt, sagte Friedrich, zerzupfte den Strauß und warf die Stücke auf die Erde. Marie schlug ihn lachend auf die Hand und riß ihm die noch übrigen Blumen aus. Er bat endlich um die Erlaubnis, sie nach Hause begleiten zu dürfen, und sie willigte mit einem freudigen Händedruck ein.
Als er sie nun durch den Saal fortführte, war unterdes alles leer geworden. Die Lampen waren größtenteils verlöscht und warfen nur noch zuckende, falbe Scheine durch den Qualm und Staub, in welchen das ganze bunte Leben verraucht schien. Die Musikanten spielten wohl fort, aber nur noch einzelne Gestalten wankten auf und ab, demaskiert, nüchtern und übersatt. Mitten in dieser Zerstörung glaubte Friedrich mit einem flüchtigen Blicke Leontin totenblaß und mit verwirrtem Haar in einem fernen Winkel schlafen zu sehen. Er blieb erstaunt stehen, alles kam ihm wie ein Traum vor. Aber Marie drängte ihn schnell und ängstlich fort, als wäre es unheimlich, länger an dem Orte zu hausen.
Als sie unten zusammen im Wagen saßen, sagte Marie zu Friedrich: Ihre Stimme hat eine sonderbare Ähnlichkeit mit der eines Herrn, den ich sonst gekannt habe. Friedrich antwortete nicht darauf. Ach Gott! sagte sie bald nachher, die Nacht ist heut gar so schwül und finster! Sie öffnete das Kutschenfenster, und er sah bei dem matten Schimmer einer Laterne, an der sie vorüberflogen, daß sie ernsthaft und in Gedanken gesunken war. Sie fuhren lange durch eine Menge enger und finsterer Gäßchen, endlich rief Marie dem Kutscher zu, und sie hielten vor einem abgelegenen, kleinen Hause. Sie sprang schnell aus dem Wagen und in das Haus hinein. Ein Mädchen, das in Mariens Diensten zu sein schien, empfing sie an der Haustür. Er ist mein, er ist mein! rief Marie kaum hörbar, aber aus Herzensgrunde, dem Mädchen im Vorübergehen zu und schlüpfte in ein Zimmer.
Das Mädchen führte den Grafen mit prüfenden Blicken über ein kleines Treppchen zu einer andern Tür. Warum, sagte sie, sind Sie gestern abend nicht schon zu uns gekommen, da Sie vorbeiritten und so freundlich heraufgrüßten? Ich sollte wohl nichts sagen, aber seit acht Tagen spricht und träumt die arme Marie von nichts als von Ihnen, und wenn es lange gedauert hätte, wäre sie gewiß bald gestorben. Friedrich wollte fragen, aber sie schob die Tür hinter ihm zu und war verschwunden.
Er trat in eine fortlaufende Reihe schöner, geschmackvoller Zimmer. Ein prächtiges Ruhebett stand im Hintergrunde, der Fußboden war mit reichen Teppichen geschmückt, eine alabasterne Lampe erleuchtete das Ganze nur dämmernd. In dem letzten Zimmer sah er die niedliche Zigeunerin vor einem großen Wandspiegel stehen und ihre Haare flüchtig in Ordnung bringen. Als sie ihn in dem vordern Zimmer erblickte, kam sie sogleich herbeigesprungen und stürzte mit einer Hingebung in seine Arme, die keine Verstellung mit ihren gemeinen Künsten jemals erreicht. Der erstaunte Friedrich riß in diesem Augenblicke seinen Mantel und die Larve von sich. Wie vom Blitze berührt, sprang Marie bei diesem Anblicke auf, stürzte mit einem lauten Schrei auf das Ruhebett und drückte ihr mit beiden Händen bedecktes Gesicht tief in die Kissen.
Was ist das! sagte Friedrich, sind deine Freunde Gespenster geworden? Warum hast du mich geliebt, eh‘ du mich kanntest, und fürchtest dich nun vor mir? Marie blieb in ihrer Stellung und ließ die eine Hand, die er gefaßt hatte, matt in der seinigen; sie schien ganz vernichtet. Mit noch immer vestecktem Gesichte sagte sie leise und gepreßt: Er war auf dem Balle dieselbe Gestalt, dieselbe Maske. Du hast dich in mir geirrt, sagte Friedrich, und setzte sich neben sie auf das Bett, viel schwerer und furchtbarer irrst du dich am Leben, leichtsinniges Mädchen! Wie der schwarze Ritter heute auf dem Balle, tritt überall ein freier, wilder Gast ungeladen in das Fest. Er ist so lustig aufgeschmückt und ein rüstiger Tänzer, aber seine Augen sind leer und hohl, und seine Hände totenkalt, und du mußt sterben, wenn er dich in die Arme nimmt, denn dein Buhle ist der Teufel. Marie, seltsam erschüttert von diesen Worten, die sie nur halb vernahm, richtete sich auf. Er hob sie auf seinen Schoß, wo sie still sitzen blieb, während er sprach. Ihre Augen und Mienen kamen ihm in diesem Augenblicke wieder so unschuldig und kindisch vor, wie ehemals. Was ist aus dir geworden, arme Marie! fuhr er gerührt fort. Als ich das erste Mal auf die schöne grüne Waldeswiese hinunterkam, wo dein stilles Jägerhaus stand, wie du fröhlich auf dem Rehe saßest und sangst, der Himmel war so heiter, der Wald stand frisch und rauschte im Winde, von allen Bergen bliesen die Jäger auf ihren Hörnern, das war eine schöne Zeit! Ich habe einmal an einem kalten, stürmischen Herbsttage ein Frauenzimmer draußen im Felde sitzen gesehen, die war verrückt geworden, weil sie ihr Liebhaber, der sich lange mit ihr herumgeherzt, verlassen hatte. Er hatte ihr versprochen, noch an demselben Tage wiederzkommen. Sie ging nun seit vielen Jahren alle Tage auf das Feld und sah immerfort auf die Landstraße hinaus. Sie hatte noch immer das Kleid an, das sie damals getragen hatte, das war schon zerrissen und seitdem ganz altmodisch geworden. Sie zupfte immer an dem Ärmel und sang ein altes Lied zum Rasendwerden. Marie stand bei diesen Worten schnell auf und ging an den Tisch. Friedrich sah auf einmal Blut über ihre Hand hervorrinnen. Alles dieses geschah in einem Augenblicke.
Was hast du vor? rief Friedrich, der unterdes herbeigesprungen war. Was soll mir das Leben! antwortete sie mit verhaltener, trostloser Stimme. Er sah, daß sie sich mit einem Federmesser gerade am gefährlichsten Flecke unterhalb der Hand verwundet hatte. Pfui, sagte Friedrich, wie bist du seitdem unbändig geworden! Das Mädchen wurde blaß, als sie das Blut erblickte, das häufig über den weißen Arm floß. Er zog sie an das Bett hin und riß schnell ein Band aus ihren Haaren. Sie kniete vor ihm hin und ließ sich gutwillig von ihm das Blut stillen und die Wunde verbinden. Das heftige Mädchen war währenddessen ruhiger geworden. Sie lehnte den Kopf an seine Knie und brach in einen Strom von Tränen aus.
Da wurden sie durch Mariens Kammermädchen unterbrochen, die plötzlich in die Stube stürzte und mit Verwirrung vorbrachte, daß soeben der Herr auf dem Wege hierher sei. O Gott! rief Marie sich aufraffend, wie unglücklich bin ich! Das Mädchen aber schob den Grafen, ohne sich weiter auf Erklärungen einzulassen, eiligst aus dem Zimmer und dem Hause und schloß die Tür hinter ihm ab.
Draußen auf der Straße, die leer und öde war, begegnete er bald zwei männlichen, in dunkle Mäntel dichtverhüllten Gestalten, die durch die neblige Nacht an den Häusern vorbeistrichen. Der eine von ihnen zog einen Schlüssel hervor, eröffnete leise Mariens Haustür und schlüpfte hinein. Desselben Stimme, die er jetzt im Vorbeigehen flüchtig gehört hatte, glaubte er vom heutigen Maskenballe auffallend wiederzuerkennen.
Da hierauf alles auf der Gasse ruhig wurde, eilte er endlich voller Gedanken seiner Wohnung zu. Oben in seiner Stube fand er Erwin, den Kopf auf den Arm gestützt, eingeschlummert. Die Lampe auf dem Tisch war fast ausgebrannt und dämmerte nur noch schwach über das Zimmer. Der gute Junge hatte durchaus seinen Herrn erwarten wollen, und sprang verwirrt auf, als Friedrich hereintrat. Draußen rasselten die Wagen noch immerfort, Läufer schweiften mit ihren Windlichtern an den dunklen Häusern vorüber, im Osten standen schon Morgenstreifen am Himmel. Erwin sagte, daß er sich in der großen Stadt fürchte; das Gerassel der Wagen wäre ihm vorgekommen wie ein unaufhörlicher Sturmwind, die nächtliche Stadt wie ein dunkler eingeschlafener Riese. Er hat wohl recht, es ist manchmal fürchterlich, dachte Friedrich, dann ihm war bei diesen Worten, als hätte dieser Riese Marie und seine Rosa erdrückt, und der Sturmwind ginge über ihre Gräber. Bete, sagte er zu dem Knaben, und leg dich ruhig schlafen! Erwin gehorchte, Friedrich aber blieb noch auf. Seine Seele war von den buntwechselnden Erscheinungen dieser Nacht mit einer unbeschreiblichen Wehmut erfüllt, und er schrieb heute noch folgendes Gedicht auf:
Der armen Schönheit Lebenslauf
Die arme Schönheit irrt auf Erden,
So lieblich Wetter draußen ist,
Möcht gern recht viel gesehen werden,
Weil jeder sie so freundlich grüßt.
Und wer die arme Schönheit schauet,
Sich wie auf großes Glück besinnt,
Die Seele fühlt sich recht erbauet,
Wie wenn der Frühling neu beginnt.Da sieht sie viele schöne Knaben,
Die reiten unten durch den Wind,
Möcht manchen gern im Arme haben,
Hüt dich, hüt dich, du armes Kind!Da ziehn manch redliche Gesellen,
Die sagen: ‚Hast nicht Geld noch Haus,
Wir fürchten deine Augen helle,
Wir haben nichts zum Hochzeitsschmaus.‘Von andern tut sie sich wegdrehen,
Weil keiner ihr so wohl gefällt,
Die müssen traurig weitergehen,
Und zögen gern ans End‘ der Welt.Da sagt sie: ‚Was hilft mir mein Sehen,
Ich wünscht‘, ich wäre lieber blind,
Da alle furchtsam von mir gehen,
Weil gar so schön mein Augen sind.‘Nun sitzt sie hoch auf lichtem Schlosse,
In schöne Kleider putzt sie sich,
Die Fenster glühn, sie winkt vom Schlosse,
Die Sonne blinkt, das blendet dich.Die Augen, die so furchtsam waren,
Die haben jetzt so freien Lauf,
Fort ist das Kränzlein aus den Haaren,
Und hohe Federn stehn darauf.Das Kränzlein ist hinausgerissen,
Ganz ohne Scheu sie mich anlacht;
Geh du vorbei: sie wird dich grüßen,
Winkt dir zu einer schönen Nacht.Da sieht sie die Gesellen wieder,
Die fahren unten auf dem Fluß,
Es singen laut die lust’gen Brüder;
So furchtbar schallt des einen Gruß:‚Was bist du für ’ne schöne Leiche!
So wüste ist mir meine Brust,
Wie bist du nun so arm, du Reiche,
Ich hab an dir nicht weiter Lust!‘Der Wilde hat ihr so gefallen,
Laut schrie sie auf bei seinem Gruß,
Vom Schloß möcht sie hinunterfallen
Und unten ruhn im kühlen Fluß.Sie blieb nicht länger mehr da oben,
Weil alles anders worden war,
Von Schmerz ist ihr das Herz erhoben,
Da ward’s so kalt, doch himmlisch klar;Da legt sie ab die goldnen Spangen,
Den falschen Putz und Ziererei,
Aus dem verstockten Herzen drangen
Die alten Tränen wieder frei.Kein Stern wollt‘ nicht die Nacht erhellen,
Da mußte die Verliebte gehn,
Wie rauscht der Fluß! die Hunde bellen,
Die Fenster fern erleuchtet stehn.Nun bist du frei von deinen Sünden,
Die Lieb zog triumphierend ein,
Du wirst noch hohe Gnade finden,
Die Seele geht in Hafen ein.Der Liebste war ein Jäger worden,
Der Morgen schien so rosenrot,
Da blies er lustig auf dem Horne,
Blies immerfort in seiner Not.
Bilder: via Frank T. Zumbachs Mysterious World: 1.: Horst Janssen, 1975, 12. Mai 2015;
2.: Jacques Callot, 21. November 2013;
3, 4 und 5: Josef Fenneker, 11. November 2016;
6.: Johann Rudolf Feyerabend: Aquarell-Kopie vom Basler Totentanz, 1806.
Soundtrack: Franz Liszt: Totentanz. Paraphrase über „Dies irae“, ebenfalls im Vergleich:
Valentina Lisitsa in der Version für Klavier und Orchester, 1847–1853:
und Marta Czech mit der Bearbeitung für 1 Klavier, 1860–1865 (Entstehungsjahr fraglich):
Blumenstück 010: Der Pirat und die tosende See
Update zu Vielleicht bis zum Meer,
Zu schweigen beginnen,
Du warst den Meeren mitternachts entstiegen,
Seemannsgarn & Wahrheit
und Herzschlag:
——— Friedrich Dürrenmatt:
Meere
aus: Daniel Keel, Anna von Planta, Hrsgg.:
Das Mögliche ist ungeheuer. Ausgewählte Gedichte, Diogenes, Zürich 1993,
cit. nach: Tintenfaß. Das Magazin für den überforderten Intellektuellen, Nummer 21, Diogenes, Zürich 1997:
Ich liebe das Haus zu verlassen
In einen Tag zu gehen, der sich
gegen Abend neigtDurch Meere roten Laubs zu waten
Und die See halt so: Tos.
Pirat: Johanna (* 1990, mit 16), 2006;
die tosende See: * Isar (Würm-Kaltzeit, mit ca. 10.000 bis 115.000), 2006.
Soundtrack: Rummelsnuff: Trägt die Woge dein Boot, aus: Himmelfahrt, 2012:
Tomatensuppe Salomonis
Update zu Nur die Wurst hat zwei,
Das Beste sind die Kartoffeln
und Goethes Kindergartenfutter:
Um die Clavicula Salomonis des biblischen Königs Salomo(n) lassen sich gleich zwei Schlüsselstellen der Weltliteratur herumwickeln: einmal bei Goethe, wie Mephisto sich seit Faust. Ein Fragment 1788 in Fausti Studierzimmer – „Faust mit dem Pudel hereintretend“ – vom Pudel zum Teufel auswächst, und einmal bei Neil Gaiman im ersten Teil der Sandman-Comics, wie Roderick Burgess den Traum, das ist: der Sandman, statt seiner älteren Schwester, das ist: der Tod, für den größten Teil des 20. Jahrhunderts beschwört und einsperrt.
Amanda Pike hat diese Beziehung entdeckt und erklärt sie für The Sandman Group, 3. November 2022:
If you’re familiar with the medieval grimoire The Key of Solomon (referenced in Goethe’s Faust), it’s the grimoire supposedly written by King Solomon himself. The oldest copy is in the British Museum while English translations can be found in many book stores.
Anyway, I thought this was funny. King Solomon’s Tomato Soup Recipe. 😛
Imagine if Roderick got this spell by mistake.
Das Rezept für Tomatensuppe in Verbindung mit dem König Salomo ist bildlich dargestellt mit der Legende:
About this time last year I made a fake solomon seal, infiltrated some of the edgy appropriative „qabala“ groups, posted this and told people it helps them see through lies.
It says tomato soup. Outside letter say garlic bread. Alchemical symbols mean salt, water, potassium, boil and mix thoroughly. The Latin is just the word for tomato. It went mini-viral.
Amanda Pikes erwähnte „Reference in Goethe’s Faust“ ist in der Tragödie erstem Theil, Vers 1238 bis 1258:
Soll ich mit dir das Zimmer theilen,
Pudel, so laß das Heulen,
So laß das Bellen!
Solch einen störenden Gesellen
Mag ich nicht in der Nähe leiden.
Einer von uns beyden
Muß die Zelle meiden.
Ungern heb ich das Gastrecht auf,
Die Thür‘ ist offen, hast freyen Lauf.
Aber was muß ich sehen!
Kann das natürlich geschehen?
Ist es Schatten? ist’s Wirklichkeit?
Wie wird mein Pudel lang und breit!
Er hebt sich mit Gewalt,
Das ist nicht eines Hundes Gestalt!
Welch ein Gespenst bracht‘ ich ins Haus!
Schon sieht er wie ein Nilpferd aus,
Mit feurigen Augen, schrecklichem Gebiß.
O! du bist mir gewiß!
Für solche halbe Höllenbrut
Ist Salomonis Schlüssel gut.
Was Roderick Burgess mit dem Sandman statt mit Death anstellt und was daraus erwächst, nimmt zahlreiche Comicseiten ein und kann daher nicht hier wiedergegeben werden: Das Copyright-Gefrickel um eine Comicserie, deren 75 Einzelhefte ab 1989 noch für ein paar eingeweihte Nerds gut waren, aber 2022 zur ausgewachsenen Netflix-Serie umgeschmolzen wurden, tu ich mir nicht an. Den Zyklus von neil Gaiman sollte ohnehin jeder (und selbstverständlich jede) mal gelesen haben; wenn Sie statt Neil Gaiman 1989 bis 1996 Wesley Dodd 1939 bis 1953 erwischt haben, erzählen Sie mir, wie’s war, das interessiert mich fast noch mehr als die Clavicula Salomonis, von der man reich werden soll. Und natürlich, was dabei rauskommt, wenn man Tomaten mit Salzwasser und Kaliumcarbonat, vulgo Pottasche zusammenrührt, um sie als Tomatensuppe auszugeben, von der man wenigstens satt werden soll.
Bild: Anonymes Meme in edgy appropriative „qabala“ groups, via Amanda Pike, 3. November 2022.
Soundtrack: John Hinckley: Never Ending Quest, 2021:
Als der Vicomte de Chateaubriand einmal nicht Lord Byron traf (denn mich konnte die Welt verlieren, ohne mein Verschwinden überhaupt zu bemerken)
Update zu Seht, Ehrenbreitstein mit gesprengter Mauer,
Hair as red as stockings blue,
Der Sommer ohne Freischütz und
Begräbnis des Glaubens (L’enterrement de la foi):
——— Lord Byron:
Lines written beneath an Elm
In the
Churchyard of Harrow on the Hill
Spot of my youth! whose hoary branches sigh,
Swept by the breeze that fans thy cloudless sky;
Where now alone I muse, who oft have trod,
With those I loved, thy soft and verdant sod;
With those who, scatter’d far, perchance deplore,
Like me, the happy scenes they knew before:
Oh! as I trace again thy winding hill,
Mine eyes admire, my heart adores thee still,
Thou drooping Elm! beneath whose boughs I lay,
And frequent mus’d the twilight hours away;
Where, as they once were wont, my limbs recline,
But, ah! without the thoughts which then were mine:
How do thy branches, moaning to the blast,
Invite the bosom to recall the past,
And seem to whisper, as they gently swell,
„Take, while thou canst, a lingering, last farewell!“When Fate shall chill, at length, this fever’d breast,
And calm its cares and passions into rest,
Oft have I thought, ‚twould soothe my dying hour,—
If aught may soothe, when Life resigns her power,—
To know some humbler grave, some narrow cell,
Would hide my bosom where it lov’d to dwell;
With this fond dream, methinks ‚twere sweet to die—
And here it linger’d, here my heart might lie;
Here might I sleep where all my hopes arose,
Scene of my youth, and couch of my repose;
For ever stretch’d beneath this mantling shade,
Press’d by the turf where once my childhood play’d;
Wrapt by the soil that veils the spot I lov’d,
Mix’d with the earth o’er which my footsteps mov’d;
Blest by the tongues that charm’d my youthful ear,
Mourn’d by the few my soul acknowledged here;
Deplor’d by those in early days allied,
And unremember’d by the world beside.
Das schrieb – der 6. und bekannteste – Lord Byron über die Ulme, unter welcher er als Schüler der Harrow School zu Harrow on the Hill in Greater London gerne verweilt hatte. Schüler war Seine Lordschaft dort 1801 bis 1805, das Gedicht stammt, siehe oben, von 1807. 1817 wurde Byron Vater seiner Tochter Clara Allegra Byron, die 1822 im Alter von fünf Jahren schon wieder starb und (nicht erst) dadurch als tragisches Opfer einer unseligen Verkettung aus missverstandener Vaterschaft und unzeitiger, nämlich erst posthumer Aufmerksamkeit gelten muss; eine düstere Geschichte.
Ebenfalls 1822 erinnerte sich der Franzose Chateaubriand beim Anblick der Harrowschen Schauplätze an seinen englischen Berufskollegen, biochronologisch noch nichts von Klein-Allegras Kindstod ahnend; eine weit weniger düstere Geschichte:
——— François-René de Chateaubriand:
London, April bis September 1822.
Lord Byron.
aus: Erinnerungen von jenseits des Grabes. Meine Jugend. Mein Leben als Soldat und Reisender,
12. Buch, Abschnitt 4. Neu bearbeitet, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Brigitte Sändig,
ars una, München 1994, Seite 311 bis 315:
Während meines englischen Exils lebte Lord Byron in der Schule von Harrow, einem Dorf zehn Meilen von London. Er war noch ein Knabe, ich ein junger Mann und ebenso unbekannt wie er; er war im schottischen Weideland, am Ufer des Meeres aufgewachsen wie ich < href=“https://de.wikipedia.org/wiki/Saint-Malo“ target=“_blank“ title=“Saint-Malo, Wikipedia“>in der bretonischen Heide – und ebenfalls am Ufer des Meeres. Er liebte die Bibel und Ossian über alles, genauso wie ich; er sang in Newstead-Abbey von seinen Kindheitserinnerungen wie ich im Schloß von Combourg.
Auf meinen Ausflügen in die Umgebung von London, als ich so unglücklich war, bin ich wohl zwanzigmal durch das Dorf Harrow gekommen, wußte aber nicht, welch großen Geist es beherbergte. Ich habe mich auf den Friedhof unter die Ulme gesetzt, in deren Schatten Lord Byron 1807, als ich aus Palästina zurückkam, die Verse schrieb:
„Baum meiner Jugend, dessen Zweige klagen,
Wenn in dein Laub sich klare Lüftchen wagen,
Wo ich allein jetzt bin, de oft vor Jahren
Den Raum betrat mit der Genossen Scharen …
Wenn das Geschick des Herzens Glut verkühlt,
Und nicht mehr Gram und Leidenschaft drin wühlt …
Hier möcht ich schlafen, wo mein Hoffen lebte,
Wo Jugendlust und Ruhe mich umschwebte;
Auf ewig von dem Schattendach umschlungen,
Bedeckt vom Rasen, wo ich einst gesprungen …
Beweint von Freunden, die ich früh besessen,
Im übrigen – von aller Welt vergessen.“Und ich werde sagen: Sei gegrüßt, du alte Ulme, zu deren Füßen sich Byron als Kind den Launen seines Alters überließ, während ich in deinem Schatten von René träumte, unter der gleichen Ulme, wo der Dichter später Childe Harold ersann. Byron wünschte sich auf dem Friedhof, der Zeuge seiner Kinderspiele gewesen war, ein namenloses Grab – ein vergeblicher Wunsch, da der Ruhm ihm entgegensteht.
Wenn ich durch Harrow gekommen bin, ohne zu wissen, daß Lord Byron als Kind hier lebte, so sind auch Engländer durch Combourg gereist, ohne zu ahnen, daß ein kleiner Vagabund, der in diesen Wäldern aufwuchs, einige Spuren hinterlassen würde. Der Reisende Arthur Young schrieb, als er durch Combourg fuhr:
„Von Pontorson bis Comburg macht die Gegend einen verwilderten Eindruck. Die Landwirtschaft ist hier nicht weiter entwickelt als bei den Huronen, was im Binnenland unglaublich escheinen mag. Die Bevölkerung ist fast ebenso wild wie das Land, und die Stadt Combourg einer der schmutzigsten und unfreundlichsten Orte weit und breit: Lehmhäuser ohne Fensterscheiben und ein so schlechtes Pflaster, daß man jeden Augenblick fehltritt; keinerlei Kanalisation. – Dennoch gibt es hier ein Schloß, das sogar bewohnt ist. Wer ist dieser Monsieur de Chateaubriand, der Besitzer, der so starke Nerven hat, daß er inmitten all diesen Schmutzes und dieser Armut leben kann? Unterhalb dieses scheußlichen Haufens Elend liegt ein schöner, von Wäldern umgebener See.“
Dieser Monsieur de Chateaubriand war mein Vater: die Stätte , die dem schlechtgelaunten Agronomen so häßlichj erscheint, war nichtsdestoweniger ein edler und schöner, wenngleich düsterer und ernster Wohnsitz. Und hätte Mister Young mich, die schwache Efeupflanze, die sich an diesen unwirtlichen Türmen emporzuranken begann, überhaupt wahrnehmen können, da er nur damit beschäftigt war, unsere Ernte zu sichten?
Es sei mir gestattet, diesen 1822 in England geschriebenen Seiten die nachstehenden, 1834 und 1840 verfaßten anzufügen; sie werden das Kapitel über Lord Byron vervollständigen.
Es wird vielleicht in Zukunft von einigem Interesse sein, das Zusammentreffen der beiden Häupter der neuen französischen und englischen Schule festzustellen, die beide eine gleiche Basis ihrer Vorstellungen, ihrer Bestimmungen, wenn nicht sogar fast gleiche Lebensgewohnheiten besaßen: Der eine ist Pair von England, der andere Pair von Frankreich; beide haben den Orient bereist und waren einander oft ziemlich nahe, ohne sich je zu sehen; nur ist das Leben des engischen Dichters mit weniger großen Ereignissen durchsetzt als das meinige.
Die ersten Übersetzer, Kommentatoren und Bewunderer Lord Byrons haben sich wohl gehütet, darauf aufmerksam zu machen, daß einige Seiten meiner Werke dem Verfasser des Childe Harold einen Moment in Erinnerung bleiben konnten; sie hätte geglaubt, damit seinen Ruhm zu schmälern. Jetzt, da sich der Enthusiasmus etwas gelegt hat, versagt man mir diese Ehre weniger. Unser unsterblicher Sänger hat im letzten Band seiner Lieder gesagt: „In einer der vorhergehenden Strophen spreche ich von den ‚Leiern‘, die Frankreich Monsieur de Chateaubriand verdankt.“ Ich fürchte nicht, daß dieser Vers von der neuen poetischen Schule veleugnet wird, die, unter Adlerflügeln geboren, sich zu Recht oft eines solchen Ursprungs rühmt. Der Einfluß des Autors von Le Génie du Christianisme ist auch im Ausland spürbar geworden, und es ist vielleicht nur recht und billig anzuerkennen, daß der Sänger von Childe Harold zur gleichen Familie wie René gehört.
Was ich hier über die Verwandtschaft der Ideen und der Stimmung zwischen dem Chronisten von René und dem Sänger von Childe Harold gesagt habe, kostet den unsterblichen Barden kein einziges Haar. Wie kann die Muse des schottischen Flusses Dee, die eine Leier und Flügel trägt, durch meine erdverhaftete Muse ohne Laute geschmälert werden? Lord Byron wird leben, da er als Kind seines Jahrhunderts, genau wie ich und Goethe vor uns beiden, die Leidenschaft und das Unglück dieses Jahrhunderts zum Ausdruck gebracht hat; mögen auch meine Irrfahrten und mag das Windlicht meiner gallischen Barke dem Schiff Albions auf unerforschten Meeren als Wegweiser gedient haben.
Überhaupt können zwei Geister von gleicher Beschaffenheit sehr wohl gleiche Vorstellungen entwickeln, ohne daß man ihnen deswegen den Vorwurf machen könnte, daß sie sklavisch dem gleichen Weg gefolgt seien. Es ist erlaubt, in einer fremden Sprache ausgedrückte Ideen und Bilder zu benutzen, um die eigene Sprache damit zu bereichern; das ist in allen Jahrhunderten und zu allen Zeiten so gewesen. Ich gebe gern zu, daß in meiner ersten Jugend Ossian, Werther, die Träumereien eines einsamen Spaziergängers und die Betrachtungen über die Natur meine Ideen beeinflußten; doch habe ich nichts von dem Genuß verheimlicht, den mir die Werke bereiteten, an denen ich mich ergötzte.
Wenn es wahr ist, daß etwas von René in die Substanz der einzigen Person eingegangen ist, die unter verschiedenen Namen als Childe Harold, auftritt – als Conrad, Lara, Manfred, der Giaur, wenn Lord Byron mich zufällig durch sein Leben wiederbelebt hätte, sollte er dann die Schwachheit besessen haben, mich nicht ein einziges Mal zu erwähnen? Ich bin also einer jener Väter, die man verleugnet, wenn man die Macht erlangt hat? Kann ich Lord Byron, der fast alle französischen Schriftsteller seiner Zeit zitiert, völlig unbekannt gebrlieben sein? Hat er nie von mir sprechen hören, als um ihn herum die englischen Zeitungen, genau wie die französischen, zwanzig Jahre lang von dem Streit um meine Werke widerhallten und die New-Times zwischen dem Verfasser von Le Génie du Christianisme und dem von Childe Harold eine Parallele zog?
Es gibt keinen Geist, so glänzend er auch sei, der nicht seine leicht verwundbaren Stellen, seine argwöhnischen Anwandlungen hat; man will das Zepter behalten, fürchtet, es teilen zu müssen, ärgert sich über den Vergleich mit anderen. So hat ein anderes großes Talent meinen Namen in einem Werk über Literatur nicht erwähnt. Gott sei Dank schätze ich mich nach meinem wahren Wert und habe nie nach Herrschaft gestrebt; da ich nur an die religiöse Wahrheit glaube – und eine Form dieser Wahrheit ist die Freiheit – habe ich ebensowenig Glauben in mich al sin irgendetwas anderes hier auf Erden gesetzt. Wenn ich aber bewunderte, so war es immer mein Bedürfnis, nicht zu schweigen; darum erklärte ich meine Begeisterung für Madame de Staël und für Lord Byron. Was gibtr es Schöneres als als Bewunderung? Das ist himmlische Liebe, Hingebung bis zum Kult. Man fühlt sich von Dankbarkeit für die Gottheit durchdrungen, die die Grundlagen unserer Fähigkeiten erweitert, die unserer Seele neue Aussichten eröffnet, die uns ein so großes, so reines, von Furcht und Neid ganz freies Glück gewährt.
Übrigens beweist der kleine Einwand, den ich in diesen Memoiren gegen den größten englischen Dichter seit Milton erhebe, nur eines: den hohen Wert, den ich darauf gelegt hätte, daß sich seine Muse meiner erinnert.
Lord Byron hat auf erbärmliche Weise Schule gemacht. Ich nehme an, er war genauso betroffen von den Childe Harolds, die er ins Leben gerufen hat, wie ich es über die Renés bin, die um mich herum ihren Träumen nachhängen.
Das Leben Lord Byrons ist Gegenstand vieler Nachforschungen und Verleumdungen. Die jungen Männer haben seine magischen Worte für puren Ernst genommen; die Frauen waren geneigt, sich, wenngleich mit Entsetzen, von diesem Ungeheuer verführen zu lassen, wollten diesen einsamen und unglücklichen Satan trösten. Wer weiß? Vielleicht hat er die Frau nicht gefunden, die er suchte, ein Weib, das schön genug, ein Herz, das ebenso weit war wie das seinige. Einer trügerischen Meinung nach ist Byron die alte Schlange der Verführung und der Verderbtheit, nur weil er die Verderbtheit des menschlichen Geschlechts wahrnimmt. Er ist ein unseliger, leidender Genius, der zwischen die Geheimnisse der Materie und des Geistigen gestellt ist, der keine Lösung für das Rätsel des Universums sieht, der das Leben als eine abscheuliche grundlose Ironie, als ausschweifendes Lächeln des Bösen betrachtet. Er ist der Sohn der Verzweiflung, der verachtet und verleugnet und der sich für die unheilbare Wunde, die er in sich trägt, rächt, indem er alles, was sich ihm nähert, durch Wollust zum Schmerz führt. Er ist ein Mann, der das Alter der Unschuld nicht gekannt und nie in die Lage gekommen ist, von Gott verworfen und verflucht zu werden; ein Mann, der bereits verurteilt aus dem Schoße der Natur hervorging und der der Verdammte des Nichts ist.
Dies ist der Byron der überspannten Phantasien, aber wie ich glaube, ist es nicht der wirkliche Byron.
Wie bei den meisten, so sind auch in Lord Byron zwei verschiedene Menschen vereinigt: der Mensch der Natur und der Mensch des Systems. Als der Dichter erkannte, welche Rolle das Publikum ihm zuschrieb, übernahm er sie und begann, die Welt zu verdammen, die er bisher nur träumerisch wahrgenommen hatte. Dieser Prozeß ist aus der chronologischen Ordnung seiner Werke ablesbar.
Sein Genie hat bei weitem nicht das Ausmaß, das man ihm zuschreibt, es ist sogar ziemlich beschränkt. Sein poetisches Denken ist nur ein Seufzer, eine Klage oder eine Verwünschung; als das ist es bewundernswert. Man sollte die Leier nicht danach fragen, was sie denkt, sondern was sie singt.
Sein Geist ist sarkastisch und wandelbar, aber auf eine Art, die aufregt, so daß sein Einfluß unheilvoll ist. Der Schriftsteller hat zweifellos Voltaire gelesen und ahmt ihn nach.
Lord Byron, mit allen Vorzügen ausgestattet, hatte wenig Anlaß, mit seiner Geburt unzufrieden zu sein. Selbst der Vorfall, der ihn unglücklich machte und seine Überlegenheiten mit menschlicher Gebrechlichkeit verband, hätte ihm keinen Kummer verursachen müssen, weil er trotzdem geliebt wurde.
Die Geschwindigkeit, mit der heute der Ruhm vergeht, ist beklagenswert. Nach einigen Jahren – was sage ich? schon nach einigen Monaten hört die Anhimmelei auf und macht dem Verruf Platz. Man sieht schon den Nimbus Byrons verblassen. Wir verstehen seinen Genius besser; in Frankreich wird man ihm länger Altäre errichten als in England. Da Childe Harold sich vor allem durch die Schilderung besonderer, individueller Gefühle auszeichnet, werden die Engländer, die allen gemeinsame Gefühle vorziehen, den Dichter mit seinem tiefenm, traurigen Aufschrei schließlich leugnen. Sie sollten sich damit in Acht nehmen! Wenn sie je das Bild des Mannes zerstören, der sie wieder auleben läßt, was bleibt ihnen dann?
Als ich 1822 während meines Aufenthalts in London meine Ansichten über Lord Byron niederschrieb, hatte er nur noch zwei Jahre auf Erden zu leben; er starb 1824, zu der Zeit, als Enttäuschungen und Widerwärtigkeiten auf ihn zukamen. Ich bin ihm im Leben, er ist mir im Tode vorangegangen. Er wurde vor der Zeit abberufen. Meine Nummer kam vor der seinen, und dennoch wurde die seinige zuerst gezogen. Childe Harold hätte bleiben sollen, denn mich konnte die Welt verlieren, ohne mein Verschwinden überhaupt zu bemerken.
Bilder: Harrow on the Hill Churchyard – Byron’s tomb, crosses and John Leighton,
Churchyard Monuments;
Harrow On The Hill, St Mary’s Church, The Peachey Tomb And The Elm 1906,
The Francis Frith Collection;
10 London hills – 8. Harrow Hill…, Exploring London, 2. Juni 2021;
The Short Tragic Life of Allegra Byron, Darkest London, 19. Oktober 2012.
Soundtrack: François Devienne (1759 bis 1803): Sonate en quatuor pour le clavecin ou le forte piano avec accompagnement de flûte, cors et alto obligés. Il y a une partie de violoncelle pour remplacer celle du cor (Sonate zu vieren) in F-Dur, live im Auditorium de la Maison de la Radio, Paris 31. Januar 2018:
Fruchtstück 0006: Ja wer wird denn gleich verzweifeln
Update zum 200. Eintrag,
Ein Mann zwischen den Altern
und Du hast genug geflennt:
Robert Gernhardt muss nicht eigens, daher wird Marion Vina empfohlen.
„Ist das ein Zeugma?“ fragt die Wölfin.
„Nein“, sag ich, „das ist eine Grafikdesignerin und Illustratorin.“
„Wolfwolfwolf.“
——— Robert Gernhardt:
Trost und Rat
aus: Wörtersee, 1981:
Ja wer wird denn gleich verzweifeln,
weil er klein und laut und dumm ist?
Jedes Leben endet. Leb so,
daß du, wenn dein Leben um istvon dir sagen kannst: Na wenn schon!
Ist mein Leben jetzt auch um,
habe ich doch was geleistet:
ich war klein und laut und dumm.
Bild: Marion Vina: Trost und Rat, 4. Januar 2023.
Kleinlaut und klug: Sia: Big Girls Cry, 2014:
Missing Poe
Update zu Etwas distinkt Metaphysisch-Transzendentales,
Weinfassreiten an der Küste der Nacht (oder geschah es bei Tage),
Die Wonnen des Fuchsjägers: 4 fundamentale Voraussetzungen eines seligen Lebens
und vor allem All I lov’d — I lov’d alone:
Durchgeblättert hab ich dieser Tage den vierten Band Poe, den mit den Gedichten und der ausgewählten Essayistik. Im letzteren Teil fällt auf, dass drei der wichtigsten Stücke über Poetik handeln. Als ob man’s nicht wüsste, aber ich merk mir nie den genauen Namen seiner Bauanleitung für The Raven; The Philosphy of Composition war’s wohl, as opposed to The Rationale of Verse und The Poetic Principle — und dann darf man sich noch dreierlei übersetzte Überschriften dazumerken und kennt sich grad noch soweit aus, dass His Poeness die Poetik alles andere denn wurschtegal war. Und dann steht unter Anmerkungen noch zur Logik des Verses (das mit dem Rationale) gut versteckt, dass es auch noch „eine Arbeit, die er ganz diesem Thema gewidmet hat“ geben soll: Notes on English Verse vom März 1843, im allfälligen Vierbänder ansonsten unterschlagen.
Der Skandal mit Derjenigenwelchen Ausgabe hat schon viel früher angefangen: Bis jetzt komme ich auf 5 oder je nach Zählung 8 Gedichte, die da nicht drin sind. Chronologisch nach der Entstehung:
Und sofort vermisst man schmerzlich deutsche Übersetzungen. Ich könnte mich ja dranwagen, aber auf dem Niveau von Hans Wollschläger sollten sie schon stattfinden. – Was die Schuhmann-Schmidt-Wollschläger’sche Poe-Ausgabe verschweigt:
——— Edgar Allan Poe:
-
Stanzas I–IV
The title “Stanzas” was assigned by E. C. Stedman and G. E. Woodberry in 1894, and has generally been widely accepted.
This is one of the poems in this collection that Poe never reprinted.
Poe’s motto preceeding the poem is from Bryon’s Island, 1823, Canto II, lines 382–285. (Mabbott, in his edition of Poe’s poems, cites the reference as “Canto II, xvi, lines 13-16,” but different editions provide different numbering. In the 1823 edition, printed in London, the lines are numbered within the full canto. An 1824 edition, printed in Philadelphia, and an 1831 edition, also printed in London, give no line numbers. All editions divide the cantos into sections bearing Roman numerals.
In the second line of stanza 2, “ferver” may be “fervor” or more likely “fever.”
How often we forget all time, when lone
Admiring Nature’s universal throne;
Her woods — her wilds — her mountains — the intense
Reply of Hers to Our intelligence!1.
In youth have I known one with whom the Earth
In secret communing held — as he with it,
In day light, and in beauty from his birth:
Whose fervid, flick’ring torch of life was lit
From the sun and stars, whence he had drawn forth
A passionate light-such for his spirit was fit —
And yet that spirit knew — not in the hour
Of its own fervor — what had o’er it power.2.
Perhaps it may be that my mind is wrought
To a ferver [[fever]] by the moon beam that hangs o’er,
But I will half believe that wild light fraught
With more of sov’reignty than ancient lore
Hath ever told — or is it of a thought
The unembodied essence, and no more
That with a quick’ning spell doth o’er us pass
As dew of the night-time, o’er the summer grass.3.
Doth o’er us pass, when, as th‘ expanding eye
To the lov’d object — so the tear to the lid
Will start, which lately slept in apathy?
And yet it need not be — (that object) hid
From us in life — but common — which doth lie
Each hour before us — but then only bid
With a strange sound, as of a harp-string broken
T‘ awake us — ‚Tis a symbol and a token.4.
Of what in other worlds shall be — and giv’n
In beauty by our God, to those alone
Who otherwise would fall from life and Heav’n
Drawn by their heart’s passion, and that tone,
That high tone of the spirit which hath striv’n
Tho‘ not with Faith — with godliness — whose throne
With desp’rate energy ‚t hath beaten down;
Wearing its own deep feeling as a crown. -
Elizabeth
undated manuscript, about 1829. Acrostichon for Poe’s Baltimore cousin, Elizabeth Rebecca Herring (1815–1889).
Some scholars, including T. O. Mabbott, note that the seventh lines reads “in persuing,” with “pursuing” misspelled. Examination of the manuscript, however, shows this to be a misreading.
A photographic facsimile of the manuscript was printed in the auction catalogue for The Library of H. Bradley Martin: Highly Important American and Children’s Literature, New York: Sotheby’s, January 30 and 31, 1990, lot 2218, with notes by Richard Kopley.
Elizabeth — it surely is most fit
(Logic and common usage so commanding)
In thy own book that first thy name be writ,
* Zeno and other sages notwithstanding:
And I have other reasons for so doing
Besides my innate love of contradiction:
Each poet — if a poet — in pursuing
The muses thro‘ their bowers of Truth or Fiction,
Has studied very little of his part,
Read nothing, written less — in short’s a fool
Endued with neither soul, nor sense, nor art,
Being ignorant of one important rule,
Employed in even the theses of the school —
Called —— I forget the heathenish Greek name —
(Called any thing, its meaning is the same)
“Always write first things uppermost in the heart”Edgar
* It was a saying of this philosopher “that one’s own name should never appear in one’s own book”.
-
Original
undated manuscript, about 1829, published 1875:
From childhood’s hour I have not been
As others were — I have not seen
As others saw — I could not bring
My passions from a common spring —
From the same source I have not taken
My sorrow — I could not awaken
My heart to joy at the same tone —
And all I lov’d — I lov’d alone —
Then — in my childhood — in the dawn
Of a most stormy life — was drawn
From ev’ry depth of good and ill
The mystery which binds me still —
From the torrent, or the fountain —
From the red cliff of the mountain —
From the sun that ’round me roll’d
In its autumn tint of gold —
From the lightning in the sky
As it pass’d me flying by —
From the thunder, and the storm —
And the cloud that took the form
(When the rest of Heaven was blue)
Of a demon in my view — -
Serenade
This was printed as “by E. A. Poe” in the Baltimore Saturday Visiter of April 20, 1833, after its receipt from “E. A. P.” had been acknowledged in the issue of April 13. It was completely forgotten until in 1917 Professor John C. French located a file of the paper for 1833 in the hands of Miss Elizabeth Cloud Seip. He reprinted “Serenade” in the Dial for January 31, 1918 (64:121), and again in Modern Language Notes, May 1918 (33:257-258). Killis Campbell inserted a text in the second issue of his Poems at p. 137. In line 12, I change the sure misprint “mountains,” to “mountain’s” but otherwise follow the original printing.
So sweet the hour — so calm the time,
I feel it more than half a crime
When Nature sleeps and stars are mute,
To mar the silence ev’n with lute.
At rest on ocean’s brilliant dies
An image of Elysium lies:
Seven Pleiades entranced in Heaven
Form in the deep another seven:
Endymion nodding from above
Sees in the sea a second love:
Within the valleys dim and brown,
And on the spectral mountain’s crown
The wearied light is lying down:
And earth, and stars, and sea, and sky
Are redolent of sleep, as I
Am redolent of thee and thine
Enthralling love, my Adeline.
But list, O list! — so soft and low
Thy lover’s voice tonight shall flow
That, scarce awake, thy soul shall deem
My words the music of a dream.
Thus, while no single sound too rude,
Upon thy slumber shall intrude,
Our thoughts, our souls — O God above!
In every deed shall mingle, love. -
Lines on Ale
„Believed to have been written in 1848 at a tavern in Lowell, Massachusetts“:
Fill with mingled cream and amber,
I will drain that glass again.
Such hilarious visions clamber
Through the chamber of my brain.
Quaintest thoughts, queerest fancies
Come to life and fade away.
What care I how time advances;
I am drinking ale today.
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~~~\~~~~~~~/~~~
~~~\~~~~~~~/~~~
~~~\~~~~~~~/~~~
Und das sind nur die, so man findet, indem man gar nicht sucht.
Bilder: Illustrationen zu Werken von Poe, gesammelt aus einer Suchanfrage innerhalb tumblr.com nach „Poe Illustration“, die ich für Teile der Public Domain halte. Die erste ist jedenfalls von Arthur Rackham.
Soundtrack: Larkin Poe: Bleach Blonde Bottle Blues, aus: Venom & Faith, 2018:
Nachtstück 0030: Wenn acht nach sieben kommt
Update zu so net,
Schmerz, Tod und Graus gar spaßig zu erfassen
und Was singelt ihr und klingelt im Sonetto?:
Ein Sonett, das gar kein Sonett ist, noch nicht einmal Lyrik, und eins, das nicht einmal geschrieben wurde. Weil es nicht angeht, aller sieben Jahre einmal Krieg und Frieden zu lesen, aber dann Даниил Хармс, das ist: Daniil Charms nicht zu kennen.
Übrigens lassen sich, was in der Übersetzung nicht zur Geltung kommen kann, auf Russisch Sieben und Acht besonders leicht verwechseln, weil das eine семь und das andere восемь heißt. Und das ist noch gar nichts. #keinrussischlernen
——— Daniil Charms:
Sonett
übs. Ilse Tschörtner, in: Daniil Charms: Zwischenfälle, Verlag Volk und Welt, Berlin 1990:
Mir ist mal etwas ganz Eigenartiges passiert: Ich hatte auf einmal vergessen, was eher kommt – sieben oder acht. Ich ging zu den Nachbarn und fragte, was sie meinten. Aber wie groß war meine Verwunderung, als sich plötzlich herausstellte, dass auch sie die Reihenfolge der Zahlen vergessen hatten.
1,2,3,4,5 und 6 wussten sie noch, aber wie weiter, das hatten sie vergessen.
Wir gingen zusammen zum Kaufhaus „Gastronom“ in der Snamenskaja, Ecke Bassejnaja, und fragten die Kassiererin. Die Kassiererin lächelte traurig, nahm ein kleines Hämmerlein aus dem Mund, zog die Luft durch die Nase ein und sagte: „Meines Erachtens kommt sieben in dem Fall nach acht, wenn acht nach sieben kommt.“
Erfreut bedankten wir uns bei der Kassiererin und liefen hinaus. Doch plötzlich, als wir uns die Auskunft der Kassiererin genauer überlegten, verstummten wir wieder, denn sie kam uns völlig sinnlos vor.
Was tun? Wir gingen in den Sommergarten und fingen an, die Bäume zu zählen. Doch als wir bei sechs angelangt waren, blieben wir stehen und gerieten in Streit. Nach Ansicht der einen folgte sieben, nach Ansicht der anderen acht.
Wir würden noch lange gestritten haben, aber zum Glück fiel ein Kind von der Bank und brach sich beide Kiefer. Das brachte uns von unserem Streit ab.
Da trennten wir uns und gingen nach Hause.
Bilder: Sonett Bleichkomplex und Fleckentferner mit reinem Sauerstoff, ohne Erdölchemie,
via Windelwissen.
Soundtrack: Daniil-Charms-Verfilmung von Отава Ё: Дворник, 2012,
das ist: Straßenkehrer oder Hausmeister, 2012, aus: Что за песни, 2013,
auf das lettische Weihnachtslied Tumša tumša tā eglīte,
im Hof des Anna-Achmatova-Museums, Sankt Petersburg:
Vom Büblein auf dem Eise (Der Vater hat’s geklopfet)
Update zu Der den Wasserkothurn zu beseelen weiß,
Sie sollen und müssen gerettet sein!,
Was denn sonst, bei diesem Sauwetter
und Meine Urgroßmutter und die Wolken:
Das hat mir meine Großmutter als Das Büblein auf dem Eise beigebracht – korrekt mit dem Dativ-e, ich erinnere mich an nichts anderes – und das, ohne daraus allzu naheliegende zotige Reime abzuleiten.
Lange war mir nicht klar, dass die Leute Wörter wie „heuer“ gar nicht kennen, und wenn es gleich zu Anfang kommt, für alle verbleibenden Strophen verloren sind. Heute erhellt, dass der Dichter Friedrich Güll erstens am 1. April und zweitens im mittelfränkischen Ansbach geboren ist und deshalb fast alles darf, drittens am Heiligabend und viertens in München gestorben ist und deshalb wahrscheinlich nichts damit anfangen konnte, wenn die Leute das handliche „heuer“ mit „in diesem Jahr“ umschreiben müssen.
Wo wir gerade von Strophen reden: Im Originaldruck sind sie auf fünf Verse aufgeteilt. Indem sich die jeweils ersten zwei davon dreihebig binnenreimen, also keine richtigen Alexandriner sind, ergibt das für die Vortragspraxis einwandfrei siebenzeilige Strophen.
Wenn das die Großmutter geahnt hätte. Gemerkt haben es die Illustratorin Gertrud Caspari und ihr – wie ich vermute – Ehemann und Herausgeber Walther Caspari für ihre Ausgabe in: Frühling, Frühling überall! zu Kinderliedern von Friedrich Güll, 1910 und öfter. Ohne an Herrn Gülls unbefugt herumbessern zu wollen, sieht das siebenzueilige Layout doch gleich viel cantabiler aus. Meinen blitzgescheiten, lyrisch bewanderten Lesern gebe ich dennoch Gülls ursprüngliche Schreibweise wieder.
Nach den jugendbildnerischen Begriffen des jungen Jahrtausends fällt die Moral von der Geschicht‘ unter kohlrabenschwarze Pädagogik. Dafür kann meine Großmutter aber nix, und außerdem ist das Gedicht sehr lustig. Und jawohl, schwarze Pädagogik hat mir geschadet.
———- Friedrich Güll:
13. Will sehen was ich weiß
Vom Büblein auf dem Eis.
1827, in: Georg Paysen Petersen, Hrsg.: Mütterchen, erzähl uns was!
Erzählungen, Gedichte, Lieder, Spiele, Rätsel und Sprüche
für Kinderstube und Kindergarten, Verlag von Otto Meißner, Hamburg 1894, Seite 318:
Gefroren hat es heuer noch gar kein festes Eis.
Das Büblein steht am Weiher und spricht so zu sich leis:
„Ich will es einmal wagen,
Das Eis, es muß doch tragen.“ –
Wer weiß?Das Büblein stampft und hacket mit seinem Stiefelein.
Das Eis auf einmal knacket, und krach! schon bricht’s hinein.
Das Büblein platscht und krabbelt
Als wie ein Krebs und zappelt
Mit Schrein.„O helft, ich muß versinken in lauter Eis und Schnee!
O helft, ich muß ertrinken im tiefen, tiefen See!“
Wär nicht ein Mann gekommen,
Der sich ein Herz genommen,
O weh!Der packt es bei dem Schopfe und zieht es dann heraus:
Vom Fuße bis zum Kopfe wie eine Wassermaus.
Das Büblein hat getropfet,
Der Vater hat’s geklopfet
Zu Haus.Bild: Gertrud Caspari für: Gertrud und Walther Caspari, Hrsgg.: Frühling, Frühling überall! zu Kinderliedern von Friedrich Güll, 1925.
Soundtrack: Tori Amos: Winter, aus: Little Earthquakes, 1992:
Dornenstück 0012: So mag der Schreckenstraum sich dann entfalten (Wehe dem Menschenerzeugten!)
Update zu Was ist das? Ich glaub, es hackt! Das ist doch kein Teufelspakt!
Bitchy Lessing und
Das Ungeheuerste, das Entsetzlichste, das Schaudervollste:
Das neue Jahr nimmt Fahrt auf: Eine höhere Instanz, an die wir noch nicht zu glauben verlernt haben, steh uns bei. Die Hoffnung zappelt ja immer bis zuletzt.
Menschen, denen ausreichend Erdenzeit vergönnt war, sich an einer Zivilisation zu beteiligen, ist es gelungen, fünf Beleidigungen in einem einzigen Fragesatz unterzubringen: Beim Anblick meines Bücherregals ist ihnen spontan nichts anderes eingefallen als:
„Habt ihr die ganzen alten Schwarten von euren Eltern geerbt?“
Das wären eine Beleidigung pro Satzteil und eine zusätzliche für den überspannenden Bogen, der sich tiefer und schmerzhafter als die Summe seiner Teile wölbt – also effizienter als die vierfache Herabsetzung für Bier: „Ich krieg ein kleines alkoholfreies Radler.“
Was auf nur dreifache Weise in diese Reihung gehört: Adelbert von Chamisso hat eins seiner ersten poetischen Werke, seinen Faust, 1803 als Versuch aufgefasst – und damit, was in den Besprechungen von Chamissos Frühwerk gerne zu kurz kommt: immerhin fünf Jahre vor der Veröffentlichung von Goethes Tragödie erstem Theil, und konnte sich daher allenfalls, so er das wollte, auf dessen Fragment, in Druck seit 1790, beziehen. In seiner selbst geordneten Sammlung letzter Hand hat Chamisso den Faust–Versuch mit dem späteren Der Tod Napoleons, 1828 als Gedicht in dramatischer Form eingestuft.
Ungekürzt:
——— Adelbert von Chamisso:
Faust.
Ein Versuch.
1803.
1803:
Doch wozu ist des Weisen Thorheit nütz?
Schlegels Shakespeare
(„Was ihr wollt.“ III. 1)Faust. Sein Guter und sein Böser Geist, zwei Stimmen
Faustens Studierzimmer, von einer einzigen Lampe erleuchtet.
Faust.
Der Jugend kurze Jahre sind dahin,
Dahin die Jahre kräft’ger Mannheit, Faust!
Es neigt sich schon die Sonne deines Lebens –
Hast du gelebt? hier, fremd in dieser Welt,
Verträumtest du die karggezählten Stunden,
Nach Wahrheit ringend, die Pygmäenkräfte
Anstrengend in dem Riesenkampf – o Tor!
Du, der in wildem Jungendfeuer schwelgend,
Uneingedenk der Zukunft, deiner selbst,
Des großen Weltalls, das um dich sich kreist,
Genuß nur kennst, Genuß nur kennen willst;
Beglückter Liebling du der Gegenwart,
Dich muß ich weis, so wie du glücklich bist,
Auch preisen. – Weis! – und Tor? – Sinnleere Namen!
Nur Kranke gibt’s, ich kenne keine Toren.
Ein Funke glomm im Busen mir, (ihn legte
Die fremde Hand,) er mußte hoch entlodern,
Und ewig ungelöschten Durst mir flammen; –
Vom Allerschaffer fordr ich alle Schuld,
Wir müssen wollen, ja wir müssen! – müssen?
Nicht frei denn? – also, wollend, nur ein Stein,
Der in die Tiefe fällt, und fühlt – er wolle.Was bist du Mensch denn? gier’ger Allumfasser
Des Universums kühner Freier du,
Der blind, in Nacht, in zwiefach ew’gem Dunkel
Gebannt zu irren, nichts erkennen kannst,
Ein ewig ungelöstes Rätsel dir;
Erschaffer deiner Welt nach ewigen
Gesetzen, selbst von ihr erschaffen,
Was bist du mächt’ger, nicht’ger Erdenwurm?
Ein Gott in Banden, oder nur ein Staub?
Was ist des Denkens, was der Sinnen Welt?
Die Zeit, der Raum, die Allumfassenden,
Und ihre Schöpfungen, durch die sie werden?
Was außer ihnen, das Unendliche?
Was ist die Gottheit, jeder großen Kette
Ein erstes ewig unbegriffnes Glied,
Das, nicht getragen, alle Glieder trägt? –
Erscheinung nur und Wahn ist alles mir.
Es wirft das Licht, das innre, dort hinaus
Auf ausgespannte Nacht die Bilder hin,
Ein leerer Widerschein des eignen Ichs,
Und so entsteht die Welt, die ich erkenne.
So hat – vielleicht der Zufall es geordnet,
Der große Bildner, den sie Gottheit nennen.
Und wenn, nicht bloß gedacht, dort Geist und Körper
Und Gottheit sind, – wie faß ich sie? – umsonst!
Es treten ewig zwischen sie und mich
Der Sinne Lügen, der Vernunft Gesetze.Ihr ew’ge Rätsel, schrecklich grimm’ge Nattern,
Die stets ihr euch erzeugt und euch verzehrt,
Und mir das Herz verzehrt im grausen Spiele
Der stets verschlungnen und erzeugten Kreise;
Ich kann euch nicht verscheuchen, nicht erdrücken,
Ihr stürmet rastlos mir die bange Seele;
Weh dem, den ihr zum ernsten Kampfe reizet!
Es furchet tief des Denkers Stirne sich,
Und Zweifel ist der schwererrungne Preis.Nein! länger soll der Schlangenbiß des Zweifels
Nicht langsam mir am kranken Herzen nagen,
Nicht giftig reizen mehr der Wunden Schmerzen.
Ich will gesunden in der Wahrheit Scheine,
Erschwingen kühn das sternenferne Ziel,
Das eitel strebend nimmer ich erklommen.Er sucht eine magische Rolle hervor, entfaltet sie auf seinem Tische und spricht,
indem er die Hand auf die Zauberschrift legt.Sind’s keine Träume, die du hingezeichnet,
So folg ich, Seher, deiner Riesenspur,
Ich schreite deine Bahn und zage nicht.
Wenn horchend deinem mächt’gen Rufe, Geister,
Dir dienend, ihres Reiches Nacht entstiegen;
Wird mir die Geisterwelt sich auch eröffnen.
Belehrung zollen mir die finstern Mächte.Die Geisterbeschwörung
Die ihr, gehüllt in furchtbar dunklen Schleier,
Die Seele mir umwallt, gehorchet, Geister,
Dem ernsten, festen Willen, der euch ruft.Böser Geist Eine Stimme zur Linken.
Dem ernsten, festen Willen wird gehorchet.
Du Sohn des Staubes, ihm entschwungen kühn
Und ähnlich uns, sprich dein Begehren aus.Guter Geist Eine Stimme zur Rechten.
Faust! Faust!
Faust.
Auch du! Dir hab ich nicht gerufen, fleuch!
Abschütteln will ich deiner Knechtschaft Joch,
Entfleuch! Nicht du, Unmächtiger, vermagst
Den heißen Durst des Lechzenden zu stillen,
Die sturmgeschlagnen Wellen zu besprechen.
Du lähmst den Flug mir, hebe dich von dannen!
Ich will ihn männlich fliegen und nicht zagen.
Ich wende mich von dir, ich folge dem;
Belehrung fordr ich, Wahrheit und Erkenntnis.Böser Geist.
Nicht menschlich sprichst du Worte hohen Sinnes.
Hast du mit Mannes Ernst mich hergebannt.
So schwöre mir den Preis zu – deine Seele;
Und öffnen will ich dir der Wahrheit Schätze,
Und was der Mensch vermag, sollst du erkennen.Guter Geist.
Faust, Faust!
Den seligen Menschen
Gewährte der Vater,
Von allen den Früchten
Des Gartens zu kosten;
Den seligen Menschen
Verwehrte der Vater
Die einzige Frucht.Und listig schmeichelnd hob die Schlange sich:
Ihr würdet Göttern gleich, wenn ihr die Frucht,
Die herrliche, zu kosten euch erkühntet,
Die euch der Vater streng verwehrt zu brechen,
Nicht Vater er, der neidische Tyrann!Faust, Faust!
Dem kindlichen Menschen,
Die Freuden des Lebens,
Sie knospen ihm alle.
Er weilet, wo duftend
Die Rosen ihm blühen,
Die Früchte ihm winken.
Geflügelten Schrittes
Leicht hin über Dornen
Zu schweben, zu eilen,
Gesellt‘ ihm der Vater
Die holden Gefährten,
Den Glauben, die Hoffnung,
Treu ihm in wechselndem Glück.Faust, Faust!
Es gab zu ahnden das Unendliche
Der Vater dir den Geist,
Gab, liebend anzubeten, dir das Herz:
Und, rechtend mit dem Vater, wagest du,
Vom Strahle seiner Liebe mild beschienen,
Zu fordern jene Frucht, des Todes Frucht.
Verschmäh, verschmäh des Lebens Glück und Kronen,
Und ringe nach der Gottheit fernem Ziele;
Des Rächers Rache trifft den schuld’gen Scheitel!Faust.
Erschuf zu ausgesuchten Qualen mich
Ein Gott des Hasses, den der Schmerz erfreut?Guter Geist.
Das Glück umblühte deines Lebens Pfade.
Faust.
Es ist Erkennen mir das einz’ge Glück.
Guter Geist.
Die Hoffnung blüht dem Dulder, lern entbehren.
Faust.
Sie welkte in der schwer erkrankten Brust.
Guter Geist.
Der Tugend Kranz umgrüne deine Locken.
Faust.
Auch diesen Kranz entriß der Zweifel mir.
Guter Geist.
Du willst, du willst, und deine Freuden welken.
Faust.
So wähl ich denn, nicht frei, das eigne Weh.
Guter Geist.
Faust! handle glaubend, wie du frei dich fühlest.
Faust.
Nein, nein! ich bin nicht frei, ich will’s nicht sein.
Guter Geist.
So treffe denn die schwere Schuld den Frevler.
Faust.
Die schwere Schuld wälz ich dem Schöpfer zu,
Der mich zu hoch begabt, zu tief gedrückt,
Der feindlich mir den regen Geist gegeben.Guter Geist.
Und ihn zu bändigen, den Willen dir.
Des Rächers Rache trifft den schuld’gen Scheitel!Faust.
Dich, Geist der frühen Rache, schrecklicher,
Der furchtbar ahndend nicht begangne Sünden,
Gedanken nur des Herzens, angstumzischend
Der Hölle Schlangen furchtbar um mich schlingst,
Erschütternd nicht des Mannes ernsten Willen,
Dich straf ich Lügen; nein, ich bin nicht frei;
Ein ehrnes Schicksal waltet über mir
Und unaufhaltsam reißt es mich dahin,
Und eisern fällt, und trifft das grause Los.Böser Geist Halb laut.
Der Falsche lügt sich deinen guten Geist.
Faust.
Du lügst dich meinen guten Geist, entfleuch!
Ich wende mich von dir, ich folge dem.
Belehrung fordr ich, Wahrheit und Erkenntnis.Böser Geist.
Wohlan! so schwöre mir den Preis zu, Faust;
Und öffnen will ich dir der Wahrheit Schätze,
Und was der Mensch vermag, sollst du erkennen.
Selbst brich den Stab denn über deine Seele.Der Stab des Gerichtes wird Fausten in die Hand gezaubert,
er erschrickt, und faßt sich rasch wieder.Faust.
Du, rascher Sohn des Augenblickes, Wille,
Gebäre rasch die Tat.Guter Geist.
Die ernste Tat.
Die spät fortwirkend in der Zeiten Schoße,
Entfallen dir, ein Raub der fremden Mächte,
Gehöre ewig der Notwendigkeit.
Noch, Faust, gehört des Herzens Willen dir.Böser Geist Halblaut und langsam.
Und öffnen will ich dir der Wahrheit Schätze
Und was der Mensch vermag, sollst du erkennen.Faust.
Gehört noch mir, – gedacht, gewollt, gehandelt!
Guter Geist.
Und wagtest du zu denken ihn, den großen,
Den schrecklichen Gedanken: Ewigkeit?Faust.
Ich dacht ihn, ja! doch der Moment allein
Gehört dem Menschen, im Momente lebt er,
Drum kauft er um der Zukunft teuren Preis
Des Augenblickes rasch entflohne Lust.
Es kann die Zukunft auch ein Traum nur sein.Guter Geist.
Und wenn auf Wahrheit jener Traum hindeutet?
Faust.
So mag der Schreckenstraum sich dann entfalten.
Du wetzest selbst des Zweifels gift’gen Zahn,
Der mich zerfleischt. Nicht Wahrheit kann das Herz
Zermalmend treffen, das für sie nur schlägt,
Nur schrecklich ist die Qual mir, die ich dulde;
Sie muß sich enden. Stählern ist die Brust,
Und jedes Schmerzes Pfeil entprallt unmächtig,
Den nicht des Zweifels Schreckensarm geschnellt.
Ich will der ew’gen Rache männlich harren,Und festen Blickes ihr entgegen sehn.
Ich fluche dir, und deinem Gott, und breche
Entschlossen selber des Gerichtes Stab.Guter Geist.
Wehe dem Menschenerzeugten!
Wehe! zerbrechet die Krone.
Er stürzet, nachhallend
Empfängt ihn die Tiefe
Zerschmettert vom jähligen Fall.Es wandle im Tale
Der Menschenerzeugte,
Und weide die Blicke
An blumigen Auen.
Nicht wag er zu heben
In blendende Höhen
Zur Sonne den Blick.
Vom lieblichen Kleide
Der nährende Erde
Rückstrahlt ihm die Farbe,
Ein sanfteres Licht.
Ihm g’nüge der bunte,
Der liebliche Schein.
Nicht gierigen Herzens
Erheb er die Wünsche
Zur Sonne empor.
Erklimmt er der Berge
Beschneiete Gipfel,
Zu nahen der Sonne
Verzehrendem Licht;
Nicht näher der fernen,
Erblindet das Aug ihm,
Und schwankenden Schrittes
Entgleitet der Fuß.
Der schwindlichten Höhe
Entstürzt er, nachhallend
Empfängt ihn die Tiefe
Zerschmettert vom jähligen Fall.Wehe dem Menschenerzeugten!
Wehe! zerbrechet die Krone.
Entwunden den Armen
Der sorgenden Liebe,
Hin eilt er – und stürzet;
Er stürzet, nachhallend
Empfängt ihn die Tiefe
Zerschmettert vom jähligen Fall.Faust den Stab zerbrechend.
Zerbrochen ist der Stab.
Guter Geist.
Er ist zerbrochen.
Böser Geist.
Er ist zerbrochen.
Lange Stille
Faust.
Nun?
Böser Geist.
Ich lache deiner, leichtes Spielwerk du
Der gier’gen Wünsche deines stolzen Herzens;
Ich lache deiner, Tor, den ich verachte,
Und zolle dir den Preis, den du bedungen.Der Zweifel ist menschlichen Wissens Grenze,
Die nur der blinde Glaube überschreitet.
Dich bann ich, ohne Anker, ohne Segel
Zu irren auf dem feindlich dunklen Meere,
Wo dir kein Grund, wo keine Ufer dir,
Dem ohne Hoffnung Strebenden erscheinen;
Bis vor dir nächtlich sich das Tor eröffnet,
Das furchtbar dir geahndete, des Todes,
Und neue Schauder schrecklich dich ergreifen;
Denn mir gehöret deine Ewigkeit:
Ich zolle dir den Preis, den du bedungen.Des Glaubens Blume blühte kindlich dir,
Du hast sie stolz zertreten, forderst Wahrheit.
Wohl! schreckend ruf ich dir die Wahrheit zu:
Aus deiner Weisen Widersprüchen strahlte
Sie dir entgegen, die geahndete:
Der Zweifel ist menschlichen Wissens Grenze,
Es kann der Staubumhüllte nichts erkennen,
Dem Blindgebornen kann kein Licht erscheinen.So wie die Sprache, wie des Wortes Schall
Dir Mittler des Gedankens ist und Zeichen;
So ist des Sinns Empfinden, der Gedanke selbst
Dir Sprache bloß und eitles leeres Zeichen
Der ewig dir verhüllten Wirklichkeit.
Du kannst nur denken durch den Mittler Sprache,
Nur mit dem Sinne schauen die Natur,
Nur nach Gesetzen der Vernunft sie denken.
Und hättest hundert Sinne du und tausend,
Du kargbegabter, und erhöbe freier
Sich dein Gedanke ins vielseitiger –
Befühlte All; so würdest immer du,
Getrennt, vereint mit ihm durch Körpers Bande,
Nur eigne Schatten schaun und nichts erkennen.
Es strebe, trachte angestemmt der Mensch;
Ihm fiel das Los. Der reine Geist allein,
Der ruhende, erkennt; nicht ihn umfaßt
Die ew’ge Mauer, die sich zwischen dir
Und der ersehnten Wahrheit trennend hebt.
Die Mauer stürzt der Tod; die Rächerin,
Sie harret furchtbar deiner in dem Lande,
Wo nicht gestrebet, nicht getrachtet mehr,
Wo zollen einer wird des Lebens Lohn.Nachhallen muß ich deiner Worte Schall,
Nachspiegeln deines Denkens Schatten dir,
Nachlügen deiner Weisen Traumgebilde,
Dir, einem Menschen, ich, ein Geist, zu nahen;
Gedanken, Worte, Menschenträume fassen
Kein ähnlich Bild der ewig dir Verhüllten.
Doch Wahrheit, Wahrheit hast du dir bedungen;
Nun! was der Mensch vermag, sollst du erkennen:Der Zweifel ist menschlichen Wissens Grenze, –
Ist furchtbar rächend deines Lebens Schlange.
Verzweifle, niedrer Erdenwurm, den tiefer
In seinen Staub zurück ich niedertrete;
Nicht heben darfst du jenen dunklen Schleier,
Es bringt die Zeit dir keine Blume mehr,
Und mir gehöret deine Ewigkeit.
So öffn ich rächend dir der Wahrheit Schätze,
So zoll ich dir den Preis, den du bedungen.Faust im Begriff, sich niederzuwerfen gegen die Seite, woher die Stimme des guten Geistes hallte, erhebt sich rasch wieder und spricht.
Nein! niederknieen nicht vor dir, Verkünder
Des siebenmal erfüllten schweren Fluches,
Der mir das Haupt umflammt, und nicht vor ihm.
Vernichtung heißt der Gott, den ich anrufe.
Ihr seid unmächtig, der Vergangenheit
Ihr leicht erworbnes Eigentum zu rauben.O könnt ich wieder fluchen euch! o könnt ich
In Menschenqualen euch verzagen sehn,
In ew’gen Menschenqualen euch verzweifeln,
Und laut auflachend gräßlich euch verhöhnen!
Fluch selber mir, daß ich ohnmächtig bin,
Daß nur ein leiser, eitler Laut der Lippe
Entbebet, in dem Winde zu verhallen!Ersehnte Spornerin der eitlen Wünsche,
Ich habe, Wahrheit, deine Dunstgestalt
Verfolgt, und unermeßlich weit verfolgt,
Und ihr geopfert jeden Hoffnungsschimmer;
Gestrandet steh ich nun auf schroffer Klippe,
Rings um mich her die dunkle tiefe Flut,
Und um das Haupt mir donnerschwangre Wolken.
Ich werde nimmer, nimmer sie umfangen,
Um die ich hin den teuren Preis geworfen!Böser Geist.
Die Mauer stürzt der Tod; die Rächerin,
Sie harret furchtbar deiner in dem Lande,
Wo nicht gestrebet, nicht getrachtet mehr,
Wo zollen einer wird des Lebens Lohn.Faust.
Die Mauer stürzt der Tod; – sie harret meiner
In jenem Lande… – Schlange meines Lebens!
Wo nur das Aug ich wende, starrest du
Mich gräßlich an. – Verdammnis, – Ewigkeit,
Laßt eure Qualen nicht den Zweifel sein!
Umstürze du, Erfüllung, jene Mauer;
Verhüllte Rächerin, sei Rettung mir,
Ich will in jenem Lande dich verfolgen.Wie er sich gegen den Geist wenden will, den Tod zu erflehen, wird ihm ein Dolch in die Hand gezaubert, er wendet die Spitze gegen sein Herz, und stößt ihn langsam hinein.
Verdammnis, ewige, in deinen Schoß! –
Vielleicht Vernichtung nur, vielleicht Erkenntnis,
Gewißheit doch.Er stürzt, die Lampe erlischt, das Theater ist tief verfinstert. Langsam fällt der Vorhang.
Bild: F. C. Weiß: Adelbert von Chamisso, für Julius Eduard Hitzig: derselbe: Werke, 1839.
Soundtrack eigentlich zum anderen Gedicht in dramatischer Form:
Eliza Carthy & Norma Waterson: Bonaparte’s Lament, aus: Gift, 2010:
Akzisaufseher Goethe aus der Karmelitergasse
Update zu Krieg is nur für reiche Lajte,
Ich trinke ein Glas Burgunder!,
Hört zu und berstet vor Langerweile:
und Dornenstück 0009: Die Kinder verdarben (Schauderhaft, höchst schauderhaft):
Was der nachmalige Schwejk-Hašek seiner Stammzeitung Karikatury 1911 noch als Satire auf der eher gutmütigen Seite verkaufen konnte, wird so ja gar nicht mehr wahrgenommen. Vielmehr ist heute der Bibliophile der Depp. Und da weiß ich, wovon ich rede. Gedeihliches neues Jahr mitsammen.
——— Jaroslav Hašek:
Unter Bibliophilen
id est Mezi bibliofily, in: Karikatury, velké vydání 3, 19. Juni 1911,
übs. Rudolf Feigl, Artia-Verlag Prag,
cit. nach Rudolf Chonawetz, Hrsg.: Von Spaßvögeln, Witzbolden und Schelmen,
Verlag Neues Leben, Ostberlin 1983, Seite 300 bis 303:
Das Allerschlimmste, was jemandem zustoßen kann, ist, in die Hände einer Literaturfreundin zu fallen, die in ihrem Salon Bibliophile versammelt und Literaturabende veranstaltet, bei denen Tee gereicht wird und wo auf jeden Literaturfreund zwei Stückchen Kuchen entfallen.
Es ist wahr, daß ich diese Literaturabende bei Frau Herzan nicht besuchen mußte, aber ich wollte der Einladung meines Freundes Folge leisten, dem ich weisgemacht hatte, zu Hause eine originelle, in Menschenhaut gebundene, persische Ausgabe der Gedichte von Hafis zu haben. Mein Freund verbreitete das unter Bibliophilen und Literaturfreunden. Das genügte, daß ihre Mäzenin, Frau Herzan, den Wunsch äußerte, mich kennenzulernen.
Im Salon blickten mich zwölf aufrichtige Gesichter an, aus denen die gesamte Weltliteratur auf mich sah. Mein Kommen wurde lebhaft begrüßt, und ein Besucher mit den in Menschenhaut gebundenen Gedichten von Hafis hatte wohl Anspruch auf vier Stückchen Kuchen.
Ich nahm, mir also aus der Schüssel vier Stückchen Kuchen, und für das Fraäulein mit der Brille neben mir blieb nicht ein einziges übrig. Das betrübte sie so, daß sie über Goethes „Wahlverwandtschaften“ zu sprechen begann.
Neben mir saß irgendein Literaturhistoriker und wandte sich an mich mit der Frage: „Belieben Sie den ganzen Goethe zu kennen?“
„Vom Scheitel bis zur Sohle“, ewiderte ich ernst, „er trägt gelbe Schnürschuhe und auf dem Kopf einen braunen Filzhut, ist Akzisaufseher und wohnt in der Karmelitergasse.“
Die Bibliophilen blickten mich traurig und vorwurfsvoll an. Um die allgemeine Verlegenheit zu maskieren, fragte mich die Gastgeberin: „Haben Sie großes Interesse für Literatur?“
„Gnädige Frau“, erwiderte ich, es gab Zeiten, da ich viel las. Ich habe ‚Die drei Musketiere‚, ‚Die Maske der Liebe‘, den ‚Hund von Baskerville‚ und andere Romane gelesen. Bei den Nachbarn hob man für mich die Romanbeilage der ‚Politika‚ auf, und jedesmal am Wochenende hab ich dann alle sechs Fortsetzungen auf einmal gelesen. Das lesen hat mich immer sehr interessiert, und so konnte ich es zum Beispiel gar nicht erwarten, ob die Gräfin Leona den Zwerg Richard heiratet, der ihretwegen den eigenen Vater ermordetet, der wiederum ihren Verlobten aus Eifersucht erschossen hatte. Ja, ein Buch kann wirklich Wunder wirken. Als es mir sehr schlecht ging, las ich den ‚Jüngling von Messina‘. Mit neunzehn Jahren wurde jener junge Mann Räuber. Er hieß Lorenzo. Ja, damals las ich noch. Heute aber lese ich nicht viel. Es interessiert mich nicht mehr.“
Die Literaturfreunde wurden blaß. Ein baumlanger Mensch mit durchdringendem Blick fragte mich kurz und streng wie ein Untersuchungsrichter: „Interessieren Sie sich für Zola?“
„Ich weiß über ihn sehr wenig“, erwiderte ich, „ich hörte über ihn nur, daß er während des Deutsch-Französischen Kriegs bei der Belagerung von Paris gefallen ist.“
„Kennen Sie Maupassant?“ fragte mich jener Mann recht wütend.
„Ich hab von ihm ‚Die sibirischen Erzählungen‘ gelesen.“
„Da irren Sie sich“, rief das Fräulein mit der Brille neben mir aufgebracht aus. „‚Die sibirischen Erzählungen‚ sind von Korolenko und Sieroszewski. Maupassant ist doch Franzose.“
„Ich dachte, er ist Holländer“, sagtet ich ruhig. „Ist er aber Franzose, sp hat er vielleicht ‚Die sibirischen Erzählungen‘ ins Französische übersetzt.“
„Aber Tolstoi kennen Sie?“ fragte die Gastgeberin.
„Ich habe sein Begräbnis im Kino gesehen. Aber ein Chemiker wie Tolstoi, der das Radium entdeckte, hat ein würdigeres Begräbnis verdient.“
Für einen Augenblick verstummten alle. Der Literaturhistoriker mir gegenüber blickte mich mit blutunterlaufenen Augen an und fragte ironisch: „Aber die tschechische Literatur kennen Sie doch bestimmt durch und durch?“
„Ich habe zu Hause das ‚Dschungelbuch‘, das wird Ihnen vielleicht genügen“, sagte ich mit Nachdruck.
„Aber das ist doch ein Engländer, dieser Kipling“, sagte ein wortkarger Herr, der sein Gesicht in beiden Händen verbarg, als würde er weinen.
„Von Kipling habe ich nicht gesprochen“, rief ich beleidigt aus, „ich sprach doch über das Dschungelbuch von Tuček.“
Ich vernahm, wie sich zwei Herren so, daß ich es hören konnte, zuflüsterten, ich sei ein Rindvieh.
Ein blasser junger Mann mit langem Haar faltete die Hände und brachte mit zarter Stimme vor: „Sie erfassen nicht die Schönheiten der Literatur, gewiß verstehen Sie auch nicht den Stil, den brillanten Satzbau zu würdigen, nicht einmal Gedichte begeistern Sie. Kennen Sie von Liliencron jene Stelle, wo Sie in den Wolken die Schönheit der Natur erfüheln, erahnen: Wolkenschäfchen ziehen, fliegen, blaue Wölkchen fliegen und fliegen, über Berg und Tal, über der Wälder grüne Streifen?“
Er erhob die Stimme, stützte sich auf die Schulter eines Literaturfreundes, der neben ihm saß, und fuhr fort: „Und ‚Das Feuer‘ von D’Annunzio? Wenn Sie die wunderschöne treffende Schilderung venezianischer Feste gelesen hätten und dabei diese Liebesgeschichte …“
Er betrachtete den Auerstrumpf, fuhr sich mit der Hand über die Stirn und wartete, was ich dazu sagen würde.
„Ich habe Sie nicht genau verstanden, warum hat denn der D’Annunzio bei diesen Festen Feuer gelegt? Wieviel Jahre hat er dafür gefaßt?“
„D’Annunzio ist der beühmteste italienische Dichter“, erklärte mir das Fräulein mit der Brille unermüdlich.
„Da ist merkwürdig“, bemerkte ich unschuldig.
„Was ist daran Merkwürdiges“, brüllte im wahrsten Sinne des Wortes ein Herr, der bisher den Mund nicht aufgemacht hatte, „kennen Sie überhaupt irgendeinen italienischen Dichter?“
„Ich erwiderte würdevoll: „Gewiß, Robinson Crusoe.“ Bei diesen Worten blickte ich mich um.
Zwölf Literaturfreunde und Bibliophile wurden in diesem Augenblick grau, und zwölf vorzeitig ergraute Literaturfreund und Bibliophile warfen mich durch das Parterrefenster auf die Straße hinaus.
Bild: Josef Lada für Jaroslav Hašek: Mezi bibliofily, Karikatury, 19. Juni 1911.
Soundtrack als abermaliger Versuch für einen neuen Anfang:
Anti Cornettos: Korsakov Syndrom, aus: Dohuggandedeoiweidohuggan, 2014:
Bewahr uns, Herr, zu lüften den Schleier von Gräbern und Grüften (O ewich is so lanck)
Update zu Frohnleichnamsfahnen wehen
und Zum Tanz, den sie schauderlich führen:
Was uns Frank T. Zumbach online von Georg Ruseler in sein dankenswertes Archiv stellt, ist leider ein formales Desaster, in seinem fast noch dankenswerteren Balladenbuch kommt Ruseler auch mit einem Beispiel vor, nur eben mit einem anderen, wo er das in seinem Online-Archiv anno 2010 gefunden hat, weiß er auf Anfrage im dahinsiechenden 2022 auch nicht mehr, und die Version im Projekt Gutenberg ist halt, nun ja, die Version im Projekt Gutenberg.
Heute ruht Ruseler geistig in der Abteilung Oldenburg am Niedersächsischen Landesarchiv und körperlich auf dem Oldenburger Gertrudenfriedhof, wo sein Grab neben denen von Horst Janssen und Wilhelm Heinrich Schüßler – der mit dem gleichnamigen Salz – etwas untergeht.
Das im Dunkeln funkelnde Highlight in souverän tanzendem ABABCCDD-Reimschema des „Heimatdichter[s], Schriftsteller[s] und Schulrektor[s]“ (Wikipedia), der sich gern op Platt äußerte, müssen wir selber retten. Dafür sind wir ja da.
——— Georg Ruseler:
Das zweite Gesicht
aus: Der rauschende Garten. Aus dem Nachlass zusammengestellt,
Friesen-Verlag A.-G., Bremen-Wilhelmshaven 1922:
Ehrwürden Pfarrer Henrikus Brand,
Seinen Küster ruft er herbei
Und reicht ihm den silberbeschlagenen Band:
„Dies, Alter, zur Sakristei!
Zwar düstert auf allen Pfaden die Nacht,
Doch wenn seine Fackel der Mond entfacht,
Dann geht er um Mitternacht heute
Ja doch zum Neujahrsgeläute.“Stumm schüttelt den Kopf der Küster von Marx.
„Was? Reit‘ ihn der Kuckuck! Nein?
Er kehrt wohl, Er Hasenfuß Siebrand Tiarks,
Des Nachts beim Herrgott nicht ein?“ –
„Ich geh‘ allein zum Geläut auf den Turm,
Und rüttelt ihn auch der Wirbelsturm,
Doch nimmer zu Chor und Altare
In der letzten Nacht im Jahre.Silvester, Ehrwürden, das ist die Zeit,
Da reichen zwei Jahr‘ sich die Hand
Und finden den Bösen zum Spuk bereit
Und die Hölle aus Rand und Band.
Wenn dann die Glocke zwölfe schlägt,
Ein Schleier sacht sich wegbewegt
Und läßt mit Augen sehen,
Was künftig soll geschehen.Zwei Jahr sind’s heut. Grad‘ war ins Land
Der Neujahrsglockengruß
Mit vollem Klang hinausgesandt;
Da tast‘ ich mit Hand und Fuß
Die Stufen hinab im Treppenraum,
Und plötzlich treibt’s mich, wie, weiß ich kaum –
Mir dröhnt im Ohr noch das Läuten –
Abseits durch die Kirche zu schreiten.Durchs Fenster senkt sich auf braunes Gestühl
Des Mondes ruhiger Glanz.
An weißen Wänden ein leichtes Spiel
Von Schatten und Lichtern im Tanz.
Lebendig wird mit der Dornenkron‘
Der Heiland vor Pilatus'[*] Thron,
Und Judas packt in der Ecke
Des Altars silberne Decke.Da seh‘ ich, hilf Gott, so schattenhaft grau,
Rings durch das Gestühle verstreut,
Hier Kind und Greis, dort Mann und Frau,
Viel schweigende, harrende Leut‘.
Sie beten nicht, sie singen nicht,
In ihren Augen ist kein Licht;
Es starren erloschene Sterne
Glanzlos weithin in die Ferne.Menko Mennen stiert von der Prieche her,
Okko Tannen trieft von Blut,
Jantje Bomreman trägt ein Pelzkleid schwer,
Kea Rykena strohernen Hut.
Ich kneif‘ mir den Arm, es ist kein Traum,
O Grausen, allein ganz hinten im Raum
Mein Schwiegersohn Edzard Onnen, –
Da bin ich vor Schrecken entronnen.Und alle, die damals mein Auge gesehn,
Die sah ich im selben Jahr
Im schwarzen Holz auf der Diele stehn
Und dann auf der Todtenbahr.
Drum, Ehrwürden, diesmal gebt Ihr mich frei
Und schickt mich morgen zur Sakristei.
Mir Alten frommt nicht, zu lüften
Den Schleier von Gräbern und Grüften.“~~~\~~~~~~~/~~~
Die Uhr schlägt zwölf; um Mitternacht
Der Mond lugt still herfür,
Da schreitet vorbei an Gräbern sacht,
Ganz sacht zur Kirchentür
Ehrwürden Pfarrer Henrikus Brand,
Schlüssel und Bibel in seiner Hand, –
Aufschließt er und schreitet verwegen
Dem harrenden Spuk entgegen.Er schreitet und sieht im braunen Gestühl
Des Mondes ruhigen Glanz,
An weißen Wänden ein leises Spiel
Von Schatten und Lichtern im Tanz,
Doch starr verharrt mit der Dornenkron‘
Der Heiland vor Pilatus‘ Thron,
Auch läßt sich in Winkeln und Ecken
Kein Menschenantlitz entdecken.’s ist totenstill im weiten Raum,
Die Schritte verhallen im Gang,
In schimmernden Pfeifen ruht ein Traum
Von brausendem Orgelklang.
Erhobenen Haupts am Altar vorbei
Die Bibel trägt er zur Sakristei,
Und war ihm das Herz beklommen,
Der Bann ist fortgenommen.Schon ist es getan; nun tritt er heraus.
Dumpf grüßt ihn das Neujahrsgeläut‘. – –
Da sitzen in Stühlen, o Schreck und Graus,
Viel schweigende, harrende Leut‘.
Sie beten nicht, sie singen nicht,
In ihren Augen ist kein Licht,
Sie starren, das Antlitz erhoben,
Zur Kanzel hinauf nach oben.Hilf Himmel, der Küster sprach keine Mär,
Sie sind’s, die der Tod erkor!
Ach, pocht ihm das Herz! Sein Kopf wird schwer,
Und zitternd möcht er vom Chor.
Da setzt mit wundersamem Klang
Die Orgel ein und tönt so bang,
Und jäh hat er nach oben
Zur Kanzel den Blick erhoben.O Jesus, mit ausgestreckter Hand,
Eigen und sonderbar,
Steht er dort selbst, Henrikus Brand,
Ragend im dunkeln Talar,
Und spricht auch sein Mund kein einziges Wort,
O Schrecken, Schrecken! es gleicht ihm dort
Der Schemen in jedem Stücke
Bis auf Beffchen und Perücke.Kein Trug, er sieht sein eigen Gesicht!
Von fern mit leisem Klang
Tönt „Jesus meine Zuversicht“,
Sein eigener Grabgesang.
Sein Herz will stocken, er ächzt nach Luft
Und hastet, daß er der harrenden Gruft
Mit schnellem Fuß entrinne, –
Da schwinden ihm die Sinne. – –Ehrwürden Pfarrer Henrikus Brand,
Im Morgendämmerschein
Siebrand Tiarks, sein Küster, fand
Ihn tot auf kaltem Stein.
Noch sah das Antlitz bleich vom Chor
Mit gebrochenem Auge zur Kanzel empor. –
„Bewahr‘ uns, Herr, zu lüften
Den Schleier von Gräbern und Grüften!“
Bilder: Ansichtskarte von Oldenburg nach Haldem, 1906 mit dem Gertrudenfriedhof zwischen Alexanderstraße, die in den Stadtteil Dietrichsfeld führt, und Nadorster Straße im Stadtteil Nadorst.
Der scheinbar alte Stein mit dem Text „O ewich is so lanck“ scheint eine erst kurz vor dem Fototermin entstandene Replik eines alten Steines zu sein. Noch 2020 ist der Stein in der Außenmauer zu finden:
Oldenburg, den 6. 9. [September] 1906. Lieber Fritz. Ich bin gerade wieder hingewesen / zum Arzt. Es hat sich gut gebessert. / Er hatte es nicht ganz getroffen / und hat heute noch etwas weg / geschnitten. Freitag Nachmittag / sollte ich wieder hin. Der Arzt / sagt, mit Reisen sollte ich / bis Sonnabend warten. / Dann fahre ich Sonnabend / Morgen um 11,26 Min. [Minuten] in / Oldenburg ab, denn bin ich / 12,24 in Bremen und / fährt von Bremen ½ 2 Uhr / ab, dann bin ich ½ 4 Uhr / in Lemförde. Abholen braucht Ihr mich nicht. Weiter auf der Bildseite: Ich komme dann mit den Wieh[… ?]./. zu Euch. Ich darf jetzt alles essen, ich /. Bin [… ?] die Milch immer ordentlich flau / geworden. Viele Grüße an Eltern Deine Emma Helling. [Zusatz am Rand der Bildseite:] Bin Donnerstag Nachmittag zuerst aufgestanden.
Grabstätte Georg Ruseler: Alt-Oldenburg …entdecken!.
Soundtrack: Pine Box Boys/Lester T. Raww’s Graveside Quartet: Dancing On Your Grave, 2016:
As soon as you gave up the ghost
They argued who loved you the most,
But I won’t change my tune,
I’ll be dancing to it soon.
Ungeheuerlichste hochdeutsche Fachausdrücke und trübe Weissagungen
Update zu Weihnachten Fibels,
Und wenn’s im Rücken mal weh tut, wird jede Bewegung zur Qual,
3. Katzvent: Die Katze als Subjekt der bildenden Kunst,
3. Stattvent: Sie haben kein Geld nicht besessen
und Hipsteros:
Soll keiner glauben, es wäre leicht gewesen, eine Weihnachtsgeschichte aufzutreiben, in der es um Fußball geht; allenfalls leichter als eine Fußballgeschichte, in der es um Weihnachten geht.
Sosehr Ödön von Horváth eine gesunde Abneigung gegen Sport hegte wie jeder andere vernunftbegabte Mensch auch, hat er nach Zählung der Suhrkamp-Gesamtausgabe neunzehn Sportmärchen geschrieben und unter ihnen die Legende vom Fußballplatz so favorisiert, dass er sie für seinen hartnäckigsten Beitrag zur Schullektüre, Jugend ohne Gott und für seine nachgelassene „höllische Komödie“ Himmelwärts zweit-, ja sogar drittverwendete.
Laut der bis auf weiteres gültigen Einzelbesprechung von Martin Halter: Himmelstor: Horvaths „Legende vom Fußballplatz“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. Januar 2006, ist die Legende
kein Kindertotenlied, sondern die Fieberhalluzination eines Fans, geträumt auf den Federwölkchen unschuldiger Phantasie. Auf der Erde tummeln sich Rumpelfüßler, Fachsimpel und ruppige Aufseher, und Torwarttitanen schwadronieren von Siegen und unverdienten Niederlagen auf Malta. Nur im Himmel gilt, was Pele einst als Erfolgsgeheimnis des Fußballs beschrieb: „Große Kinder spielen, und große Kinder schauen zu.“ Wenn wir Weltmeister werden, ist es ein Wunder. Wenn Borneo II gegen Alaska verliert, ohne daß sich erwachsene Männer in „ungeheuerlichsten hochdeutschen Fachausdrücken“ und „trüben Weissagungen“ spreizen, ist es ein bezauberndes Märchen.
Trotzdem fröhliche Weihnachten.
——— Ödön von Horváth:
Legende vom Fußballplatz
Pester Lloyd, 1926:
Es war einmal ein armer kleiner Bub, der war kaum sieben Jahre alt, aber schon loderte in ihm eine Leidenschaft: Er liebte den Fußball über alles.
Bei jedem Wettspiel mußte er dabei gewesen sein: ob Liberia gegen Haidhausen, ob Beludschistan gegen Neukölln – immer lag er hinter einem der Tore im Grase (meistens bereits lange vor Beginn) und verfolgte mit aufgerissenen runden Kinderaugen den mehr oder minder spannenden Kampf. Und wenn ein Spieler grob rempelte, ballten sich seine Händchen erregt zu Fäusten und mit gerunzelter Stirn fixierte er finster den Übeltäter. Doch wenn dann vielleicht gleich darauf des Schicksals Laune (quasi als Racheakt) ein Goal schoß, so tanzte er begeistert und suchte strahlend all den Anderen, die um ihn herum applaudierten, ins Antlitz zu schauen.
Diese Anderen, die neben ihm lagen, waren ja meistens schon um ein oder zwei Jahre älter und andächtig horchte er, wenn sie sich in den ungeheuerlichsten hochdeutschen Fachausdrücken, die sie weiß Gott wo zusammengehört hatten, über die einzelnen Spieler und Clubs ergingen; ergriffen lauschte er trüben Weissagungen, bis ihn wieder ein wunderbar vollendet geköpfter Ball mit sich riß, daß sein Herz noch höher flog wie der Ball.
So saß er oft im nassen Grase. Stundenlang.
Der Novemberwind schmiegte sich an seinen schmalen Rücken, als wollte er sich wärmen und hoch über dem Spielplatz zog die Fieberhexe ihre Raubvogelkreise.
Und als der Schlußpfiff verklungen war, da dämmerte es bereits; der kleine Bub lief noch einmal quer über das Feld und ging dann allein nach Hause. In den leeren Sonntagsstraßen war es ihm einige Male als hörte er Schritte hinter sich: als schliche ihm jemand nach, der spionieren wolle, wo er wohne. Doch er wagte nicht umzuschauen und beneidete den Schutzmann, der solch große Schritte machen konnte. Erst zuhause, vor dem hohen grauen Gebäude, in dem seine Eltern den Gemüseladen hatten, sah er sich endlich um: ob es vielleicht der dicke Karl ist mit dem er die Schulbank teilt und der ihn nie in Ruhe läßt – aber es war nur ein dürres Blatt, das sich mühsam die Straße dahinschleppte und sich einen Winkel suchte zum Sterben.
Und am Abend in seinem Bette fror er trotz tiefroter Backen; und dann hustete er auch und es hob ihn vornüber, als haute ihm der dicke Karl mit der Faust in den Rücken.
Nur wie durch einen Schleier sah er seiner Mutter Antlitz, die am Bettrande saß und ihn besorgt betrachtete; und er hörte auch Schritte im Zimmer, langsame, hin und her: das war Vater.
Der Nordwind hockte im Ofenrohr und zu seinem Gesumm fingen Regenbogen an einen Reigen um ihn zu tanzen. Er schloß die Augen. Da wurde es dunkel. Und still.
Doch nach Mitternacht wich plötzlich der Schlaf und feine Fingerknöchelchen klopften von außen an die Fensterscheibe und er hörte seinen Namen rufen – „Hansl!“ rief eine sanfte Stimme – „Hansl!“ Da erhob sich der kleine Bub aus seinem Bette, trug einen Stuhl vor das Fenster, erkletterte ihn und öffnete –: draußen war tiefe stille Nacht; keine Trambahn läutete mehr und auch die Gaslaterne an der Ecke war schlafen gegangen und – vor einem Fenster im vierten Stock schwebte ein heller Engel; der ähnelte jenem, welcher Großvaters Gebetbuch als Spange umschloß, nur, daß er farbige Flügel hatte: der linke blau und gelb: das waren die Farben des Fußballvereins von Oberhaching; der rechte rosa und grün: das waren die Farben dessen von Unterhaching; seine schmalen Füße staken in purpurnen Fußballschuhen, an silberner Sternenschnur hing um seinen Schwanenhals eine goldene Schiedsrichterpfeife und in den durchsichtigen Händen wiegte sich ein mattweißer Fußball.
„Schau“ – sprach der Engel – „schau!“ und köpfte den Ball kerzengrade in die Höhe; der flog, flog – bis er weit hinter der Milchstraße verschwand.
Dann reichte der Himmlische dem staunenden Hansl die Hand und lächelte: „Komm mit – zum Fußballwettspiel“ Und Hansl ging mit.
Wortlos war er auf das Fensterbrett gestiegen und da er des Engels Hand ergriffen, da war es ihm als hätte es nie einen dicken Karl gegeben. Alles war vergessen, versank unter ihm in ewigen Tiefen – und als die beiden an der Milchstraße vorbeischwebten fragte der kleine Bub: „Ist es noch weit?“ „Nein“, lächelte wieder der Engel, „bald sind wir dort.“
Und weil Engel nie lügen leuchtete bald durch die Finsternis eine weiße rechteckige Fläche, auf die sie zuflogen. Anfangs glaubte Hansl es wäre nur ein Blatt unliniertes Papier, doch kaum, daß er dies gedacht hatte, erfaßte sein Führer auch schon den Rand; nur noch ein Klimmzug – und es war erreicht! Doch wie erstaunte da der kleine Bub!
Aus dem Blatt unliniertem Papier war eine große Wolke geworden, deren Oberfläche ein einziger herrlich angelegter Fußballplatz war; auf buntbewimpelten Tribünen saßen Zuschauer wie sie in solcher Zahl unser Kleiner noch bei keinem Wettspiel erlebt hatte. Und das ganze Publikum erhob sich zum Gruß und aller Augen waren voll Güte auf ihn gerichtet, ja selbst der Aufseher, der ihn doch sonst immer sofort hinter das Tor in das nasse Gras trieb, führte ihn unter fortwährenden Bücklingen auf seinen Platz: Tribüne (!) Erste Reihe (!!) Mitte (!!!)
„Wie still nur all die Leute sind!“ meinte der kleine Bub. „Sehr recht, mein Herr“, lispelte der Aufseher untertänig, „dies sind ja auch all die seligen Fußballwettspielzuschauer.“
Unten am Rasen losten die Parteien nun um die Sonne-im-Rücken-Seite und – „das sind die besten der seligen Fußballspieler“, hörte Hansl seinen Nachbarn sagen; und als er ihn ansah nickte ihm dieser freundlich zu: da erkannte er in ihm jenen guten alten Herrn, der ihm einst (als Borneo gegen Alaska verlor) vor dem dicken Karl verteidigte; noch hielt er den Rohrstock in der Hand mit dem er den Raufbold damals drohte. Wie der dann lief!
Unermeßliche Seligkeit erfüllte des armen kleinen Buben Herz. Das Spiel hatte begonnen um nimmermehr beendet zu werden und die Zweiundzwanzig spielten wie er noch nie spielen sah. Manchmal kam es zwar vor, daß der eine oder andere dem Balle einfach nachflog (es waren ja auch lauter Engel) doch da pfiff der Schiedsrichter (ein Erzengel) sogleich ab: wegen unfairer Kampfesweise.
Das Wetter war herrlich. Etwas Sonne und kein Wind. Ein richtiges Fußballwetter.
Seit dieser Zeit hat niemand mehr den armen kleinen Buben auf einem irdischen Fußballplatze gesehen.
Zugabe nach dem Vorbild der Quelle:
Autobiographische Notiz (auf Bestellung)
1927:
Geboren bin ich am 9. Dezember 1901, und zwar in Fiume an der Adria, nachmittags um dreiviertelfünf (nach einer anderen Überlieferung um halbfünf). Als ich zweiunddreißig Pfund wog, verließ ich Fiume, trieb mich teils in Venedig und teils auf dem Balkan herum und erlebte allerhand, u. a. die Ermordung S.M. des Königs Alexanders von Serbien samt seiner Ehehälfte. Als ich 1,20 Meter hoch wurde, zog ich nach Budapest und lebte dort bis 1,21 Meter. War dortselbst ein eifriger Besucher zahlreicher Kinderspielplätze und fiel durch mein verträumtes und boshaftes Wesen unliebenswert auf. Bei einer ungefähren Höhe von 1,52 erwachte in mir der Eros, aber vorerst ohne mir irgendwelche besonderen Scherereien zu bereiten – (meine Liebe zur Politik war damals bereits ziemlich vorhanden). Mein Interesse für Kunst, insbesondre für die schöne Literatur, regte sich relativ spät (bei einer Höhe von rund 1,70), aber erst ab 1,79 war es ein Drang, zwar kein unwiderstehlicher, jedoch immerhin. Als der Weltkrieg ausbrach, war ich bereits 1,67 und als er dann aufhörte bereits 1,80 (ich schoß im Krieg sehr rasch empor). Mit 1,69 hatte ich mein erstes ausgesprochen sexuelles Erlebnis – und heute, wo ich längst aufgehört habe zu wachsen (1,84), denke ich mit einer sanften Wehmut an jene ahnungsschwangeren Tage zurück. Heut geh ich nurmehr in die Breite – aber hierüber kann ich Ihnen noch nichts mitteilen, denn ich bin mir halt noch zu nah.
Fußballengel:
- Barbara Morse: Just For Kicks, 2021;
- Nekoylia für °•°Bocetos y guías para dibujantes°•°: Poses de pelea;
- Dahy Garay;
- Sarrah Williams, November 2022.
Soundtrack: Die schönste von allen bekannten Tausenden Versionen Stille Nacht ist zweifellos eine englische – Silent Night –, nämlich die von die von Tom Waits. Sie ist nie auf einer Original-CD von ihm erschienen, insofern eine Rarität, nur auf SOS United, 1989 – eine Stiftung von Tom Waits für die SOS-Kinderdörfer. Der teilhabende Kinderchor bleibt unbekannt, weil ungenannt.
Im Video: Correggio: Anbetung der Hirten, 1530 (Detail); Tintoretto, 1545 oder 1578; Gerrit van Honthorst, 1622 oder 1646.
Ob ich recht erraten könne, was die Minne sei?
Update zu Der Weise aus dem Mörchenland,
Da ist schwäb’scher Dichter Schule, und ihr Meister heißt – Natur!
und Der arme Stephan mit dem gebackenen Kopf:
Unserer Vorliebe für siebenzeilige Strophen folgend, entdecken wir welche im Minnesang des Hochmittelalters. Letzteres wiederum entdecken wir im historischen Bestsellerroman der deutschen Romantik, und Wilhelm Hauff tut uns gleich den Gefallen und erklärt das Wichtigste im eigenen Primärtext.
Literaturgeschichtlich hat Lichtenstein, Wilhelm Hauff 1826, mehrmals die wunderschönsten, dabei noch historisch informative Illustrationen erfahren, die man neben getrost bei Inge Nunnenmacher: Wilhelm Hauff und sein Roman Lichtenstein. Folge I, 2013 ff. im gewohnt kompetenten Goethezeitportal nachschlagen mag; mit Folge II: Ein Märchenschloss wird Wirklichkeit, 2013 f. und Folge III: „Wer kennt nicht Wilhelm Hauff, den schwäbischen Walter Scott? Wer hat nicht seinen Lichtenstein gelesen?“ (Griesinger) Ein Beitrag zur Rezeption von Hauffs „Lichtenstein“, 2014 ergibt sich eine nahezu erschöpfende Dokumetation.
Weil sich mein Beitrag durch solche Vorarbeit überflüssig gemacht hat, bringe ich im Bildmaterial nur thematisch halbwegs passend das zeitgenössische Lied Under der linden im Laufe der Zeit – übrigens vom selben Dichter und gleichfalls mit einer waghalsig ungeraden Verszahl von 9 –, und wir können in dem höchst cantabilen ABABCXC (6. Vers verwaist) des Vogelweidners baden.
——— Wilhelm Hauff:
Lichtenstein
Erster Teil, VII, aus: Lichtenstein. Romantische Sage aus der würtembergischen Geschichte,
Friedrich Franckh, Stuttgart 1826, cit. nach Winkler-Ausgabe 1970, Band 1, Seite 58 f.:
Endlich ergriff sie, als gar nichts mehr helfen wollte, ihre Laute, die in der Ecke stand. Marie besaß auf diesem Instrument große Fertigkeit, und Berta hätte sich sonst nicht leicht bewegen lassen, vor der Meisterin zu spielen. Doch heute hoffte sie durch ihr Geklimper wenigstens ein Lächeln ihrer Base zu entlocken. Sie setzte sich mit großem Ernste nieder und begann:
„Fragt mich jemand, was ist Minne?
Wüßt ich gern auch darum meh(r).
Wer nun recht darüber sinne
Sag mir, warum tut sie weh?
Minne ist Liebe, tut sie wohl;
Tut sie weh, heißt sie nicht Minne.
Oh, dann weiß ich, wie sie heißen soll.“„Wo hast du dies alte, schwäbische Liedchen her?“ fragte Marie, die der einfachen Musik und dem lieblichen Text gerne ihr Ohr lieh.
„Nicht wahr, es ist hübsch? aber es kommt noch viel hübscher, wenn du hören willst“, antwortete Berta; „das hat mich in Nürnberg ein Meistersänger, Hans Sachs, gelehrt, es ist übrigens nicht von ihm, sondern von Walther von der Vogelweide, der wohl vor dreihundert Jahren gelebt und geliebt hat. Höre nur weiter:
Ob ich recht erraten könne,
Was die Minne sei? so sprecht ja;
Minne ist zweier Herzen Wonne;
Teilen sie gleich, so ist sie da.
Doch – soll ungeteilt sein,
So kann ein Herz allein sie nicht enthalten;
Willst du mir helfen, traute Jungfrau mein?Nun hast du geteilt mit dem armen Junker?“ fragte die schelmische Berta ihre errötende Base. „Vetter Kraft möchte gerne auch mit mir teilen, einstweilen kann er aber seinen ganzen Part allein tragen. Doch du wirst mir wieder ernst, ich muß schon noch ein Liedchen des alten Herrn Walthers singen:
Ich weiß nicht, wie es damit geschah,
Meinem Auge ist’s noch nie geschehen,
Seit ich sie in meinem Herzen sah
Kann ich sie auch ohne Augen sehen;
Da ist doch ein Wunder mit geschehen,
Denn wer gab es, daß es ohne Augen
Sie zu aller Zeit mag sehen?Wollt ihr wissen, was die Augen sein,
Womit ich sie sehe durch alle Land,
Es sind die Gedanken des Herzens mein
Damit schau ich durch Mauer und Wand,
Und hüten diese sie noch so gut,
Es schauen sie mit vollen Augen
Das Herz, der Wille und mein Mut.“Marie lobte das Lied des Herrn Walther von der Vogelweide als einen guten Trost beim Scheiden; Berta bestätigte es. „Ich weiß noch einen Reim“, sagte sie lächelnd, und sang:
„Und zog sie auch weit in das Schwabenland,
Seine Augen schauen durch Mauer und Wand,
Seine Blicke bohren durch Fels und Stein,
Er schaut durch die Alb nach dem Lichtenstein!“Als Berta noch im Nachspiel zu ihrem Liedchen begriffen war, ging die Gartenpforte; Männertritte tönten den Gang herauf, und die Mädchen standen auf, die Erwarteten zu empfangen.
——— Walther von der Vogelweide:
Saget mir ieman, waz ist minne?Original 1. und 2. Strophe, cit. nach: Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche.
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Ein Übersetzungsvorschlag
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Bilder: Unter der Linde:
- Her Chunrat vo Altstetten, Codex Manesse, UB Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848, fol. 249v;
- Eduard Ille: Under der Linden, Wandgemälde in Schloss Neuschwanstein, also ca. 1869,
via Elobrus Maximus: Walther von der Vogelweide (1170–1230) – „Saget mir ieman, waz ist minne“ (Minnesang), 20. Oktober 2015; - Wilhelm von Kaulbach: Illustration zu Walter von der Vogelweide: Unter der Linden,
alte Postkarte aus der Sammlung: Wilhelm von Kaulbach. Zwölf Bilder zu Schiller’s Dramen u.a.
in Ansichtspostkarten. Verlag von K. Ad. Emil Müller in Stuttgart. o. J.
Soundtrack: Courtly Love: Mirage, 2014:
La Wölfin lernt einen Podcast 1.0
Update zu Den Bach runter,
Danne ich wüete fluot des rîfen nû mit füezen bar,
Wir rechnen jahr auff jahre / in dessen wirdt die bahre vns für die thüre bracht
und Da unten in jenem Thale (da geht ein Kollergang):
Es ergeht Empfehlung für eine Art Podcast 1.0, mit der tröstlichen Gewissheit, dass hier ein Opus in seiner Abgeschlossenheit vorliegt.
„Halt, halt, halt“, gebietet die Wölfin.
„Was denn wieder?“ halte ich sofort ein.
„Der Mann ist nach dem dreizehnten Vortrag gestorben“, sagt die Wölfin, „was soll denn daran tröstlich sein?“
„Genau das, was ich gesagt hab“, sag ich: „dass es nicht mehr als 13 Teile werden können.“
„Du wünschst Studiendirektoren den Tod, damit du nicht mehr als 320 Seiten lesen musst?“
„Das hab ich ganz sicher nicht gesagt“, sag ich, „auch aus dem traurigen Anlass des Ablebens kann Trost entstehen. Ja, so weit möchte ich mich aus diesem Fenster werfen, zu sagen, dass ohne den traurigen Anlass kein Trost notwendig wäre.“
„Wolfwolfwolf“, seufzt die Wölfin, „hingenommen. Fahre fort.“
Es ergeht Empfehlung, sagte ich, für die Vorträge von Wolfgang Beitinger, Lehrer für Latein, Altgriechisch und Deutsch in Kaufbeuren.
„Warum?“ fragt die Wölfin. – Darum:
Hier finden Sie insgesamt 13 germanistische Fachvorträge aus dem Nachlass von StD a. D. Wolfgang Beitinger († 2010). Gehalten wurden diese Vorträge in den Jahren 1993 bis 2007. […] Für Leute, die nicht so gern am Bildschirm lesen und lieber ein komplettes Buch in Händen halten, gibt es einen 320-seitigen Sammelband aller dreizehn Vortrags-Manuskripte als Taschenbuch (9,90 €). Er eignet sich auch als Geschenk für literarisch Interessierte, die selber keinen Computer haben.
Dass es das – immerhin ab anno salutis 2017 – noch geben darf.
„Was genau“, fragt die Wölfin, „macht es zum Podcast?“ – Nun, die Selbstbeschreibung:
Von allen Vorträgen gibt es Manuskripte. Von einigen gibt es zusätzlich komplette Tonaufnahmen. Diese Materialien stehen hier einer interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung. Sie dürfen kostenlos genutzt und in unveränderter Form weitergegeben werden.
Bilder und Musikbeispiele, die im Text erwähnt werden, sind aus urheberrechtlichen Gründen leider nicht enthalten.
Die Tonaufnahmen können Sie direkt von dieser Internetseite abspielen (Wiedergabe-Schaltflächen direkt unter den Titeln). Alternativ können Sie MP3-Dateien herunterladen und mit einem Player Ihrer Wahl wiedergeben.
Darunter die Sammel-Downloads.
„Was genau“, lässt die Wölfin nicht locker, „macht es 1.0?“ – Nun, dass ihm vom Seitenbetreiber Andreas Beitinger, vermutlich einem überlebenden Verwandten des vortragenden Studiendirektors a. D., keine widerwärtige Kommentarfunktion mit Ambition zur Community-Bildung angekleistert wurde.
„Das ist überaus tröstlich“, sagt die Wölfin.
„Sag ich doch“, sag ich.
„Und was genau steht drin?“ – Alle dreizehn Vorträge, darunter auch der ausgefallene:
Wallenstein aus kurbairischer Sicht: 31.03.1993 im Gablonzer Haus, 16 Seiten;
- Adalbert Stifter: Der Böhmerwald und das „Sanfte Gesetz“ 30.03.1994 im Gablonzer Haus, 15 Seiten;
- Mozart auf der Reise nach Prag. Historie – Dichtung – Musik: 29.03.1995 im Gablonzer Haus sowie am 21.11.1995 im Gasthof zum Goldenen Schwanen in Frankenried, 18 Seiten, Tonaufnahme 88 Minuten;
- Franz Grillparzer: Libussa und die Gründung Prags: 27.03.1996 im Gablonzer Haus, 16 Seiten, Tonaufnahme 84 Minuten;
- Clemens Brentano – ein Romantiker in Böhmen 1811 bis 1814: 19.03.1997 im Gablonzer Haus, 19 Seiten, Tonaufnahme 101 Minuten;
- Joseph Freiherr von Eichendorff: „… Und die Welt hebt an zu singen“: 01.04.1998 im Gablonzer Haus, 19 Seiten, Tonaufnahme 80 Minuten;
- Goethe: Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident: zum „West-östlichen Divan“ von Johann Wolfgang von Goethe am 24.03.1999 im Gablonzer Haus, 22 Seiten, Tonaufnahme 96 Minuten;
- Schlesische Lyrik im 17. Jahrhundert – Blütezeit deutscher Dichtung mitten im großen Krieg: Vortrag mit Dichterlesung am 19.04.2001 in der Schlesischen Heimatstube Kaufbeuren, 12 Seiten, Tonaufnahme 61 Minuten;
- Rainer Maria Rilke – Ein deutscher Lyriker aus Prag: 12.03.2003 im Gablonzer Haus, 20 Seiten, Tonaufnahme 124 Minuten;
- Gedenkstunde für Joseph von Eichendorff: 29.11.2003 beim Eichendorff-Denkmal Frankenried, 8 Seiten;
- Der Ackermann aus Böhmen. Ein Kleinod deutsch-böhmischer Literatur um 1400: 10.03.2004 im Gablonzer Haus, 16 Seiten, Tonaufnahme 98 Minuten;
- Adalbert Stifter: „Die Mappe meines Urgroßvaters“: Vortrag und Lesung (am 16.03.2005 im Gablonzer Haus geplant, aber ausgefallen), 6 Seiten;
- Eichendorff als politischer Denker: 25.11.2007 im Gasthof zum Goldenen Schwanen in Frankenried, 8 Seiten.
„Hab ich’s doch gewusst“, sagt die Wölfin, „nichts als Großvaterthemen.“
„Was fürs Leben halt.“
„Wolfwolfwolf“, seufzt die Wölfin.
Bilder: a. a. O., 2017;
eins von ungefähr Silvester 2017.
Soundtrack: Joseph von Eichendorff: Lied/Das zerbrochene Ringlein/In einem kühlen Grunde/Untreue, 1813;
Musik: Friedrich Glück/Friedrich Silcher; Regie: Joseph Vilsmaier, 1997:
Begräbnis des Glaubens (L’enterrement de la foi)
Update zu Paris Faustiens,
Dieses unnötige, ja sinnlose Hin und Her
und Moritz Under Ground:
Die junge, noch nicht Neue Zürcher Zeitung berichtete am 14. Juni 1780, und zwar aus ihrem Standort Berlin:
Heute ist der Sterbetag des Herrn von Voltaire auf Sr. Majestät Befehl in der hiesigen Katholischen Kirche feyerlich begangen worden. Es wurde bey dieser Gelegenheit eine hohe Messe gehalten, und in der Mitte der Kirche war ein Castrum doloris errichtet, auch die Kirche mit vielen Waxlichtern erleuchtet. Die Kosten hierzu haben Se. Majestät gegeben. – Diese andächtige Feyerlichkeit wurde in Gegenwart einer ansehnlichen Versammlung, Personen von allen Ständen verrichtet, welche nach deren Beendigung reichliche Allmosen unter die Armen austheilten.
Die Katholischen Mitglieder der hiesigen Königl. Akademie der Wissenschaften haben diese Messe veranlasset, und der hiesige Herr Pfarrer hat um so weniger Bedenken getragen darein zu willigen, da sie ungezweifelte Beweise beygebracht, daß der Herr von Voltaire kurz vor seinem Ende ein Christ-Katholisches Glaubens-Bekenntniß abgelegt, ordentlich gebeichtet, seinem christlichen Nebenmenschen durch Allmosen und andere gute Werke ein Beyspiel gegeben, und nach seinem erfolgten Ableben in die Abtey Scellieres […] nach den Gebräuchen der katholischen Kirche beerdiget, mithin der französischen Geistlichkeit um so mehr zur Ungebühr und boshafter Weise zur Last gelegt worden, daß sie ihm die kirchliche Beerdigung versaget, da dieser ehrwürdige Stand es nicht würde haben wollen an sich kommen lassen, daß er die Grundsätze der Gerechtigkeit[…] aus den Augen gesetzet, wodurch er den Verdacht eines mit der christlichen Liebe und aller wahren Tugend streitenden Privathasses gegen sich erweckt haben würde.
Jedenfalls hinterbringt es so die Neue Nachfolgerin ihrer selbst in in: Voltaires Totenmesse, Neue Zürcher Zeitung, 2. August 2005. Und für einen Todestag am 30. Mai 1778 wäre ein Begräbnis anno 1780 doch auffallend spät.
Das Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon von 1837 erklärt uns den Verzug:
Im Théâtre français wurde seine Büste und er selbst gekrönt; allein der 84jährige Greis ward von allen diesen Festlichkeiten und der veränderten Lebensweise so angegriffen, daß er erkrankte, eines Tages schwermüthig ausrief: „er sei blos nach Paris gekommen, um Ehre und Grab zu finden“, und im Mai 1778 starb. Da er nicht wie ein katholischer Christ verschieden war, verweigerte der Erzbischof ihm in Paris ein ehrliches Begräbniß und seine Leiche ward deshalb im Stillen nach der Abtei Scellières (zwischen Troyes und Noyent) gebracht und bestattet. Im J. 1791 ließ aber die Nationalversammlung V.’s Asche nach Paris holen und feierlich im Pantheon (s.d.) beisetzen.
Ausführlicher hat man es seit 1992:
——— Hans Pleschinski:
Voltaire – Friedrich der Große.
Briefwechsel.
Herausgegeben, vorgestellt und übersetzt von Hans Pleschinski
aus: ebenda, Haffmans Verlag, Zürich 1992, Seite 555:
Eine größere Makabrität als das Nachspiel zum Sterben Voltaires ließe sich kaum erfinden. Bei der Sektion und Einbalsamierung des Leichnams, um den sich die Nichte und Haupterbin Marie-Louise Denis nicht mehr kümmert, nimmt der Chirurg das Gehirn Voltaires an sich und überläßt dem Marquis de Villette, Voltaires letztem Gastgeber, das Herz des Toten, in einer Kapsel verwahrt. Der Erzbischof von Paris lehnt eine ordentliche Beisetzung des Verstorbenen kategorisch ab. Einbalsamiert und angekleidet, wie ein Schlafender, wird der Leichnam aus Paris herausgebracht, wird tagelang kreuz und quer durch Ostfrankreich gefahren, bis Voltaires Neffe bei Troyes endlich einen Geistlichen findet, der bereit ist, die sterblichen Überreste des Freigeists in der Abtei Scellières beizusetzen. Ein Grabmal darf jedoch nicht errichtet werden, und überdies wird der hilfreiche Abbé Mignot alsbald seines Amtes enthoben.
Dreizehn Jahre lang ruht der Leichnam in der Champagne. 1791 wird er in der Abtei aufgestöbert und zum Heiligtum der Revolution erklärt. Am 11. Juli 1791, genau dreizehn Jahre nach Voltaires Tod, muß der schon halbwegs inhaftierte Ludwig XVI. aus den Tuilerien mitansehen, wie die leiblichen Überreste des Philosophen und Ex-Historiographen Ludwigs XV. in einem Prunkkatafalk nach Paris überführt und als Symbol des Umsturzes und der Freiheit ins Panthéon gebracht werden. Dort bleibt Voltaire – neben den Resten seines Antipoden Jean-Jacques Rousseau – bis 1814. Wiederum im Mai stürmen katholische Ultraroyalisten das Mausoleum der Revolution und Republik, brechen die Sarkophage auf und vernichten die Philosophengebeine vor der Stadt in ungelöschtem Kalk.
Voltaires riesige Bibliothek wird von seinen Erben gleich nach seinem Tod verkauft und trifft schon 1778 in Petersburg bei Katharine der Großen ein; Voltaires präpariertes Herz, eingeschlossen in einer goldenen Kapsel, wird im 19. Jahrhundert Eigentum der Bibliothèque Nationale in Paris.
Und das einem Mitglied der Académie française, dem eine Totenmesse zusteht. Offenbar kann sich die NZZ a. a. O. in Detailfragen des Voltaireschen Vermächtnisses recht sicher sein:
Zwar wünschte sich der Philosoph tatsächlich ein ordentliches christliches Begräbnis, aber er machte dem Klerus die geforderten Zugeständnisse nicht: Er legt auf dem Totenbett die Lebensbeichte ab, verweigert aber sowohl den vollen Widerruf seines Werks als auch die Kommunion.
Von Voltaires posthumer Odyssee, die in den absolutiven Stunt mit dem ahnungslosen Prior der Abtei Scellières mündete, über die quasireligiöse Überführung ins Panthéon kurz nach Ausbruch der Französischen Revolution und auf Betreiben des Enzyklopädisten d’Alembert bis hin zur Grabschändung durch die Allzukatholischen schien mein alter Religionslehrer (katholisch) nichts zu wissen. Der stellte es noch so dar, dass Voltaire allein in seinem Sterbekämmerlein jämmerlich vor sich hin verreckte, warum auch immer jemand dergleichen zugelassen haben sollte, und bis zu seiner Auffindung mit blutigen Fingernägeln „Ich bereue“ in die Wand neben seinem Bett geschürft hatte. Und dann wusste der Herr Lehrer nicht mal, um die Anschlagszahl pro Fingernagel einzuschätzen, was „bereuen“ auf französisch heißt.
Man kann immer nur das glauben, was einem aktuell hinterbracht wird. Mir selber sagt die Version Pleschinksi 1992 am meisten zu – was gut damit zusammenhängen kann, dass ich das wirklich wunderschöne Buch mal auf einem Nymphenburger Bücherramsch gefunden hab. Tipp für Neuanschaffungen: Das leichter erreichbare Taschenbuch bei dtv 2004 soll eine „völlig revidierte Neuausgabe“ sein.
Bild: Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4, Leipzig 1841.
Soundtrack: Aurelio Voltaire: Death Death (Devil, Devil, Devil, Devil, Evil, Evil, Evil, Evil Song),
aus: To the Bottom of the Sea, 2008:
Daß die Obrigkeit immer noch solche schandbaren Gewerbe duldet
Update zu Paris Faustiens,
Als der Bund Spargel einmal tausend Francs kostete
und Das Ungeheuer von Laster, das nicht einmal den Namen Feigheit verdient:
Dieser Tage zum Beispiel war ich stolz, weil ich nach 41 Jahren Madame Bovary zu Ende gelesen hab. Dabei hab ich mir das eine letzte Jahr nur noch Zeit gelassen, damit mir keiner an den ersten 40 herumzweifelt.
Was man an Lobpreis über Madame Bovary jemals zu hören und zu lesen bekommen hat, es ist alles wahr. Ein „Roman mit der ‚Dichte der Lyrik'“ (Eigenanspruch), dem dann gleich „die Formel des modernen Romans“ (Émile Zola) eingeschrieben sei, auf dass er „unsere Sicht der Dinge beinahe ebenso sehr erneuert wie Kant“ (Marcel Proust) – man kann gar nicht zu hoch greifen. Dabei wäre es die reine Verschwendung, sich Flaubert nur aus Pflichtbewusstsein gegenüber einer „Pflichtlektüre“ zu nähern, oder aus einer rührseligen Erwartung heraus, es gäbe hier ein überaus tragisches Frauenschicksal zu beweinen; und man wüsste gar nicht, welches von beiden schlimmer wäre.
Natürlich wird Kenntnis der Madame Bovary zur Pflicht, sobald man wissen – und begründen – will, was genau die spätere recherche du temps perdu (Proust, 1913 ff.) von, sagen wir, über die recherche de l’absolu (Balzac, 1834) hinaushebt – oder weniger preziös: was die Weltliteraten Thomas Mann und Charles Dickens voneinander unterscheidet.
Vereinfacht gesagt, ist es die Sicht auf das Geschehen, auf die Figuren, deren Motivation und Verankerung in einer äußeren oder werkimmanenten Welt, und in der Folge dieser aller Bewertung. Noch einfacher: Ob die Figur Madame Emma Bovary leidet oder nicht, vor allem ob sie das selbst verschuldet oder nicht, hat dem personalen Erzähler oder Märchenonkel Flaubert egal zu sein, seine Brillanz liegt im genauen Hinschauen.
Nun bestehen in einem genauen Blick für Details die Brillanzen von Dickens, Thomas Mann, Proust und zahllosen anderen, für die man sich unter Umständen nicht einmal 41 Jahre Zeit nehmen will, auch. Was Flaubert mit seiner inhaltlichen Verdichtung auf einem geradezu lyrischen Niveau über mehrere hundert Prosaseiten hinweg geleistet hat, können wir Deutschsprachigen praktisch erst seit 2012 in einer ebenbürtigen Übertragung nachvollziehen, als Elisabeth Edl die insgesamt 28. Übersetzung der Madame Bovary seit 1858 vorgelegt hat – wenn man Andreas Isenschmid glaubt: Die Freuden der Genauigkeit, und so schlüsig begründet und an Beispielen durchgeführt glaubt man ihm gerne – auch unterstützt von Bonaventura am 2. Mai 2013:
Es ist ein Buch von erstaunlicher künstlerischer Integrität und von einer solch gelassenen erzählerischen Kühle, wie man sie nur sehr selten in der Literatur findet.
Leider konnte ich mir noch nicht mit Elisabeth Edls Wunderwerk von Übersetzung behelfen, dafür mit einer bewährten, soliden unter den vormaligen 27: der von Walter Widmer 1959. Die geschah seinerzeit für Artemis & Winkler, das Derivat als dtv weltliteratur Dünndruck-Ausgabe im Taschenbuch kann ich online in dieser Form in kaum einer festzunagelnden Form auftreiben, bis auf das eine Angebot von The Old Bookcase 2019. Vielleicht vergilbt bei mir das letzte benutzbare Exemplar, nur weil meine Eltern keinem Dreizehnjährigen die achtbändige Diogenes-Ausgabe 1977 ff. zu Weihnachten schenken mochten. Ähnlich sähe diese Konstellation allen Beteiligten.
Wie jeder andere auch, der nicht nur irgendwann mal über einer der durchweg belanglosen Verfilmungen weggedöst ist, die leider allesamt nichts außer dem erdenschwer tragischen Frauenschicksal betonen, halte ich Emma Bovary für eine selten dämliche Nuss. Das Raffinierte daran ist: Sie kann nichts dafür.
Der Apotheker Homais holt gerade Madame Bovary mit Hilfe des Kutschers Hivert ab. Der Blinde kommt kommt in Illustrationen praktisch nicht vor. Wenn Sie etwas anderes wissen, machen Sie kein Geheimnis daraus:
——— Gustave Flaubert:
Madame Bovary. Ein Sittenbild aus der Provinz
1856, in Buchform 1857, Dritter Teil, 7,
übs. Walter Widmer 1959, dtv weltliteratur Dünndruck-Ausgabe 1980, Seite 385 f.:
Als aber der Blinde wie gewöhnlich am Fuße der Anhöhe auftauchte, rief er: „Ich verstehe einfach nicht, daß die Obrigkeit immer noch solche schandbaren Gewerbe duldet! Diese Unglücklichen müßte man einsperren und zu irgendeiner Arbeit anhalten. Der Fortschritt geht bei uns im Schneckentempo, das können Sie mir glauben! Wir waten noch mitten im Sumpf der Barbarei.“
Der Blinde streckte seinen Hut herein, und er baumelte nun hin und her wie eine losgerissene Tasche des Wagenfutters.
„Ein skrofulöses Leiden“, erklärte der Apotheker.
Und obwohl der den armen Teufel schon lange kannte, tat er doch, als sähe er ihn zum erstenmal, brummte etwas von Hornhaut, Star, Sklerose und Facies und fragte ihn dann in väterlichem Ton: „Hast du diese schreckliche Krankheit schon lange, guter Freund? Anstatt dich in der Kneipe zu besaufen, solltest du lieber strenge Diät halten.“
Er riet ihm, guten Wein und gutes Bier zu trinken und hier und da einen guten Braten zu essen. Der Blinde leierte seinen Singsang weiter herunter. Er sah übrigens fast schwachsinnig aus. Schließlich zog Herr Homais seinen Geldbeutel.
„Da hast du einen Groschen, gib mir zwei Heller heraus; und vergiß nicht, was ich dir geraten habe. Es wird dir wohl bekommen.“
Hivert gestattete sich, vernehmlich ein paar Zweifel an der Wirksamkeit der Ratschläge zu äußern. Doch der Apotheker beteuerte, er werde ihn selbst heilen, und zwar mittels einer antiphlogistischen Pomade eigenen Fabrikats, und gab ihm seine Adresse: „Homais, am Markt, bestens bekannt.“
„So, und zum Dank zeigst du uns jetzt ein bißchen, wie schön du Komödie spielen kannst„, sagte Hivert.
Der Blinde ließ sich auf seine Fersen niederplumpsen, warf den Kopf zurück und rollte seine grünlichen Augen, streckte die Zunge heraus und rieb sich mit beiden Händen den Bauch, während er ein dumpfes Heulen ausstieß wie ein ausgehungerter Hund. Emma ekelte es, und sie warf ihm über die Achsel ein Fünffrankenstück zu. Es war ihr letztes Geld. Es dünkte sie wunderschön, es so wegzuwerfen.
Der Wagen fuhr bereits weiter, da lehnte sich Herr Homais plötzlich zum Fenster hinaus und rief: „Keine Mehlspeisen und auch keine Milch! Wollsachen auf dem Leib tragen und die kranken Stellen Wacholderbeerdämpfen aussetzen!“
Der Anblick der vertrauten Dinge, die an ihren Augen vorbeizogen, lenkte Emma nach und nach von ihrem Schmerz ab.
Bilder: Le Père Hivert et Mme Lefrançois: Portraits du Père Hivert, conducteur de l’Hirondelle, et de Mme Lefrançois maîtresse d’Hôtel du Lion d’Or (M. et Mme Thérain), ca. 1875–1895, via Hôtel Le Lion d’Or;
Carlo Chessa: L’Hirondelle d’Yonville, 1905; via Yonville;
ungefähr mein Buch: The Old Bookcase via Booklooker, 6. August 2019.
Mœurs de province, allein schon wegen der inneren Größe: Camille Hardouin: The Partisan, 1943,
als Cover-Version von Leonard Cohen: Le partisan, August 2018 „dans les failles terrestres du Larzac„:
Menschenfresser oder gar auch Analphabeten
Update zu Seht ihr, seht ihr die Tscherkessen (Schöne Menschen, schöne Glieder),
Адвент 1: Über Nacht bin ich tot,
Адвент 3: Mit einem stillen, guten Worte mein gedenken,
Unvernünftige Rede übers unwiederbringlich Verlorene
und Es gibt eine Eitelkeit, die nicht schändet:
Die zaristische Regierung hat von den Besonderheiten des Kaukasus gar nichts verstanden.
Joseph Roth: Das Völker-Labyrinth im Kaukasus, Frankfurter Zeitung, 26. Oktober 1926.
І Архімед, і Галілей
Вина й не бачили. Єлей
Потік у черево чернече!
А ви, святиє предотечі,
По всьому світу розійшлись
І крихту хліба понесли
Царям убогим. Буде бите
Царями сіянеє жито!
А люде виростуть. Умруть
Ще не зачатиє царята…
І на оновленій землі
Врага не буде, супостата,
А буде син, і буде мати,
І будуть люде на землі.Тарас Григорович Шевченко: І Архімед, і Галілей, 24 вересня 1860 р., С.-Петербург.
Ich hab mir das nicht gewünscht, dass die letzten Zwanziger Jahre wieder in die Höhe spülen. Sie hoffentlich auch nicht.
——— Joseph Roth:
Ukrainomanie
Berlins neueste Mode
in: Neue Berliner Zeitung, 13. Dezember 1920,
cit. nach: Werke 1: Das journalistische Werk 1915–1923, Seite 417 bis 419,
erreichbar in: Jan Bürger, Hrsg.: Joseph Roth: Reisen in die Ukraine und nach Russland,
C. H. Beck textura 2015:
Manchmal wird eine Nation modern. Griechen und Polen und Russen waren es eine Zeitlang.
Nun sind es die Ukrainer.
Die Ukrainer, von denen man bei uns und im übrigen Westen nicht viel mehr weiß, als daß sie irgendwo zwischen Kaukasus und Karpaten wohnen, in einem Land, das Steppen und Sümpfe hat, daß die ukrainische Etappe wegen der erhöhten Etappenzulage eine verhältnismäßig angenehme war. Außerdem hat man die höchst unbestimmte Vorstellung von einem „ukrainischen Brotfrieden“ dank dem politischen Dilettantismus eines österreichischen Kriegsdiplomaten. Im übrigen sind „Ukrainer“ eines jener Völker, von denen man nicht bestimmt sagen kann, ob sie nur Menschenfresser oder gar auch Analphabeten sind. Ihrer Abstammung nach sicher „Russen und dergleichen“, ihrem Glaubensbekenntnis nach urkatholische Heiden mit bartumwalltem Priestertum aus Gold, Myrrhen und Weihrauch.
Diese Operettenbegriffe von Land und Volk sind zu verführerisch. Die Polen sind schon zu verwestlicht, auch von den Griechen weiß man bereits Genaueres, seitdem Mitteleuropa erfahren hat, daß auch griechische Könige von Affen gebissen werden können wie Filmschauspielerinnen. Rußland ist durch die zahlreichen deutschen Auswanderer und Kriegsgefangenen bereits ein heimischer Begriff, für Varieté und Operette also nicht mehr zu gebrauchen. Bleibt die „Ukraine“.
Ein armer, aus Lublin (im ehemaligen Kongreßpolen) eingewanderter Jude eröffnet sich im Osten Berlins einen Zigarrenladen, schreibt auf ein Schild ein paar kyrillische Buchstaben und nennt seinen Laden einen „original-ukrainischen“. In Kaffeehäusern tanzen Mädchen den neuesten amerikanischen Jazz und nennen ihn „ukrainischen Nationaltanz“. Am modernsten aber sind die „ukrainischen“ Pantomimen und Ballette.
Berlin schwelgt in groteskem Operetten-Ukrainertum. Jede Melodie von irgendwelcher slawischen Klangfarbe ist „ukrainisch“. Zu dieser Mode haben freilich die echten Ukrainer selbst den Anlaß gegeben, und zwar durch den ukrainischen Sängerchor, der hier, wie in mehreren europäischen Großstädten, einige Male mit riesengroßem Erfolg aufgetreten ist und der Konjunktur selbst einen „Tip“ gegeben hat, wie aus einem nationalen und politischen Begriff Geld zu machen wäre. Außerdem bewirken die Zustände im Osten Europas eine Auswanderung von Russen und Ukrainern und Polen nach dem Westen, wo sie alte „Ukrainer“ sind, weil „ukrainisch“ eben Mode geworden ist. In den „ukrainischen“ Balletten geht es demgemäß stark gemischt zu: ein bißchen tatarisch, ein bißchen russisch, ein wenig allerdings auch kosakisch. Schließlich ist es die Aufgabe der Varietéunternehmungen, denen diese Abhandlung gewidmet ist, zu unterhalten und nicht wissenschaftlich-ethnologische Studien zu treiben. Aber man sollte Volkskunst nicht entstellen, schon gar nicht die Kunst eines augenblicklich wehrlosen Volkes, dem Bolschewisten und Polen die Heimat geraubt haben.
Im Eispalast, dessen Ballett vorzüglich geschult ist und in dem wirklich künstlerische Leistungen zustande kommen, werden „Die roten Schuhe“, eine Ballettpantomime, getanzt. Es soll eine ukrainische Legende sein. Die Kulissenkirche im Hintergrund ist nicht ukrainisch (also griechisch-katholisch), sondern russisch, also orthodox. Die Heldin des Balletts trägt den russischen Kopfschmuck – Ukrainerinnen tragen nur Blumen im Haar, weiße Blusen mit blauroten Ornamenten an den Ärmeln und Rändern, niemals seidene, goldbetreßte Jacken. Tscherkessen haben nie in der Ukraine gelebt, sondern im Kaukasus. Die ukrainischen Bäuerinnen tragen kurze Stiefel, niemals weiße Tanzschuhe. Die Tänze sind mit Ausnahme eines sogenannten „Hoppaks“ und einer „Kolomejka“ russisch. Die Geschichte des ukrainischen Kosakenhelden und Aufrührers Mazeppa, der, wie aus der Geschichte bekannt ist, vom polnischen König nackt auf den Rücken eines Pferdes gebunden und so ein paar Tage durch die ukrainische Steppe geschleppt wird, kann man in Sarrasanis Zirkus sehen. Auch hier spielen russische Motive in ukrainische Nationalhistorie hinein. Ukrainische Geistliche sind griechisch-katholisch und tragen keine Popenbärte.
Das ukrainische Ballett Glazeroffs ist ukrainisch, tut aber noch ukrainischer und tanzt – mit Messern, wie Indianer tanzen. Es sind ganz famose Tänzer aus Kiew, die sich verpflichtet fühlen, den „wilden Mann“ zu spielen vor einem westlichen Publikum, dem eine Kolomejka zu zahm ist für das hohe Entrée. Ukrainer haben in ihrem Leben nicht mit Messern im Munde getanzt.
Die ukrainische Volkskunst ist eine ganz eigene, mit stark ausgeprägten nationalen Kennzeichen, und hat weder mit der russischen noch mit der polnischen oder tatarischen etwas gemein. Interessant aber ist das Phänomen als solches: daß eine Nation, sobald sie ihre staatliche Selbständigkeit verliert, in den Operetten und Varietés zu herrschen beginnt.
Berlin, das Barometer westlicher Operettenmode, zeigt andauernd auf „Ukrainertum“.
Bilder: Тарас Григорович Шевченко: Катерина, 1842, nach dem eigenen Poem Катерина, 1838 f.;
Cover Jan Bürger, Hrsg.: Joseph Roth: Reisen in die Ukraine und nach Russland, C. H. Beck textura 2015,
via Oliver vom Hove: Joseph Roth: Die Skepsis war ständige Reisebegleiterin, Der Standard, 7. November 2015;
Rustam Himadiev: Hanna Sukhomlyn in der Uraufführung Performance Kateryna, 23. August 2015 in Kyjiv, Regie Kateryna [!] Chepura.
Soundtrack: Das Tiny Desk Concert von DakhaBrakha, 25. April 2015:
Dornenstück 0011: Wir wollen keine Vorwarnungen, wir haben schon genug Ärger
Update zu Pflanzenähnlichkeit der Weiber:
Novalis und die Frau als Königin, Mineral und Nahrungsmittel
und Wer hätte da sich um Blumen bekümmert?:
Gehn Sie mir weg mit historischen Romanen. Sag ich jedes Mal, sooft mir einer unterkommt; die ich auch von vorne bis hinten durchhalte, sind selbstverständlich allesamt Ausnahmen. Die Lese-, gleich Lebenszeit gelohnt hat sich zum Beispiel bei Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens, Jakob Wassermann 1908, Der Name der Rose, Umberto Eco 1980 (zweimal!) oder falls der dazuzählt, Lotte in Weimar, Thomas Mann 1939 (auch zwei- und noch nicht das letzte Mal).
Und natürlich konnte ich kein Buch achtlos im Regen aufweichen lassen, das Die blaue Blume heißt, Penelope Fitzgerald 1995 – eine scharf beobachtende Demontage der Sophie von Kühn, die weder viel dafür noch dagegen konnte, dass sie zwölfjährigerweise dem Novalis anverlobt wurde.
——— Penelope Fitzgerald:
Was ist Schmerz?
aus: Die blaue Blume, 1995,
übs. Christa Krüger, Insel 1999, Seite 145 f.:
Was wäre, wenn es keinen Schmerz gäbe? Als sie alle noch Kinder in Grüningen waren, versammelte Friederike, damals noch nicht die Mandelsloh, aber schon in der Pflicht, die Geschwister nach dem Abendgebet um sich und erzählte ihnen eine Sonntagsgeschichte. „Es war einmal ein ehrlicher Kaufmann“, sagte sie, „dem ging es nicht wie uns: Er spürte nie Schmerzen. Von Geburt an hatte er keine Schmerzen gehabt, und so merkte er als Fünfundvierzigjähriger nicht, daß er sehr krank war, und dachte gar nicht daran, den Arzt zu rufen, bis er eines Nachts hörte, wie sich die Zimmertür öffnete, und als er sich im Bett aufsetzte, sah er im hellen Mondlicht, daß jemand, den er nicht kannte, in sein Zimmer gekommen war, und das war der Tod.“
Sophie hatte damals den Sinn der Geschichte nicht verstanden. „Der hatte aber Glück, Frieke.“
„Nein, gar nicht. Der Schmerz hätte ihn vor der Krankheit gewarnt, aber so war er nicht vorgewarnt.“
„Wir wollen keine Vorwarnungen“, erklärten ihr die Kinder. „Wir haben schon genug Ärger.“
„Aber ihm blieb keine Zeit zum Nachdenken, was er mit seinem Leben angefangen hatte, und er konnte nicht bereuen.“
„Reue ist für alte Weiber und Arschlöcher“, brüllte George.
„George, es ist nicht zum Aushalten mit dir“, sagte Friederike. „Du müßtest in der Schule Prügel bekommen.“
„Ich bekomme ja Prügel“, sagte George.
Eine Logik, die mir, historisch gewandet oder aktuell kolportiert, immer schon sehr zugesagt hat.
Wo wir bei historischen Romanen sind: Ausdrückliche Warnung ergeht an dieser Stelle vor Witiko, Adalbert Stifter 1867, Die Säulen der Erde, Ken Follett 1989, und, falls die dazuzählen, Die Wanderhure, „Iny Lorentz“ 2004 ff.
Fachliteratur zur Prügelstrafe:
- Andi: Recherche über die Körperstrafe, Dauerblog 26. April 2019;
- Susanne Grüter: Vom langen Kampf für die Kinderrechte, Deutschlandfunk 25. August 2019.
Bild: Johann Peter Hasenclever: Der erste Schultag, 1852.
Soundtrack: Mazzy Star: Blue Flower, aus: She Hangs Brightly, 1990, live 9. Juli 1994:
Jedoch die schlimmste Lüge war: Auf Wiedersehn
Update zu Siehst du und
Einst, wenn dieser Lenz entschwand:
Bis jetzt fällt hoffentlich nicht allzu penetrant auf, dass ich meinen Laden schon mal fit mache für 2025, wenn Thomas Mann seit 70 Jahren tot sein und sein Copyright in die Public Domain übergehen wird. Ich hätte dem Manne selbstverständlich ein noch längeres als sein 80-jähriges Leben gewünscht, aber dann hagelt’s Ausschnitte aus seinem Doktor Faustus. Vorausgesetzt, dass ich dann noch will.
Nun war Thomas Mann, sollte ich’s noch nie in meiner verachtenswürdigen Häme erwähnt haben, kein großer Lyriker vor dem Herrn – was angesichts seiner sonstigen Verdienste ganz in Ordnung geht. Mit 14 Jahren sah man ihn jedenfalls noch Briefe mit „Thomas Mann. Lyrisch-dramatischer Dichter“ unterschreiben, und im Mai 1893, gerade noch 17-jährig, gab er in seiner zuständigen, dazu Deutschlands erster Schülerzeitung Der Frühlingssturm am Katharineum zu Lübeck – als Mitherausgeber noch unter seinem Jugendpseudonym Paul Thomas – das Gedicht Zweimaliger Abschied ans Licht, im Oktober desselben Jahres brachte er, 18 geworden und mit Aussicht auf sein Pendant zur Mittleren Reife in Obersekunda, immerhin den Mut auf, dasselbe Gedicht noch einmal in der Literaturzeitschrift Die Gesellschaft zu verwenden. Diese Zweitverwertung geschah schon unter seinem bürgerlichen Namen. Ob daher das Gedicht Zweimaliger Abschied von 1893 oder erst die Erzählung Gefallen von 1894 als sein literarisches Debüt gelten darf, kann man gerne noch weiter diskutieren. Eins von den zweien halt.
Ich zitiere als Internetpremeiere nach der zweiten Veröffentlichung korrigiert, weil sie erstens überhaupt erhalten und zweitens digitalisiert zugänglich ist.
——— Thomas Mann:
Zweimaliger Abschied
in: Schülerzeitung Frühlingssturm, Mai 1893,
und Literaturzeitschrift Die Gesellschaft, Oktober 1893, Seite 1247 f.:
Der letzte Abend war’s. Wir wanderten
am Strand des Meers, das still und schwarz und schweigend
im Unbegrenzten sich verlor. Kein Stern erglänzte
vom trüben, unbestimmten Grau des Himmels,
kein Stern der Hoffnung auf ein Wiedersehn . . .
Nur durch den feuchten Nebel sickerte
vom fernen Leuchtturm müdes rotes Licht, –
Das Abendglühen eines kurzen Tags,
an dem das Glück uns in den Armen hielt . . .
Und niemals wieder, niemals wieder . . .?
Wir wanderten und schwiegen mit dem Meer.
Dein liebes Blondhaupt lag an meiner Schulter,
und Deines feuchten Haares leiser Duft
umschmeichelte bestrickend meine Nerven . . .
Die Zeit verrann in seligem Vergessen,
und endlich kam er unerbittlich doch,
der Augenblick des letzten Lebewohls . . .
Wir standen still und sahn uns an – so an
zum letzten, letzten Mal . . . Kein Laut ringsum.
Ein tiefes, dunkles Schweigen um uns her.
Und Deine kalte Hand fand sich mit meiner,
und Thränen tiefen Leids umschleierten
das Meeresblaugrün Deiner Augen . . .
Und nur ein Wort ging durch die tiefe Stille,
sprachst Du es aus? War ich’s? Ich weiß nicht.
Es irrte durch die feuchte Sommernacht,
ganz leise, traum- und leidverlor’nen Klangs . . .
„Nie – niemals wieder . . .“* *
*Und dann der Morgen. –
Unaufhörlich ging
ein feiner Regen nieder. In dem kleinen Bahnhof
stand schnaubend längst der Zug. – Ein Lärmen, Hasten,
ein feuchtes, schmutziggraues Durcheinander
von Koffern – Menschen – Dampf –
Ich sah auf ein Bouquet – ich trug es selbst –
Und Deine Eltern sah ich – sah auch Dich –
Dann ein paar Worte – welche schöne Blumen! –
Sehr schlechtes Reisewetter – in der That –
Dann hielt ich Deine Fingerspitzen eben –
Adieu, adieu – und leben Sie recht wohl –
Auf Wiedersehn. – Jawohl, auf Wiedersehn! –
Ein letztes Winken noch; dann war es aus . . .
Wir logen beide. –
Jedoch die schlimmste Lüge war: „Auf Wiedersehn.“
Wir wußten’s beide, was das Meer gehört
an jenem feuchten, dunklen Sommerabend . . .
„Nie, – niemals wieder“ . . . .Lübeck. Thomas Mann.
Fast noch kompetenter als Arthur Eloessers derzeit gültige Thomas-Mann-Biographie von 2013 kommentiert Lutz Hesse:
[…] Prosalyrik war 1893 nahezu Avantgarde, die schwülstige Atmosphäre des Textes, seine Romantik ist auf dem Höhepunkt seiner Zeit. Die Geschichte, die Mann hier poetisch verdichtet erzählt, erfasst der Leser sofort. Im Tod in Venedig kommt uns das „Blondhaupt“ in Gestalt des Tadzio entgegen, ergänzt mit slawischen Wangenknochen. Im Zauberberg schildert Mann das sublime erotische Verhältnis von Hans Castorp zu seinem Mitschüler Pribislav Hippe. Auch Hippe wird blondlockig und slawisch abgebildet.
Thomas Manns Verse vom ZWEIMALIGEN ABSCHIED geben also Auskunft über erotische Vorlieben, unabhängig vom Geschlecht, die ihn in früher Jugend prägten und ein Leben lang begleiten sollten. Sicher lassen sich noch mehr Figuren Manns in seinem Werk finden, wo er versteckt oder direkt auf das Gedicht zurückkommt. […]
Das Schöne am neuen Zeitalter der Interpretationen ist ja auch, dass man als Literaturwissenschaftler oder interessierter Laie nicht mehr mit dem ständigen Beweis beschäftigt sein muss, dass Thomas Mann auch ja nicht schwul war. Man muss seine homophile Vorliebe für Knaben, die vielleicht eine unausgelebte Pädophilie war, nicht werten, darf sie heute aber voraussetzen.
Bild: Scan Thomas Mann: Zweimaliger Abschied, aus:
Die Gesellschaft, Oktober 1893, Seite 1247 bis 1248
Soundtrack: Ultra Orange & Emmanuelle: Don’t Kiss me Goodbye, aus: Ultra Orange & Emmanuelle, 2007:
Goethe in Bewegung (Arno Schmidt auf dem Gepäckständer)
Update zu Trotzki, Fauser und die Goetheforschung,
Wuchtig, in gedrängter Vierzeil‘ singe ich vom Cinnamone
und Wo mit Mais die Felder prangen:
Faust. In’s Freye. […]
Du kannst! So wolle nur! die Thür steht offen.Vers 4538 + 4543, Kerker.
»Wenn Sie heute schrieben : hier an dieser Stelle: den ‹Werther›; die Epigramme und Elegien; Prometheus auf Italienischer Reise : Sie stünden längst vor Gericht! Als Defaitist; als Erotiker; wegen Gotteslästerung; Beleidigung politischer Persönlichkeiten !«
Arno Schmidt zu Goethe, 1957,
in: Goethe und einer seiner Bewunderer, Texte und Zeichen. 3. Jg. 1957, Seite 232–264,
Bargfelder Ausgabe I/2, Seite 208.
Die Schweiz hat alles, was ihr großer Kanton Deutschland auch hat, nur meistens in Kleiner, Besser und Selbergemacht. Statt Rolf Dieter Brinkmann hat sie zum Beispiel den elsässisch gebürtigen, deutschen Wahlschweizer Jürgen Theobaldy, und statt Hans Magnus Enzensberger hat sie den Vollschweizer Beat Brechbühl.
Theobaldy hat ein Gedicht über Goethe unter beflügelndem Einfluss nicht näher bezeichneter Substanzen, Brechbühl hat eins über Goethe und Arno Schmidt auf einmal; beides hat meines Wissens weder Brinkmann noch Enzensberger noch die deutsche Produktion überhaupt. Einzig rätselhaft bleiben die befahrenen Strecken – offenbar keine der drei Goetheschen Schweizer Reisen – und wieso Brechbühl von einem Fahrrad statt von einem Velo spricht.
——— Jürgen Theobaldy:
Abenteuer mit Dichtung
1973, in: Blaue Flecken, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1974:
Als ich Goethe ermunterte einzusteigen
war er sofort dabei
Während wir fuhren
wollte er alles ganz genau wissen
ich ließ ihn mal Gas geben
und er brüllte: „Ins Freie!“
und trommelte auf das Armaturenbrett
Ich drehte das Radio voll auf
er langte vorn herum
brach den Scheibenwischer ab
und dann rasten wir durch das Dorf
über den Steg und in den Acker
wo wir uns lachend und schreiend
aus der Karre wälzten
~~~\~~~~~~~/~~~
——— Beat Brechbühl:
Tschau Goethe
aus: Traumhämmer. Gedichte aus zehn Jahren, Benziger Verlag Zürich/Köln 1977:
Er stand an einer merkwürdig
gelben Wegkreuzung und
flirtete intensiv mit dem Milch-
mädchen aus Frankfurt.Ich fuhr mit dem Fahrrad vorbei,
klingelte, auf dem Gepäckträger
saß Arno Schmidt
und rief Tschau Goethe
dieser ging
schleunig nach Hause,
zog sich aus bis aufs geblümelte Nachthemd
und schrieb weiter an seiner Welt-
literatur.
Bilder:
- Christian Burmeister: Ein Fahrrad für Johann Wolfgang von Goethe,
- Cover Jürgen Theobaldy: Blaue Flecken, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1974. Man beachte, dass der abgebildete Gegenstand im Sande anno 1974 noch kein Mobiltelephon sein konnte. Aber was sonst?;
- Cover Beat Brechbühl: Traumhämmer. Gedichte aus zehn Jahren, Benziger Verlag Zürich/Köln 1977;
- Gerlinde Hofmann: Goethe’s Garden House, 5. November 2007:
Goethe hatt‘ ein Gartenhaus,
die Stars, die gingen ein und aus.
Einmal erklärt er Lessing:
„Mein Fahrrad ist aus Messing.“
Dann stellte er es links vors Tor
und war so klug als wie zuvor.
Cover via moveo ergo sum, 3. November 2020;
Soundtrack: Pink Floyd: Bike, aus: The Piper at the Gates of Dawn, 1967:
One hundred and sixty-seven words, per day
Update zu Der unverzichtbare Buchstabe e,
Break in college sick bay,
Wer mal in Die Zeyt gewesen, deßen Ruhm ist ja erlesen
und Amelia Earhart’s Favorite Poem:
Über Jeffrey McDaniel erfahren wir in Slam, herausgegeben von Cecily von Ziegesar bei AlloyBooks 2000:
Jeffrey McDaniel is the author of Alibi School and The Forgiveness Parade. His work appeared in Best American Poetry1996. He currently writes reviews and literary interviews for CUPS magazine in Los Angeles.
Das ist die Information über einen Dichter des Jahrgangs 1967 in einer amerikanischen Anthologie über Slam-Poetry von anno 2000; selbst sein deutscher Wikipedia-Artikel ist heute schon aufschlussreicher, und der verlinkt noch seinen Myspace-Account.
Was uns solche Poetry normalerweise nicht lehrt, eher das Gegenteil: Man soll ausschließlich sprechen, um etwas in die Welt zu setzen, das schöner oder wenigstens nützlicher als die Stille ist. Wenn man fertig ist, soll man umgehend wieder die Klappe halten.
McDaniels Vorschlag mit den höchstens 167 Wörtern pro Tag erinnert an Gullivers Reise auf die fliegende Insel Laputa, deren Einwohner gehalten sind, zu besprechende Gegenstände bei sich zu tragen und bei Bedarf vorzuzeigen. Beim geistlichen Satiriker Jonathan Swift sollte das materiell unterstützte Schweigen noch zu schnelle Abnutzung der Lungen verhindern, beim Poeten McDaniels sollen die Leute einander mehr in die Augen schauen. Kann man machen, jedenfalls fordern oder erträumen.
Woran beide Maßnahmen scheitern werden, ist klar: Swift hat seine Idee schon in der Anlage so weit überspitzt, bis sie sich von selbst verbietet; McDanel lässt, absichtlich oder nicht, offen, ob seine zugelassenen 167 Wörter (nicht Worte) nach Type oder Token gezählt werden sollen, also die Lemmata oder das, was einem zum Beispiel Word mit seiner Zeichenzählung ausrechnet, was endlosem, dazu immer wieder hinausgezögertem Herumgefeilsche unter den Betroffenen Tür und Tor öffnet.
Träumen wird man noch dürfen.
——— Jeffrey McDaniel:
The Quiet World
in: Cecily von Ziegesar: Slam, AlloyBooks, New York 2000, page 99,
never performed:
In an effort to get people to look
into each other’s eyes more,
the government has decided to allot
each person exactly one hundred
and sixty-seven words, per day.When the phone rings, I put it
to my ear without saying hello.
In the restaurant I point
at chicken noodle soup. I am
adjusting well to the new way.Late at night, I call my long-
distance lover and proudly say:
I only used fifty-nine today.
I saved the rest for you.When she doesn’t respond, I know
she’s used up all her words,
so I slowly whisper I love you,
thirty-two and a third times.
After that, we just sit on the line
and listen to each other breathe.
Schweigende Mädchen: Gajo 1987, via The Art of Face, ca. 2021;
Cover Cecily von Ziegesar: Slam, Erstauflage 2000, via Amazon.de.
Soundtrack: John Cage: 4′33″, 1952,
William Marx live im McCallum Theatre, Palm Desert, Kalifornien:
Bonus Track: Nickerbocker & Biene: Hallo Klaus (I wü nur zruck), 1982,
aus: Nickerbocker: Spätzünder, 1983:
Goethe und die Wolken: Er aber, Howard, gibt mit reinem Sinn uns neuer Lehre herrlichsten Gewinn
Update zu Doch jene Wolke blühte nur Minuten
und Meine Urgroßmutter und die Wolken:
Goethes Hymne auf die Wolkenkunde samt deren Erfinder Luke Howard vorab:
——— Johann Wolfgang von Goethe:
Howards Ehrengedächtnis
1821:
Wenn Gottheit Camarupa, hoch und hehr,
Durch Lüfte schwankend wandelt leicht und schwer,
Des Schleiers Falten sammelt, sie zerstreut,
Am Wechsel der Gestalten sich erfreut,
Jetzt starr sich hält, dann schwindet wie ein Traum,
Da staunen wir und traun dem Auge kaum;Nun regt sich kühn des eignen Bildens Kraft,
Die Unbestimmtes zu Bestimmtem schafft;
Da droht ein Leu, dort wogt ein Elefant,
Kameles Hals, zum Drachen umgewandt,
Ein Heer zieht an, doch triumphiert es nicht,
Da es die Macht am steilen Felsen bricht;
Der treuste Wolkenbote selbst zerstiebt,
Eh er die Fern erreicht, wohin man liebt.Er aber, Howard, gibt mit reinem Sinn
Uns neuer Lehre herrlichsten Gewinn.
Was sich nicht halten, nicht erreichen läßt,
Er faßt es an, er hält zuerst es fest;
Bestimmt das Unbestimmte, schränkt es ein,
Benennt es treffend! – Sei die Ehre dein! –
Wie Streife steigt, sich ballt, zerflattert, fällt,
Erinnre dankbar deiner sich die Welt.Stratus
Wenn von dem stillen Wasserspiegelplan
Ein Nebel hebt den flachen Teppich an,
Der Mond, dem Wallen des Erscheins vereint,
Als ein Gespenst Gespenster bildend scheint,
Dann sind wir alle, das gestehn wir nur,
Erquickt‘, erfreute Kinder, o Natur!Dann hebt sich’s wohl am Berge, sammelnd breit
An Streife Streifen, so umdüstert’s weit
Die Mittelhöhe, beidem gleich geneigt,
Ob’s fallend wässert oder luftig steigt.Cumulus
Und wenn darauf zu höhrer Atmosphäre
Der tüchtige Gehalt berufen wäre,
Steht Wolke hoch, zum herrlichsten geballt,
Verkündet, festgebildet, Machtgewalt
Und, was ihr fürchtet und auch wohl erlebt,
Wie’s oben drohet, so es unten bebt.Cirrus
Doch immer höher steigt der edle Drang!
Erlösung ist ein himmlisch leichter Zwang.
Ein Aufgehäuftes, flockig löst sich’s auf,
Wie Schäflein tripplend, leicht gekämmt zu Hauf.
So fließt zuletzt, was unten leicht entstand,
Dem Vater oben still in Schoß und Hand.Nimbus
Nun laßt auch niederwärts, durch Erdgewalt
Herabgezogen, was sich hoch geballt,
In Donnerwettern wütend sich ergehn,
Heerscharen gleich entrollen und verwehn! –
Der Erde tätig-leidendes Geschick!
Doch mit dem Bilde hebet euren Blick:
Die Rede geht herab, denn sie beschreibt,
Der Geist will aufwärts, wo er ewig bleibt.
Dank für die Entdeckung und das Erschließen der Bedeutung von Franz Ossings Abhandlung Goethe und die Wolken gebührt einmal mehr Silvae in seinem skying vom 26. Juli 2022. Skying ist dabei noch eine Art Vorform des Urban, besser noch Rural Sketching: das schnelle, intuitive Skizzieren ach so veränderlicher Wolken; den Universalgelehrten mit künstlerischem Schwerpunkt Goethe entdecken wir darin als Meteorologe, den Pharmakologen und Apotheker Howard als Poeten.
Der undatierte Text kann der Literaturliste nach frühestens seit 2001 online stehen, seiner „einsnulligen“ Anmutung nach auch nicht viel später. Behutsam typographisch angegichen, aber ungekürzt:
——— Franz Ossing:
Goethe und die Wolken
Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ, ca. 2001:
Der tägliche Wetterbericht erscheint uns heute ganz selbstverständlich und lässt uns leicht vergessen, dass noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts, zu Goethes Lebzeiten, an eine wissenschaftliche Wettervorhersage gar nicht zu denken war. Man kannte nicht einmal die atmosphärischen Zustandsgrößen, die eine solche Vorhersage ermöglichen. Lediglich die Empirie, das Wissen der Bauern, Schäfer und Seefahrer stand zur Verfügung. Vor diesem Hintergrund gewinnt Luke HOWARDs (1772–1864) Wolkenklassifikation ihr eigentliches Gewicht. Dieser Londoner Pharmakologe und Apotheker hatte 1803 in seinem Werk „On the Modification of Clouds“ den Grundstein zu einer Klassifikation der Wolken gelegt, wie sie in den wesentlichen Grundzügen auch heute noch gilt.
Wer von Goethes meteorologischen Beobachtungen spricht, muss von Luke Howard reden, denn seine Beobachtungen haben Goethes wissenschaftliche Ansichten zur Meteorologie und seine dichterische Wiedergabe meteorologischer Phänomene entscheidend geprägt.
Der Weg zu Luke „Howards Ehrengedächtnis“
Ebenso einfach wie genial unterteilte Howard die Wolken in vier Grundformen, die er den einzelnen Höhenstockwerken der Atmosphäre zuteilte. Einfach: weil diese Grundtypen phänomenologisch erfasst wurden; genial: weil hinter dieser Vertikaleinteilung das sichere Gefühl stand, dass diese Höhenstaffelung physikalischen Gesetzmäßigkeiten folgt.
Howard nennt zunächst die Haupttypen: den Cirrus (Federwolke), den Cumulus (Haufenwolke) und den Stratus (Schichtwolke). Zwischen diesen existieren Mischformen: Cirro-Cumulus, Cirro-Stratus, Cumulo-Stratus und (später hinzugefügt) der Cumulo-Cirro-Stratus, auch Nimbus genannt, eine Regenwolke und eigener Typ. Es muß allerdings hier angemerkt werden, daß seine Klassifikation weder die mittelhohen Altocumulus- (Schäfchen-)Wolken und Altostratus, noch die Mischform Nimbostratus (die typische Dauerregenwolke) berücksichtigte. Das schmälert Howards wissenschaftliches Verdienst allerdings um keinen Deut.
Aus Howards Beobachtungen folgt, dass er seine Wolkentypen verschiedenen Höhen zuordnete. Der vertikale Schichtaufbau der Atmosphäre war zu dieser Zeit ebenfalls noch weitgehend unbekannt. Dass Druck und Temperatur mit der Höhe abnehmen, wusste man aus Messungen beim Aufstieg auf Berge, aber der thermodynamische Zusammenhang von Druck, Temperatur und Feuchte – und damit die Entstehungsursachen für Wolken – wurde erst von den Wissenschaftlern des 19. Jahrhunderts entdeckt.
Goethe hielt völlig zu Recht die Arbeit Howards für bahnbrechend. Er war bekanntlich fest davon überzeugt, dass die Empirie der Schlüssel zum Verständnis der Naturprozesse ist. Daraus erklärt sich seine Begeisterung für die Arbeiten Howards, der erstmals eine empirisch begründete Systematik der Wolken vorlegte. Konsequent widmete er ihm sein Gedicht „Howards Ehrengedächtnis“ (1821):
Er aber, Howard, gibt mit reinem Sinn
Uns neuer Lehre herrlichsten Gewinn;
Was sich nicht halten, nicht erreichen läßt,
Er faßt es an, er hält zuerst es fest;
Bestimmt das Unbestimmte, schränkt es ein,
Benennt es treffend! – Sei die Ehre dein! –Howards Systematik, physikalisch gesehen
Howards Stockwerkgliederung der Wolken fußt auf meteorologischen Gegebenheiten: neben der Abnahme des Luftdrucks mit der Höhe ist die Atmosphäre typischerweise durch ein vertikales Temperaturgefälle gekennzeichnet. Bis zur unteren Stratosphäre (in unseren Breiten etwa in 10 bis 12 Kilometern Höhe) nimmt die Temperatur mit der Höhe ab. Wolken bestehen aus kondensiertem Wasserdampf in Form von Wolkentröpfchen, oder aus Wasser in kristallierter Form, Eis. Auch existieren Wolken mit einem Eis/Wasser-Gemisch.
Zur Wolkenbildung kommt es, wenn eine bestimmte Temperatur (der Taupunkt) unterschritten wird. Dann kondensiert der (unsichtbare) Wasserdampf an den winzig kleinen Partikeln in der Luft, den Kondensationskernen – es formt sich eine Wolke.
Howards Einteilung in Cirrus- (Feder-)wolken, Cumulus- (Haufen-)wolken und Stratus- (Schicht-) wolken bezieht sich exakt darauf, dass bei Temperaturen unter -35 °C eine Wolke komplett aus Eis, bei Temperaturen oberhalb von -12 °C aus flüssigem Wasser besteht (aus wolkenphysikalischen Gründen gefriert Wasser in der freien Atmosphäre nicht unmittelbar bei 0 °C). Seine große Leistung besteht darin, dass er diese Einteilung ohne fundiertes Wissen über die Vertikalstruktur der Atmosphäre vornahm.Bei allen Fortschritten in der Wolkenphysik, bei aller Verfeinerung der Klassifikation der Wolken, wie sie die Systematik der World Meteorological Organization WMO vornimmt, gilt Howards rein empirische Betrachtung immer noch. Auch heute kann die Vielfalt der Wolken nur beschreibend dargestellt werden; immer wieder geschieht es, dass der Meteorologe vom Dienst bei der Wahrnehmung seiner 3-stündlichen Beobachtungen Wolkengebilde entdeckt, die sich nur schwierig in das enge Regelwerk der Wetterdienstroutine einpassen.
Goethe als Meteorologe, Howard als Poet
Goethe lernte Howards Arbeiten 1815 kennen, als er – Leiter der Anstalten für Kunst und Wissenschaft im Herzogtum Sachsen-Weimar – sich mit der Gründung einer meteorologischen Station auf dem Ettersberg zu Weimar befasste. Er trat 1822 mit Howard in Briefkontakt.
Vergleicht man nun Luke Howards naturwissenschaftliche Beschreibung der einzelnen Hauptwolkentypen mit der dichterischen Beschreibung Goethes, so stehen sich hier der empirisch exakte Naturforscher aus England und der Poet aus Deutschland ebenbürtig gegenüber.
Beispiel Stratus: diese Schichtwolke benennt Howard ebenso exakt wie kurz als „a widely extended, continuous, horizontal sheet, increasing from below.“
Stratus (Cap de Rosiers, Kanada, 27.07.1991, 13:05 Uhr, Foto: F. Ossing)Goethe bedichtet die Stratuswolke mit viel Poesie:
Wenn von dem stillen Wasserspiegel-Plan
ein Nebel hebt den flachen Teppich an,
Der Mond, dem Wallen des Erscheins vereint,
Als ein Gespenst Gespenster bildend scheint,
Dann sind wir alle, das gestehn wir nur,
Erquickt‘, erfreute Kinder, o Natur!Beispiel Cumulus: Howard skizziert kurz und knapp diese Haufenwolke als „convex or conical heaps, increasing upward from a horizontal base“. Wieder liegt in der knappen, aber genauen Definition die eigentliche Leistung.
Cumulus (Sonneberg/Harz, 15.06.1974, 11:00 Uhr, Foto: F. Ossing)Goethe setzt dieser seine dichterische entgegen:
“ … Steht Wolke hoch, zum herrlichsten geballt,
Verkündet, festgebildet, Machtgewalt,
Und was ihr fürchtet und wohl auch erlebt,
Wie’s oben drohet, so es unten bebt.“Beispiel Cirrus: die Federwolke beschreibt Howard mit „parallel, flexuous, or diverging fibres, extensible in any or in all directions“, eine Kurzdefinition, die auch heute noch den Standards der Welt-Meteorologie-Organisation entspricht.
Cirrus (Coesfeld, 22.12.1974, 10:50 Uhr, Foto: F. Ossing)Goethe sieht den Cirrus so:
Ein Aufgehäuftes, flockig löst sich’s auf,
Wie Schäflein trippelnd, leichtgekämmt zu Hauf,
So fließt zuletzt, was unten leicht entstand,
Dem Vater oben still in Schoß und Hand.Und schließlich Beispiel Nimbus: hier scheint Howards Definition nicht ganz sicher, die Regenwolke kann ein Gewitter (Cumulonimbus), eine regnende Cumulus-Wolke oder auch eine Schichtwolke mit Regen sein: „Nimbus. The rain cloud. A cloud or system of clouds from which rain is falling. It is a horizontal sheet, above which the cirrus spreads, while the cumulus enters it laterally and from beneath.“
„Nimbus“: meint L. Howard den Nimbostratus
(Akkrum, NL, 19.08.1981, 16:05 Uhr, Foto: F. Ossing) …Goethe sieht den Regen ebenfalls aus dem Nimbus fallen, bezieht sich aber eindeutig auf ein Gewitter:
Nun läßt auch niederwärts, durch Erdgewalt
Herabgezogen, was sich hoch geballt,
In Donnerwettern wütend sich ergehn,
Heerscharen gleich entrollen und verwehn! –
… oder, wie Goethe, den Cumulonimbus (Potsdam, 17.08.2000, 14:50 Uhr, Foto: F. Ossing)?Goethe gibt übrigens in der Abfolge der Wolken in „Howards Ehrengedächtnis“ den atmosphärischen Kreislauf des Wassers wieder: „Wie Streife steigt, sich ballt, zerflattert, fällt“. Der atmosphärische Wasserdampf kondensiert zu Wolkentröpfchen (hier: Stratus), in Cumuluswolken steigen die Wolkentröpfchen bis in das Eisniveau und bilden Schneeflocken, aus denen Regentropfen werden, die aus der Wolke fallen. Gerade bei Gewitterwolken (Cumulonimbus) wird der obere Teil der Wolke häufig in Cirren umgewandelt (der „Amboß“ eines Gewitters). Dieser Wasserkreislauf ist in Howards Schrift ebenfalls erwähnt.
Anzumerken ist weiterhin, daß Goethe Wolken und andere meteorologische Phänomene nicht nur in diesem Gedicht, sondern in seinem Gesamtwerk beständig wieder aufnimmt, erinnert sei hier nur an die Vision des Dr. Faustus, der in Wolken, „formlos breit und aufgetürmt … fernen Eisgebirgen gleich“, Helena zu sehen meint (Faust IIy).
„… fernen Eisgebirgen gleich“, Schauerwolken, oben vereist
(Neustadt i.H., 27.08.78, 12:30 Uhr, Foto: F. Ossing)Meteorologische Unschärfen: wo ist das mittlere Stockwerk?
Bereits Schöne (1969, S. 29) wies darauf hin, dass Goethe die Howardsche Nomenklatur wie einen Baukasten benutzt. Wo ihm die Systematik Howards veränderungswürdig erscheint, entwickelt Goethe eigene Termini, in denen sich sein Verständnis der Atmosphäre niederschlägt.
Das ist insofern konsequent, als die Howardsche Wolkenklassifikation einige Unschärfen enthält.
Nehmen wir das obige Beispiel der Regenwolke „Nimbus“. Wir haben gesehen, dass Regen aus einem Gewitter, einem Cumulus oder aus einem Nimbostratus fallen kann. Diese drei Wolken gehören unterschiedlichen atmosphärischen Höhenstufen an: der Cumulus gehört zu den tiefen Wolken, Nimbostratus ist eine mittelhohe Wolke und das Gewitter, der Cumulonimbus, erstreckt sich vertikal durch alle drei Wolkenstockwerke. Bei Howard wird die Regenwolke entsprechend auch „Nimbus or Cumulo-cirro-stratus“ genannt. Der meteorologischen Unschärfe entspricht hier die sprachliche.
Die moderne Meteorologie unterscheidet aus wolkenphysikalischen Gründen zwischen tiefen, mittelhohen und hohen Wolken: während – allgemein gesprochen – die tiefen Wolken üblicherweise aus Wassertröpfchen bestehen, sind die hohen Wolken Ansammlungen von Eiskristallen. Die mittelhohen Wolken setzen sich aus einer Mischung von Eispartikeln und Wassertröpfchen zusammen.
Luke Howard konnte diesen physikalischen Hintergrund noch nicht kennen, seine Pionierleistung besteht ja gerade darin, dass er ohne dieses Wissen eine bis heute taugliche Wolkenklassifikation erstellte. Allerdings ergibt sich bei Howard daraus eine nur diffuse Abgrenzung der mittelhohen und hohen Bewölkung. Der mittelhohe Altostratus findet sich als eigene Wolkengattung gar nicht und unter die Kategorie „Cirro-cumulus“ werden auch Altocumuli oder gar Stratocumuli subsumiert.
Altocumulus-Himmel (Bay du Vin, New Brunswick, Kanada, 30.07.91, 20:05 Uhr, Foto: F. Ossing)Diese Ungenauigkeit spiegelt sich bei Goethe in der von ihm selbst beschrifteten Abbildung von „Schaaf-Wolken“ wider, die er als „Cirro-Cumulus“ bezeichnet (Goethe-Nationalmuseum Weimar, Inv.Nr. 1533). Dieses Bild stellt eindeutig mittelhohe Altocumuli mit Schattierungen im Wolkenkörper und nicht Cirrocumuli dar, die eine solche Schattierung nicht aufweisen.
Altocumulus-Wolken, von Goethe fälschlich als „Cirro-Cumulus“ bezeichnet
(1817, Bleistift und Aquarell auf Papier, Goethe-Nationalmuseum Weimar, Inv.Nr. 1533)Was bleibt:
Als Staatsrat und Minister des Herzogtums Sachsen-Weimar hatte Goethe die Kunst und Wissenschaft unter sich. Seine Theorien zum Wetter, insbesondere sein „Versuch einer Witterungslehre“ muten uns heute eigentümlich an, weil er die wetterbestimmenden Hoch- und Tiefdruckgebiete damit erklärt, daß der Erdkörper die Atmosphäre ein- und ausatme. Dem theoretisch irrenden Goethe steht der Wetterpraktiker Goethe konträr gegenüber. Unter Goethes Oberaufsicht wurde, beginnend mit der 1815 errichteten Weimarer Wetterstation, ein Wetter-Beobachtungsnetzt aufgebaut, eines der ersten in Deutschland. Die hier erfolgten Aufzeichnungen können als eine der Wurzeln wissenschaftlicher Klimatologie und Meteorologie in Deutschland verstanden werden.
Schon lange bevor er die Schrift Howards kennenlernte, hatte Goethe sich mit dem Wetter beschäftigt, Wolkenskizzen gezeichnet, auf Luftdruck und Temperatur geachtet.
Dennoch geht mit der Rezeption von Howards Klassifikation eine Intensivierung Goethes meteorologischer Vorstellungen einher. Es spricht für Goethes Autoironie, dass er sich dabei im Selbstgespräch auf den Arm nimmt:
Du Schüler Howards, wunderlich
Siehst morgens um und über dich,
Ob Nebel fallen, ob sie steigen,
Und was sich für Gewölke zeigen.– genau so, wie wir morgens den Blick aus dem Fenster werfen, um zu sehen, ob der Wetterbericht stimmt, „ob’s heiter, ob’s regnet“, bevor wir zur Haustür hinausgehen. Vielleicht sind wir heute in unseren Breiten nicht mehr so wetterabhängig wie vor 250 Jahren, aber Wetter ist nach wie vor das Stück Natur, das uns tagtäglich unmittelbar berührt.
Literatur:
- Goethe, J.W., „Schriften zur Naturwissenschaft“, Reclam, Stuttgart 1977
- Luke Howard, On the Modification of Clouds“, Original in: Philosophical Magazine XVI, London 1803, Nachdruck in: Hellmann, G., Neudrucke von Schriften und Karten über Meteorologie und Erdmagnetismus, No. 3, Berlin 1894
Andere AutorInnen:
- Hamblyn, R., „Die Erfindung der Wolken – Wie ein unbekannter Meteorologe die Sprache des Himmels erforschte“, Frankfurt/M., Insel-Verlag, 2001
- Schöne, A., „Über Goethes Wolkenlehre“, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen für das Jahr 1968. Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht 1969, S. 26–48
- Schönwiese, C.-D., „‚Ein Angehäuftes, flockig löst sich’s auf‘ – Goethe und die Beobachtung der Wolken“, in: Forschung Frankfurt. Wissenschaftsmagazin der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M., Nr. 2/1999, S. 12–18
Verschiedene Beiträge in:
- Wehry, W. / Ossing, F., „Wolken – Malerei – Klima in Geschichte und Gegenwart“, Eigenverlag der Deutschen Meteorologischen Gesellschaft, Berlin, 1997, 192 S.
Zur Wolkenklassifikation mit Text und Bild:
WMO (World Meteorological Organization), „International Cloud Atlas“, Vol. II, Genf, 1987Ein anklickbarer Wolkenkatalog mit über 50 Fotos und ausführlicher Beschreibung findet sich hier:
Neumann, N./ Ossing, F./ Zick, C.: „Wolken-Ge-Bilde“, CD-ROM, Deutsche Meteorologische Gesellschaft 1997, BerlinUmfangreiche Information zu Goethe findet sich unter:
www.goethezeitportal.de/Weitere Arbeiten zum Zusammenhang von Kunst und Geowissenschaften finden sich unter ‚Wege zur Kunst‚ am GFZ.
Soundtrack: Led Zeppelin: The Rain Song, aus: Houses of the Holy, 1973,
in: The Song Remains the Same, 1976:
Das phantastische Gepränge der wunderlichen Marionettenbühne
Update zu Zwischenmaschine,
Denkst du denn nicht an den Loup Garou?,
So habt ihr nie den Mond bedacht,
Der Sommer ohne Freischütz,
Vater, verlass mich nicht, wenn das Glöckchen läutet
und So war’s dem Doctor Faust nicht halb zu Muth:
„Wie Hält Er’s eigentlich mit dem Lenau?“ – Das sind im Ernst die Fragen, die atmende, lebensfrohe Menschen mir stellen.
„Och“, sag ich, „Ösi. Die machen eigentlich wenig falsch. Als erstes ist der mir im Schüler Gerber vom Mit-Ösi Torberg unterlaufen, wo ihm ein Gedicht von Lenau das Abitur rettet, was ihn aber dann doch nicht vom Selbstmord abhält. Den Schüler nämlich. Außerdem hat Hannes Wader auf seiner gar nicht genug zu schätzenden Volkslieder-Platte 1990 das von den Drei Zigeunern so eingesungen, wie sich’s gehört. Mit ihm ‚halten‘ wär schon übertrieben.“
„Tu Er das nicht“, sagt man dann, „Nikolaus Lenau ist die Romantik in Person. Genau Sein Ding.“
„Du meinst, die österreichische Romantik.“
„Sag ich doch. Schau Er mal nach seiner Ballade Die Marionetten. Wird Ihm aber wahrscheinlich zu gruselig sein.“
Wer das auf sich sitzen ließe. Auf die Tour findet man sogar noch offensichtliche Druckfehler in einer historisch-kritischen Gesamtausgabe.
——— Nikolaus Lenau:
Die Marionetten
Nachtstück
1834, cit. nach der historisch-kritischen Gesamtausgabe, Deuticke Klett-Cotta, Wien 1995, Seite 288 bis 299:
Erster Gesang
Der Gang zum Eremiten
Grau düst’re Felsen sah ich trotzig ragen
Aus eines Thales stillen Finsternissen,
Als wollten kühn den Himmel sie verjagen,
Dem sie den Schleyer vom Gesicht gerissen.
Abgründe, ihre Riesengräber, lauern
In sicherer Geduld zu ihren Füßen.
Kein Vogelsang, kein Bach, kein Waldesschauern;
Kein Klageton entfährt dem finstern Thale;
Nur stummes, unermeßlich wildes Trauern!
Einsam verkümmert steht der Strauch, der kahle,
Hat Regen nur, und Sturm und Frost erlebt,
Stirbt ungeliebt vom süßen Sonnenstrahle;
An seinen Ästen, windgefächelt, bebt
Die Wolle eines Lamms, wie stumme Klage,
Und des zerriß’nen Blut am Boden klebt.
Dort fliegt mit leisem, satten Flügelschlage
Ein Geyer seinem Felsenhorste zu.
Auf grüner Trift, erquickt vom Sommertage,
Schuldloses Lamm, wie fröhlich irrtest du
Mit deiner Weide friedlichen Genossen,
Indeß auf dich aus heitrer Lüfte Ruh‘
Vormordend Geyerblicke niederschossen!
Der Geyer, stürzend sich in seinen Blick,
Kommt plötzlich auf das Lamm herabgestoßen,
Und reißt es fort aus seinem Jugendglück;
Hoch über Wälder, Thale, Felsenriffe,
Fliegt er damit in seine Nacht zurück.
Es zittert, wimmert; doch mit fest’rem Griffe
Umklammert er’s, ob sich am Angstgeschrey
Die scharfe Gier des Mörders schärfer schliffe. –
Nun drang ich tiefer, an dem Strauch vorbey,
Und wilder immer ward des Thales Grund,
Die dunkle Wiege der Melancholey.
Da bricht aus dornumstarrtem Felsenmund‘
Ein Quell hervor, die lange Ruh‘ zu stören,
Und braus’t hinunter in den off’nen Schlund.
Unheimlich ist, und grausenvoll zu hören
Das hohle Tosen in den Steinverliesen,
Wo murmelnd Nacht und Tod sich Treue schwören.
Wie, trauernd nach verlor’nen Paradiesen,
Des Freundes Haupt an’s Herz des Freundes fällt,
Umarmen sich die ernsten Felsenriesen.
Und weiter drang ich, dämmerlich erhellt
War mir die Schlucht, es fiel ein leiser Regen,
Der Himmel Blitze durch die Fenster schnellt‘,
Und fernher klang’s von dumpfen Donnerschlägen.
Gar seltsam bleich erschien mir das Gesicht
Des Eremiten, der mir trat entgegen.
Es wankt um ihn ein zweifelhaftes Licht,
Der Sturm ist laut und plötzlich aufgefahren,
Wie, wer verschlafen, schnell vom Lager bricht.
Er faßt den Alten an den grauen Haaren;
Der aber schreitet durch des Sturmes Macht,
Uneingedenk der Wetter und Gefahren.
Bald ist er mir begraben von der Nacht,
Bald wieder glüht er auf im Wetterschein,
Als hätt‘ ihn hell der Windstoß angefacht.
Nun schritt er näher, und gewahrte mein,
Und hieß mich froh mit gastlich mildem Worte
In seinen Wildnissen willkommen seyn.
Und durch des Klippenthals geheimste Orte,
Durch des Gewitters wachsendes Gebrause
Führt‘ er mich fort zu einer schmalen Pforte,
Und grüßte mich in seiner öden Klause.
Zweyter Gesang
Lorenzo
Der Sturm verstummte, die Gewitter schwiegen,
Das volle Mondlicht hatte sich ergossen,
Beruhigend sich an das Thal zu schmiegen.
Ich saß mit meinem wirthlichen Genossen
Beym Abendmahl, da hob er seinen Wein,
Mich feyerlich einladend, anzustoßen.
Ein Frauenbild, erhellt von Lampenschein,
Hing an der Wand, umhüllt von schwarzem Flor;
D’rauf wies er hin und sprach: „Ich denke dein!“
Und plötzlich stürzten Thränen ihm hervor.
Auf seinen Zügen lag ein tiefes Leid,
Wie er im theuren Bilde sich verlor.
Ich that auf’s Wohl der Todten ihm Bescheid,
Und als ich anstieß mit dem trüben Zecher,
Da hatte heimlich mir die Ewigkeit
Von ihrem Ernst geträufelt in den Becher.
Der Eremit begann mit scheuem Munde
Von einer schwarzen That und ihrem Rächer
Zu geben mir die schaudervolle Kunde,
Und wie er in’s vergang’ne Leben schied,
Riß er die Zeit von jeder Herzenswunde. –
– O Gott des Schmerzes! rüste du mein Lied,
Und wappne mich auf den verweg’nen Gang
Durch’s ungeheuer nächtliche Gebiet!
Gib mir ein wildes Herz, daß mein Gesang
Auf seiner Bahn vor Schreck nicht sterben dürfe.
Gib mir ein Herz, das lauten Wetterklang
Wie süße Nachtigallenlieder schlürfe;
Und wenn in’s Thal mit grimmigem Frohlocken
Die Stürme werfen ihre Donnerwürfe,
Daß Wald und Fels herunterbricht erschrocken:
Dem Herzen sey’s schwermüthiges Behagen,
Wie Niedersäuseln welker Blüthenflocken! –
„Graf Robert sehnte sich nach stillen Tagen,
Er hatte viel sich durch die Welt getrieben,
Des Lebens manchen heißen Kampf geschlagen.
Im Herbst der Tage schwanden ihm die Lieben;
Da wird die Lebensflur so still, so leer;
Wohl dir, ist dann ein Kind dir noch geblieben,
Denn leiser fallen dir und minder schwer
Des Alters unvermeidlich bitt’re Loose,
Dir weht es milder von den Gräbern her!–
Roberto weint‘ an manchen Hügels Moose,
Trübhadernd mit den räuberischen Jahren,
Nun hing sein Herz an seiner letzten Rose.
Geschieden von der Welt bewegten Schaaren
Hat sich Robert, der nur den Frieden sucht,
Des Glückes letzte Spur sich zu bewahren.
Er zog mit seinem Kind in diese Schlucht;
Maria that in ihrer Morgenblüthe
Der Einsamkeit entsagungsvolle Flucht.
An Schönheit wunderbar, an tiefer Güte,
War selige Genüg‘ ihr stilles Leben,
Daß sie den Abend ihres Vaters hüte.
Auf jenen Felsen, die am höchsten streben,
Stand ihm sein Ahnenschloß, seit lange wüste,
Wehrlos dem Sturz der Zeiten hingegeben;
Von wannen einst in krieg’rischem Gelüste
Der Ritter brausen ließ die blut’gen Fahnen,
Wo man den Freund mit Wein und Sang begrüßte.
Dahin von seinen sturmbewegten Bahnen
Trieb ihn die Sehnsucht, nach den Tannenhainen,
Zur längst verglühten Asche seiner Ahnen.
„Dort will ich meine letzte Thräne weinen
Dem treuen Weib; dort wird dem Tode mild
Des Kindes Lieb‘ in’s finstre Antlitz scheinen!“
So malte sich sein Herz des Schicksals Bild,
Als mit Marien er die alten Mauern
Bezog in diesem einsamen Gefild.“ –
Nun schwieg der Eremit und sank mit Schauern
Zurück in der Erinn’rung dunkle Nächte;
Bis wieder er begann mit tiefem Trauern:
„Ich war ein Jüngling, würdigem Geschlechte
Entsprossen, mit dem tapfern alten Grafen
Zurückgekehrt aus rühmlichem Gefechte,
Als mich die Blicke seiner Tochter trafen
Und mich durchdrangen mit fo heißen Wunden,
Die nur mit meinem letzten Hauch entschlafen.
Hab‘ ich auch Liebe nicht bei ihr gefunden,
Blieb doch seit jenem süßen Augenblick
Der Wunsch, je zu genesen, überwunden.
Roberto, gönnend mir ein froh Geschick,
Erhoffte von der leisen Macht der Tage,
Daß sich ihr Herz noch neige meinem Glück,
Und daß ich nicht dem Waffenfreund versage,
Zu folgen ihm auf seiner Väter Schloß.
Ich folgte trauernd, aber ohne Klage.
Wenn ich die Näh‘ der Himmlischen genoß,
Der Wimper keine Bettlerin entschlich,
Was ich an Thränen einsam auch vergoß.
Ein schnelles Jahr, voll bittrer Wonn‘, entwich,
Umsonst hat sie mein stummer Schmerz beschworen;
Mir sprach kein Hauch, kein Blick: ich liebe dich!
Das Loos hatt‘ einen Andern ihr erkoren,
Der wie ein Sturm ihr junges Herz bezwang,
An den sie Herz und all ihr Glück verloren. –
Einst saßen wir am steilen Felsenhang
Vor dem Ruinenschloß und überließen
Nachsinnend uns dem Sonnenuntergang.
Dort sah ich ganz die Rose sich erschließen:
Maria’s offnes Auge, tief und klar,
Schien Seelen in den Abend auszugießen;
Die leisen Winde küßten ihr das Haar,
Auf ihren Busen kamen, sich zu wiegen,
Die Purpurstrahlen hell und wunderbar;
Der Himmel schien am Halse ihr zu liegen.
Ich aber wünscht‘, es möchte meine Seele
In solchem Anblick sterben und versiegen.
Und ich begann, daß ich mein Leid verhehle,
Zu singen mit Robert, dem Mann der Waffen,
Ein altes Reiterlied aus voller Kehle.
Da stört‘ uns plötzlich lautes Hundeklaffen:
Zwei Doggen kamen schnell heraufgesprungen,
Als wollten sie dem Wind ein Wild entraffen,
Und hinterdrein, von Fels zu Fels geschwungen,
Mit stolzem Wuchs, waidmänmsch angethan,
Die Faust um’s schlanke Feuerrohr geschlungen,
Kam rasch und kühn ein Mann den Berg heran.
Und mich erfaßt‘ ein sonderbar Gefühl,
Als ich ihn sah mit leichtem Gruße nah’n:
Die Stirne brütend und gewitterschwül,
Die Augen zwei gefang’ne Blitze brennen:
Doch lag es um die Lippen ihm so kühl,
Ein Räthsel, unerfreulich zu erkennen.
Die Blässe sprach: dies Herz hat keinen Frieden;
Unheimlich schön war die Gestalt zu nennen.
Ob auch Maria’s Blicke ihn vermieden,
Ich sah des Vaters Hand sie zitternd fassen;
Auf immer war die Ruh‘ von ihr geschieden,
Ich sah ihr wechselnd Glühen und Erblassen,
Und ich empfand in meines Herzens Grunde
Zu jenem Fremden ahnungsvolles Hassen. –
Ich will vollenden dir die trübe Kunde,
Doch vor Maria’s theurem Bilde nicht,
Komm, folge mir in dieser stillen Stunde!“ –
So sprach der Eremit, und nahm ein Licht,
Und ernst verließen wir das kleine Haus.
Er sah mir recht bekümmert in’s Gesicht,
Und wies mir in die dunkle Nacht hinaus.
Dritter Gesang
Antonio
Der Klausner trug die leuchtende Laterne.
Fort war der Mond, aus finstern Wolken glommen
Nur matt und scheu hervor die seltnen Sterne.
Mich aber hatte plötzlich überkommen
Die große Wehmuth der Vergangenheit.
Ich that dem Alten schweigend und beklommen
Durch seinen dunklen Garten das Geleit.
Ich dachte traurig an so manches Grab,
Und allen Todten war mein Herz geweiht.
Auch die Natur, die nächtlich stille, gab
Gedankenvoller Wehmuth sich zu eigen.
Nach dem Gewitter tropft‘ es noch herab
Wie weinendes Erinnern, von den Zweigen.
So mochten wir wohl eine Stunde zieh’n
Durch Fels und Wald mit ungebroch’nem Schweigen.
Wir sah’n die Wolken kommen und entflieh’n,
Den Mond verhüllen bald, und wiedergeben,
D’rauf wies der Alte sinnig deutend hin,
Und endlich sprach er: „Dort am Fels erheben
Die Mauern sich vom alten Grafenschloß!
Dort wollen wir den Rest der Nacht verleben!“
Und schneller schritt mein leitender Genoß
Den Bergpfad mir voran im Mondenscheine,
Der wie versöhnend die Ruin‘ umfloß.
„Hier“ – fuhr der Alte fort – „an diesem Steine,
Hier saß Maria, ich vergess‘ es nimmer,
Die schöne Jungfrau noch, die himmlisch reine,
Umspielt vom linden West, vom Purpurschimmer;
Hier stand vor ihr der falsche Bösewicht,
Der lächelnd sie zerbrach in kalte Trümmer.
O Mayenluft, o helles Abendlicht!
Warum habt ihr das arme Kind verrathen,
Da ihr geschmeichelt ihr um’s Angesicht,
Daß ihre tiefsten Blicke auf sich thaten,
Daß ihre Reize all‘, von euch betrogen,
Unselig siegreich auf die Wange traten?
Wie heiß Lorenzo’s Blicke sie umflogen,
Froh schwelgend in der Blüthe vollem Prangen,
Den holden Reichthum überrascht erwogen!
Wie zauberisch Lorenzo’s Lippen klangen!
Bald süß und weich die weltgeschliffnen Worte,
Bald kühn und kräftig auf den Hörer drangen,
Womit er bald ein junges Herz durchbohrte!
Den Vater auch bezwang der Rede Kraft,
Und brach zu seiner Gunst die letzte Pforte.
Mir ward Roberto’s Schloß zur Kerkerhaft,
Ich stieg zu Roß in selber Nacht und sprengte
Von dannen schnell mit meiner Leidenschaft.
Doch, ob ich auch mich in die Schlachten mengte,
Ich konnte nicht die Glut im Herzen mildern,
Die heimlich und unlöschbar mich versengte.
Lang kämpft‘ ich mit des Zweifels schwanken Bildern,
Bis aus der Heimat mir ein Bothe kam,
Die traurige Gewißheit mir zu schildern:
Wie frevelhaft gar bald und ohne Scham
Lorenzo brach den Eid, den er geschworen –
Der Falsche floh – Maria starb vor Gram –
Wie bitter schwer Roberto sie verloren,
Und wie in ihm der Liebe letzter Funken
An seines Kindes kalter Leich‘ erfroren,
Und wie sein Aug‘, in’s todte Kind versunken,
Schmerzlich ergründet, was man ihm geraubt,
Wie sich’s mit wilder Rache vollgetrunken.
Die Macht des Wahnsinns schlug sich um sein Haupt,
Sie trieb ihn fort und fort nach allen Winden,
Rastlos, wie durch den Wald der Jäger schnaubt.
Doch sah er stets die blut’ge Hoffnung schwinden;
Durch Land und Meer trieb ihn der Rache Qual,
Er konnte nicht die Spur Lorenzo’s finden.
Da fuhr ihm plötzlich, wie ein Wetterstrahl,
Prophetisch durch der Seele Finsterniß
Die Sehnsucht nach dem fernen Felsenthal;
Und was ihn erst in alle Fernen riß,
Nun zwang es ihn zurück in diese Räume,
Als wäre hier sein Opfer ihm gewiß.
Hier träumt‘ er immer wilder feine Träume,
Die rings umher getreue Freunde hatten,
Ruinen, Gräber, finstre Tannenbäume.
Wie auf der Wüste dürr, und ohne Schatten,
Wenn sie den Tag um dunkle Nacht vertauscht,
Der Wandrer sinkt in durstendem Ermatten,
Einschläft, und träumt, daß ihm die Quelle rauscht,
Vom Schlaf empor dann fährt der froh bethörte,
Und in die Nacht, die dunkle, stille, lauscht:
So war’s Robert, wenn’s ihn vom Schlaf empörte,
Als ob er aus Lorenzo’s Busen noch
Die heiß ersehnte Quelle rieseln hörte.
Wenn dann das schwarze Traumbild sich verkroch,
Wie glühend kränkjt‘ es ihn, zu hören nur
Des eignen Herzens einsames Gepoch!
Oft, wenn er so von seinem Lager fuhr,
Erweckt‘ er seine alten, treuen Knechte,
Und schwor mit ihnen seinen Racheschwur.
Auch trieb er oft mit ihnen lange Nächte
Ein närrisch Puppenspiel, worein er trug
Wahrheit und Traum in grausigem Geflechte.
Die Puppen mußten spielen Zug für Zug
Viel längstvergangne traurige Geschichten,
Nachtappen seinem wilden Geistesflug.
Doch immer war das Spiel ein Klagen, Richten.
Unheimlich kindisch war sein heißer Drang,
Auch nur im Bild Lorenzo zu vernichten.
So lebte Robert manche Jahre lang,
Von allen Wandrern, die das Thal betreten,
That keiner nach dem Schlosse mehr den Gang.
Doch kam ein Abend, Mayenlüfte wehten,
Es weilte auf dem alten Schloßgestein
Der Sonnenstrahl mit röthlichem Verspäten,
Roberto saß verlassen, trüb, allein,
Tief senkte sich sein Haupt, das schmerzergraute,
Und hüllte in’s Vergang’ne ganz sich ein.
Wie er nun klar sein Kind Maria schaute,
Und wie sein starrer Blick leibhaft vor sich
Das Bild Lorenzo’s in die Dämm’rung baute:
Da schallten Tritte – und sein Traum entwich,
Ein junger Mann nun plötzlich vor ihm stand,
Der wunderbar genau Lorenzo glich,
Es war Lorenzo’s Sohn. Aus fernem Land
War er gefolgt dem dunklen Trieb zu reisen,
Bis sich sein Pfad in diese Thäler wand,
Und ihn mit Lockungen, mit holden, leisen,
Verführte schlangenhaft in diese Schluchten,
Nach des Verhängnisses geheimen Kreisen.
„Halloh! nun endlich hab‘ ich dich Verfluchten!“
So schrie Robert, sprang auf, und hielt ihn fest.
„Gelüstet dich nach meinem Kind, Verruchter?
Stahlst du nicht frevelnd mir den letzten Rest?
Lorenzo! hab‘ für dich kein Opfer mehr!
Maria ist von deinem Kuß verwest!“
Und riesenkräftig schleift‘ er ihn einher.
Was ihm an Kraft geschwunden mit den Jahren,
Beschwor die Wuth zu schneller Wiederkehr.
Mit Flammenaugen, weißen Flatterhaaren,
Ist er mit ihm zu jenes Thurmes Thüre
Ein Rachedämon brausend hingefahren.
Umsonst betheuerten Antonio’s Schwüre,
Es sey Lorenzo’s vorwurfsloser Sohn,
Um den er seine Eisenkette schnüre;
Und seiner Knechte Wort klang ihm wie Hohn,
Daß welk und alt nun längst Lorenzo sey,
Da dreyßig Jahre schon nach ihm entfloh’n.
Dem Wahnsinn war das Alte nicht vorbey,
Lorenzo’s Züge waren mit den Zeiten
Gealtert nicht in seiner Phantasey.
Und in des Thurmes finstern Einsamkeiten
War nun Antonio’s schrecklich Loos zu schmachten,
Zu hören stets die Todesstunde schreiten.
Roberto säumte noch ihn hinzuschlachten,
„{gestrichen:] Bis seinen Lauf der bleiche Mond vollendet,
Soll dich die feste Kerkerwand umnachten.}
Die Frist sey dir, Verbrecher, noch gespendet,
Auf daß auch dich dein Vater sterben sehe!“
Und in die Ferne ward ein Brief gesendet.
Lorenzo ahnte nicht des Schicksals Nähe.
Schon war verschlummert seine Jugendsünde,
Sein Herz erwärmet in beglückter Ehe;
Da kam das Schreckensblatt von seinem Kinde;
Da brach er auf und flog mit Sturmeseile,
Daß er Antonio noch lebendig finde,
Daß er des Wahnsinns blut’gen Irrthum heile,
Und das schuldlose Opfer schnell erlöse,
Wo nicht, den Tod mit seinem Sohne theile.
Wohl mahnte ihn sein Busen an das Böse
Der Jugendschuld, nun er dem Schloß genaht,
Mit des Gewissens hämmerndem Getöse;
Wohl trieb er seinen Witz nach klugem Rath,
Wie er den Sohn entreiße der Gefahr,
Und selber nicht bezahle seine That.
Ihm folgte schützend eine Waffenschaar
Zum Schlosse, das ihm schon entgegendrohte,
Hoch, wie der Rache thürmender Altar.
Durch Nebel taucht‘ empor das blutigrothe
Antlitz des Mondes am bewegten Himmel,
Der schreckensvollen Nacht ein dunkler Bothe.
Der Wolken trübweissagendes Gewimmel
Flog unstät über’s Thal, die Winde trugen
Des Donners fernverhallendes Getümmel:
Als an das Grafenschloß die Wandrer schlugen,
Und bald darauf das Thor, das langentwöhnte,
Einlaß gewährend knarrt‘ in seinen Fugen.
Ihr scheuer Tritt im öden Burghof tönte,
Wo Alles einsam, still und finster lag,
Durch’s hohe Gras allein der Windhauch stöhnte,
Die Waffenknechte lauschten stumm und zag,
Lorenzo fühlte stärker stets vom Wächter
Im Busen den erinn’rungsvollen Schlag.
Und ihn ergriff, wie die gedungnen Fechter,
Ein Grauen, plötzlich, aus des Schlosses Tiefen
Schnitt durch die Nacht ein höhnisches Gelächter;
Dann todesstill; dann wirre Stimmen riefen.
Schon sah Lorenzo, dem der Muth gebrach,
Die Nacht vom Blute seines Kindes triefen.
Und zaudernd schritten sie dem Laute nach,
Und über Treppen, dunkle Hallengänge,
Betraten sie ein dämmerndes Gemach.
Hier sah’n sie das phantastische Gepränge
Der wunderlichen Marionettenbühne,
Hier lernten sie versteh’n die krausen Klänge.
So eben eifert der wahnwitzig kühne
Poet, daß er auch strafe die Bethörung
An seinem Helden und das Schicksal sühne,
Und mit den Worten innigster Empörung
Empfing den Todesstreich Lorenzo’s Puppe.
Jetzt fuhr der Alte auf, entzückt der Störung:
„Ihr Herren, wie behagt euch diese Gruppe?
Soll wiederholet werden euch zu Ehren
Von meiner tüchtigsten Schauspielertruppe!
Ich kenn‘ euch wohl und euer heiß Begehren,
Doch wollet nur indeß Gedulden tragen,
Und lustig erst den Willkommsbecher leeren!“
Der Vorhang fiel; doch wollte nicht behagen
Der Becher, den Roberto’s Knechte reichten,
Bis wieder ward der Vorhang aufgeschlagen.
Bei einer Dämmerlampe trübem Leuchten
Begannen ihren Tanz die Marionetten,
Doch schrecklich, daß die Gäste dran erbleichten,
Denn plötzlich schauten sie, geschleift an Ketten,
Verhöhnt von Roberts tragischem Sermon,
Mit plumpem Tritt – Antonio’s Leiche treten.
Lorenzo starb vor Schreck an seinem Sohn;
Die Knechte hüllten schreiend ihr Gesicht,
Und mit Entsetzen stürzten sie davon.“ –
So weit des Klausners nächtlicher Bericht.
Und ich erwacht‘ an eines Baches Rand,
Als durch die Felsen drang das Morgenlicht,
Nachsinnend, wo der Eremit verschwand;
Ob Wahrheit, was nun meine Sinne mied,
Ob eines bösen Traumes wilder Tand? –
Und als ich aus dem Klippenthale schied,
Sah wieder ich des Lammes Wolle beben
Am Strauche, den die Sonne ewig flieht,
Im Hintergrund den stillen Geyer schweben.
Bilder: via Frank T. Zumbach: Witold Wojtkiewicz, 12. August 2010;
Maximilian Lenz Revisited, 25. August 2016;
Marionettes, 9. Oktober 2021.
Soundtrack: Mott the Hoople: Marionette, aus: The Hoople, 1974:
Dornenstück 0010: Antisterntaler
Update zu Moral, das ist wenn man moralisch ist, versteht Er. (Kartoffeln schmälzen),
Dieses treffliche Märchen vom Schmidt
und Ein holprichtes Lied mit tiefer und rauher Stimme::
In my own grim dead times of depression, the sun is brutal, the moon is mocking, the stars are terrifying. But Saturn, spinning in its lonely rings, is kind.
Sam Kriss: The Sadness of Saturn, 10. Oktober 2017.
Das Märchen ist ebenso ein Diminutiv wie das Mädchen, das Diminutiv ein Neutrum, die Augmentativa beider ersteren sind Feminina. Auch keine Erklärung dafür, dass man sich im traurigsten Märchen der Welt „ein arm Kind“ automatisch als Mädchen vorstellt.
——— Georg Büchner:
Marie mit Mädchen vor der Hausthür.
aus: Woyzeck, 1836,
cit. nach Georg Büchner: Werke und Briefe, Münchner Ausgabe, dtv 1988, Seite 252:
Kinder. Marieche sing du uns.
Marie. Kommt ihr klei Krabbe!
Ringle, ringel Rosekranz,
König Herodes.
…
Großmutter erzähl!
Großmutter. Es war eimal ein arm Kind und hat kein Vater und kei Mutter, war Alles tot und war Niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es ist hingangen und hat gerrt Tag und Nacht. Und wie auf der Erd Niemand mehr war, wollt’s in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an und wie’s endlich zum Mond kam, war’s ein Stück faul Holz und da ist es zur Sonn gangen und wie’s zur Sonn kam, war’s ein verwelkt Sonneblum und wie’s zu den Sterne kam warn’s klei golde Mücke, die warn angesteckt wie der Neuntöter sie auf die Schlehe steckt, und wie’s wieder auf die Erd wollt, war die Erd ein umgestürzter Hafen und war ganz allein und da hat sich’s hingesetzt und gerrt und da sitzt es noch und ist ganz allein.
Woyzeck.. Marie!
Marie. (erschreckt). Was ist?
Woyzeck. Marie]wir wolle gehn, ’s ist Zeit.
Marie. Wohinaus?
Woyzeck. Weiß ich’s?
Quellen:
- Jean Paul: Die unsichtbare Loge, 1793;
- Die sieben Raben, KHM 25, ATU 451, 1812 ff.;
- Achim von Arnim: Die drei liebreichen Schwestern und der glückliche Färber, 1812;
- Ludwig Tieck: Alla-Moddin, 1829.
Die Sterntaler, KHM 153, ATU 779H*, 1812 ff.;
Fachliteratur: Richard Kämmerlings: Im Hafen: Großmutters Märchen aus „Woyzeck“,
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. Januar 2006.
Bilder: Josef Walch: Es war einmal ein arm Kind …, Kunst + Unterricht, Heft 48, 1978, Seite 46;
Robert Leinweber: Sterntaler, 1893, via Grimm-Bilder.
But Saturn is kind: Dead Fingers: Ring Around Saturn, aus: Dead Fingers, 2012:
Psalmen gottverbrämter Bücher
Update zu Und wenn es hundert schönere gibt:
Paul Zech lebt fort als Übersetzer von François Villon und Arthur Rimbaud. Darüber hinaus führte er ein Leben, das jeden Biographen überfordern muss, weil er seinen Lebenslauf offenbar als Gegenstand kreativer Gestaltung ansah. Dazwischen produzierte er untr vielem anderen eine Fülle eigener Gedichte, zu denen man gern auch seine Übersetzungen rechnet, weil er sie wohlweislich gleich selbst als Nachdichtungen ausgewiesen hat. Alles andere spräche nicht für den Übersetzer Paul Zech, seine Versionen von Villon und Rimbaud aber sehr für den Dichter: Sie sind überaus cantabile.
Für den öffentlichen Bücherschrank Ihrer Nachbarschaft oder den „Zu verschenken!!!“-Karton, über den Sie morgens beim Nachhausekommen stolpern, werden sie noch zu sehr gehütet, was wiederum für die schmalen Taschenbüchelchen spricht. Antiquarisch bleiben dennoch umstandslos erreichbar:
- Rimbaud. Das gesammelte Werk, Wolkenwanderer-Verlag, Leipzig 1927 und selten geworden, dafür bis heute als Sämtliche Dichtungen des Jean Arthur Rimbaud, 1963 ff. nachverlegt;
- Die Balladen und lasterhaften Lieder des Herrn François Villon in deutscher Nachdichtung von Paul Zech, Erich Lichtenstein Verlag, Weimar 1931 und selten geworden, dafür bis heute als Die lasterhaften Balladen und Lieder des François Villon, 1962 ff. nachverlegt und von mir warm empfohlen
Zu einem seiner im buchstäblichen Sinne ungezählten Gedichte, einem von 1914, gibt es ein unschlagbar passendes Portrait einer Waldhexe von Julie Wolfthorn, entstanden schon 1899, deren Lebenslauf als Jüdin zur unglückseligsten Zeit, „Hosendame“ (cit. Paula Modersohn-Becker) und „Malweib“ immer noch besser erschlossen ist als Paul Zechs selbstgewähltes Versteckspiel, das seine Nachlassverwalter vom Fritz-Hüser-Institut eine „[b]ewegte, nicht lückenlos verifizierbare Biografie, u.a. als Bergarbeiter in Belgien“ nennen: Die Dame verstarb kurz vor ihrem 81. Geburtstag im KZ Theresienstadt; „[b]is auf wenige Bilder in den Depots deutscher Museen galt ihr umfangreiches Werk lange Zeit als verschollen und wurde erst Anfang 2000 wiederentdeckt“, wie wir ihrem Wikipedia-Artikel entnehmen.
In ähnlicher Weise bleiben die eigenen Dichtungen von Zech verschüttet, solange niemand die Schaufel nimmt und den Garten, der vor ihm liegt, nach den Schätzen umgräbt, die er verspricht. Und in ähnlicher Weise wie zu lange verräumte Bilder müssen sie wohl erst restauriert werden; Texte verrotten sehr wohl mit der Zeit.
Manches an den leicht auffindbaren Versionen von Deine Augen sind ein Korngrün weit, die wohl eine von der anderen abgeschrieben sind, vorneweg in der Sammlung Paul Zech bei Λέων Αιλούρος. Πολλά και διαφορά, 14. Dezember 2017, mag ich nicht recht glauben: zum Beispiel dass der zweite Vers als einziger mit Großbuchstaben einsetzt oder dass Psalme der Plural von Psalm sein soll. Aber vorerst hat man keine Wahl.
——— Paul Zech:
Deine Augen sind ein Korngrün weit …
aus: Die eiserne Brücke. Neue Gedichte von Paul Zech, Verlag der Weißen Bücher, Leipzig 1914, Seite 46,
via Jörg Krüger für Deutsche Literatur — German Literature, 16. Mai 2022:
Deine Augen sind ein Korngrün weit,
Zart Gewordnes, das den Mai erfuhr.Jeder Tag weckt eine neue Gnade,
ein Erlösen mehr im Blickgelände
mit dem weißen Lerchenlied der Hände.Deine Augen sind ein Korngrün weit
und ein Lächeln zieht darin die Spur
süßverliebter Pfade.Jede Bitte, die ich heiß in Deine Augen strahle,
schwillt zur Frucht,
zwängt sich reif durch eine schmale
kußbereite Bucht.Deine Augen sind ein Korngrün weit.
Spannt die Nacht darüber sternbestickte Tücher,
wächst verschwistertes Erglühn
aus dem Dom gewordnen Grün
und singt Psalme gottverbrämter Bücher.
Waldgrün: Julie Wolfthorn: Mädchen mit blaugrünen Augen (Waldhexe), 1899,
Öl auf Leinwand, 42 cm auf 33,5 cm, Sammlung Jack Daulton, Los Altos Hills, Kalifornien;
Paul Zech via Gedenkstätte Deutscher Widerstand
und Λέων Αιλούρος. Πολλά και διαφορά, 14. Dezember 2017.
Soundtrack: Kate Wolf: Green Eyes, aus: Give Yourself to Love, 1983:
Deutschlandzyklus 1: So geht’s doch auch
Update zu Before Sunrise,
Jean Paul, sein erster Kuss, meine Bedienung und ich,
Über den Kirchplatz mit Lancelot: Die namenlosen Religionen zu Coburg,
Dunkeldeutschland
und Zahlenzyklus:
Der Feldmarschall von Blücher,
der hat genau drei Bücher:Eins zum Lachen,
Eins zum Denkenund das Dritte
zum Verschenken.Sprach er zu Herrn von Grieben:
„Mehr fänd ich übertrieben!“
Als Teil der Aufarbeitung meines Schultraumas, im Schuljahr 1982/1983 Bayerns einziger Schüler gewesen zu sein, der wegen Geschichte sitzengeblieben ist, muss ich seit meinem um ein Jahr verspäteten Abitur immer nachschauen, was die ganze Zeit in meinem zuständigen Kulturkreis so los war. Bis heute verstehe ich das wenigste. Das war in der achten Klasse, dem Jahr, wo in Geschichte das Mittelalter dran ist. Mit 33 bis ungefähr 38 Jahren war ich dann sogar in einem Mittelalterverein, um es meinem alten Geschichtslehrer, der seit Jahrzehnten was Besseres zu tun hat als sich mit Schulbuben rumzuärgern, zu zeigen. Es war ein langer Weg von dem Tag. als der blaue Brief von der Schule eintraf, woraufhin meine Mutter nach mir als „A Hockenbleiber in der Familie! Pfui Deifl!“ einen großen Kuddel nach mir gespuckt hat, bis in den Mittelalterverein, aber ich schweife ab. Im übrigen hab ich nach der Achten am Ende der Sommerferien die Nachprüfung bestanden und musste noch kein Schuljahr wiederholen.
Zwanzigstes Jahrhundert ist doof, das muss man sich schon zu arg zu Herzen nehmen, außerdem rinnt da alles aus- und durcheinander. Auf der Suche nach bedeutenden Ereignissen in der deutschen Geschichte, bevor sie einem um die Ohren fliegt, hab ich mich natürlich erst umgehört, woraus man ein eher kurzes Gedicht herauspressen könnte. Soll man ja immer: kommunizieren. Die Ausbeute war:
- Als der Olle Fritz Maria Theresia einmal Schlesien wegnahm.
- Die teutsche Reichsgründung auf den artilleriezermalmten Knochen des welschen Erbfeindes.
- Die Entlassung des Unsympathen (Bismarck) durch den Vollidioten (Wilhelm II.).
- Die 7 Kardinalfehler der Obersten Heeresleitung im 1. Weltkrieg, u.a. den unbeschränkten U-Bootkrieg, der dann nach der Versenkung der Lusitania mit einiger Verspätung die Yankees an die Seite der Alliierten torpedierte.
- Rilke 1922.
- Von Papens pflanzliche Wadenmuskulatur.
Schuld bin ich ja selber, was treib ich mich auch dauernd mit Gelehrten rum.
So geht’s doch auch
Beyträge zur alternativen Historienschreibung
Neulich in Wessobrunn, ca. 790:
Der Abt so:
Du, Poeta, schau amal her da,
da wär grad noch
ein Platzerl frei im Manuskript.
Poeta so:
Ja, schon, und jetzt,
was hab ich damit zum Tun?
Der Abt so:
Na, da schreibst etz eins
da nei von deine religiösen.
Poeta so:
Am End wieder so ein frommes?
Der Abt so:
Na freilich keine so eine Sauerei nicht.
Poeta so:
Och, warum nicht? Schau halt hin,
wie’s die Schöpfung allerweil
so schön hing’stellt ham!
Der Abt so:
Ja genau, du machst des scho.~~~\~~~~~~~/~~~
Neulich in Canossa, 1077:
Heinrich IV. so:
War doch
nicht so
gemeint, Bruder.
Gregor VII. so:
Schon klar,
komm rauf,
gibt Grappa.~~~\~~~~~~~/~~~
Zweites Laterankonzil, Rom 1139:
Innozenz II. so:
Schön, dass ihr dabei wart, Jungs!
Ciao und immer feste
drauf auf eure Beste!
Doch merkt im Eifer eures Schwungs:
Das gilt für eure Frau!
Mit Konkubinen moderater!
Und alle so:
Na, immer doch, Heiliger Vater!
War wieder äußerst lehrreich. Ciao!~~~\~~~~~~~/~~~
Vatikanstadt, 4. Oktober 1582, Abend:
Gregor XIII. so:
Memento mori: Bitter macht
der Tod das Leben. Mitternacht
lösch du dein Licht: Alsbald verwesen
die, die spät im Psalter lesen.
Sein Ministrant so:
Macht halblang, o Vater: Lang aufbleiben frommt,
wenn eh auf den Vierten der Fünfzehnte kommt.~~~\~~~~~~~/~~~
Prager Burg, 23. Mai 1618:
Heinrich Matthias von Thurn so:
Macht mal wer das Fenster auf?
Jaroslav Borsita von Martinitz so:
Mach halt dein Fenster selber auf.~~~\~~~~~~~/~~~
Frankfurt am Main, ca. 1756:
Frau Aja so:
Johann Wolfgang, gehst du ned glei
wech da von dem Kaschperletheater!
Und Goethe so:
Schau emoll Mama, die spiele de Faust.
Und Frau Aja so:
Herst du ned!
Und Goethe so:
Menno.~~~\~~~~~~~/~~~
Karlsbad, 1819:
Ernst Moritz Arndt so:
Zwanzig Druckbogen, Exzellenz. Wär’s Ihnen so genehm?
Und Metternich so:
Genehm zu genehmigen, mein Lieber. Trag Er’s zum Setzer.~~~\~~~~~~~/~~~
Sarajevo, 28. Juni 1914:
Sophie Chotek so:
Franz Ferdinand, Obacht, deine Schnürsenkel.
Und Franz Ferdinand so:
Hoppala, gor ned gmerkt.~~~\~~~~~~~/~~~
Berlin, 18. Februar 1943:
Goebbels so:
Wollt ihr den totalen Krieg?
Und alle so:
Och nööö, lass mal.
Und Goebbels so:
Was wollt ihr denn?
Und alle so:
Freibier, oder?
Und Goebbels so:
Also schön, im Foyer dann.
Und alle so:
Jaaaaa!
Bad Bunnies: via Sad and Useless. The Most Depressive Humor Site on the Internet:
Why So Many Medieval Manuscripts Depict Violent Rabbits?, ca. 2019.
Die haben auch gewalttätige Weinbergschnecken und anzügliche Katzen.
Soundtrack: Feelsaitig: Odysseus, aus: Äpfl!, 1991:
So war’s dem Doctor Faust nicht halb zu Muth
Update zu Weistu was so schweig,
Nur die Wurst hat zwei und
Doktor Faust thu dich bekehren:
Goethes erste Fassung des Lustspiels Die Mitschuldigen 1769 geht als Jugendsünde durch. Einerseits musste er es in einer zweiten und dritten Fassung bis zu einer gewissen Veröffentlichungsreife immer weiter entschärfen und erweitern, nachdem er es immer nur in Liebhaberaufführungen mit persönlich bekannten peers und unter weitgehendem Ausschluss einer zensurbereiten Öffentlichkeit ans Licht führen konnte; andererseits hat er es in einer zweiten und dritten Fassung bis zu einer gewissen Veröffentlichungsreife immer weiter bearbeitet. Die zweite Fassung geschah gleich einige Monate nach der ersten, ebenfalls 1769, die dritte Fassung 1783, deren Veröffentlichung 1787.
Bei Goethe muss ein Dramenstoff, den er mehrmals über mehrere Lebensalter hinweg bearbeitet, an den praktisch lebenslangen Umgang mit seinem Faust erinnern (zur Not auch mit seinem Bestseller von 1774 Die Leiden des jungen Werthers, der ihn gleichfalls 1787 noch einmal bereichern sollte, aber das war unter sehr viel mehr schöpferischen, angeregt durch persönliche Verlustschmerzen und ein für alle Mal als Abschluss gemeint).
„Der Schauplatz ist im Wirtshaus.“ Aus heutiger Sicht bleiben Die Mitschuldigen noch am ehesten wegen einer einzigen nebensächlichen Formulierung interessant, die Goethe offensichtlich mindestens zur Hälfte um des Reimes willen verwendete – aber das immerhin in allen drei Fassungen: Mit 17 Jahren, das heißt etwa 1766, wurde Goethe von dem populären Puppenspiel vom Dr. Faust erreicht – die meisten Fassungen nach dem Volksbuch, in Handschriften ab 1580, gedruckt 1587, der Version von Christopher Marlowe ab 1588 und zweifellos nach frei zusammengestoppeltem, weil lizenzfreiem Hörensagen. (Für die Institution des Copyrights auf literarische Leistungen sollte sich erst in späteren Jahren Goethe stark machen, beflügelt von seinen eigenen, anderen Erfolgen als seinem Nebenwerk der vor sich hinfloppenden Mitschuldigen, die er sich selbst, nicht irgendwelchen räuberischen Verlegern, zugute sehen mochte.)
Kurz: In ebenjenen Mitschuldigen ab 1769 erwähnte Goethe den Doctor Faust erstmals literarisch.
Goethes erste Begegnung mit dem Fauststoff als Marionettentheater für die reife Jugend (postmoderne Inszenierungen empfehlen sich gern ab 12 bis 16 Jahren) lässt sich allenfalls rekonstruieren, aus des Meisters erster Hand haben wir sie nicht. Im zehnten Buch von Dichtung und Wahrheit erinnert sich der 63- an den 20-Jährigen mit seinem Studienkollegen Herder zu Leipzig:
Am sorgfältigsten verbarg ich ihm das Interesse an gewissen Gegenständen, die sich bey mir eingewurzelt hatten und sich nach und nach zu poetischen Gestalten ausbilden wollten. Es war Götz von Berlichingen und Faust. Die Lebensbeschreibung des erstern hatte mich im Innersten ergriffen. Die Gestalt eines rohen, wohlmeynenden Selbsthelfers in wilder anarchischer Zeit erregte meinen tiefsten Antheil. Die bedeutende Puppenspielfabel des andern klang und summte gar vieltönig in mir wieder. Auch ich hatte mich in allem Wissen umhergetrieben und war früh genug auf die Eitelkeit desselben hingewiesen worden. Ich hatte es auch im Leben auf allerley Weise versucht, und war immer unbefriedigter und gequälter zurückgekommen. Nun trug ich diese Dinge, so wie manche andre, mit mir herum und ergetzte mich daran in einsamen Stunden, ohne jedoch etwas davon aufzuschreiben. Am meisten aber verbarg ich vor Herdern meine mystisch-cabbalistische Chemie und was sich darauf bezog, ob ich mich gleich noch sehr gern heimlich beschäftigte, sie consequenter auszubilden, als man sie mir überliefert hatte. Von poetischen Arbeiten glaube ich ihm die Mitschuldigen vorgelegt zu haben, doch erinnere ich mich nicht, daß mir irgend eine Zurechtweisung oder Aufmunterung von seiner Seite hierüber zu Theil geworden wäre. Aber bey diesem allen blieb er der er war; was von ihm ausging wirkte, wenn auch nicht erfreulich, doch bedeutend; ja seine Handschrift so gar übte auf mich eine magische Gewalt aus. Ich erinnere mich nicht, daß ich eins seiner Blätter, ja nur ein Couvert von seiner Hand, zerrissen oder verschleudert hätte; dennoch ist mir, bey den so mannigfaltigen Ort- und Zeitwechseln, kein Document jener wunderbaren, ahndungsvollen und glücklichen Tage übrig geblieben.
Die Mitschuldigen waren also schon in Goethes Leipziger Studienzeit ab 1765 dem etwas unterkühlten Freund Herder bekannt, folglich muss es inzwischen 1769 gewesen sein, als die eine oder andere Version des Puppenspiels in ihm gar vieltönig klingen und wiedersummen konnte.
——— Johann Wolfgang Goethe:
Die Mitschuldigen
Dritter Aufzug, Sechster Auftritt, cit. 3. Fassung 1783/1787,
Cotta’sche Augabe 1851, Siebenter Band, Seite 76:
Sechster Auftritt
Söller mit Caricatur von Angst.
Was gab’s? Weh dir! vielleicht in wenig Augenblicken –
Gieb deinen Schädel Preis! Parire nur den Rücken!
Vielleicht ist’s ’raus! o weh! o wie mir Armen graus’t,
Es wird mir siedend heiß. So war’s dem Doctor Faust
Nicht halb zu Muth! Nicht halb war’s so Richard dem Dritten!
Höll‘ da! der Galgen da! der Hahnrei in der Mitten!
(Er läuft wie unsinnig herum, endlich besinnt er sich.)
Ach, des gestohlnen Guts wird keiner jemals froh!
Geh‘, Memme, Bösewicht! warum erschrickst du so?
Vielleicht ist’s nicht so schlimm. Ich will es schon erfahren.
(Er erblickt Alcesten und läuft fort.)
O weh! er ist’s! er ist’s! Er faßt mich bei den Haaren.
Ein Fortleben des Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit besteht in immerhin zwölf Hörspiel-Bearbeitungen zwischen 1925 und 1960, davon gleich zwei von Paul Hoffmann, und bisher vier Verfilmungen ab 1961, zuletzt 1988. Vor allem Laientheater entdecken das Stück gerne für sich, wohl wegen der überschaubaren Besetzung und Bühnenausstattung, mit der man in jedem verfügbaren Wirtshaus zurechtkommt. Die Klassik Stiftung Weimar (corporate spelling leider ohne Binde Strich) hat gerade 2020 an ihrem Liebhabertheater Schloss Kochberg die dritte Fassung unter historischer Aufführungspraxis inszeniert. Das Unterfangen hat sich in deren Spielzeit 2022 gerettet, der Trailer wirkt recht einladend:
Das BIldmaterial muss trotzdem noch mangels Illustrationen zu den Mitschuldigen aus einer ihrerseits historischen gewordenen Aufführung eines faustischen Puppentheaters schöpfen: D. Joannis Fausti an der Augsburger Puppenkiste, Premiere 16. September 1948. Es kommen der Kasperl, die sieben Todsünden und diverse Teufel vor.
Die Schuldbewussten: The Pogues: If I Should Fall From Grace With God,
aus: If I Should Fall From Grace With God, 1988:
Drumb schweig / leyd / meyd vnd vertrag / dein Vnglück keinem Menschen klag
Update zu Mein Leben im Konjunktiv: Herz ist Trumpf,
Eine aufbrechende Knospe des ältesten Baumes als eine einjährige Pflanze,
Adorno für Blogger und
Werkstattbericht: Da kann jeder gedenken, in was Schrecken und Forcht ich gesteckt:
AVff solche obgehörte Weheklag / erschien Fausto sein Geist Mephostophiles / tratte zu jhm / vnnd sprach: Dieweil du auß der heyligen Schrifft wol gewust hast / daß du GOtt allein anbetten / jhme dienen / vnnd keine andere Götter / weder zur Lincken noch zur Rechten / neben jhm haben sollest / dasselbig aber nicht gethan / Sondern deinen Gott versucht / von jme abgefallen / jn verleugnet / vnd dich hieher versprochen / mit Leib vnd Seel / so mustu diese deine Versprechung leysten / vnnd mercke meine Reimen:
Weistu was so schweig /
Ist dir wol so bleib.
Hastu was / so behalt /
Vnglück kompt bald.
Drumb schweig / leyd / meyd vnd vertrag /
Dein Vnglück keinem Menschen klag.
Es ist zu spat / an Gott verzag,
Dein Vnglück läufft herein all tag.Wie der böse Geist dem betrübten Fausto
mit seltzamen spöttischen Schertzreden vnd Sprichwörtern zusetzt, 1587.
Nein. Nochmal:
Du mußt verstehn!
Aus Eins mach’ Zehn […]Vers 2540 f., 1808.
Nein. Wenn schon, wieso nicht gleich:
So stempelten wir gleich die ganze Reihe,
Zehn, Dreyßig, Funfzig, Hundert sind parat.Vers 6047 f., 1832.
Das waren jetzt zehn Jahre DFWuH, vulgo Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt.
Bei meinem Talent zum Feiern. Außerdem hab ich seinerzeit den Timer für den ersten Eintrag absichtlich auf Goethes Geburtstag, den 28. August, gestellt, nicht den 26., aber zwangsläufig waren unter den zehn Jahren zwei Schaltjahre dazwischen. Warum dann der 28. August 2012 ein Dienstag war und kein Freitag, auf den ich seit Aberjahren meine Einträge stelle, kann ja mal jemand ausrechnen, der sich mit Alltagsmathematik auskennt.
Die Überschrift für den Weblog ist okay, ein Derivat aus dem Faust – nicht dem Goethe-Spin-off, sondern dem Volksbuch, in dem gleich zwei Kapitelüberschriften mit Doctor Fausti Weheklag anfangen. Allein mit der URL weheklag.wordpress.com war ich von dem Moment an unglücklich, in dem ich in meinem steten unternehmungslustigen Übermut auf OK geklickt hab. Insofern ist sie ungemein passend, widerspricht aber in Besucher abschreckender Weise der Lebensfreude, die ich nicht müde werde, den schwärzesten Höllenfahrten abzuringen. Die abgeschreckten Besucher hätten mir aber genausoviel eingetragen wie die nicht abzuschreckenden, nämlich null Komma nix und wieder nix, also passt schon.
Bedeutsam war in den zehn Jahren vor allem, was nicht geschehen ist, was ich nicht erreicht hab. Nicht dass ich mir anno 2012 ein besonderes Ziel gesetzt hätte. Die Zeit des Gemeinschaftsprojekts Moby-Dick™ war einfach um, weil die Gemeinschaft nicht mehr so gezogen hat. Die Unternehmung hätte nämlich ein Ziel gehabt; war leider nicht alleine zu erreichen. Auch sonst hat sich das wenigste von dem ereignet, was ich auf den Weg gebracht hab:
So ist mir die im Wunderblatt 7: Die Vegetation ist der negative Lebensprozeß. Vom ursprünglichsten Gegensatz zwischen Pflanze und Tier — und Emily und Emily Emily mit einem großmächtigen Bücherpaket in die kanadische Tundra durchgegangen, darunter eine Schedelsche Weltchronik aus dem Taschen-Verlag; hat mich anlässlich Weihnachten 2014 einen Fuchziger Porto gekostet — odd parcel voller schwergewichtiger Dünndruckliteratur, Lebensmittel und Schnäpse nach Ottawa, da kommt was zusammen) —, von meinem schönen Lessing-Faksimile aus dem Wallstein-Verlag ganz zu schweigen.
Überhaupt zeichnet sich ab, dass meine Anfragen keiner Antwort wert sind, sooft ich mich schon mal unter Schmerzen dazu entschließe, das Wort an Menschenwesen außerhalb meiner eigenen Wohnung zu richten. In Von dem Holz des Lebens essen und der bittern Schmach vergessen (im Leben ist da kein Verlag drin!) war mir anhand eines barocken Figurengedichts aufgefallen, dass in dem angegebenen Münchner Verlagsgebäude im Leben kein Verlag drin sein kann. Nach meiner doch ungemein freundlichen und fachkompetenten Bitte um Auskunft bin ich in dieser Verblüffung steckengeblieben.
Nicht anders bei meinem Kontaktversuch in die Heimat meiner eigenen Kinderzeit: Vnd ist auff eim vnfruchtpern vnnd sandigen erdpoden erpawen: In dem historischen Herrenhaus gegenüber dem ehemaligen Stammgasthof meiner Eltern wurde nach einigen nicht zu widerlegenden Hinweisen zu großen Teilen – die schon wieder – die Schedelsche Weltchronik konzipiert und niedergeschrieben, nicht zuletzt erkennbar am gültigen Straßennamen. Heute residiert darin eine Psychotherapeutin, der offenbar die Anfrage zu durchgeschmort war, ob sotane Vergangenheit heute noch was gilt (dabei hab ich nicht mal gefragt, ob mit einer Schedel-Erlebniswelt nach dem Vorbild von Disneyland nicht mehr Erkenntnis-, Geld- und Lustgewinn rumkäme als mit einer Nothilfe für die ohnehin kaum einzudämmenden Landnürnberger Bekloppten).
Die Schweigsamkeit gegenüber meiner Person seitens der Instanzen, die fürs Reden mit Menschen bezahlt werden, ist dabei nicht auf die bekannten fränkischen Züge beschränkt. Kanada hat immerhin noch eine Antwort gegeben, wenn man es was gefragt hat; die Stellen, die ihren Beruf in der Pflege des Preußentums sehen, sind auch nicht besser als die pegnesischen Bauernschädel. Um mich selbst an die Verwaltung des Schloss Plaue im Brandenburgischen aus Gräflein Du bist verrathen zu zitieren:
Nicht ausgerechnet am 1. April des Fontanejahres hätte ich an die touristische Verwaltung des Schloss Plaue zu Brandenburg an der Havel mailen sollen:
[…]
- Können Sie mir weitere Strophen zu Wer geht so spät zu Hofe nennen — oder Fundstellen dazu?
- Wird das Lied noch gesungen, weil es eine bekannte, wenigstens nachweisbar überlieferte Melodie hat?
- Und existieren noch Darstellungen von den Leinwandtableaus in Schloss Plaue?
- Genießen sie eine gewisse ikonische Funktion, quasi als stille Berühmtheit von regionalem Erkennungswert?
Nicht ausgerechnet am 1. April, weil ich auf irgendeine Antwort, wenigstens ein den Eingang bestätigendes „Geh Ludwig Thoma lesen, du Baziwessi!“ bis heute warte, dabei wird mein Spam täglich handverlesen.
So wollen die Touristen in ihre Gemäuer locken: indem sie einen drei Jahre and still counting auf Antwort warten lassen. Zur Veröffentlichung von 150 Jahre sind alt genug war ich selber noch nicht mal soweit, Frank Zander daraufhin anzusprechen, warum, woher, wozu und warum in dieser Form er für seinen Captain Starlight das Hayndsche Lerchenquartett verwendet hat. Inzwischen ist er seiner seits nicht soweit … aber lassen wir das.
Es gab ja auch schöne Momente. Solche, auf die ich mir mit unterschiedlichen Ausreden großmächtig was einbilde, stehen in der Kategorie Olymp. Als auf ganze Sammlungen bin ich stolz auf jenes Weihnachts-Special, in dem ich Kunst über Katzen sinnhaft aufbereiten konnte, dann natürlich auf das mit Kunst von Katzen und das mit Kunst über tote Katzen; an Kunst von toten Katzen arbeite ich, wenngleich nicht sehr fieberhaft.
Ganz selten sind mir Arbeiten gelungen, die als externe Beleg-Links für Wikipedia-Artikel eine gewissermaßen sinnvolle Verwendung gefunden haben. And Rilke says to this guy ist seit jahren der volle Ankommer, weil es seit 2013 als Primärquelle für die Rilkeschen Briefe an einen jungen Dichter herhält. Sofortige Löschungen mangels Relevanz sehen anders aus, vielmehr hat sich der Primärautor Christian Meurer persönlich für das Fortleben seines TItanic-Artikels bedankt, ja sogar eine thematische Fortsetzung angeregt, die heute Wenn es Ihnen versagt würde to translate heißt und läuft wie ein Hit von Lady Gaga, weil es nämlich – o doch, das ist als unmittelbare Fortsetzung von Rilke-Briefen zwingend möglich – um Lady Gagas Tätowierungen geht. Und der Titanic etwas recht machen, das muss man auch erst mal schaffen.
Gern genommen wird mir auch Da ist alle Herrlichkeit der Erde und des Himmels, die Leiden und die Lust der Liebe (O Ihr Kurzsichtigen, die Ihr das Meer in Bechern erschöpfen wollt, Ihr glaubt die Kunst zu ergründen und ergründet nur Eure Engherzigkeit): Die Bilder in Franz Sternbalds Wanderungen – wie der Name sagt, eine Illustration zum Franz Sternbald, der doch öfter mal Schul- oder Unistoff scheint.
So wie Jean Paul: als regulärer Schulstoff zu dickleibig (die Bücher, mein ich in diesem Fall) und zu weggedriftet (auch die Bücher), hat aber Fans, vermutlich gerade an der PhilFak. Und dass Die unsichtbare Loge und der Hesperus eigentlich das gleiche Buch sind, bloß in jeweils anderem Wortlaut, wollte ich auch schon länger nachweisen. Was meine Flucht aus der gebornen Ruine mit Primär- und Sekundärmaterial als Beleg für gleich zwei Wikipedia-Artikel unentbehrlich macht. Seit 2018 jedenfalls, Abruf 25. August 2022.
Himmelangst vor meiner eigenen Courage wird mir heute noch vor meinem Verriss von Novalis: Pflanzenähnlichkeit der Weiber: Novalis und die Frau als Königin, Mineral und Nahrungsmittel, in dem ich ihn zum Canceln vorgeschlagen hab, bevor es in wurde, aber es scheint niemanden zu scheren, siehe oben. Als meine selbstauferlegte Buße und nicht weniger verdienstvoll von mir selber betrachte ich meine Grundsatzarbeit über die Blaue Blume der Romantik: Wer hätte da sich um Blumen bekümmert?. Am traurigsten ist ja immer, wenn man sein Bestes gibt und es ist immer noch Mist, aber das ist soweit ganz ordentlich geworden, soweit ich das beurteilen darf.
Insgesamt erinnert das stille Weiterbasteln an einem Nischenweblog literarischer Ausrichtung unter Ausschluss der Öffentlichkeit ans Leben selbst: kein ersichtlicher Grund weiterzumachen, aber einfach damit aufhören wäre jetzt auch blöd. Man bewahrt sich die Illusion, ein Wissen über Dinge von etwaigem Belang innezuhaben, und vermeidet soziale Kontakte, weil man sowieso praktisch alle seine Fans persönlich kennt. Deo volente wird das so weitergehen, bis WordPress anfängt, Geld zu kosten, oder meine Demenz deutlich genug einsetzt, dass sie mich selber stört, je nachdem, was zuerst kommt.
Inzwischen meinen tiefst empfundenen Dank an alle, die mitgeholfen haben, und an alle, die sich das antun. Ihr wisst, wer ihr seid.
Genauer nach innen gehorcht verspürte ich heute durchaus einen gewissen Impuls zum Feiern – hab aber Nachtschicht, ohne die DFWuH nicht das wäre, was es ist – was man je nach Tagesneigung begrüßen oder bedauern mag. Also passt schon.
Auf dass es uns noch lange gut geh.
Bilder: Fritz Roeber: Walpurgisnachtsszene aus „Faust“, um 1910,
Öl auf Leinwand, 186 x 206 cm; Museum Abtei Liesborn des Kreises Warendorf;
August von Kreling: Faust, von Mephisto eingeschläfert, 1874, in: Bilder zu Goethes Faust, 1912,
via The Laughing Heresiarch: The Dream of Faust, 16. November 2015.
Soundtrack: Ezra Bell: Pick a Place and Read, aus: Don’t All Look Up At Once, 2013:
Kritiken der reinen praktischen Urteilskraft
Update zu Kotzmaterial (Ein Hoch auf deine Bildung du vollidiot)
und Homerische Dark Fantasy:
Solche Leser wünschen wir uns. Nicht „das Feuilleton“ oder das, was derzeit noch davon übrig ist (nein, ich bin ja leider keins), der Buchhandel je nach Tagesverfassung – aber wäre ich ein Schreiber, dann schon.
Was für Leser? Na, begeisterte, was sonst? – Rezensionen chronologisch:
——— Michael Saidak:
Reality’s dark dream…
zu Ludwig Tieck: Märchen aus dem „Phantasus“, Reclams Universal-Bibliothek 2003,
8. Juli 2005:
Stupendous masterpieces!!!! Phantasus, wow!!! Ludwig Tieck is a genius of highest order – this stuff is supreme German gothic dark romantic. Mind-boggling & spirit-crushing hardcore stories that delve darkly into the unconscious; paranoia, retribution, the mind-destroying power of nature, dreams, insanity… Insane depth hidden in the form of „fairy-tales“ (what a stupid English word)!!!
Highly unique!! Exquisite! Gorgeous dark words of magic and vision!!! Pure genius!!! A hundred million stars.
Unfortunately I don’t speak German; Tieck’s works are so hard to find in English – I had to search through obscure translations of out-of-print books in libraries to find some of his tales. What atrocity, what shame, what crime!!!! English-speaking Germans, translate all Tieck’s works to English (and all other languages), his tales are world heritage!!!
See also Heinrich von Kleist & E.T.A. Hoffmann.
Wow… I wonder what happened in Germany at that time?? I mean, such splendid dazzling brilliance!!!! What were these guys smoking??? How could they write such lucid & vivid narrative prose, and with such merciless & brutal intensity, reminiscent of LSD-induced revelations??? Wow!!
——— callisto (VINE-PRODUKTTESTER):
Unterhaltsame, antike Göttergeschichten
zu Anton Weiher, Hrsg.: Homerische Hymnen, Sammlung Tusculum 2014,
15. Juli 2014:
Homerische Hymnen, das klingt schrecklich langweilig. Man sollte sich aber nicht vom Titel abschrecken lassen, denn was die alten Griechen unter Hymnen verstanden ist zum Großteil deutlich spannender und unterhaltsamer als das, was das Christentum darunter versteht. Natürlich gibt es auch die langweilig, schwafeligen Lobhuddeleien an ein paar Götter, die den christlichen Hymnen in nichts nachstehen, die großen, langen Hymnen sind aber spannende Geschichten, die der Odyssee in nichts nachstehen.
Das Buch enthält 33 Hymnen, davon sind die langen wirklich spannende Geschichten:
1. Demeter – Hier wird die Geschichte von Persephone und Demeter erzählt. Persephone fällt beim Spielen in ein Loch im Boden und landet im Totenreich. Demeter ist am Boden zerstört, ihre Tochter verloren zu habe. Sie sucht sich daher einen Job als Kindermädchen zur Ablenkung. Die Mutter des Knaben, den Demeter umsorgt ist aber nicht sonderlich begeistert von Demeters Erziehungsmethoden, denn Demeter wollte aus dem kleinen mit Ambrosia und stärkenden Bädern in glühender Asche einen Unsterblichen machen. Das stieß bei der Mutter des Kindes irgendwie auf Unverständnis. Demeter kündigt und verlangt als Abfindung einen Tempel.
2. Apollon – Hier hat man einfach zwei Hymnen aneinandergeklebt. Eine handelt von Apollons Geburt. Keiner wollte aber, dass seine Mutter dieses gefährliche Kind auf ihrem Grund und Boden bekommt, bis sich dann doch eine Insel erbarmt ihnen Geburtsasyl zu geben. Anschließend muss sich jung Apollo einen Platz für seine Wohnung/Tempel suchen und dazu das passende Personal entführen.
3. Hermes – Meine Lieblingshymne. Klein Hermes hat es schon gleich nach seiner Geburt faustdick hinter den Ohren. Kaum einen Tag alt, büchst er aus und klaut Apollo die Rinder (die er rückwärts gehen lässt, damit nicht auffällt, wohin er sie gebracht hat). Apollo ist aber nicht doof, er weiß, dass Hermes mehr als ein neugeborenes Kind ist. Der Schlagabtausch zwischen den beiden ist sehr witzig. Hermes miemt das Baby, wickelt sich in die Windel und meint, dass er wohl kaum wie ein kräftiger Vieh Dieb aussieht und Apollo tobt rum, schnappt ihn und bringt ihn vor Zeus, der an der Angelegenheit auch seinen Spaß hat. Danach werden die beiden beste Freunde.
4. Aphrodite – Zeus hat die Nase voll, dass Aphrodite die Götter andauernd mit Menschen verkuppelt und lässt sie ihre eigene Medizin schmecken. Sie verliebt sich in Anchises und gebiert ihm Aeneas.
5. Dionysos – Kurz und unterhaltsam. Ein paar Seeräuber entführen Dionysos und wollen ihn als Sklaven verkaufen. Er lässt Rebstöcke aus den Planken sprießen und ersäuft das Schiff in Wein, während er sich in einen Löwen verwandelt.
6. Pan – Die Geschichte um die Geburt Pans, Hermes Sohn. Nett aber nicht sonderlich ereignisreich.
Diese 6 Hymnen machen einen Großteil des Büchleins aus, die 29 langweiligen Kurzhymnen, die selbst im Anhang teils als „mattes, sprachlich ungeschicktes Gebilde“ bezeichnet werden, kann man einfach ignorieren. Haufenweise Geschwafel, wie toll dieser oder jener Gott ist, da stehen sie den christlichen Hymnen in nichts nach.
Das Buch hat noch einen kurzen Anhang, der Auf den griechischen Text und einige Worte darin eingeht, das ist aber eher etwas für eingefleischte Altgriechischfans.
Genau wie bei der Odyssee schreibt man die Hymnen einfach mal Homer zu, denn er ist ein Garant für gute Unterhaltung, aber es ist schon klar, dass hier verschiedene Autoren aus unterschiedlichen Zeiten und teils unterschiedlichen Erzähltraditionen zusammengefasst werden. Einige der langen Hymnen sind möglicherweise wirklich aus Homers Feder (Homer im weiteren Sinne als Autorenkollektiv), andere mit Sicherheit nicht.
Fazit: Insgesamt sind besonders die langen Hymnen sehr unterhaltsame, antike Göttergeschichten, die man heute auch gut lesen kann.
——— Mr. Who?:
Sehr interessant
zu Immanuel Kant: Die drei Kritiken – Kritik der reinen Vernunft. Kritik der praktischen Vernunft. Kritik der Urteilskraft, Anaconda 2015,
20. Januar 2019:
Kant seine Exemplare sind meistens immer sehr interessant zu lesen.
Kann auch dieses Exemplar nur weiterempfehlen.
Es liest sich zum großenteils sehr gut und verständlich.
Klare Empfehlung
——— Anala Mentos:
zu Georg Wilhelm Friedrich Hegel,
10. November 2020:
Yo alle hegel memes bei seite finde man kann ihn sehr wohl gut verstehen wenn man aufmerksam liest. Er drückt sich halt sehr autistisch präzise aus und seine sätze sind sehr verschlungen, aber eben der Vollständigkeit wegen.
10/10 würde lesen
So, und wer jetzt überhaupt schon mal einen Pieps von den Homerischen Hymnen gehört hat, einen von Kant versteht oder einen von Hegel – nein, nicht über Hegel – gelesen hat oder Ludwig Tieck kontrastiv zu E.T.A. Hoffmann setzen kann, darf anfangen zu lästern.
Bilder: Mike Disko Photography: Miranda Mae von und für Greencup Books,
Birmingham/Alabama (Geschäft erloschen), 2009.
Beispiel-Track: Leslie Caron in Ein Amerikaner in Paris, 1951:
Soundtrack: Feelsaitig: Napoleons Frühstücksei, aus: Des hältzt ja net aus!, 1987,
live bei Songs an einem Sommerabend vor Kloster Banz, 1993:
Die Seligkeit, wo ich zusammenbrechen darf
Update zu Was übrig blieb von grünem leben,
Ach Kind, wenn du ahntest, wie Kunitzburger Eierkuchen schmeckt!,
Und wenn’s im Rücken mal weh tut, wird jede Bewegung zur Qual
und Morgenstern über Greifswald (und keiner schaut hin):
Das Reclambuch sah so überhaupt nicht aus wie ein Reclamheft: schwarz statt gelb, sogar mit Goldprägungen, und weil man das 1904 so gemacht hat, alles in Fraktur. Eigentlich hätte ich es photographieren sollen, aber bis mir das eingefallen ist, hatte ich es schon zum Kuckuck gehauen, nein: in gute Hände weitergereicht.
Das Antiquariat, in dem es zuletzt gewohnt hat, ist dermaßen aufgelöst, dass es seine schmuckschwarzen goldgeprägten Reclambücher und sonstiges angemodertes Altpapier ohne Ladenaufsicht zum Räubern freigegeben hat, und ich weiß nicht, was trauriger war: dass nicht die Bücherfreunde mit leuchtenden Augen kamen, sondern ein paar abgestellte Packer in Camouflage-Kluft mit Rucksäcken – oder dass die abwesenden Antiquare ihre Ladentür tagelang auffordernd geöffnet halten mussten, bis endlich ein nennenswerter Schwund einsetzte.
Zur Verbreitung besagten Reclambuchs berichtet Robert Wohlleben für das höchst schätzbare fulgura frango: Das Regiment Sassenbach (1897 bis 1903). Lyrik aus der literarischen Werkstatt um Arno Holz:
Zu ihrer Zeit sind die Gedichte des „Regiments Sassenbach“ durchaus vom literarischen Publikum wahrgenommen worden. Eine Reihe von Gedichten hat zum Beispiel Hans Benzmann in seine recht verbreitete Anthologie „Moderne Deutsche Lyrik“ aufgenommen; sie erschien bei Reclam, vermutlich 1904.
Aus dem schönen Stück zurückbehalten habe ich eins von Reinhard Piper, 1879 bis 1953, damals Buchhandelsgehilfe, später Verleger unter dem Pseudonym Ludwig Reinhard:
——— Reinhard Piper:
Aus „Meine Jugend“
aus: Meine Jugend I, Johann Sassenbach, Berlin 1899,
cit. nach Hans Benzmann, Hrsg.: Moderne Deutsche Lyrik, Philipp Reclam jun., Leipzig 1904, Seite 419:
Die Lampe will mir ausgehn.
Todmüde ziehe ich meine Taschenuhr:
Nach Mitternacht.
Plötzlich sehe ich den Sekundenzeiger rennen.
Entsetzen packt mich.
Halt! Halt!
Er tickert merin ganzes Leben herunter!
Unaufhaltsam verläuft meine Zeit ins Nichts.*
Auf der glühenden Landstraße, die nach dem Himmel führt,
schleppe ich mich vorwärts.
Ich sehe kein Ende.
Schmächtige Pappeln stehen am Weg.
Ihre vertrockneten Blätter
beben.
Mit einem dünnen Schatten um den andern
komme ich der Seligkeit näher,
wo ich zusammenbrechen darf!
Zur Einordnung dieses Denkmals aus Im- wie Expressionismus und Postmoderne lernen wir weiter bei fulgura frango a. a. O.:
1898 und 1899 erschienen im Verlag von Johann Sassenbach, Berlin, unter anderem sieben Hefte mit Gedichten: „Neues Leben“ von Georg Stolzenberg in zwei Heften (1903 folgte ein drittes), „Farben“ von Robert Reß, „Meine Jugend I“ vom späteren Verleger Reinhard Piper unter dem Pseudonym Ludwig Reinhard, „Befreite Flügel“ von Rolf Wolfgang Martens, „Phantasus“, erstes und zweites Heft, von Arno Holz. Alle Gedichte darin sind ohne Reim und ohne festes Versmaß, ihre Zeilen sind auf Mittelachse angeordnet.
[…] Ab 1897 kam um Arno Holz eine Gruppe schreibender Freunde zusammen. Der Gesangslehrer Robert Reß (1871 bis 1935) sowie der Klavierlehrer und Komponist Georg Stolzenberg (1857 bis 1941) gehörten als Kern dazu. Ferner Rolf Wolfgang Martens (1868 bis 1928), den Reinhard Piper in seinen Erinnerungen einen „Beinahe-Millionär“ nannte. Der junge Buchhandelsgehilfe und spätere Verleger Reinhard Piper (1879 bis 1953) wurde hinzugezogen. Auch der Dichter Paul Ernst (1866–1933) gehörte zeitweise dazu.
Die Gruppe traf sich regelmäßig in der Dachkammer von Arno Holz. Sie war auf die Prinzipien der Holzschen Lyrikkonzeption eingeschworen. Für Arno Holz war sie seine „Schule“. Reinhard Piper nannte die Gruppe umgangssprachlich „Corona“.
Bilder: via Robert Wohlleben für fulgura frango: Das Regiment Sassenbach (1897 bis 1903). Lyrik aus der literarischen Werkstatt um Arno Holz:
- Innenplakat von W. Jordan via Zur Topologie der Motive beim Regiment Sassenbach;
- Gruppenbild um 1900:
Stehend v.l.n.r.: Oskar Jerschke, Robert Reß, Reinhard Piper.
Sitzend rechts: Arno Holz; daneben Emy Reß.
Soundtrack: Lael Neale: Acquainted with Night, aus: Acquainted with Night, 2021.
Fall sich jemand wundert: Das auf dem ganzen Album allfällige Omnichord kennt unsereins noch aus Turaluraluralu aus der Bye Bye 1983 von Trio:
Kirschwasser
Update zu Ein Mann zwischen den Altern,
Denn „sieben, sieben“, flüstert es stets, und „sieben Wochen“ ihm in das Ohr
und Wo bleibt der Tröster?:
Eins der Bonmots, an die man sich gern vom arg vermissten Harry Rowohlt erinnert, streute er gern nach der ersten Flasche Whiskey ein, die er in seinen „Schausaufen mit Betonung“, die als Autorenlesungen angekündigt waren, verbrauchte: „Wir sind ja hier nicht bei Sarah Kirsch.“
Dergleichen Erlebnisse prägen. Sarah Kirsch hab ich daraufhin nie angefasst. Dann geriet ich in einer schlaflosen Radionacht auf einem unbekannt bleibenden Sender in eine Autorenlesung, die von einer ausgesprochen einnehmenden Frauenstimme bestritten wurde. Da las eine versierte Wortwerkerin aus ihren Gedichten und moderierte von einem zum anderen auf einladend muntere Weise, die jederzeit die nötige Selbstironie beibehielt; das Live-Publikum lachte gelegentlich nicht gerade schallend, aber stillvergnügt und von der Vorstellung ordentlich unterhalten. Man wäre gern dabei gewesen. Wie Sie erraten, war es dann laut Abmoderation Sarah Kirsch in der inhabergeführten Buchhandlung eines deutschen Mittelzentrums, wo eben Autorenlesungen so stattfinden.
Harry Rowohlt kriegt natürlich die Stadthallen und entschieden lauteres Gelächter, aber hey, von dem werden wir’s schon noch ein paarmal haben. Es gibt eine Zeit für Whiskey und eine Zeit für preisbewusstes Mineralwasser, auf das ich Frau Kirsch einschätze. Seit ich sie nächtens im Radio lesen gehört hab, wünsche ich mir von ihr den Seitenhieb „Wir sind ja hier nicht bei Harry Rowohlt“, und er würde nicht nach beleidigter Leberwurst klingen, sondern nach verschmitzter Anspielung für lesungsbewanderte Studienräte. Warum sollen die nicht ihre nerdige Gaudi haben?
Heute ist Harry Rowohlt so tot wie Sarah Kirsch, was um beide jammerschade ist. Aber von denen reden wir ja gar nicht, sondern von der Droste, die bei uns ja auch nicht oft genug vorkommen kann. Die immer noch weithin unterschätzte, weil auf ein paar ungeliebte Schullektüren reduzierte Freifrau wird von Frau Kirsch als direktes künstlerisches Vorbild genannt, von ihr stammt eine liebevoll kuratierte, gar nicht so schmale (bei KiWi 560 Seiten) Werkauswahl, an sie selbst ging 1997 der Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe.
Nun ist uns Insidern längst aufgefallen, dass die Droste sich in ihrer Lyrik gern in siebenzeiligen Strophen äußert, was so weit geht, dass sie ein ausgewachsenes Versepos in dieser Bauart konzipiert, angefangen, durchgezogen und abgeschlossen und dann nicht einmal veröffentlicht hat.
Sarah Kirschs früheste Hommage 1973 an das „Geschenk des Himmels“ der Drostin ist vielleicht, vielleicht auch nicht, absichtsvoll siebenzeilig gebaut. Anspielungen, die nicht gleich jeder Nächstbeste auf Anhieb verstehen muss, hätten Frau Kirsch also gelegen. „Das Wasser reichen“ und dann „Schnäpse in unsre Kehlen gießen“ – Harry Rowohlt hätte begeistert sein können. Wir sind halt hier nicht bei der Droste.
——— Sarah Kirsch:
Der Droste würde ich gern Wasser reichen
1973, aus: Zaubersprüche, 1974, Seite 42
Der Droste würde ich gern Wasser reichen
In alte Spiegel mit ihr sehen, Vögel
nennen, wir richten unsre Brillen
Auf Felder und Holunderbüsche, gehen
Glucksend übers Moor, der Kiebitz balzt
Ach, würd ich sagen, Ihr Lewin –
Schnaubt nicht schon ein Pferd?
Die Locke etwas leichter – und wir laufen
Den Kiesweg, ich die Spätgeborne
Hätte mit Skandalen aufgewartet – am Spinett
Das kostbar in der Halle steht
Spielen wir vierhändig Reiterlieder oder
Das Verbotne von Villon
Der Mond geht auf – wir sind allein
Der Gärtner zeigt uns Angelwerfen
Bis Lewin in seiner Kutsche ankommt
Schenkt uns Zeitungsfahnen, Schnäpse
Gießen wir in unsre Kehlen, lesen
Beide lieben wir den Kühnen, seine Augen
Sind wir grüne Schattenteiche, wir verstehen
uns jetzt gründlich auf das Handwerk Fischen
Bilder: Cover Sarah Kirsch, Hrsg.: Annette von Droste-Hülshoff. Werke.
Ausgewählt von Sarah Kirsch, KiWi 1998, via Amazon.de;
Birgitt Elisabeth Morrien für Coaching Blogger: Mit Skandalen aufzuwarten, 14. Juli 2021.
Soundtrack: Stick and Poke: Poison, aus: Lost Kids, 2014:
Blinde Finken (Vorsicht: Geschlossene Familie!)
Update zu Das ihrer wartende Reich der Unschönheit. Nicht auf Hofburgen und in Zaubergärten,
Die junge Gräfin (erzählt neben einem Paar nachbarlichen Würsten)
und Ein ganz anderer Kerl als der Fuchs oder Wolf (so, gerade so bist du):
You will persist in thinking that my happiness depends on my sight.
Wilkie Collins, a. a. O., 1871 f.
Es ergeht Empfehlung für Wilkie Collins. Wie es den besten ergeht, ist der Mann recht obskur geworden; ohne die eine Übersetzung seitens Arno Schmidt wäre er fürs deutsche Literaturgeschehen eine Fußnote für Dickens-Experten. Da hülfe ihm nicht einmal, dass er als Erfinder des Mystery Thriller oder der Sensation novel gilt, je nachdem wen man fragt oder beide voneinander unterscheidet.
Entfernter Verwandter, persönlicher Kumpel und dermaßen wesensnaher Kollege von Charles Dickens, dass sich einer vom anderen so tiefgreifend ins literarische Schaffen dreinreden ließ, bis sie die Anteile der Autorschaft selber nicht mehr auseinanderhalten konnten, siehe unter The Lazy Tour of Two Idle Apprentices et al. Und von Arno-Schmidt-Der-Alles-Weiß nicht allein hochgeschätzt, sondern auf eigenen Vorschlag hin übersetzt, jedenfalls Die Frau in Weiß 1965, und dann noch unter Der Titel aller Titel! Betrachtungen zu Wilkie Collins & seiner ‹Frau in Weiß› 1966 gewürdigt, das muss einer erst mal hinkriegen.
Lucilla erschien als Fortsetzungsroman Poor Miss Finch von Oktober 1871 bis März 1872 in Cassell’s Magazine. In historisch und obskur gewordenen Übersetzungen hieß der Roman unter anderem Die Blinde. Laut Klappentext der bis auf weiteres aktuellen Ausgabe bei Fischer, auch schon wieder von 1971, stufte ihn Richard Gerber im Hessischen Rundfunk einst als „Schmöker“ ein, „dessen Sätze wie ein dunkler, alter Portwein im Queen’s College in Cambridge nach einem angenehm fülligen Mahle wohltuend durch die Seele strömen.“
Leser, die gleich mir solcher Klappentextpoesie misstrauen, finden zur Bedeutung des „Schmökers“ (der für mich beiläufig gesagt eher nach Oxford denn nach Cambridge schmeckt) in den Wilkie Collins Information Pages von Andrew Gasson weit fundierter: Poor Miss Finch:
Poor Miss Finch was published in 1872 and dedicated to Mrs Elliot (Frances Dickinson). Collins returns to the theme of ‚bodily infirmity‘ with this story of a young girl’s temporary recovery of sight ‚exhibiting blindness as it really is.‘
The heroine, Lucilla, has been blind with cataracts from about the age of one. A significant part of the plot is taken up with the efforts of the eccentric but likeable German doctor, Herr Grosse, to restore her sight and his disagreement with the conservative English oculist, Mr Sebright. The operation, unfortunately, is only briefly successful, with Lucilla once again lapsing into blindness.
Collins’s account of her early attempts at seeing, however, represents his careful research and a remarkable awareness of visual psychology and perception. His descriptions of her disorientation, lack of spatial judgement, dislike of dark colours, and her continuing ability to recognise shape and form only by touch all bear a striking resemblance to a 20th century case history of recovery from blindness. This was documented by Richard Gregory and written in 1966, nearly 100 years later.
Initial elation is frustrated by the difficulties of experiencing the real world through sight without the aid of touch. Depression follows, ending in rejection of the newly acquired sense. More unlikely are the clinical premises for Lucilla’s infant cataracts. Most visual development in children occurs up to the age of five. If this is prevented, then vision is usually lost for ever and cannot be regained at a later age. This condition is called amblyopia (or lazy eye). In any event, after cataract surgery thick, high-powered spectacles are almost always necessary to replace the focusing ability of the eye’s natural lens. The extent to which Lucilla recovers lost vision after twenty years, without even the need for spectacles to write her journal is medically almost impossible.
The reading public, however, were convinced and Collins after several requests for the address of the German oculist, Herr Grosse, was obliged to add a note to the second edition that he had ’no (individual) living prototype‘ and was ‚a caricature instead of a character.‘ In order to create the hero’s ‚blue‘ appearance (dyschromia), horrifying to Lucilla after she regains her sight, Collins was forced to rely on a rare and already outmoded type of treatment for epilepsy.
Other details of the novel seem genuinely autobiographical. Collins stayed in Lewes during March 1870; little Jicks and Mrs Finch’s latest child were the same age as Collins’s daughters, Marian and Harriet Dawson.
Über die 450 Druckseiten, die das angeführte Fischer-Taschenbuch einnimmt, kann das sogar Spaß machen. Nehmen wir Collins‘ in Gewande seiner Ich-Erzählerin Mrs. Pratolungo, einer überzeugten französischen Revolutionärin, launige Charakterisierung ganzer Familien. „Finkenkäfig“ war wohl die immer noch holpernde, aber einzig sinnvolle Übersetzung für „finch cage“, das Gefängnis für eine Familie namens Finch:
——— Wilkie Collins:
6. Der Finkenkäfig
aus: Lucilla, i. e. Poor Miss Finch, 1872,
übs. Eva Schönfeld, Henry Goverts Verlag, Stuttgart 1969,
cit. nach Fischer Taschenbuch Verlag 1971/1988, Seite 40 f.:
Nach meinen bisherigen Erfahrungen lassen sich große Familien in zwei Kategorien einteilen: Die eine brilliert in gegenseitiger Bewunderung und Ruhmredigkeit, die andere in gesundem Abscheu. Ich persönlich ziehe die zweite Kategorie vor. Ihre Streitigkeiten werden wenigstens in den meisten Fällen unter Ausschluß der Öffentlichkeit abgemacht, und die Beteiligten sind noch fähig (im Gegensatz zu den Mitgliedern der ersten Kategorie), zuweilen auch die Verdienste blutsfremder Personen anzuerkennen. Reines Sippenbewußtsein artet stets in unterträgliche Arroganz aus. Reden Sie mal inmitten einer solchen Idealfamilie von, sagen wir, Shakespeare, einem immerhin universellen Geist. Sofort wird Sie ein weibliches Familienmitglied darauf aufmerksam machen, daß Shakespeare gegen ‚Papa‘ ein trauriger Ingorant war. Oder Sie gehen mit einem männlichen Familienmitglied spazieren und sagen angesichts irgendeiner Passantin: ‚Was für eine entzückende Erscheinung!“‚ Ihr sippentreuer Begleiter wird Ihre törichte Begeisterung nur belächeln und Sie fragen, ob Sie schon einmal seine Schwester in großer Ballrobe gesehen haben. Kein Mitglied solcher Familien kann auch nur für einen Tag verreist sein, ohne seinen Lieben daheim lange Erlebnisberichte zu schreiben, die dann bei sämtlichen Bekannten mit dem Kommentar ‚Welcher Berufsschriftsteller könnte sich so ausdrücken?‘ herumgereicht werden. Auch in Ihrer Anwesenheit wird ausschließlich über Privatangelegenheiten geredet, denn natürlich setzt man bei Ihnen glühendes Interesse dafür voraus. Sie lachen sich halbtot über ihre Familienwitze und wundern sich über Ihre Humorlosigkeit, weil Sie nicht so recht mitlachen können. Schwestern und Brüder kosen unausgesetzt miteinander, und Ehemänner erkundigen sich liebevoll besorgt vor fremden Ohren nach den Verdauungs- und anderen Beschwerden ihrer Frauen, als befänden sie sich allein in ihrem ehelichen Schlafgemach. Ich hoffe, daß wir bei fortschreitender Zivilisation solche Leute von Staats wegen in Käfige setzen werden. An den Straßenecken werden dann Warnschilder stehen: ‚Vorsicht bei Nummer zwölf! Geschlossene Familie!‘
Ich erfuhr von Lucilla, daß die Familie Finch nicht zu dieser Kategorie gehörte. Ihre älteren Verwandten waren alle seit Jahren so zerstritten, daß sie nicht mehr miteinander sprachen und das Postministerium Ihrer Majestät nicht einmal mit Weihnachts- oder Geburtstagsglückwünschen behelligten.
Bilder: Illustrationen und Covers 1872, via Andrew Gasson: Wilkie Collins Information Pages: Poor Miss Finch.
Soundtrack: June Tabor von der Oysterband mit Mark Emerson und Giles Lewin
auf dem WDR Folkfestival, Köln 1990:
- Bridget O’Malley,
- While Gamekeepers Lie Sleeping,
- Blind Step Away,
- Love Henry/The Cherokee Shuffle:
Blumenstück 009: Hunde reden nicht so viel
Update zu La feuille s’émeut comme l’aile dans les noirs taillis frémissants,
Wie Champagnerschaum das wilde Gelächter (deine Erdbeer- und Himbeerdüfte)
und Das Ungeheuer von Laster, das nicht einmal den Namen Feigheit verdient:
Un bon chien vaut mieux que deux kilos de rats.
Boris Vian.
——— Boris Vian:
9 février 1948,
dans: Cantilènes en gelée, 1949,
Poèmes inédits, 1970,
collection 10/18, page 97,
deutsch in eigener Übersetzung, ca. April 2022:
Bonjour, chien
|
Grüß dich, HundIch erblicke einen Hund auf der Straße |
Image: Ирина Ожерельева: Boris Vian „Bonjour, chien“, 20. April 2019.
Hunde singen Blues: Pink Floyd: Seamus, aus: Meddle, 1971,
als Mademoiselle Nobs ohne Text, weil der zweibeinige Sänger den Mund voll hat,
in den Studios de Boulogne, Paris im Frühling 1972 für Live at Pompeii, 1972:
I was in the kitchen,
Seamus, that’s the dog, was outside.
Well, I was in the kitchen,
Seamus, my old hound, was outside.
Well, the sun sinks slowly
But my old hound just sat right down and cried.
Bitte, diesen Liebesakt mit jedem Atemzug, mit jedem Pulsschlag tausendmal wiederholen zu dürfen (Ich liebe diesen Liebesakt)
Update zu Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten: denn Er ist nicht!,
Über den Kirchplatz mit Lancelot: Die namenlosen Religionen zu Coburg,
Die katholische Zeit hat solche Geschmacklosigkeiten nicht gekannt
und Sollen denn aber bloß diese Kasus in der neu aufblühenden Kunstschule gebildet werden
(wenn wir bei deutscher Mundart bleiben)?:
Jesus, Maria, ich liebe Euch,
rettet Priesterseelen, rettet Seelen
mit der großen Bitte, diesen Liebesakt
mit jedem Atemzug, mit jedem Pulsschlag
tausendmal wiederholen zu dürfen.(Vicariat Rom, Imprimatur N. 26 v. 29.11.2013)
Das neue Gebet des Liebesaktes, a. a. O., 2013.
Das passiert einem nur in Altötting. Meiner verschwimmenden Erinnerung nach lag der Flyer am Schriftenstand der Basilika St. Anna oder der Bruder-Konrad-Kirche aus. Beides nicht die spektakulärsten der Altöttinger Sehenswürdigkeiten, die für die meisten die schwarze Madonna in der Gnadenkapelle und für meine verschrobenen Begriffe das Jerusalem-Panorama wären. Aber ohne die zahlreichen Nebenkirchen des beliebten Wallfahrtsortes abzuklappern hätte man gar nicht erfahren, dass erst allerjüngst verstorbene Mystikerin Frau Justine Klotz eine Blume im Garten des Herrn ist. Das tritt nicht etwa aus den Informationen, die der Flyer bietet, zutage, dazu muss man schon weitergoogeln. Aber den möcht ich sehen, der ein neues Gebet des Liebeskates nicht wenigstens versuchsweise durch die eine oder andere Suchmaschine scheucht. Hat sich das Vikariat Rom vom Bund der Hingabe wohl gedacht. Wer immer das ist, aber mit deren Erlaubnis möchte ich denen lieber nicht noch genauer hinterherforschen.
Leider war ich Ausgetretener nur einen halben Tag in Altötting zugegen, um mein 9-Euro-Ticket auszunutzen, und selbst da hab ich noch Neuötting mitgenommen (und von dort ein Tintenfass Nummer 21 aus dem öffentlichen Bücherschrank. Touristentipp: die drei Kilometer Autobahnzubringersteppe zwischen Alt- und Neuötting nicht ausgerechnet über den Parkplatz des Klinikums abkürzen, sonst finden Sie sich auf dem Pausenhof der Realschule wieder) und war im Russensupermarkt in der Bahnhofstraße einkaufen, weil da die Äpfel 99 Cent das Kilo gekostet haben. Eigentlich müsste ich also nochmal hin, aber das nächste Mal fahr ich vermutlich bis Burghausen durch, weil das die gleiche Zugverbindung ist.
Justine Klotz, Gott hab sie selig, die mir ein freundliches Großmütterchen scheint, hätte dazu wohl in ihrer Nachsicht gegenüber uns fehlbaren Menschen milde gelächelt. Hoffe ich.
——— Bund der Hingabe, Vikariat Rom:
Das neue Gebet des Liebesaktes
aus: Gott spricht zur Seele. Offenbarungen an Justine Klotz (1888–1984),
Heft 1: Der Liebesakt: Der sichere Weg zur Erneuerung,
Pro manuscripto, Alleanza di Donazione 2017
cit. nach Flyer: Das Gebet des Liebesaktes als Faltblatt A5, 2019, Auflage 29. November 2013:
Im Folgenden eine kleine Auswahl aus den Verheißungen Jesu an Justine Klotz (1888–1984) über das Gebet des Liebesaktes:
(Jesus): „Betet mit großem Vertrauen! Der Liebesakt ist ein Vertrauensakt in höchstem Ausmaß. Den Tag immer so anfangen und nicht anders aufhören! Das Wort „Tausend“ gebe Ich euch zum Geschenk. Es war noch nie so. Beachtet das! Es ist eine Liebesgabe Meiner Gottesseele. Es ist immer ein Weiheakt an Meine Liebe, soviel wie ein Festgottesdienst. Die Engel werden das „Heilig“ anstimmen und Meiner Liebe lobsingen, wie nie zuvor. Es sind oft höchste Engel dabei.
Ihr wisst gar nicht, was ihr da tut. Es ist ein Sold an Meine Liebe. Meine Liebe ist eine rettende Liebe, die Ich austeilen darf, unbegrenzt! Ihr seid von GOTT angeworben, was mit Liebe geschah, zu einem außerordentlichen Tun. Atmet mit dieser Liebe im Herzen und der Teufel hat keinen Zugang mehr. Du kannst Liebe einatmen und ausatmen. Bald wird die Bosheit zurückweichen. Es wird wieder licht in den Seelen, so wird es von Mir geschaut und vollzogen. Ich bin es selbst, der diesen Weg aufzeigt und zur Gnade führt.
Es ist an jede Seele ein Gnadengeschenk von großem Ausmaß: Der Sieg Meiner Mutter. Ich gab für sie den Liebesakt, so unbegrenzt, für jeden und immer. Die Mutter hat Scharen von Engeln, die sie aussendet, ihren Kindern im Kampf beizustehen. Keiner ist mit dem Liebesakt allein, es beten viele zugleich. Das sind Meine Turmwächter. Kein Priester wird ohne den Liebesakt sterben, der ihn verbreiten hilft und selber betet. Ein immer währendes Opfer. Schon wenn ihr daran denkt, kann Ich viele Seelen retten.
Lebe dein Leben in Liebe! – LIEBE für LIEBE! – Ich gebe sie dir brennend zurück. Noch ist die Zeit. – Ich habe das Tor der Liebe geöffnet, als Ich den Schlüssel dem Petrus übergab. – Und dies geschah im Geiste durch Meine Worte. Er regiert die ganze Kirche, so viel Macht haben Meine Worte. –
Niemand hat solche Worte – und so viel Gnaden auszustreuen! Alles wird lebendig und voller Licht und Ich bin da und gegenwärtig, so dass Mich keiner sieht.
Mein ganzes Wirken war in der DEMUT verborgen.
Glaube jedes Wort, die ganze Liebe ist darin gefasst. Auf euch kommt es an, den Weg zu bereiten. – Es ist eine Siegesbotschaft vom Engel des Herrn. Dieser Liebesakt ersetzt alles, was heute versäumt wird. Es sind lauter Bausteine. – Es wird sein, wie ein warmer Südwind, der das Eis schmelzen lässt. Sie alle werden mit einbezogen in diesen Liebesakt. Darum soll man ihn verbreiten und verbreiten lassen, vorerst noch insgeheim. Es wird eine riesige Flamme werden. Ich verspreche es dir. Ihr wisst gar nicht, was ihr da tut. Diese Liebe wird der Atemzug jeder Seele sein. Viele Seelen kehren dadurch heim. Das ist ein ganz verborgenes Licht, vor dem Teufel abgeblendet, für immer, ohne dass er es ergründen kann. Viele Herzen werde Ich dafür neu erschließen, die schon erstarrt sind. Die Menschheit ist tief gesunken, nur Meine Barmherzigkeit kann sie noch retten. Darum gab Ich den Liebesakt. Wie werde Ich die Seelen beschenken! Es ist ein Aufruf zur Gnade. –
Ich liebe diesen Liebesakt. Ich habe ihm große Gnaden verliehen. Gnade bringt Liebe. – Es ist ein leuchtender Weg. Liebe ohne Maß! Soviel Macht gab Ich den Seelen mit diesem Liebesakt. Ihr wisst nie, was die Seele tut und tun kann.
Wir werden dem Teufel Herr werden bis in ungeahnte Tiefen.
Jeder kann dazu beitragen. Der Liebesakt ist schon der Anfang. Er ging von Meinem Herzen aus. Der Teufel kam, um die Welt zu vernichten. Die Macht der Seelen ist stärker. Darum schließt Euch an! Seid ihr nicht Tempel des Geistes vom Vater gewollt? So war die Mutter gekrönt, euch Hilfe zu bringen.
Kämpft mit den Waffen des Geistes! Ich umgürte die Lenden unaufhaltsam, dem Satan entgegen. Nehmt diesen Schutz an! Er kann Euch nicht genommen werden. Ich will Eure Lenden gürten, denn Gehorsam ist Liebe, die von Mir ausging, den Vater zu ehren.
Es wird sich immer wiederholen, bis das Tausend voll ist.
Nehmt die Lampe der Liebe, die Ich neu entzündet habe. Tragt sie dem Bruder entgegen. Wer liebt, rettet, wer rettet, liebt! Das sind die Zeiger dieser Uhr. Sie gehen rund um Mein Herz. Das sind Meine Herzschläge, so ist der Liebesakt an Mich angeschlossen. Das sind Meine eigenen Herzschläge und niemand kann diese Uhr zum Stehen bringen. Das Gegenteil ist der Fall: Sie finden Widerhall im Petersdom! Auch diese Uhr geht nicht zurück. Man wird ihn auf der ganzen Welt verbreiten. Die ganze Welt wird aufhorchen.
Jeder Liebesakt zündet, wie nie zuvor. Jeder wird Mich empfangen, bis alle eins geworden. – Würde ihn jede Seele nur einmal am Morgen und am Ende des Tages wieder nur einmal beten, wären die Tausend vollzählig angenommen, wie jeder Regentropfen in das Meer fällt und keiner wäre herauszufischen. Wer betet, liebt – wer liebt, betet!
So rücke Ich Meine Barmherzigkeit ans Licht. Ja noch mehr: Es ist wie eine Zündschnur, die an die Lichtleitung angeschlossen wird, die immer und immer überall dieselbe Wirkung erzeugt.
Ihr könnt ja die Liebe nicht fassen, darum nehmt den Liebesakt so für die ganze Welt an, die so erkaltet ist. Das ist die Sonne, das Licht gegen die Finsternis. Die Sünde kann sich nicht mehr ausbreiten, wo er gebetet wird. Ich gab ihn euch durch die Mutter als Geschenk, und zwar für jeden gleich groß. – Denkt an die Hochzeit zu Kana, Ich selbst bin der Bräutigam, durch das Wunder, das dort geschah.
Dieser Liebesakt soll eine Gemeinschaft bilden. Ich will euch diese Liebe zuteilen. Ich bin mitten unter euch – ein Liebender!
Ich will dem Teufel die Macht zerschlagen mit dem Liebesakt. Ich zeigte dir, wie der kleine David mit Kieselsteinen dem Kampf entgegenging und ihr habt den Liebesakt tausendfach vermehrt. Ich will euch den Wert zeigen. Seelen, Seelen! Ein Wehruf Meiner Liebe! Der Tod muss diesen Seelen weichen, weil Liebe nicht sterben kann. Das Kreuz ist zum Sieg geworden.“
Bilder: Das Gebet des Liebesaktes als Faltblatt A5, 2019;
Jesus, Maria, ich liebe Euch! Rettet Seelen. Messages from Heaven to the german Mystic Justine Klotz:
Der Liebesakt, der sichere Weg zur Erneuerung, o. J.
Mut zur Schnulze: Golden Shoulders: I Will Light You On Fire, aus: Friendship Is Deep, 2004:
Vom Schnöseln und Bröseln (100 % Zitate von Frauen)
Update zu Wenn Schnee bedeckt mein Haar einmal,
Wenn er vom Blocksberg kehrt und
Umgestülpte Teufel (und Kryptonit für Circe):
Die Freifrau Marie Ebner von Eschenbach, geborene Marie Dubský von Třebomyslice, wurde 85 Jahre alt. Das ist als erste und einzige Information über eine bedeutende und gar nicht mal so langweilige Schreiberin, die man, skandalös genug, hautsächlich für ihre Lösungssätze für Kreuzworträtsel kennt, in geradezu undankbarer Weise mager, aber für die Kontrafaktur von Stephan Katz und Max Goldt, vulgo Katz & Goldt, mehr als ausreichend.
——— Marie von Ebner-Eschenbach:
von Katz & Goldt 2020 zugeschrieben:
„Jungen Damen möchte tunlichst angeraten sein, nicht den Dorfschulzen gleich unter den Linden zu raufen.“
„Der Honigtau der Läuse nämlich, Todestau wohl auch genannt, die an den Linden saugen, verklebt nicht nur die Kutsche, sondern gleichsam das Haar.“
„Wir schnöseln und bröseln und scheiden und schwinden in buntesten Zeiten und verenden doch immer im am wenigsten Bunten, genaulich dem Weißen.“
100 % Zitate von Frauen. Zwar nur von einer, aber diese eine, die hatte es echt drauf, und das bereits im 19. Jahrhundert! Die wurde uralt und hat nur tolle Sachen gesagt! Das ganze lange Leben lang!
——— Katz & Goldt:
Vom Scheiden und Schwinden in buntesten Zeiten
2020:
Comic: Katz & Goldt: Vom Scheiden und Schwinden in buntesten Zeiten, 2020.
Topic Track: Inspirierende Zitate: Bis heute aktuelle Zitate von Marie von Ebner Eschenbach, 1. März 2022:
Soundtrack (zwar nur von einer, aber diese eine, die hat es echt drauf):
Jessie Williams: Devil of a Woman, aus: Trigger Happy Shedneckz, 2013:
Was singelt ihr und klingelt im Sonetto?
Update zu so net,
Ich will mich wie mein Schwanz erheben,
Um meiner Mannheit Tiefgang auszuloten
und Und vierzehn Gräser formen ein Sonett:
Als das Sonett, der gebürtige Italiener, dem Gefühl nach trotz il sonetto eigentlich eine Italienerin, in der deutschsprachigen Literaturproduktion ankam, war es praktisch sofort ein beliebter Gegenstand seiner eigenen Persiflage. Wo man sich den Homer-Voß immer so versteinert ernst wie eine antike Statue vorstellt und ihm nicht einmal ganz und gar unheroische Idyllen zutraut, geschweige denn übermütige Priapismen oder Klanggedichte um der spaßhaften Form willen.
Die Wiedergabe der dreisätzigen Klingsonate in Wilhelm Wackernagel, Hrsg.: Deutsches Lesebuch. Zweyter Theil, Schweighauserische Buchhandlung, Basel 1836 scheint mir mit ihrer antiquierten Rechtschreibung die zuverlässigste, was uns leider kein gültiger Beweis sein darf — vor allem sie weil das Singeln und Klingeln aus dem Maestoso zu einem „Singen“ und Klingeln hyperkorrigiert. Als Satzfehler werte ich das, weil das Grimmsche Wörterbuch singeln mit der Belegstelle von Voß anführt.
Mein Einwand gegen die Komposition war, dass es ein poets‘ poem ist, weil Voß in der Meta-Form stecken bleibt, statt sich kurioser Gegenstände anzunehmen, die seiner durchaus raffinierten Gussform entsprechen. Wahrscheinlich mein Fehler: ist man doch schon zu sehr daran gewöhnt, auf Kinderkram mit absichtsvoll niederen Gegenständen zu stoßen, wie sie die meisten Großrecken der Hochliteratur zuzeiten ihren Enkelchen und Nachbarskindern gestiftet haben. Außerdem kann einen der letzte Reim der Trilogie mit ziemlich vielem versöhnen.
Und noch äußererdem war ich in Bildmaterial und Soundtrack frei, weil das Trall-Lall-Lied keinen Inhalt hat, an den man sich halten müsste, ja auch nur könnte. Da konnte man gleich was Lustiges nehmen: Mädchenduos.
——— Johann Heinrich Voß:
Klingsonate
1808:
Grave.
Mit
Prall-
Hall
Sprüht
Süd-
Tral-
Lal-
Lied.
Kling-
Klang
Singt;
Sing-
Sang
Klingt.
Scherzando.
Aus Moor-
Gewimmel
Und Schimmel
Hervor
Dringt, Chor,
Dein Bimmel-
Getümmel
In’s Ohr.
O hœre
Mein kleines
Sonett.
Auf Ehre!
Klingt deines
So nett?
Maestoso.
Was singelt ihr und klingelt im Sonetto,
Als hätt‘ im Flug‘ euch grade von Toskana
Geführt zur heimathlichen Tramontana,
Ein kindlich Englein, zart wie Amoretto?
Auf, Klingler, hört von mir ein andres Detto!
Klangvoll entsteigt mir ächtem Sohn von Mana
Geläut der pomphaft hallenden Kampana,
Das summend wallt zum Elfenminuetto!
Mein Haupt, des Siegers! krœnt mit Ros‘ und Lilie
Des Rhythmos und des Wohlklangs holde Charis,
Achtlos, o Kindlein, eures Larifari’s!
Euch kühl‘ ein Kranz hellgrüner Petersilie!
Von schwülem Anhauch ward euch das Gemüth heiß,
Und fiebert, ach! in unheilbarem Südschweiß!
Bilder: Maria Memet: Quiet Moments, RektMag, 24. Okober 2016;
Mannheim Girls Hi Life: Funny and Cheeky Life, 10. Juli 2021
und einmal jegliche Credits vollständig unbekannt. Weiß jemand was?
Mädchenduett: The Secret Sisters: Tennessee Me, aus: The Secret Sisters, 2010::
Neruda hungert im Ödland von Quitratúe
Update zu Keine Geschichte über Blut, Krieg und Verwandlungen,
Wie man sich eine Schrift besieht und
Weil er bei den Mahlzeiten so entsetzlich isset:
Mit Pablo Neruda bin ich leider nie richtig warm geworden, obwohl ihm in der Zeit meiner künstlerischen Bewusstwerdung eine wunderschöne dreibändige Augabe gewidmet war, die gesamte Lyrik in drei beeindruckend umfänglichen Bänden. Luchterhand 1984, sind seither selten und teuer geworden. Nerudas Mischung aus Liebesgetön und chilenischer Landespolitik mag dem Heranwachsenden etwas unzugänglich erscheinen, aber das ist nicht des schätzbaren Herrn Nerudas Schuld.
In letzter Zeit kursieren von seinen Gedichten gelegentliche Auswahlen von eher schmückender Funktion und Kenntnisse alternder Studienräte, die 1984 auf dem Nürnberger Bardentreffen immer zu den Ethno-Bands aus Nicaragua gegangen sind und sich die Luchterhand-Ausgabe leisten konnten. Dabei hat Neruda außer einigen nicht ganz ungenießbaren Gedichten eine nachvollziehbare poetologische Auffassung der Poésie impure, 1935 , übersetzt von Hans Magnus Enzensberger in: Text und Zeichen, Heft 1/1955:
[…] So soll die Dichtung aussehen, die wir suchen: verwüstet von der Mühe der Hände wie von einer Säure, vom Schweiß und von Rauch durchdrungen, eine Dichtung, die nach Urin und nach weißen Lilien riecht, eine Dichtung, in der eine jede Verrichtung des Menschen, erlaubt oder verborgen, ihre Spuren hinterlassen hat.
Eine Dichtung, unrein wie ein Anzug, wie ein Körper, von Speisen befleckt, eine Dichtung, die Handlungen der Scham und der Schande kennt, Träume, Beobachtungen, Runzeln, schlaflose Nächte, Ahnungen; Ausbrüche des Hasses und der Liebe; Tiere, Idyllen, Erschütterungen; Verneinungen, Ideologien, Behauptungen, Steuerbescheide.
Die geheiligte Vorschrift des Madrigals; die Gesetze des Tastens, Riechens, Schmeckens, Sehens und Hörens; das Verlangen nach Gerechtigkeit; das sexuelle Verlangen; das Geräusch des Meeres; ohne die Absicht, irgend etwas auszuschließen, ohne die Absicht, irgend etwas gutzuheißen; der Eintritt in die Tiefe der Dinge in einem Akt jäher Liebe, und das dichterische Produkt: von Tauben, von Fingerabdrücken besudelt, mit den Spuren von Zähnen und Eis übersät, möglicherweise angenagt von Schweiß und Gewohnheit, bis es die zarte Glätte eines rastlos geführten Werkzeugs, die überaus harte Sanftmut von abgenutztem Holz, von hochmütigem Eisen erreicht hat. Auch die Blume, den Weizen und das Wasser zeichnet diese Tastbarkeit, diese einzigartige Konsistenz aus. […]
Das ist selbst schon fast lyrisch; Neruda scheint seine Poetologie also zu vertreten und zu leben. Auf dem einen oder anderen Wege ist mir eins seiner Cien sonetos de amor, das ist: Hundert Sonette über die Liebe zugelaufen, nämlich die Nummer XI, das ist: 11, die er seiner nachmaligen dritten Ehefrau Matilde Urrutia schenkte. Auf dem Buchmarkt ist die Sammlung seit 1998 präsent als Hungrig bin ich, will deinen Mund, das ist: eine Auswahl von 68 aus den 100. Markus Müller formuliert es in Nerudas Ode an die Liebe. Große Lücke in der Übersetzung des Werkes des Nobelpreisträgers geschlossen in den Lateinamerika Nachrichten 284, Februar 1998 so:
Bis auf die Wahl des Titels „Hungrig bin ich, will deinen Mund“, der leider an Klaus Kinskis gar nicht erhabene Adaptation Villons „Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund“ erinnert, ist dem Übersetzer und Herausgeber Fritz Rudolf Fries ein großartiger Wurf gelungen.
Die genannte Lücke bestand offenbar bis 1998, also lange nach der Luchterhand-Ausgabe. Dabei wird Sonett XVII in Patch Adams von Tom Shadyac 1998 an mehreren Stellen zitiert, unter anderem der ikonischen Beerdigungsszene; Sonett XII erscheint 2002 in einem Bollywood-Fetzen, dem ich lieber nicht näher nachspüren möchte, beim ersten Treffen in einer Bar und später noch einmal als gleich doppeltes Zitat; und Sonett XVII erscheint vollständig in der Folge The Naked Man von How I Met Your Mother, vierte Staffel 2008.
Mir selbst liegen weder der große dicke Luchterhand noch die Auswahlübersetzung von Rudolf Fries 1998 vor, und mit Verlaub, ohne Herrn Neruda oder seinen Verfechtern nahe zu treten, beabsichtige ich vorerst weder Geld noch Regalmeter an ihn zu wenden.
Deshalb war eine eigene Übersetzung fällig. Ich war so frei, die Metaphern mit „essen“ und „fressen“ zurückzufahren, weil sie in der Ballung unangemessen kannibalistisch wirken. Die formale Bindung besteht aus fünf Vershebungen mit jambischem Auftakt; reine Jamben oder schöner: Daktylen waren ohne inhaltliche Verluste nicht durchzuhalten. Das „Ödland“ aus einer bestehenden Version war zu schön, um es um meiner eigenen Originalität willen links liegen zu lassen, und „herumspüren“ ist das, was nicht gerade ein Puma, aber immerhin Mephisto angesichts Gretchens Zimmer tut.
Und nein, ich kann kein Spanisch. Aus den Vorlagen einer Google-Übersetzung auf Deutsch und Englisch und den Resten eines Latinums lässt sich heute viel machen, aber ich werde mich bereitwillig über Fehler und Stilblüten belehren lassen.
——— Pablo Neruda:
aus: Cien sonetos de amor, 1959:
Soneto XI
|
Sonett XI
|
Haben die Haare schön: Cover Pablo Neruda: Cien sonetos de amor, 1959;
Silvia Sala, Bergamo, 17. Oktober 2013 und 3. Mai 2012,
aus: Self Portraits.
Soundtrack aus dem modernen Chile: Fother Muckers: A la primera, aus: No Soy Uno, 2007:
Fruchtstück 0005: Opening a can of sardines can be an art
Update for Katerladen and
Dornenstück 0003: Junge Mädchen mit Mündern wie Barrakudas und Körpern wie Zitronenbäume:
——— Charles Bukowski:
Style
c. 1972:
Style is the answer to everything.
A fresh way to approach a dull or a dangerous thing.
To do a dull thing with style is preferable to doing a dangerous thing without it.
To do a dangerous thing with style is what i call art.Bullfighting can be an art,
Boxing can be an art,
Loving can be an art,
Opening a can of sardines can be an art.Not many have style.
Not many can keep style.
I have seen dogs with more style than men,
although not many dogs have style.
Cats have it with abundance.When Hemingway put his brains to the wall with a shotgun,
that was style.
Or sometimes people give you style
Joan of Arc had style,
John the Baptist,
Christ,
Socrates,
Caesar,
García Lorca.I have met men in jail with style.
I have met more men in jail with style than men out of jail.
Style is the difference, a way of doing, a way of being done.
Six herons standing quietly in a pool of water,
or you, naked, walking out of the bathroom without seeing me.
Image: RapidHeartMovement: :behind the scenes:, November 7th, 2015,
via Ahmad Mahbouba, in: Charles Bukowski, Facebook, March 12th, 2022.
Das Ungeheuer von Laster, das nicht einmal den Namen Feigheit verdient
Update zu Weder Schuh und weder Strümpf (und einen Striffel um den Hals),
Ein Haufen belebter Maschinen, welche von der Natur hervor getrieben worden wären, für sie zu arbeiten,
Gefühl kann man zu Markt nicht bringen, doch Manuskripte jederzeit,
Адвент 1: Über Nacht bin ich tot
und Makkaroni, Melonen und Feigen, musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine commode Religion:
Je mehr sie zerstören und plündern, je mehr man ihnen gibt und je mehr man ihnen dient, desto stärker und kraftvoller, alles zu zernichten und zu zerstören, werden sie; aber sobald man ihnen nichts mehr gibt, sobald man ihnen nicht mehr gehorcht, stehen sie, ohne dass es weiterer Gewalttätigkeit bedarf, nackt und kraftlos da und sind nichts mehr und dörren ab, gleich der Pflanze, welcher man die Feuchtigkeit und Nahrung entzogen hat.
Das schreibt Étienne de La Boétie 1548 über Tyrannen, was wir auf heutige Verhältnisse übersetzen dürfen: über jegliche übergeordnete Instanzen, die ein freies Subjekt regieren.
Als Grundaussage halten wir fest: Tyrannei, ja jede Form der Bevormundung wäre nicht möglich ohne jemanden, der sie zulässt, also eine gewisse Freiwilligkeit. Was von den falschen Händen zur Täter-Opfer-Umkehr, vulgo Victim blaming im Munde herumgedreht werden kann, ist als Grundkonstellation gut durchbegründet und hat, ob La Boétie recht hat oder nicht, schon als theoretische Möglichkeit etwas Befreiendes. Trotzig aufkeimend erreicht uns hier eine Auffassung, ohne die eine Französische Revolution nicht mögllich gewesen wäre.
Das alte Paradox: Wenn es jeder lesen würde, hätte es niemand schreiben müssen. Was ein vielleicht sechzehn-, vielleicht achtzehnjähriger Franzose ungefähr im Jahr 1548 auf seinem heißen Herzen hatte, muss man uns Heutigen wieder als „zeitlos“ und „hochaktuell geblieben“ andienen – aber so hat es sich ergeben: Jemand musste es sagen.
Insofern ist es wieder typisch, dass der Discours de la servitude volontaire, in deutschen Abhandlungen gern als die Abhandlung apostrophiert, Wikipedia-Artikel in elf Sprachen hat, nur keinen in der deutschen – und ich bin fürs erste auch zu faul, einen anzulegen. Beziehen wir uns also auf den quasi-originalen: Der Volltext jener Abhandlung ist leider noch auf dem Stand vom Mai 2017 mangelhaft durch Quellen oder externe Links belegt – und nie perfekt, aber oft brauchbar übersetzt von Google.
In seiner Vergangenheit ist es nicht mit Sicherheit nachzuverfolgen, kann aber gut sein, dass erst Michel de Montaigne in seinem Essai Buch 1, Nr. XXVIII De l’amitié, der sehr viel weiter verbreitet ist und nachdrücklicher auf Details durchforscht wird, die revolutionäre Schrift seines drei Jahre älteren, in der Rückschau kleiner gebliebenen, aber besten Freundes La Boétie für das Interesse der Nachwelt gerettet hat. Dafür spricht Montaignes anrührende Beschreibung eines verlorenen Alter ego, das man biographisch als niemand anders denn La Boétie einordnen kann. Vor die Welt die Abhandlung zuerst nur fragmentarisch in der noch weithin geläufigen Lingua franca Latein 1574, die erste deutsche Übersetzung entstand 1593.
Empfohlene Würdigungen und Fachliteratur kommen von
- Tilo Gräser: Wider die freiwillige Knechtschaft, Rubikon, 13. November 2020, und
- Sieglinde Geisel: Die Macht der Verweigerung, tell. Magazin für Literatur und Zeitgenossenschaft, 26. Februar 2022.
Die Übersetzung von Johann Benjamin Erhard als Ueber freiwillige Knechtschaft und Alleinherrschaft steht sogar noch in einem zweiten Scan online jedem, den es interessiert oder nicht, zur Verfügung. Allerdings ist das kein ernsthafter Ersatz für die wunderschöne, engagierte und wünschenswert mit allem möblierte Ausgabe Étienne de La Boétie: Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft, vollständige Ausgabe bei Limbus Preziosen, Nachwort Bernd Schuchter, 88 Seiten. Kleinformat, Limbus, Innsbruck 2019.
If you like it, buy it — nein: Si vous l’aimez, achetez-le. Es folgt eine gemeinfreie, vollständige deutsche Version:
——— Étienne de La Boétie:
Von der freiwilligen Knechtschaft des Menschen
ca. 1548, ca. 18-jährig,
Übs. Gustav Landauer, 1910:
Vorbemerkung des Übersetzers
Étienne de La Boëtie hat von 1530 bis 1563 gelebt; die vorliegende Schrift ist vor dem Jahr 1550 von ihm verfaßt worden, vor mehr als 360 Jahren also. Sie kursierte schon bei Lebzeiten des jungen Verfassers, der in seiner Verborgenheit blieb, in Abschriften; eine solche Abschrift kam in die Hände Michel Montaignes, der darum seine Bekanntschaft suchte und sein Freund wurde. Den revolutionären Republikanern, die in den nächsten Jahrzehnten in England, den Niederlanden und Frankreich gegen den Absolutismus kämpften und die man die Monarchomachen nennt, muß die Schrift wohl bekannt gewesen sein. Aus dem Kreise dieser französischen Revolutionäre des 16. Jahrhunderts heraus ist sie auch zuerst gedruckt worden – gegen Montaignes Willen, dessen widerspruchsvolle Äußerungen auf seine behutsame Vorsicht zurückzuführen sind. Diese Herausgeber gaben der Schrift den treffenden Namen „Le Contr’un“, der sich nicht ins Deutsche übersetzen läßt; den Sinn würde wiedergeben die Fremdwörterübersetzung: Der Anti-Monos, wobei unter Monos eben der Eine, der Monarch zu verstehen wäre, als dessen grundsätzlicher Gegner der Verfasser auftritt. Später ist die Abhandlung dann doch von den Herausgebern von Montaignes Essais anhangsweise dem Essai über die Freundschaft, der zu großem Teil Etienne de la Boëtie gewidmet ist, beigegeben, aber immer nur als eine Art literarisches Kuriosum betrachtet worden, bis in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Lameunais die politische Bedeutsamkeit der grundlegenden Schrift erkannte. Näheres über den Zusammenhang, in den diese einzige Erscheinung gehört, habe ich in meinem Buche „Die Revolution“ gesagt.
Gustav Landauer
Feigheit
i>“Mehrern Herren untertan sein, dieses find‘ ich schlimm gar sehr, Nur ein einziger sei Herrscher, einer König und nicht mehr“, so sagt Ulysses bei Homer vor versammeltem Volke. Hätte er nur gesagt: „Mehreren Herren untertan sein, dieses find‘ ich schlimm gar sehr“, so wäre das eine überaus treffliche Rede gewesen; aber anstatt daß er, wenn er mit Vernunft reden wollte, gesagt hätte, die Herrschaft von mehreren könnte nichts taugen, weil schon die Gewalt eines einzigen, sowie er sich als Herr gebärdet, hart und unvernünftig ist, fuhr er gerade umgekehrt fort:
„Nur ein einziger sei Herrscher, einer König und nicht mehr.“
Immerhin jedoch kann Ulysses entschuldigt werden; etwa mußte er diese Sprache führen und sie klüglich benutzen, um die Empörung des Kriegsvolks zu sänftigen; mich dünkt, er hat seine Rede mehr den Umständen als der Wahrheit angepaßt. Um aber in guter Wahrheit zu reden, so ist es ein gewaltiges Unglück, einem Herrn untertan zu sein, von dem man nie sicher sein kann, ob er gut ist, weil es immer in seiner Gewalt steht, schlecht zu sein, wenn ihn das Gelüste anwandelt; und gar mehrere Herren zu haben, ist gerade so, als ob man mehrfachen Grund hätte, gewaltig unglücklich zu sein. Gewißlich will ich zur Stunde nicht die Frage erörtern, die schon mehr als genug abgedroschen ist; ob nämlich die andern Arten der Republiken besser seien als die Monarchey. Wenn ich darauf kommen wollte, dann müsste ich, ehe ich ausforschte, welchen Rang die Monarchey unter den Republiken haben soll, erst ausmachen, ob sie überall einen haben darf, denn es ist schwerlich zu glauben, daß es in dieser Form der Regierung, wo alles Einem gehört, irgendwas von gemeinem Wesen gebe. Aber diese Frage bleibe einer andern Zeit überlassen und müßte wohl in einer sonderlichen Abhandlung geprüft werden wobei ich freilich fürchte, daß die politischen Streitigkeiten alle miteinander aufs Tapet kämen.
Für dieses Mal will ich nur untersuchen, ob es möglich sei und wie es sein könne, daß so viele Menschen, so viele Dörfer, so viele Städte, so viele Nationen sich manches Mal einen einzigen Tyrannen gefallen lassen, der weiter keine Gewalt hat, als die, welche man ihm gibt; der nur soviel Macht hat, ihnen zu schaden, wie sie aushalten wollen; der ihnen gar kein Übel antun könnte, wenn sie es nicht lieber dulden als sich ihm widersetzen möchten. Es ist sicher wunderbar und doch wieder so gewöhnlich, daß es einem mehr zum Leid als zum Staunen sein muß, wenn man Millionen über Millionen von Menschen als elende Knechte und mit dem Nacken unterm Joch gewahren muß, als welche dabei aber nicht durch eine größere Stärke bezwungen, sondern (scheint es) lediglich bezaubert und verhext sind von dem bloßen Namen des EINEN, dessen Gewalt sie nicht zu fürchten brauchen, da er ja eben allein ist, und dessen Eigenschaften sie nicht zu lieben brauchen, da er ja in ihrem Fall unmenschlich und grausam ist. Das ist die Schwäche bei uns Menschen: wir müssen oft der Stärke botmäßig sein; kommt Zeit, kommt Rat; man kann nicht immer der Stärkere sein. Wenn demnach eine Nation durch kriegerische Gewalt gezwungen ist, Einem zu dienen, wie die Stadt Athen den dreißig Tyrannen, dann darf man nicht darüber staunen, daß sie dient, sondern darf nur das Mißgeschick beklagen: oder man soll vielmehr nicht staunen und nicht klagen, sondern das Übel geduldig tragen und ein besseres Glück in der Zukunft erwarten.
Unsre Natur ist also beschaffen, daß die allgemeinen Pflichten der Freundschaft ein gut Teil unsres Lebens in Anspruch nehmen; das Gute, das man von Einem empfangen hat, dankbarlich zu erkennen und oft auf ein Teil seiner Bequemlichkeit zu verzichten, um die Ehre und den Gewinn dessen, den man liebt und der es verdient, zu erhöhen. Wenn demnach die Einwohner eines Landes eine große Persönlichkeit gefunden haben, einen Mann, der die Probe einer großen Voraussicht, um sie zu behüten, einer großen Kühnheit, um sie zu verteidigen, einer großen Sorgfalt, um sie zu leiten, bestanden hat; wenn sie um dessentwillen sich entschließen, ihm zu gehorsamen und ihm dergestalt zu vertrauen, daß sie ihm etliche Vorteile über sich einräumen, so weiß ich nicht, ob das klug wäre, insofern man ihn von da wegnimmt, wo er gut tat, und ihn an eine Stelle befördert, wo er schlimm tun kann: aber gewiß ist es der menschlichen Güte zu Gute zu halten, daß sie von einem solchen nichts Schlimmes fürchten mag, der ihr nur Gutes getan hat.
Aber mein Gott! was kann das sein? wie sagen wir, daß das heißt? was für ein Unglück ist das? oder was für ein Laster? oder vielmehr was für ein Unglückslaster? Daß man nämlich eine unendliche Zahl Menschen nicht gehorsam, sondern leibeigen sieht; nicht geleitet, sondern unterjocht; Menschen, die nicht Güter noch Eltern, noch Kinder, noch ihr eigenes Leben haben, das ihnen selber gehört! Daß sie die Räubereien, die Schindereien, die Grausamkeiten nicht einer Armee, nicht einer Barbarenhorde, gegen die man sein Blut und sein Leben kehrt, dulden, sondern eines einzigen Menschleins, das oft gar der feigste und weibischste Wicht in der ganzen Nation ist; eines Menschen, der nicht an den Pulverrauch der Schlachten, sondern kaum an den Sand der Turnierspiele gewöhnt ist; nicht eines solchen, der gewaltiglich Männer befehligen kann, sondern eines solchen, der ein jämmerlicher Knecht eines armseligen Weibchens ist! Werden wir das Feigheit nennen? Werden wir sagen, daß diese Knechte Tröpfe und Hasen sind? Wenn zwei, wenn drei, wenn vier sich eines Einzigen nicht erwehren, dann ist das seltsam, aber immerhin möglich; dann kann man schon und mit gutem Recht sagen, es fehle ihnen an Herzhaftigkeit; wenn jedoch hundert, wenn tausend unter einem Einzigen leiden, dann sagt man doch wohl, daß sie sich nicht selbst gehören wollen, nein, daß sie es nicht wagen; und das nennt man nicht mehr Feigheit, sondern Schmach und Schande. Wenn man aber sieht, wie nicht hundert, nicht tausend Menschen, sondern hundert Landschaften, tausend Städte, eine Million Menschen sich eines Einzigen nicht erwehren, der alle miteinander so behandelt, daß sie Leibeigene und Sklaven sind, wie könnten wir das nennen? Ist das Feigheit?
Von der Freiheit und Trägheit eines Volkes
Alle Laster haben ihre natürlichen Grenze, die sie nicht überschreiten können: zwei Menschen, vielleicht auch noch zehn, können Einen fürchten; aber wenn tausend, wenn eine Million, wenn tausend Städte mit Einem nicht fertig werden, dann ist das keines Weges Feigheit; soweit geht sie nicht; ebenso wenig wie sich die Tapferkeit so weit erstreckt, daß ein Einziger eine Festung stürmt, eine Armee angreift, ein Königreich erobert. Welches Ungeheuer von Laster ist das also, das nicht einmal den Namen Feigheit verdient? das keinen Namen findet, weil die Natur keinen so scheußlichen gemacht hat, weil die Zunge sich weigert, ihn auszusprechen?
Man stelle fünfzigtausend bewaffnete Männer auf eine Seite und ebenso viele auf die andere; man ordne sie zur Schlacht; sie sollen handgemein werden: die einen sollen freie Männer sein, die für ihre Freiheit kämpfen, die andern sollen ausziehen, um sie ihnen zu rauben: welchen von beiden wird vermutungsweise der Sieg in Aussicht zu stellen sein? Welche, meint man, werden tapferer in den Kampf gehen? Diejenigen, die zum Lohne für Ihre Mühen die Aufrechterhaltung ihrer Freiheit erhoffen, oder diejenigen, die für die Streiche, die sie versetzen oder empfangen, keinen andern Preis erwarten können, als die Knechtschaft der andern? Die einen haben immer das Glück ihres bisherigen Lebens, die Erwartung ähnlichen Wohlstands in der Zukunft vor Augen; es kommt ihnen nicht so sehr zu Sinn, was sie in der kurzen Spanne einer Schlacht durchzumachen, wie was sie, ihre Kinder und all ihre Nachkommenschaft für immer zu ertragen haben. Die andern haben zu ihrer Erkühnung nur ein kleines Quentchen Begehrlichkeit, das sich gegen die Gefahr verblendet, das aber nicht so gar glühend sein kann, vielmehr mit dem kleinsten Blutstropfen, der aus ihren Wunden fließt, erlöschen muß. Gedenke man nur an die hochberühmten Schlachten des Miltiades, Leonidas, Themistokles, die vor zweitausend Jahren geschlagen worden sind und noch heute so frisch im Gedächtnis der Bücher und Menschen leben, als hätten sie ehegestern in Griechenland zum Heil des griechischen Volkes und der ganzen Welt Exempel sich zugetragen; was, glaubt man wohl, gab einer so kleinen Schar wie den Griechen nicht die Gewalt, sondern den Mut, dem Ansturm so vieler Schiffe, daß das Angesicht des Meeres von ihnen verändert wurde, standzuhalten; so viele Nationen zu überwinden, die in so gewaltigen Massen angerückt waren, daß das Häuflein Griechen den feindlichen Armeen noch nicht einmal die Hauptleute hätte stellen können? Was anders, als daß es uns dünkt, in jenen glorreichen Tagen sei gar nicht die Schlacht der Griechen gegen die Perser geschlagen worden, sondern der Sieg der Selbständigkeit über die Tyrannei und der Freiheit über die Willkür!
Seltsam genug, von der Tapferkeit zu vernehmen, welche die Freiheit ins Herz derjenigen trägt, die zu ihrem Schutze erstehen; aber was alle Tage in allen Ländern von allen Menschen getan wird, daß ein einziger Kerl hunderttausend Städte notzüchtigt und ihnen die Freiheit raubt, – wer möchte es glauben, wenn er nur davon reden hörte und es nicht vor Augen sähe? Und wenn es nur bei fremden Völkern und in entfernten Ländern zu sehen wäre und man davon erzählte, wer möchte nicht sagen, eine so unwahrscheinliche Geschichte müßte erdichtet und erfunden sein? Noch dazu steht es so, daß man diesen einzigen Tyrannen nicht zu bekämpfen braucht; man braucht sich nicht gegen ihn zur Wehr zu setzen; er schlägt sich selbst. Das Volk darf nur nicht in die Knechtschaft willigen; man braucht ihm nichts zu nehmen, man darf ihm nur nichts geben; es tut nicht not, daß das Volk sich damit quäle, etwas für sich zu tun; es darf sich nur nicht damit quälen, etwas gegen sich zu tun. Die Völker lassen sich also selber hunzen und schuriegeln, oder vielmehr, sie lassen es nicht, sie tun es, denn wenn sie aufhörten, Knechtsdienste zu leisten, wären sie frei und ledig; das Volk gibt sich selbst in den Dienst und schneidet sich selber die Gurgel ab; es hat die Wahl, untertan oder frei zu sein und läßt seine Freiheit und nimmt das Joch; es fügt sich in sein Elend und jagt ihm gar nach. Wenn es das Volk etwas kostete, seine Freiheit wieder zu erlangen, würde es sich nicht beeilen, obwohl es nichts Köstlicheres geben kann, als sich wieder in den Stand seines natürlichen Rechtes zu setzen und sozusagen aus einem Tier wieder ein Mensch zu werden; aber ich gebe nicht einmal zu, daß es die Sicherheit des Lebens und die Bequemlichkeit ist, die es der Freiheit vorzieht. Wie! Wenn man, um die Freiheit zu haben, sie nur wünschen muß; wenn weiter nichts dazu not tut, als einfach der Wille, sollte sich wirklich eine Nation auf der Welt finden, der sie zu teuer ist, wenn man sie mit dem bloßen Wunsche erlangen kann? Eine Nation, der es leid täte, zu wollen, was um den Preis des Blutes nicht zu teuer erkauft wäre? Nach dessen Verlust alle Menschen, die auf Ehre halten, das Leben widerwärtig und den Tod eine Erlösung nennen müssten? Gewisslich, ganz ebenso, wie das Feuer eines Fünkleins groß wird und immer mehr zunimmt und, je mehr es Holz findet, um so gieriger entbrennt; und wie es, ohne daß man Wasser herzuträgt, um es zu löschen, wenn man bloß kein Holz mehr daran legt und es nichts mehr zu lecken hat, sich in sich selbst verzehrt und formlos wird und kein Feuer mehr ist: also werden die Tyrannen, je mehr sie rauben, je mehr sie heischen, je mehr sie wüsten und wildern, je mehr man ihnen gibt, je mehr man ihnen dient, um so stärker und kecker zum Vernichten und alles Verderben; und wenn man ihnen nichts mehr gibt, wenn man ihnen nicht mehr gehorcht, stehen sie ohne Kampf und ohne Schlag nackt und entblößt da und sind nichts mehr; wie eine Wurzel, die keine Feuchtigkeit und Nahrung mehr findet, ein dürres und totes Stück Holz wird.
Wenn die Kühnen das Gut erlangen wollen, nach dem ihnen der Sinn steht, fürchten sie keine Gefahr; die Vorsichtigen scheuen die Mühe nicht; die Feigen und Trägen können weder dem Übel standhalten noch das Gute erobern; sie begnügen sich damit, es zu wünschen; die Tugend aber, die Hand danach zu recken, enthält ihre Feigheit ihnen vor; nur der Wunsch, es zu haben, wohnt in ihnen von Natur. Dieser Wunsch, dieser Wille, ist den Weisen und den Toren, den Mutigen wie den Feigen gemein; sie wünschen alle Dinge, in deren Besitz sie glücklich und zufrieden sein möchten; ein einziges ist zu nennen, von dem ich nicht weiß, wie die Natur den Menschen den Wunsch darnach versagt haben kann: das ist die Freiheit, die doch ein so großes und köstliches Gut ist, daß, wenn sie verloren ist, alle Übel angerückt kommen und selbst die guten Dinge, die noch geblieben sind, ihren Duft und ihre Würze verlieren, weil die Knechtschaft sie verderbt hat: die Freiheit allein begehren die Menschen nicht, aus keinem andern Grunde, dünkt mich, als weil sie, wenn sie ihrer begehrten, die Freiheit hätten; wie wenn sie nur darum verschmähten, diese schöne Beute zu machen, weil sie zu leicht ist.
Über die Natur des Menschen
O ihr armen, elenden Menschen, ihr unsinnigen Völker, ihr Nationen, die auf euer Unglück versessen und für euer Heil mit Blindheit geschlagen seid, ihr laßt euch das schönste Stück eures Einkommens wegholen, eure Felder plündern, eure Häuser berauben und den ehrwürdigen Hausrat eurer Väter stehlen! Ihr lebet dergestalt, daß ihr getrost sagen könnt, es gehöre euch nichts; ein großes Glück bedünkt es euch jetzt, wenn ihr eure Güter, eure Familie, euer Leben zur Hälfte euer Eigen nennt; und all dieser Schaden, dieser Jammer, diese Verwüstung geschieht euch nicht von den Feinden, sondern wahrlich von dem Feinde und demselbigen, den ihr so groß machet, wie er ist, für den ihr so tapfer in den Krieg ziehet, für dessen Größe ihr euch nicht weigert, eure Leiber dem Tod hinzuhalten. Der Mensch, welcher euch bändigt und überwältiget, hat nur zwei Augen, hat nur zwei Hände, hat nur einen Leib und hat nichts anderes an sich als der geringste Mann aus der ungezählten Masse eurer Städte; alles, was er vor euch allen voraus hat, ist der Vorteil, den ihr ihm gönnet, damit er euch verderbe. Woher nimmt er so viele Augen, euch zu bewachen, wenn ihr sie ihm nicht leiht? Wieso hat er so viele Hände, euch zu schlagen, wenn er sie nicht von euch bekommt? Die Füße, mit denen er eure Städte niedertritt, woher hat er sie, wenn es nicht eure sind? Wie hat er irgend Gewalt über euch, wenn nicht durch euch selber? Wie möchte er sich unterstehen, euch zu placken, wenn er nicht mit euch im Bunde stünde? Was könnte er euch tun, wenn ihr nicht die Hehler des Spitzbuben wäret, der euch ausraubt, die Spießgesellen des Mörders, der euch tötet, und Verräter an euch selbst? Ihr säet eure Früchte, auf daß er sie verwüste; ihr stattet eure Häuser aus und füllet die Scheunen, damit er etliches zu stehlen finde; ihr zieht eure Töchter groß, damit er der Wollust fröhnen könne; ihr nähret eure Kinder, damit er sie, so viel er nur kann, in den Krieg führe, auf die Schlachtbank führe; damit er sie zu Gesellen seiner Begehrlichkeit, zu Vollstreckern seiner Rachbegierden mache; ihr rackert euch zu Schanden, damit er sich in seinen Wonnen räkeln und in seinen gemeinen und schmutzigen Genüssen wälzen könne; ihr schwächet euch, um ihn stärker und straff zu machen, daß er euch kurz im Zügel halte: und von so viel Schmach, daß sogar das Vieh sie entweder nicht spürte, oder aber nicht ertrüge, könnt ihr euch frei machen, wenn ihr es wagt, nicht euch zu befreien, sondern nur es zu wollen. Seid entschlossen, keine Knechte mehr zu sein, und ihr seid frei. Ich will nicht, daß ihr ihn verjaget oder vom Throne werfet; aber stützt ihn nur nicht; und ihr sollt sehen, daß er, wie ein riesiger Koloß, dem man die Unterlage nimmt, in seiner eigenen Schwere zusammenbricht und in Stücke geht.
Aber freilich, die Ärzte raten gut, wenn sie warnen, man solle die Hand nicht in unheilbare Wunden legen; und es ist nicht weise von mir, das Volk in diesem Stück tadeln zu wollen, das schon seit langem nichts mehr von der Freiheit weiß und dessen Krankheit sich gerade dadurch als tödlich erweist, daß es sein Übel nicht mehr spürt. Suchen wir also, wenn es irgend zu ermachen ist, herauszubekommen, wie sich dieser hartnäckige Wille zur Botmäßigkeit so eingewurzelt hat, daß es jetzt scheint, als ob sogar die Freiheitsliebe nicht so natürlich wäre.
Zum ersten steht es, dünkt mich, außer Zweifel, daß wir, wenn wir nach den Rechten, welche die Natur uns verliehen hat, und nach ihren Lehren lebten, in natürlicher Art gehorsam den Eltern, untertan der Vernunft und niemand zu eigen wären. Des Gehorsams, den jedweder, ohne weitern Zuruf als seiner Natur, zu Vater und Mutter in sich findet, sind alle Menschen sich inne, jeder in sich und für sich. Ob die Vernunft uns eingeboren ist oder nicht, worüber die Akademiker geteilter Meinung sind und was jede philosophische Schule für sich entscheiden muß, davon, meine ich, genügt es zur Stunde, soviel zu sagen: es gibt in unserer Seele irgendwie eine natürliche Ansaat von Vernunft, die, wenn sie durch guten Rat und Sitte gehegt wird, zur Tugend erblüht, gegenteils aber, wenn sie sich oft gegen die aufschießenden Laster nicht halten kann, erstickt, verkümmert und eingeht. Aber gewißlich, wenn irgend etwas klar und natürlich einleuchtend ist, und wogegen niemand blind sein darf, ist das: die Natur, die Gehülfin Gottes und die Lenkerin der Menschen, hat uns alle in derselben Form und sozusagen nach dem nämlichen Modell gemacht, damit wir uns einander als Genossen oder vielmehr als Brüder erkennen sollten; und wenn sie bei der Austeilung der Geschenke, die sie uns gespendet hat, die einen am Körper oder am Geist mehr bevorzugt hat wie die andern, so war es doch nicht ihre Meinung, uns in diese Welt wie in ein Kriegslager zu setzen und sie hat nicht die Stärkeren und Gewitzteren auf die Erde geschickt, damit sie wie bewaffnete Räuber im Wald, über die Schwächeren herfallen sollten; vielmehr muß man glauben, daß sie, wenn sie dergestalt den einen die größern und den andern die kleinem Gaben schenkte, der brüderlichen Liebe Raum schaffen wollte, damit sie habe, wo sie sich betätigen könne: die einen haben die Macht, Hilfe zu leisten, und die andern die Not, sie zu empfangen.
Da nun also diese gute Mutter uns alle aus dem nämlichen Teige geknetet hat, damit jeglicher Mensch sich in dem andern spiegeln und einer im andern sich gleichsam selber erkennen kann; wenn sie uns allen zur gemeinsamen Gabe die Stimme und die Sprache gegeben hat, um uns noch traulicher zueinander zu bringen und zu verbrüdern und durch den Umgang und den gegenseitigen Austausch der Gedanken eine Gemeinschaft unseres Willens zu schaffen; und wenn sie mit allen Mitteln versucht hat, den Knoten unseres Bundes und unserer Gesellschaft zu Stücken gezeigt hat, daß sie uns alle nicht sowohl vereinigt als ganz eins hat machen wollen: dann gibt es keinen Zweifel, daß wir alle Genossen sind und es darf keinem zu Sinn steigen, die Natur habe irgend einen in Knechtschaft gegeben.
Drei Arten von Tyrannen
In Wahrheit ist es ganz nichtig, darüber zu streiten, ob die Freiheit natürlich ist, da man keinen in Knechtschaft halten kann, ohne ihm Unrecht zu tun, und da nichts in der Welt der Natur (die völlig vernünftig ist) so entgegen ist wie die Unbill. So bleibt zu sagen, daß die Freiheit natürlich ist, und in derselben Art, nach meiner Meinung, daß wir nicht nur im Besitz unserer Freiheit, sondern auch mit dem Trieb, sie zu verteidigen, geboren werden. Wenn wir nun daran zweifeln können und wenn wir so entartet sind, daß wir unsere Eigenschaften und unsere ursprünglichen Triebe nicht zu erkennen scheinen, dann tut es not, daß ich euch die Ehre erweise, die euch zukommt, und die wilden Tiere sozusagen aufs Katheder stelle, damit sie euch eure Natur und Verfassung lehren. Denn bei Gott, wenn die Menschen nicht gar zu taub sind, rufen ihnen die Tiere zu: Es lebe die Freiheit! Etliche unter ihnen sterben, wenn sie in Gefangenschaft geraten: wie der Fisch, der das Leben aufgibt, wenn er aus dem Wasser kommt so schwinden sie dahin und wollen ihre natürliche Freiheit nicht überleben. Ich meine, wenn es bei den Tieren Rangstufen und Vorrechte gäbe, dann wäre die Freiheit ihr Adel. Die andern, von den größten bis zu den kleinsten, setzen ihrer Gefangennahme mit Krallen, Hörnern, Füßen und Schnäbeln so heftigen Widerstand entgegen, daß darin genugsam zum Ausdruck kommt, wie wert ihnen das ist, was sie verlieren; wenn sie dann gefangen sind, geben sie uns so lebhafte Zeichen von ihrer Kenntnis ihres Unglücks, daß sie von Stund an mehr hinschmachten als leben, und daß sie ihr Dasein mehr fortsetzen, um ihr verlorenes Glück zu beklagen, als nun sich in der Knechtschaft wohlzufühlen.
Da also alles, was Empfindung hat, unter der Unterjochung leidet und der Freiheit nachgeht; da die Tiere, wenn sie schon vom Menschen vergiftet und an die Knechtschaft gewöhnt sein könnten, sich doch noch dagegen auflehnen und ihren Widerwillen kundgeben: was für ein Unglück hat den Menschen so unnatürlich machen können, daß er, der wahrhaftig nur zur Freiheit geboren ist, die Erinnerung an sein erstes Wesen und das Verlangen, wieder zu ihm zu kommen, verloren hat?
Es gibt drei Arten Tyrannen (ich meine die schlechten Fürsten): die einen haben die königliche Gewalt kraft der Wahl des Volkes; die andern durch die Gewalt ihrer Waffen; die dritten auf Grund der Erbfolge ihres Geschlechtes. Diejenigen, so das Königtum vermöge des Kriegsrechts erworben haben, führen sich derart darin auf, daß man wohl merkt, daß sie, wie man sagt, in erobertem Lande hausen. Die, so als Könige zur Welt kommen, sind gemeiniglich nicht viel besser; sie sind mit dem Blut der Tyrannei geboren und aufgewachsen, sie saugen mit der Muttermilch die Tyrannenart ein und springen mit den Völkern, die unter ihnen stehen, wie mit ihren vererbten Leibeigenen um; und je nach ihrem Charakter, ob sie nun habgierig oder verschwenderisch sind, tun sie mit dem Königreich wie mit ihrem Erbe. Derjenige, dem das Volk das Königreich anvertraut hat, sollte, dünkt mich, erträglicher sein; und er wäre es auch, glaube ich, wenn nicht von dem Augenblick an, wo er sich über die andern so hoch erhoben weiß, die Eitelkeit über ihn käme, daß er so groß dasteht; und nun beschließt er von dem Orte nicht mehr zu wanken; die Macht, die das Volk ihm geliehen hat, will er nun seinen Kindern vererben. Sowie die Tyrannen dieser Sorte nun so weit gekommen sind, ist es erstaunlich, wie sie in Lastern aller Art, selbst in der Grausamkeit über die andern hinausgehen; sie sehen kein anderes Mittel, um die neue Tyrannei zu sichern, als die Knechtschaft zu verstärken und die Untertanen der Freiheit, wenn auch die Erinnerung an sie noch frisch ist, so sehr zu entfremden, daß sie ihnen selbige rauben können. Um also die Wahrheit zu sagen, so gibt es zwischen ihnen allerdings einen gewissen Unterschied, aber Vorzug kann ich keinen erkennen, und so verschieden die Mittel sind, durch die sie zur Herrschaft kommen, so ist doch die Manier der Herrschaft immer recht ähnlich: die Erwählten regieren, wie wenn sie Stiere gefangen hätten und sie zähmen wollten; die Eroberer verfahren mit den Untertanen wie mit Ihrer Beute; und die Erbfürsten wie mit ihren natürlichen Sklaven.
Aber gesetzt den Fall, es kämen heute etliche Völker ganz neu zur Welt, die nicht an die Untertänigkeit gewöhnt und auch nicht auf Freiheit erpicht wären, und sie sollten von der einen wie der andern nichts wissen und kaum die Namen gehört haben: wenn man denen die Wahl ließe, entweder untertan oder frei zu sein, wofür würden sie sich entscheiden? jeder sieht ein, daß sie lieber der Vernunft gehorchen als einem Menschen dienstbar sein wollten; es müßten denn nur die Völker Israels sein, die sich ohne Zwang und ohne irgend eine Not einen Tyrannen gemacht haben: die Geschichte welchen Volkes ich nie lesen kann, ohne so großen Abscheu zu haben, daß ich bis zur Unmenschlichkeit gehe und mich über die vielen Leiden freue, die ihnen daraus zugestoßen sind. Aber sonst muß es für alle Menschen gewiß, wenn sie nur einigermaßen Menschen sind, ehe sie sich unterjochen lassen, eines von zweien geben: entweder sie werden gezwungen oder betrogen. Gezwungen von fremder Waffengewalt, wie Sparta und Athen durch die Streitkräfte Alexanders, oder von den Parteien, so wie die Landesherrlichkeit von Athen ehbevor in die Hände des Pisistratus gekommen war. Durch Betrug verlieren sie oft die Freiheit, und dabei werden sie nicht so oft von andern überlistet wie von sich selber getäuscht: so wie das Volk von Syrakus, der Hauptstadt von Sizilien, die heute Saragossa heißt, als es im Kriege bedrängt war, nur an die Gefahr dachte und Dionys zu seinem Obersten machte und ihm die Führung des Heeres übertrug; es achtete nicht darauf, daß es ihn so groß gemacht hatte, daß dieser Verschmitzte, als er als Sieger heimkehrte, sich, wie wenn er nicht die Feinde, sondern seine Mitbürger besiegt hätte, aus dem Kriegshauptmann zum König und aus dem König zum Tyrannen machte.
Es ist nicht zu glauben, wie das Volk, sowie es unterworfen ist, sofort in eine solche und so tiefe Vergessenheit der Freiheit verfällt, daß es ihm nicht möglich ist, sich zu erheben, um sie wieder zu bekommen. Es ist so frisch und so freudig im Dienste, daß man, wenn man es sieht, meinen könnte, es hätte nicht seine Freiheit, sondern sein Joch verloren. Im Anfang steht man freilich unter dem Zwang und ist von Gewalt besiegt; aber die, welche später kommen und die Freiheit nie gesehen haben und sie nicht kennen, dienen ohne Bedauern und tun gern, was ihre Vorgänger gezwungen getan hatten. Das ist es, daß die Menschen unter dem Joche geboren werden; sie wachsen in der Knechtschaft auf, sie sehen nichts anderes vor sich, begnügen sich, so weiter zu leben, wie sie zur Welt gekommen sind und lassen es sich nicht in den Sinn kommen, sie könnten ein anderes Recht oder ein anderes Gut haben, als das sie vorgefunden haben; so halten sie den Zustand ihrer Geburt für den der Natur. Und doch gibt es keinen so verschwenderischen und nachlässigen Erben, daß er nicht manchmal in sein Inventarverzeichnis blickte, um sich zu überzeugen, ob er alle Rechte seines Erbes genieße oder ob man ihm oder einem Vorgänger etwas entzogen habe. Aber gewiß hat die Gewohnheit, die in allen Dingen große Macht über uns hat, nirgends solche Gewalt wie darin, daß sie uns lehrt, Knechte zu sein und (wie man sich erzählt, daß Mithridates sich daran gewöhnte, Gift zu trinken) uns beibringt, das Gift der Sklaverei zu schlucken und nicht mehr bitter zu finden.
Über die Ursachen freiwilliger Knechtschaft
Wie dem Menschen alle Dinge natürlich sind, von denen er sich nährt und an die er sich gewöhnt, während ihm nur das eingeboren ist, wozu seine einfache und noch nicht veränderte Natur ihn beruft, so ist die erste Ursache der freiwilligen Knechtschaft die Gewohnheit. Sie sagen, sie seien immer untertan gewesen, ihre Väter hätten geradeso gelebt; sie meinen, sie seien verpflichtet, sich den Zaum anlegen zu lassen, und gründen selbst den Besitz derer, die ihre Tyrannen sind, auf die Länge der Zeit, die verstrichen ist; aber in Wahrheit geben die Jahre nie ein Recht, Übel zu tun, sondern sie vergrößern das Unrecht. Es bleiben immer ein paar, die von Natur aus besser Geborene sind: die spüren den Druck des Joches und müssen den Versuch machen, es abzuschütteln. Die gewöhnen sich nie an die Unterdrückung; wie Ulysses, der auf langen Reisen zu Wasser und zu Land sich nach der Heimat und seinem Herde sehnte, vergessen sie nie ihre natürlichen Rechte und gedenken immer der Vorfahren und ihres ursprünglichen Wesens: das sind freilich die, die einen guten Verstand und einen hellen Geist haben und sich nicht wie die große Masse mit dem Anblick dessen begnügen, was ihnen zu Füßen liegt; die nach vorwärts und rückwärts schauen, die Dinge der Vergangenheit herbeiholen, um die kommenden zu beurteilen und die gegenwärtigen an ihnen zu messen; das sind die, welche von Haus aus einen wohlgeschaffenen Kopf haben und ihn noch durch Studium und Wissenschaft verbessert haben; diese würden die Freiheit, wenn sie völlig verloren und ganz aus der Welt wäre, in ihrer Phantasie wieder schaffen und sie im Geiste empfinden und ihren Duft schlürfen; die Knechtschaft schmeckt ihnen nie, so fein man sie auch servieren mag.
Der Sultan hat das wohl gemerkt, daß die Bücher und die Ausbildung den Menschen mehr als sonst irgend etwas den Sinn geben, zum Bewußtsein zu kommen und die Knechtschaft zu hassen, und darum gibt es in seinem Lande nicht mehr Gelehrte, als er zuläßt. Nun bleibt gewöhnlich der Eifer und die Begeisterung derer, die der Zeit zum Trotz die Hingebung an die Freiheit bewahrt haben, so groß auch ihre Zahl sein mag, ohne Wirkung, weil sie sich untereinander nicht kennen: die Freiheit zu handeln und zu reden, ja sogar zu denken, ist ihnen unter dem Tyrannen ganz geraubt; sie bleiben in ihren Phantasien ganz vereinzelt: und Momus hatte nicht Unrecht, als er an dem Menschen, den Vulkan gemacht hatte, das zu tadeln fand, daß er ihm nicht ein Fensterchen vor dem Herzen angebracht hatte, damit man seine Gedanken sehen konnte.
Und doch, wer Geschehnisse der Vergangenheit und die alten Geschichtsbücher durchgeht, wird finden, daß die, welche ihr Vaterland in schlechter Verfassung und in schlimmen Händen sahen und es unternahmen, es zu befreien, fast immer ans Ziel gelangt sind, und daß die Freiheit sich selbst zum Durchbruch verhilft: Harmodius, Aristogiton, Thrybul. Brutus der Ältere, Valerius und Dion waren in der Ausführung ebenso glücklich, wie ihr Denken das rechte war: in diesem Fall fehlt dem guten Willen fast nie das Glück. Brutus der jüngere und Cassius waren in der Befreiung vom Joch sehr glücklich; aber als sie eben die Freiheit zurückbrachten, starben sie, nicht kläglich, denn was für ein Tadel läge darin, wenn man sagte, wie man sagen muß, daß an diesen Männern weder im Tod noch im Leben etwas zu tadeln war? Aber sie starben zum großen Schaden und ewigen Unglück und völligen Untergang der Republik, die wirklich, dünkt mich, mit ihnen ins Grab gelegt worden ist. Die andern Unternehmungen gegen die späteren römischen Kaiser waren nur Verschwörungen von Ehrgeizigen, die wegen des Mißgeschicks, das sie traf, nicht zu beklagen sind: sie wollten den Tyrannen verjagen und es bei der Tyrannei lassen. Denen wünschte ich gar nicht, daß ihr Unternehmen geglückt wäre; es ist mir ganz recht, daß sie mit ihrem Beispiel gezeigt haben, daß der heilige Name der Freiheit nicht zu Unternehmungen der Bosheit mißbraucht werden darf.
Aber um auf meinen Faden zurückzukommen, den ich fast verloren hätte: der erste Grund, warum die Menschen freiwillig Knechte sind, ist der, daß sie als Knechte geboren werden und so aufwachsen. Aus diesem folgt ein zweiter: daß nämlich die Menschen unter den Tyrannen leicht feige und weibisch werden. Mit der Freiheit geht wie mit einem Mal die Tapferkeit verloren. Geknechtete haben im Kampf keine Frische und keine Schärfe: sie gehen wie Gefesselte und Starre und, als ob’s nicht Ernst wäre, in die Gefahr; in ihren Adern kocht nicht die Glut der Freiheit, die die Gefahr verachten läßt und die Lust hervorbringt, durch einen schönen Tod inmitten der Genossen die Ehre des Ruhms zu erkaufen. Die Freien wetteifern untereinander, jeder kämpft fürs Gemeinwohl und jeder für sich, alle wissen, daß die Niederlage oder aber der Sieg ihre eigene Sache sein wird, während die Geknechteten außer dem kriegerischen Mut auch noch in allen andern Stücken die Lebendigkeit verlieren und ein niedriges und weichliches Herz haben und zu allen großen Dingen unfähig sind. Die Tyrannen wissen das wohl, und tun ihr Bestes, wenn die Völker erst einmal so weit gekommen sind, sie noch schlaffer zu machen.
Die Theater, die Spiele, die Volksbelustigungen und Aufführungen aller Art, die Gladiatoren, die exotischen Tiere, die Medaillen, Bilder und anderer Kram der Art, das waren für die antiken Völker der Köder der Knechtschaft, der Preis für ihre Freiheit, das Handwerkszeug der Tyrannei. Dieses Mittel, diese Praktik, diesen Köder hatten die antiken Tyrannen, um ihre antiken Untertanen unters Joch der Tyrannei zu schläfern. So gewöhnten sich die Völker in ihrer Torheit, an die sie selbst erst gewöhnt waren, an diesen Zeitvertreib, und vergnügten sich mit eitlem Spielzeug, das man ihnen vor die Augen hielt, damit sie ihre Knechtschaft nicht merkten. Die römischen Tyrannen verfielen noch auf etwas weiteres: sie sorgten für öffentliche Schmäuse, damit die Kanaille sich an die Gefräßigkeit gewöhnte: sie rechneten ganz richtig, daß von solcher Gesellschaft keiner seinen Suppentopf lassen würde, um die Freiheit der platonischen Republik wiederherzustellen. Die Tyrannen ließen Korn, Wein und Geld verteilen: und wie konnte man da „Es lebe der König!“ zum Ekel schreien hören! Den Tölpeln fiel es nicht ein, daß sie nur einen Teil ihres Eigentums wiederbekamen und daß auch das, was sie wiederbekamen, der Tyrann ihnen nicht hätte geben können, wenn er es nicht vorher ihnen selber weggenommen hätte. Da hatte einer heute sich auf der Straße nach dem ausgeworfenen Geld gebückt, oder ein anderer hatte sich beim öffentlichen Mahle vollgefressen, und am Tag darauf wurde er gezwungen, sein Hab und Gut der Habgier, seine Kinder der Ausschweifung, sein Blut der Grausamkeit dieser prächtigen Kaiser auszuliefern: da war er stumm wie ein Stein und wagte kein Wort zu sagen und war reglos wie ein Klotz. So ist die Volksmasse immer gewesen: beim Vergnügen, das sie in Ehren nicht bekommen dürfte, ist sie ganz aufgelöst und hingegeben: und beim Unrecht und der Qual, die sie in Ehren nicht dulden dürfte, ist sie unempfindlich.
Wurzeln der Herrschaft
Ich komme nun zu einem andern Schwindel, den die antiken Völker für bare Münze nahmen. Sie glaubten steif und fest, daß der große Zeh an dem einen Fuße des Pyrrhus, Königs von Epirus, Wunder tun könnte und die Krankheiten der Milz heilte: sie schmückten sogar das Märchen noch weiter aus und erzählten, diese Zehe hätte sich, nachdem der ganze Leichnam verbrannt worden wäre, unversehrt in der Asche gefunden und hätte dem Feuer widerstanden. Immer hat sich so das Volk selbst die Lügen gemacht, die es später geglaubt hat. Als Vespasjan von Assyrien heimkehrte und auf dem Wege nach Rom durch Alexandrien kam, tat er Wunder (siehe Sueton, Das Leben Vespasians, Kapitel 7):
die Lahmen machte er gehend und die Blinden sehend und eine Menge andere schöne Dinge, bei denen der, der den Schwindel nicht merken konnte, blinder war, als die, die er heilte. Selbst die Tyrannen fanden es seltsam, daß die Menschen sich von Einem beherrschen ließen, der ihnen übles tat: sie wollten sich darum die Religion zur Leibgarde machen und borgten, wenn es irgendwie ging, eine Portion Göttlichkeit, um ihrem verruchten Leben eine Stütze zu geben.
Bei uns zu Lande wurden auch so ähnliche Sächelchen gesät: weiße Lilien und heilige Salbgefäße und göttliche Oriflammen und derlei Fähnchen. Wie dem aber auch sei, ich will durchaus keinen Unglauben daran verbreiten, denn wir und unsre Vorfahren haben keine Gelegenheit gehabt, nicht daran zu glauben: wir haben ja immer Könige gehabt, die im Frieden so gut und im Kriege so tapfer waren, daß es, wenn sie schon als Könige geboren wurden, doch scheint, daß sie nicht wie die andern von der Natur dazu gemacht worden sind, sondern schon vor ihrer Geburt vom allmächtigen Gott zur Regierung und zum Schutz dieses Reiches erkoren wurden! Aber auch wenn es nicht so wäre, möchte ich es doch unterlassen, hier mich in einen Streit über die Wahrheit unsrer Geschichten einzulassen … Ich wäre wahrlich toll, wenn ich unsre Überlieferungen leugnen und mich so auf das Gebiet begeben wollte, das unsern Dichtern vorbehalten ist. Aber, um den Faden da wieder aufzunehmen, wo ich ihn, ich weiß nicht, wie’s kam, fallen ließ: ist es nicht allezeit so gewesen, daß die Tyrannen, um sich zu sichern, versucht haben, das Volk nicht nur an Gehorsam und Knechtschaft, sondern geradezu an eine Art religiöse Anbetung ihrer Person zu gewöhnen?
Ich will jetzt von einem Punkt sprechen, der das Geheimnis und die Erklärung der Herrschaft, die Stütze und Grundlage der Tyrannei ist. Wer vermeint, die Hellebarden der Wachen oder die Büchsen der Posten beschütze die Tyrannen, der ist nach meinem Urteil sehr im Irrtum: sie bedienen sich ihrer, glaube ich, mehr zur Form und als Vogelscheuche, als daß sie Vertrauen in sie setzten. Diese Wachen hindern die Ungeschickten, die wehrlos sind, aber nicht Wohlbewaffnete, die zu einem Unternehmen gerüstet sind. Man erinnere sich nur der römischen Kaiser: deren gibt es nicht so viele, die durch die Hilfe ihrer Wachen einer Gefahr entronnen sind, wie solche, die von ihren Wachen umgebracht worden sind. Nicht die Reitertruppen, nicht die Kompagnien der Fußsoldaten, nicht die Waffen schützen den Tyrannen; sondern, man wird es nicht gleich glauben wollen, aber es ist doch wahr, viere oder fünfe sind es jeweilen, die den Tyrannen schützen; viere oder fünfe, die ihm das Land in Knechtschaft halten. Immer ist es so gewesen, daß fünfe oder sechse das Ohr des Tyrannen gehabt und sich ihm genähert haben oder von ihm berufen worden sind, um die Gesellen seiner Grausamkeiten, die Genossen seiner Vergnügungen, die Zuhälter seiner Lüste und die Teilhaber seiner Räubereien zu sein. Diese sechse richten ihren Hauptmann so fein her, daß er für die Gesellschaft nicht bloß den Urheber seiner eigenen Schändlichkeiten, sondern auch der ihrigen vorstellt. Diese sechse haben sechshundert, die unter ihnen schmarotzen, und diese sechshundert verhalten sich zu ihnen, wie diese sechs sich zum Tyrannen verhalten. Diese sechshundert halten sich sechstausend, denen sie einen Rang gegeben haben, die durch sie entweder die Verwaltung von Provinzen oder von Geldern erhalten, damit sie ihrer Habgier und Grausamkeit hilfreiche Hand leisten und sie zur geeigneten Zeit zur Ausführung bringen und überdies so viel Böses tun, daß sie nur unter ihrem Schutz sich halten und unter ihrem Beistand den Gesetzen und der Strafe entgehen können. Davon kommt viel her. Und wer sich das Vergnügen machen will, dem Sack auf den Grund zu gehen, der wird merken, daß sich an diesem Strick nicht die sechstausend, sondern die hunderttausend und Millionen dem Tyrannen zur Verfügung stellen, der sich dieses Seiles bedient wie Jupiter beim Homer, der sich rühmt, wenn er an der Kette zieht, alle Götter zu sich herziehen zu können. Kurz, man bringt es durch die Günstlingswirtschaft, durch die Gewinne und Beutezüge, die man mit dem Tyrannen teilt, dahin, daß es fast ebenso viel Leute gibt, denen die Tyrannei nützt, wie solche, denen die Freiheit eine Lust wäre. Sowie ein König sich als Tyrann festgesetzt hat, sammelt sich aller Unrat und aller Abschaum des Reiches um ihn: ich spreche nicht von kleinen Gaunern und Galgenstricken, die in einem Gemeinwesen nicht viel Gutes oder Böses anstellen können, sondern von denen, die von brennender Ehrsucht und starker Gier befallen sind: sie stützen den Tyrannen, um an der Beute Teil zu haben, und unter dem Haupttyrannen sich selber zu kleinen Tyrannen zu machen. So verfahren auch die großen Diebe und berüchtigten Seeräuber: die einen kundschaften die Gelegenheit aus, die andern überfallen die Reisenden; die einen liegen im Hinterhalt, die andern führen sie hinein; die einen morden und die andern plündern; und dazu gibt es unter ihnen noch Rangunterschiede, die einen sind nur Bediente, und die andern die Führer der Bande, obzwar am Ende alle an der Beute oder wenigstens an der Nachlese Teil haben wollen.
So unterjocht der Tyrann die Untertanen, die einen durch die andern, und wird von eben denjenigen gehütet, vor denen er, wenn sie Männer wären, auf seiner Hut sein müßte. Er schnitzt, wie das Sprichwort sagt, den Keil aus demselben Holze, das er spalten will: das sind seine Wachen, seine Trabanten, seine Jäger. Sie leiden freilich manchmal unter ihm: aber diese Verlorenen, diese von Gott und den Menschen Verlassenen, lassen sich das Unrecht gefallen, und geben es nicht dem zurück, der es ihnen antut, nein, sie geben es an die weiter, die darunter leiden wie sie und sich nicht helfen können.
Manchmal, wenn ich diese Leute betrachte, die untertänig vor der Tür des Tyrannen stehen, um die lieben Diener seiner Tyrannei und der Knechtung des Volkes zu sein, dann staune ich über ihre Schlechtigkeit und habe Mitleid mit ihrer großen Torheit. Denn wahrlich, was bringt ihnen ihre Nähe beim Tyrannen anderes ein, als daß sie sich noch weiter von ihrer Freiheit entfernen und die Sklaverei sozusagen mit beiden Händen packen und an sich reißen? Möchten sie doch ihren Ehrgeiz ein wenig ablegen und einen Augenblick lang von ihrer Gier lassen; möchten sie sich umsehen und sich erkennen: dann werden sie klar sehen, daß die Ackerknechte, die Bauern, die sie nach Kräften mit Füssen treten und schlimmer behandeln als Sträflinge oder Sklaven, trotzdem, so schlimm sie daran sind, im Vergleich zu ihnen glücklich und einigermassen frei zu nennen sind. Der Landmann und der Handwerker, so sehr sie auch geknechtet sind, haben doch nur zu tun, was man ihnen sagt und sind dann ledig; aber der Tyrann hat die, die um ihn sind und um seine Gunst betteln und scharwenzeln, immer vor Augen; sie müssen nicht nur tun, was er will, sie müssen denken, was er will, und müssen oft, um ihn zufrieden zu stellen, sogar seinen Gedanken zuvorkommen. Es genügt nicht, daß sie ihm gehorsam sind; sie müssen ihm gefällig sein; sie müssen sich in seinen Diensten zerreißen und plagen und kaputt machen; sie müssen in seinen Vergnügen vergnügt sein, immer ihren Geschmack für seinen aufgeben, müssen ihrem Temperament Zwang antun und ihre Natur verleugnen, sie müssen auf seine Worte, seine Stimme, seine Winke, seine Augen achten; Augen, Füße, Hände, alles muß auf der Lauer liegen, um seine Launen zu erforschen und seine Gedanken zu erraten. Heißt das glücklich leben? Heißt das leben? Gibt es auf der Welt etwas Unerträglicheres als das, ich sage nicht, für einen Menschen höherer Art, nur für einen mit gesundem Verstand, oder noch weniger, für einen, der Menschenantlitz trägt? Welche Lage ist kläglicher als diese; in nichts sich selbst zu gehören, von einem andern seine Wohlfahrt, seine Freiheit, Leib und Leben zu nehmen?
Aber sie wollen dienen, um Reichtum zu erwerben, wie wenn sie damit etwas erlangen könnten, was ihnen gehört, da sie freilich von sich selbst nicht sagen können, daß sie sich selbst gehören; und, wie wenn einer unter einem Tyrannen etwas Eigenes haben könnte, wollen sie erreichen, daß ihnen der Reichtum zu eigen sei, und sie denken nicht daran, daß sie es sind, die ihm die Macht geben, allen alles zu nehmen.
Der Tyrann wird nie geliebt und kann nie lieben. Freundschaft ist ein heiliger Name, ist eine heilige Sache; Freundschaft knüpft sich nur unter Guten, gründet sich nur auf gegenseitige Achtung; sie entsteht und erhält sich nicht durch eine Wohltat oder irgend eine rechte Tat, sondern durch das rechte Leben. Ein Freund ist des andern gewiß, weil er seine Reinheit kennt; die Bürgen, die er dafür hat, sind seine gute Natur, seine Zuverlässigkeit und seine Treue. Wo Grausamkeit ist, wo Unehrlichkeit ist, wo Ungerechtigkeit ist, da kann nicht Freundschaft sein. Wenn sich die Bösen versammeln, sind sie nicht Genossen, sondern Helfershelfer; sie sind nicht traulich beisammen, sondern ängstlich; sie sind nicht Freunde, sie sind Mitschuldige.
Sehen wir nun, was den Dienern des Tyrannen ihr elendes Leben für einen Lohn einbringt. Das Volk klagt für seine Leiden weniger den Tyrannen an, als die, die ihn lenken: die Völker, die Nationen, alle Welt, bis zu den Bauern und Tagelöhnern, alle kennen ihre Namen, alle wissen ihre Laster auswendig, häufen tausend Flüche auf sie; all ihre Gebete und Wünsche erheben sich gegen sie; jedes Unglück, jede Pest, jede Hungersnot wird ihnen zur Last gelegt; auch wenn sie ihnen manchmal äußerlich Ehren erweisen, verfluchen sie sie im Herzen und verabscheuen sie mehr als wilde Tiere. Sehet da den Ruhm, sehet die Ehre, die ihnen ihre Dienste einbringen; wenn ein jeglicher im Volke ein Stück aus ihren Leibern hätte, wären sie, glaube ich, noch nicht befriedigt und in ihrer Rache gesättigt; aber auch, wenn sie gestorben sind, gibt die Nachwelt ihnen noch keine Ruhe: der Name dieser Volksfresser wird von tausend Federn geschwärzt und ihr Ruhm in tausend Büchern zerrissen und bis auf die Knochen werden sie sozusagen von der Nachwelt gepeinigt, die sie auch nach dem Tode noch für ihr schlechtes Leben bestraft.
Lernen wir also, lernen wir, das Rechte zu tun: heben wir die Augen zum Himmel, um unserer Ehre willen oder aus Liebe zur ewig gleichen Tugend, blicken wir zu Gott dem Allmächtigen auf, dem immerwährenden Zeugen all unserer Taten und dem gerechten Richter unserer Verfehlungen. Ich meinerseits glaube und irre mich nicht, da unserem Gott, der immer sanft und mild ist, nichts so zuwider ist als die Tyrannei, daß er für die Tyrannen und ihre Mitschuldigen dorten noch eine besondere Strafe in Bereitschaft hält.
Bilder: Lady Schnaps: Suitcases & Goldfishes – Liézey, featuring Mélanie, August 2013, Vogesen:
Ôh Vosges tant aimées. Fin d’été 2013. L’idée trottait déjà depuis un moment de travailler avec des poissons rouges & des valises. Journée rêvée pour s’essayer à tout cela. Nous voilà donc parties, coffre rempli, vers les Hautes Vosges. Certains reconnaitront peut être cette petite utopie de foret, déjà prise comme décor à mes débuts.
Soundtrack: Caleb Klauder Country Band: C’est Le Moment, live August 2013:
Als der Bund Spargel einmal tausend Francs kostete
Update zu Auf der Suche nach den aufgegebenen Blogs,
So eine Art Käse-Cocktail oder Mehl-Flip
und Goethes Kindergartenfutter:
Zu meiner gutbürgerlichen Ausbildung gehörte noch: Spargel gibt’s bis Fronleichnam, danach allenfalls Schwarzwurzeln aus dem Glas. Zur Ausbildung von Marcel Proust und dem Bildungsblogger Silvae gehörten derlei Bauernregeln bestimmt nicht, dafür bringt uns letzterer in seinem Artikel über Spargel vom 12. Juni 2013 auf allerlei künstlerische Darstellungen des Königsgemüses.
Nach Jahrzehnten des Spargelgebrauchs war mir gar nicht bewusst, dass man beim Pinkeln nach dem Zeug riechen soll – ohne mich in hässliche spekulative Details zu verlieren. Nach dem Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache bedeutet das das griechische ἀσπάραγος einfach einen jungen Keim, das spätlateinische asparagus den fetten Keim einer Pflanze, ehe sich die Blätter entwickeln. Allerdings heißt aspergere auch soviel wie bespritzen oder beschmutzen, was der phallischen Symbolik des Spargels entgegenkäme, ohne die kein Bericht über Spargel auskommt, der über Kochrezepte hinausgeht, und die selbst mir bewusst war. Dagegen wird das Asperges me, Domine in der lateinisch-katholischen Messe zum priesterlichen Besprenkeln der Gemeinde mit Weihwasser gesungen, also einem Ritual der Reinigung zum Nachlass der Sünden, und ist dort nicht mit Spargel, sondern Ysop assoziiert. Der galoppierenden Volksetymolgie muss vor allem im Französischen, wo Spargel bis heute l’asperge heißt, Tür und Tor geöffnet sein.
——— Marcel Proust:
Du côté de chez Swann
éditions Bernard Grasset, Paris 1913, übs. Eva Rechel-Mertens 1953 ff.:
Zu der Stunde, da ich hinunterging, um mich nach dem Küchenzettel zu erkundigen, war das Abendessen schon in der Zubereitung begriffen, und Françoise, den hilfreichen Kräften der Natur gebietend wie in den Märchenspielen, in denen Riesen sich als Köche verdingen, klopfte die Kohle klein, brachte Kartoffeln zum Weichwerden in den Dampf und ließ auf dem Feuer kulinarische Meisterwerke gar werden, die zuvor in irdenen Gefäßen, von großen Bottichen, Schüsseln, Kesseln und Fischbassins bis zu Terrinen für die Wildpastete, Kuchenformen und kleinen Rahmschüsselchen, vorbereitet wurden, wozu noch eine vollständige Sammlung von Kochtöpfen aller Größen kam. Ich blieb an einem Tisch stehen, an welchem das Küchenmädchen grüne Erbsen enthülst und dann in abgezählten Häufchen aufgereiht hatte wie kleine grüne Kugeln für ein Spiel; besonders aber die Spargel hatten es mir angetan, die wie mit Ultramarin und Rosa bemalt aussahen und deren in Violett und Himmelblau getauchte Spitze nach dem anderen Ende zu – das noch Spuren des nährenden Ackerbodens trug – lauter Abstufungen von irisierenden Farben aufwies, die nichts Irdisches hatten. Es schien mir, dass diese himmlischen Tönungen das Geheimnis von köstlichen Geschöpfen enthüllten, die sich aus Neckerei in Gemüse verwandelt hatten und durch ihre aus feinem essbaren Fleisch bestehende Verkleidung hindurch in diesen Farben der zartesten Morgenröte, in diesen hinschwindenden Nuancen von Blau jene kostbare Substanz verrieten, die ich noch die ganze Nacht hindurch, wenn ich am Abend davon gegessen hatte, in den nach Art Shakespearescher Feenkomödien gleichzeitig poetischen und derben Possen wiedererkannte, die sie zum Spaße aufzuführen schienen, wenn sie sogar noch mein Nachtgeschirr in ein Duftgefäß umschufen.
An späterer Stelle in Die Welt der Guermantes, die erst 1920 erschien, mokiert sich der Herzog von Guermantes über den Preis eines bloßen Abbildes von Spargel – wie Silvae weiß: ganz entegegengesetzt wie der Bankier und Kunsthistoriker Charles Ephrussi an den Künstler Édouard Manet, indem er ihm freiwillig zuviel zahlte. – Meinte der von Guermantes:
„Swann hatte tatsächlich die Stirn, uns zum Kauf eines Spargelbundes zu raten. Wir haben das Bild daraufhin sogar ein paar Tage im Haus gehabt. Es war nichts weiter als das darauf, ein Bund Spargel, genau wie die, die Sie gerade schlucken, die Spargel von Herrn Elstir aber habe ich nicht geschluckt. Er verlangte dreihundert Francs dafür. Dreihundert Francs für einen Bund Spargel! Einen Louisd’or höchstens sind sie wert, und auch das nur, solange es noch die ersten sind.“
Dagegen Ephrussi laut Silvae:
Manet wollte achthundert Franc für das Bild haben, aber Ephrussi hat ihm tausend gezahlt. Er wusste, dass Édouard Manet in finanziellen Nöten war. Da hat sich Manet auf seine eigene Art und Weise bedankt. Hat dem Monsieur Ephrussi schnell noch eine Spargelstange gemalt und sie mit der kleinen Notiz Il en manquait une à votre botte versehen an den Kunstsammler geschickt.
Luzius Keller, dem wir überall begegnen, wo wir bei Marcel Proust über den Primärtext hinauslesen wollen, abgekürzt: wo wir Marcel Proust lesen wollen, weiß uns das Wesen des Gemüsestilllebens historisch zu verankern:
——— Luzius Keller:
Proust und der Spargel
in: Neue Zürcher Zeitung, 14. November 2009:
Spargelbund und andere Gemüsemotive haben in der Stilllebenmalerei Tradition. So findet sich beispielsweise im Amsterdamer Rijksmuseum ein Spargelbund von Adriaen Coorte (1660–1707), der jenem von Manet erstaunlich ähnlich sieht. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, insbesondere im Umfeld von Impressionismus und Naturalismus, werden jedoch die Gattungen als solche immer mehr in Frage gestellt: Wozu sollen bestimmte Motive auf bestimmte Gattungen beschränkt bleiben? Weshalb sollte ein bestimmtes Motiv an sich wertvoller sein als ein anderes? Bekannt ist das Diktum Max Liebermanns, der in den 1870er Jahren in Paris lebte: „Eine gut gemalte Möhre ist besser als eine schlecht gemalte Madonna“, und in seinem Roman „L’Œuvre“ (1887) lässt Zola seinen Protagonisten, den Maler Etienne Lantier, fragen, ob ein Möhrenbund nicht mehr wert sei als die ewigen Schinken aus der Ecole des Beaux-Arts. Ein erstes Echo auf diese ästhetische Diskussion findet sich in „Guermantes“ in einem Gespräch zwischen Marcel und Norpois, in dem Proust einen Bund Radieschen von Elstir einer Madonna von Hébert gegenüberstellt.
Dass ich nur eine gutbürgerliche Ausbildung voller Bauernregeln, nun ja: genossen habe, erkennt man spätestens daran, dass ich im Ernst nach einem französischen Bild von einem Bund Radieschen gesucht habe, bevor mir dämmerte, dass ein Maler Elstir von Proust ebenso frei erfunden ist wie sein Erzähler Marcel und der Marquis de Norpois. Erfreuen wir uns stattdessen an einem weiteren runden Kilo Spargel von Philippe Rousseau unsicherer Datierung.
Und selber will man ja auch nicht leben wie ein veganer Hund, wenn schon nicht wie ein französischer Landadliger: Selber erfreut haben wir uns heuer an einem Kilochen vom Penny am Eck Lindwurm-/Zenettistraße, am 14. Mai 2022 für tagesfrische 5,55 Euro, leider in Erdölprodukte eingeschweißt, dafür aus regionalem Anbau. Der Magen isst ja mit, wie der Gutbürgerliche weiß.
Bilder:
- Édouard Manet: Botte d’Asperges, 1880;
- derselbe: L’Asperge, 1880;
- Adriaen Coorte: Stilleven met asperges, 1697,via Kochbuch für Max und Moritz: Marcel Proust und der Spargel von Édouard Manet, 8. Juni 2011
– mit Spargelrezepten! – - Philippe Rousseau: Nature morte aux asperges, 1860 oder ca. 1880,
- und unser eigener vom Penny, 14. Mai 2022.
Soundtrack: Camille Hardouin: Mille bouches, aus: Mille bouches, 2017,
live in la chapelle St Louis de La Rochelle, Comment je me suis mariée avec mille bouches, Juli 2106:
Blumenstück 008: Zartes, weißes Knospenblümlein, hebe dein Herz
Update zu Wer hätte da sich um Blumen bekümmert?,
Blumenstück 007: Das Blümchen, das dem Tal entblüht (wenn Krampf dir durch die Nerven glüht)
und Fruchtstück 0004: Der heil’ge Rhythmus in Verselein und Rimelein:
Der Lyrik des Postironismus hinterherspürend kann einem aufmerksamen Leser auffallen, wie rückständig sich eigentlich die Lyriker des Novecento gebärdeten: kein Reim und kein Rhythmus nicht aus Not, sondern als Ideal, der Inhalt nach beliebigen Kriterien in Verse aufgeteilt, und wenn gerade kein Inhalt zur Hand war, umso besser.
Sotane Ansicht klingt heute noch viel rückständiger, als Jörn Pfennig jemals war, aber von der umgekehrten Begeisterung, wie modern uns die alten Recken der wichtigen Jahrhunderte heute noch zu sagen haben, kommt auch nicht mehr Erkenntniswert ums Eck.
Veranschaulichen wir’s am vorgefallenen Beispiel: Auf die Überlegung konnte ich über dem Versuch verfallen, mir Rolf Dieter Brinkmann anzueignen – vorerst antiquarisch, nicht geistig –, und bin dann bei den Polymetern von Jean Paul hängen geblieben.
Was nämlich tut der Aufklärer, Klassiker und Romantiker in einem Jean Paul? Jean Paul geht her und erfindet und kultiviert die halblyrische Form des Streckverses oder Polymeters: rhythmische Prosa, die auf keine Zeilenaufteilung angewiesen ist und sich, wie anarchisch verwildert auch immer, in den sehr viel größeren Rahmen der Romane einfügt. Dem Manne sieht man sogar ein „unbeschreiblich-lieblich lächelnd“ als parodistische Absicht nach. Am Ende hat da die erst später mit Ansage einsetzende Lyrik sogar schon angefangen. Deutschlehrer, übernehmen Sie. Dafür ein paar Schuljahre lang ein, zwei Stunden weniger Erich Fried, ja?
An Bildmaterial waren nur Blümchen mit immerhin weißen Blütenblättern und gelber Mitte aufzutreiben, die thematisch vorgegebenen Convallaria majalis waren zu speziell, flechten sich aber zusammen mit dem Soundtrack der ersten Fun-Punk-Band Deutschlands, den Nürnberger Carsons, doch wieder zum berückendsten Jungfernkranz – … denn ›Wallflower‹ heißt »Goldlack« und Lily of the valley heißt Maiglöckchen.
——— Jean Paul:
Nr. 59. Notenschnecke
angeblich aus dem Poeten-Winkel eines Haslauer Blattes
in: Flegeljahre, Viertes Bändchen, 1805, Cotta, Tübingen 1804 f.:
Sie bat auch um das Setzen des Gesangs; Walt schwur wieder. „Aber sogar um die Verse dazu muß ich Ihren werten Freund angehen“, setzte sie unbeschreiblich-lieblich lächelnd hinzu, „da ich ihn aus unserer Zeitung als einen weichen Dichter des Herzens kenne.“
Ganz froh erstaunt fragte Walt, was Vult darin gemacht. Sie sagt‘ ihm – mit der den Literatoren noch gewöhnlichern Verwechslung gleicher Namen – folgenden Polymeter von ihm selber her:
Das Maiblümchen
Weißes Glöckchen mit dem gelben Klöppel, warum senkst du dich? Ist es Scham, weil du, bleich wie Schnee, früher die Erde durchbrichst als die großen stolzen Farbenflammen der Tulpen und der Rosen? – Oder senkst du dein weißes Herz vor dem gewaltigen Himmel, der die neue Erde auf der alten erschafft, oder vor dem stürmenden Mai? Oder willt du gern deinen Tautropfen wie ein Freuden-Träne vergießen für die junge schöne Erde? – Zartes, weißes Knospenblümlein, hebe dein Herz! Ich will es füllen mit Blicken der Liebe, mit Tränen der Wonne. O Schönste, du erste Liebe des Frühlings, hebe dein Herz!
Walten waren unter dem Zuhören vor Freude und Liebe und vor Dichtkunst die Augen Übergegangen – und Wina hatte mit geweint, ohne es zu merken –; darauf sagt‘ er: „Ich habe wohl den Vers gemacht.“
Erste Liebe des Frühlings, hebe dein Herz: Try Intimacy: Mon fils m’a cueilli cette fleur hier:
De profil und Un peu de dos, beide 13. Mai 2014, in Flickr erloschen.
Sie bat auch um das Setzen des Gesangs: Carson Sage and the Black Riders:
Red is the Rose, irische Variante eines Scottish Tradtional, arrangiert von M. Nawroth,
aus: Skirl O’Carson, 1991, wiederverwendet in: Walk With an Erection, 1993:
Kein Bleiben ist auf Erden
Update zu Nunc dimittis mit Fried und Freud
und 150 Jahre sind alt genug:
Den originalen Textausschnitt aus The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy muss ich ja nicht eigens hier hereinzerren, weil ich voraussetze, weitgehend geschmackssichere Leser anzuziehen und die verlorenen Seelen sowieso nicht retten kann.
Eine der besonderen Leistungen des Übersetzers Benjamin Schwarz besteht darin, das von Douglas Adams verwendete You’ll Never Walk Alone, einen Musical-Rausschmeißer von 1945, nachmalige Fußballer-„Hymne“, durch das noch viel abgehangenere O Welt, ich muss dich lassen, eine Kantate aus dem Nürnbergischen von 1555 auf eine Melodie von Heinrich Isaac, am bekanntesten als Insprugk, ich muss dich lassen, wiederzugeben. Das hat Größe.
Die Szene wird in der ansonsten recht vergnüglichen Verfilmung 2005 – mit Martin Freeman als Arthur Dent, Zooey Deschanel als Trillian McMillan, Alan Rickman als Stimme von Marvin the Paranoid Android und Stephen Fry vollends aus dem Off nicht verwendet –, vielleicht weil dann Thomas Lennon (nicht verwandt) in seiner Rolle als Stimme des Bordcomputers Eddie hätte singen müssen.
Das ist schade, weil diese Umsetzung von Garth Jennings seitdem weithin die bildliche Vorstellung der Romane prägt; vor allem die von Trillian. Außerdem wäre es eine schöne Kontrafaktur zum Supercomputer HAL 9000 gewesen, der im ansonsten recht überschätzten Stanley-Kubrick-Flaggschiff 2001: Odyssee im Weltraum als Schwanengesang Daisy Bell anstimmt, und damit auch zum einzigen Lied mythischen Ausmaßes, das Frank Zander geleistet hat: Captain Starlight 1979, in dem der Computer „DX4 [Kuckuck] 309, genannt der Ratlose Rudi“ während des Durchschmorens nacheinander Heute blau, morgen blau und Hänschen Klein anstimmt. 1979, das bedeutet ungefähr gleichzeitig mit dem ersten Teil der zitierten Anhalter-Trilogie und war deswegen wohl noch ohne Bezug auf Adams. Nur auf Kubrick, der ein ganzes Filmschaffen lang nie darin nachgelassen hat, um Parodie zu betteln.
——— Douglas Adams:
17
aus: The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy, 1979,
i. e. Per Anhalter durch die Galaxis, Rogner & Bernhardt, München 1981,
übs. Benjamin Schwarz:
Ungefähr in diesem Augenblick geschah es natürlich, daß sich einer von der Besatzung eine böse Prellung am Oberarm zuzog. Das sollte man besonders hervorheben, denn wie wir ja bereits verraten haben, kommen unsere Freunde ansonsten ohne den geringsten Schaden davon, und auch die tödlichen Atomraketen treffen nicht etwa schließlich doch noch das Raumschiff. Die Sicherheit der Besatzung der „Herz aus Gold“ ist absolut gewährleistet.
„Einschlag in zwanzig Sekunden, Jungs …“, sagte der Computer.
„Dann stell doch die verdammten Triebwerke wieder an!“ schnauzte Zaphod.
„Aber selbstverständlich, Leute“, sagte der Computer. Mit einem subtilen Donner zündeten die Triebwerke, das Raumschiff wurde sanft aus seinem Sturzflug abgefangen und sauste wieder auf die Raketen zu.
Der Computer fing an zu singen.
„O Welt, ich muß dich lassen …„, wimmerte er nasal, „ich fahr dahin …“
Zaphod schrie ihn an, er solle gefälligst die Klappe halten, aber seine Stimme verlor sich im Getöse dessen, was die vier völlig zu Recht für die auf sie zueilende Katastrophe hielten.
„Ich fahr dahin … mein Straßen … ins ewig Vaterland!“ jammerte Eddie.
Als das Raumschiff den Sturzflug abgefangen hatte, flog es mit dem Bauch nach oben weiter, und da nun alle an der Kabinendecke hingen, war es ihnen natürlich auch absolut unmöglich, an die Steuerung heranzukommen.
„Mein Geist will ich aufgeben …„, sang Eddie mit Inbrunst.
Die beiden Raketen, die auf das Raumschiff zudonnerten, wurden groß und bedrohlich auf den Monitoren sichtbar.
„… dazu mein Leib und Leben …“
Durch einen ungewöhnlich glücklichen Zufall hatten die Raketen aber ihre Flugbahn noch nicht exakt korrigiert und schossen genau unter dem ziellos herumkurvenden Raumschiff weg.
„Mein Zeit ist nun vollendet … revidierte Zeit bis zum Einschlag fünfzehn Sekunden, Leute … der Tod das Leben endet …“
Kreischend vollzogen die Raketen eine Kehrtwendung und gingen wieder auf Zielkurs.
„Das wär’s dann also“, sagte Arthur, der das beobachtete, „jetzt müssen wir also endgültig dran glauben, oder ?“
„Du tätst mir’n Gefallen, wenn du endlich davon aufhören würdest“, sagte Ford.
„Aber es stimmt doch, oder ?“
„Ja.“
„Sterben ist mein Gewinn„, sang Eddie.
Da kam Arthur plötzlich ein Gedanke. Er rappelte sich hoch.
„Warum dreht eigentlich keiner dieses Unwahrscheinlichkeitsdingsbums an?“ fragte er. „Da kämen wir doch wahrscheinlich ran.“
„Was, bist du verrückt geworden?“ sagte Zaphod. „Ohne die richtige Programmierung kann alles mögliche passieren.“
„Macht das jetzt noch was aus?“ rief Arthur.
„Kein Bleiben ist auf Erden …„, sang Eddie.
Arthur kletterte an einem der enervierend vieleckig gestalteten Simse zwischen der Krümmung der Wand und der Decke nach oben.
„… das Ewge muß mir werden …“
„Kann mir jemand sagen, warum Arthur den Unwahrscheinlichkeitsdrive nicht einschalten kann?“ schrie Trillian.
„Mit Fried und Freud fahr ich dahin … Einschlag in fünf Sekunden, es war nett bei euch, Jungs, Gott segne … Mit Fried und … Freud … fahr ich … dahin!“
„Ich fragte soeben“, schrie Trillian, „ob mir jemand sagen kann …“
Was dann passierte, war eine nervenzerfetzende Explosion aus Licht und Lärm.
Das Liedmaterial:
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Tonbeispiele:
- O Welt, ich muß dich lassen, als BWV 395:
- You’ll Never Walk Alone: nicht die üblichen Gerry & The Pacemakers aus How Do You Like It?, 1963,
sondern – wenn man schon eine britische Science-Fiction-Parodie auf die deutsche Renaissance zurückführen muss – Shirley Jones und Gordon MacRae aus der amerikanischen Musical-Verfilmung 1956:
Und als Bonus Track, weil ich „mit Fried und Freud“ (* 6. Mai 1921 bzw. 1856) Geburtstag hab und mir was wünschen darf und weil Frau Deschanel viel mehr in ihrer Eigenschaft als Musikerin gewürdigt gehört: dieselbe als She & Him: der 1964er Feger von Dusty Springfield Stay Awhile, aus: Classics, 2014:
Bilder featuring Zooey Deschanel als Trillian, die im Film 2005 visuell am meisten hergemacht hat:
- Moviepilot: Per Anhalter durch die Galaxis – Bild 32 von 45;
- Moria: The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy (2005);
- Pun’s House!: Trillian Mcmillan vs. Elizabeth Swann.
Die leichtfüßige passive Aggression der Revolution
Update zu Charakter ist nur Eigensinn. Es lebe die Zigeunerin!
und Ich lese jedes Wort von Dir. Die Andern liefern nur Geschmier. (Also sprach der kleine Mops):
Dergleichen wächst ja heute viel zu selten: Verspielte Phantasten, die den Ehrgeiz ihrer schreibfreien Zeiten unter anderem in Glasarchitektur und das Perpetuum mobile setzen. In diesen heil’gen Hallen haben wir Paul Scheerbart schon mit seiner vollständigen Katerpoesie 1909 und der ähnlich gearteten Mopsiade 1920 erlebt, aus welchen uns erhellt: Man liest ein Gedicht, eine Geschichte, ja eine ganze Sammlung von beidem gerne zu Ende, wenn sie sich übermütig genug gebärdet. In Kunst egal welcher Ausrichtung sollte es immer was zu lachen geben, sonst ist sie auf staatstragende Miesnickel und zu ihrer Rezeption verdonnerte Zöglinge als Publikum angewiesen.
Natürlich kann ich da von nichts anderem als meiner eigenen Erfahrung ausgehen, aber wenn die Geschichte leichtfüßig daherkommt, begleitet man sie gern bis zu Ende. Wenn sie es dabei schafft, eine Botschaft zu transportieren, nimmt man sie dankbar mit.
Als Beispiel dient uns Paul Scheerbarts Satire Eine Gerichtssitzung im Jahre 1901. 1897 niedergeschrieben, war die nach 1901 vorausverlagerte Handlung tatsächlich Science-Fiction in einer vagen Zukunft des folgenden Jahrhunderts. Das Thema ist im 21. Jahhundert bitter aktuell geblieben, ja eigentlich erst geworden. Und passive Aggression halte ich ohnehin schon viel zu lange für ein probates rhetorisches Mittel, da können Sie jederzeit meine Frau fragen.
Warum dergleichen so selten wächst? Wenn wir Scheerbarts zeitweisen Wegbegegleiter Erich Mühsam befragen, finden wir im Kapitel Scheerbartiana seiner Unpolitischen Erinnerungen 1931: „Während des Krieges ist Paul Scheerbart gestorben; er hat sein Leben lang zuwenig gegessen und zuviel getrunken.“
O ja, das würde einiges erklären.
——— Paul Scheerbart:
Eine Gerichtssitzung im Jahre 1901
Zukunftsnovellette
aus: Ich liebe dich! Ein Eisenbahn-Roman mit 66 Intermezzos, Schuster & Loeffler, Berlin 1897,
in: Das Lachen ist verboten … Grotesken, Erzählungen, Gedichte und Schnurren,
See-Igel-Verlag Fritz Nuernberger, Berlin-Wilmersdorf 1929:
Adolfine, die Tochter des reichen Fabrikanten Beisel, spielt gelassen auf der Mundharmonika. Das junge Mädchen hat bereits zwei Stunden hindurch Musik gemacht und ist noch immer nicht müde.
Plötzlich erschallt ein Hilferuf auf der Straße.
Die Adolfine läßt das Blasen auf der Mundharmonika ein bißchen sein, wendet zur Seite das zierliche Köpfchen und sagt dabei ganz verwundert:
„Ei! Ei! sollt’ ich diese Stimme nicht schon mal gehört haben?“ Schnell eilt die gute Kleine ans Fenster, öffnet’s und — erblickt — erblickt — Friedrich Schumm, einen ehemaligen Buchhalter ihres Herrn Vaters.
Die Fine sinnt — denkt schließlich nach — und erinnert sich allmählich, daß sie Friedrich einst — liebte — liebte!
Das hatte ihn, den Geliebten, so verwirrt gemacht, daß er als Buchhalter sehr bald nicht mehr zu gebrauchen war.
Friedrich ward deshalb vor einigen Monaten entlassen, denn Vater Beisel kannte in Geschäftsangelegenheiten keinen Spaß.
Und jetzt — gerechter Himmel! — jetzt wird der Friedrich am hellen lichten Tage auf offener Straße „verhaftet“.
Das gnädige Fräulein sieht, wie der Schutzmann den geliebten Friedrich an den Ohren herumreißt, ihm die Handschellen anlegt und ihn wütend weiterstuckst.
Das gnädige Fräulein wendet sich unangenehm berührt — fast beleidigt — ab.
Finchen Beisel spielt wieder auf der Mundharmonika, um bloß nicht die häßlichen Straßenszenen zu sehen.
Die Rohheiten sind im vornehmen Beiselschen Hause verpönt.
„Pfui!“ ruft Beisels Töchterlein, „wie ekelhaft sah das aus!“
Die Sonne brennt heiß auf das Straßenpflaster.
Schutzmann und Friedrich verschwinden.
Das vornehme Beiselsche Haus durchhallen die lieblichen Töne der Mundhamonika.
Einige Tage nach diesem peinlichen Auftritt befindet sich Friedrich Schumm auf der Anklagebank.
Die Richter machen ein sehr ärgerliches Gesicht. Der Staatsanwalt schmeißt bereits zum fünften Mal wutschnaubend seinen Federhalter auf den grünen Tisch, denn der Fabrikant Beisel sagt als Zeuge ganz eigentümliche Sachen über den Angeklagten Schumm aus.
Der reiche Beisel schließt seine Rede, in der er den Friedrich Schumm ganz gehörig schlecht gemacht, ihm sein albernes verliebtes Wesen vorgehalten, ihm seinen Größenwahn gehörig aufgemutzt, ihm wegen seiner frechen Gesinnungslosigkeit tüchtig den Kopf gewaschen hatte — mit den folgenden furchtbaren Worten:
„Und verrechnet hat er sich jeden Tag zwei Mal. Gewissenloser Friedrich, kannst Du das leugnen?“
Friedrich weint und schüttelt wehmütig den Kopf.
Der Staatsanwalt erhebt sich und spricht mit donnernder Stimme:
„Angeklagter, Sie sind wegen unmotivierter Mittellosigkeit verhaftet worden, Der Schutzmann Knillke hatte sich am fünfzehnten Juli Ihr Portemonnaie zeigen lassen, wie das seine Pflicht ist bei allen verdächtigen Individuen. Was fand der Schutzmann Knillke in Ihrem Portemonnaie?“
Angeklagter erwidert weinerlich:
„Eine Mark und fünf und fünzig Pfennige.“
Staatsanwalt: „Und davon wollten Sie noch weitere drei Monate leben? Bis in den Oktober hinein? Herr, was fiel Ihnen ein? Sie wissen doch, daß jeder Staatsbürger verpflichtet ist, jederzeit das für die nächsten drei Monate nötige Geld zum Lebensunterhalt bereit zu halten. Angeklagter, wissen Sie das?“
Angeklagter: „Jawohl!“
Staatsanwalt: „Nun also — wovon wollten Sie denn leben? Wovon? Sagen Sie’s nur! Wie dachten Sie sich die Bestreitung des Lebensunterhalts? Werden Sie nun bald antworten? Was?“
Angeklagter: „Ach, Herr Staatsanwalt, ich hoffte ganz bestimmt, ich würde eine neue Stellung bekommen. Ich bin doch Buchhalter.“
Staatsanwalt: „Ob Sie Buchhalter oder Schornsteinfeger sind — das ist vor Gericht ganz egal. Sie sind verpflichtet, Geld zu besitzen, Sie scheinen das Leben noch nicht zu kennen. Sie wissen doch, daß die Zahl der Vakanzen immer kleiner wird. Ich beantrage drei Monate Zuchthaus mit verschärftem Fasten — wegen unmotivierter Mittellosigkeit. Mein Lieber, wir werden Sie schon kleinkriegen. Ich versteh’ es einfach nicht, wie ein ziemlich gebildeter Mensch sich ohne das nötige Kleingeld auf die Straße wagen kann — eine ganz unglaubliche Frechheit!“
Der Staatsanwalt schließt sein Plädoyer und setzt sich auf seinen Stuhl.
Der Gerichtshof verurteilt den Angeklagten dem Antrage des Staatsanwaltes gemäß.
Der Angeklagte bricht laut weinend auf der Anklagebank zusammen, er ruft dabei schluchzend:
„O Gott, was wird meine arme Mutter dazu sagen? Ihr Sohn Friedrich — ein Verbrecher!“
Lautes Heulen durchhallt den Saal.
Der Herr Präsident bemerkt aber sehr streng:
„Angeklagter Schumm! Was weinen und heulen Sie denn? Machen Sie sich doch nicht zum Narren, Sie lächerlicher Mensch! Seien Sie doch froh, daß wir Ihnen für volle drei Monate die Gelegenheit, Diebstähle zu begehen, genommen haben. Sie wissen doch, daß Diebstahl mit täglichem Durchprügeln bestraft wird!“
Angeklagter: „Ja, hoher Herr Gerichtshof, ich dank’ auch schön für die drei Monate, nehmen Sie mir mein Weinen nicht weiter übel. Ich wollte auch nur zeigen, daß ich noch kein,verstockter’ Verbrecher bin! Aber, hoher Herr Gerichtshof, werd’ ich, wenn ich rauskomm’, auch gleich wieder bestraft werden?“
Staatsanwalt: „Sie sind ein naseweiser dummer Junge! Wegen unmotivierten Fragens beantrage ich einen Monat Prügel!“
Angeklagter sieht sich erstaunt um — setzt sich — und sagt langsam, so als wenn plötzlich ein neuer Geist in ihn gefahren wäre:
„Meine Herren, ich glaube, Sie sind sämtlich — wirklich — ganz und gar verrückt geworden.“
Nach diesen Worten des Angeklagten Friedrich Schumm bricht zum Glück für ihn auf der Straße wieder eine Revolution aus.
Der Präsident und alle Richter laufen rasch nach Hause — der Staatsanwalt und die übrigen Beamten desgleichen.
Schumm bleibt auf seiner Anklagebank verdutzt, ganz ruhig sitzen.
Er ist im nu ganz allein im Gerichtssaal — tatsächlich allein — ein Vergessener!
Er weiß gar nicht, wie er sich benehmen soll.
Inzwischen entwickelt sich die Revolution ganz programmgemäß und zielbewußt.
Schumm versteckt sich später unter seiner Anklagebank, da die Kugeln der Revolutionäre den oberen Teil des Gerichtssaales nur so durchsausen.
Adolfine Beisel denkt währenddem recht freundlich an ihren geliebten Friedrich, verzeiht ihm im Stillen und bläst dazu wieder auf der Mundharmonika.
Die August-Revolution kommt der jungen Dame diesmal genau so langweilig vor, wie die letzte April-Revolution.
Bilder: a. a. O., 1897.
Bläst gelassen auf der Mundharmonika: Big Mama Thornton: Rooster Blues, Ball & Chain, Hound Dog,
about 3 months before she died und nachhaltiges Fernseherlebnis in der ZDF-Matinée, 1984:
Wenn 12 Lenze dir entflohn
Update zu Weihnachtsengel 3: Lasst mich scheinen, bis ich werde
(Mit Freuds Worten singt Mignon als Engel ihr Liebeslied der schönen Seele ohne Geschlecht),
Zu Lolitas Verteidigung,
Fruchtstück 0002: Ein Schooß voll den begehr ich nicht
und Liebchen öffne deinen Schoos:
Das genaue Jahr war nicht zu ermitteln, aber die Spannweite ist nicht sehr groß: Ludwig Hölty starb 1776 mit 27 Jahren an der Schwindsucht. An den Änderungen einer verderbten Version in einer Sammlung aus Wien 1803 ist allenfalls die empfundene Gefährlichkeit des Inhalts zu erkennen, die man dem immer Kind gebliebenen Dichter von Üb immer Treu und Redlichkeit so nicht zutrauen wollte.
Zur Erinnerung: Die historische Florence Sally Horner (* 1937, † 1952) sowie ihr literarisch aufgearbeitetes Abbild „Lolita“ bei Nabokov (1955 ff.) waren anfangs elf Jahre alt.
——— Ludwig Hölty:
Wiegenlied, an ein Mädchen
vor 1803:
Noch schlinget dich die süße Ruh
In ihren Arm. Vergnügt,
Mein kleines Püppchen, schlummerst du,
Wenn dich die Amme wiegt.Auf deinen Wangen keimet schon
Ein sanftes Morgenroth,
Das, wenn 12 Lenze dir entflohn,
Mit schönen Feßeln droht.Um deine jungen Blicke schwebt
Ein Lächeln, welches bald
Dem Stutzer goldne Netze webt,
Der dir entgegenwallt.Dann öfnen hundert Fenster sich,
Wenn du am Fenster stehst,
Und Blick auf Blick verfolget dich,
Wenn du zur Kirche gehst.Man lobt, von warmer Lieb entbrannt,
Bald deinen kleinen Fuß,
Bald dein Gesicht, bald deine Hand,
Und wünscht sich deinen Kuß.Du aber, holder als der May,
Der sich in Blüthen hüllt,
Mein Püppchen, bleib der Unschuld treu,
Die jetzt dein Herz erfüllt.Es wimmre der Insektenchor
Des Stutzervolks sich heisch!
Leih nie dein jungfräuliches Ohr
Dem summenden Geräusch.Die Tugend, die der Himmel minnt,
Schätz über Gold und Rang.
Dann sing ich dir, mein schönes Kind,
Noch einst den Brautgesang.
Bilder: Sue Lyon (* 1946, † 2019), die Lolita 1962 unter Stanley Kubrick,
in: Tony Rome, 1967, via Don’t touch me, I’ll die if you touch me, 2022,
auf dem Filmplakat mit Frank Sinatra (* 1915, † 1998), via FamousFix.
Soundtrack: Hugh Laurie: LIttle Girl, aus: A Bit of Fry & Laurie, Folge #4.3, 26. Februar 1995::
Filetstück 0006: Gelehrsamkeit war Hinnerk sein Fall nicht
Update zu Und vierzehn Gräser formen ein Sonett,
Filetstück 0004: Lieber ein bissel zu gut gegessen, als wie zu erbärmlich getrunken (Eduard schnarche nicht so!)
und Filetstück 0005: Was erst verdrießlich schien, war schließlich gut für ihn:
Die Welt vermisst schnurrige Geschichten, in denen zwölfjährige Bengel mit aller gebotenen Selbstverständlichkeit Pfeife rauchen.
Wenden wir uns zu seinem 190. Geburtstag an Wilhelm Busch (* 15. April 1832, Wiedensahl). Die ersten beiden seiner Prosawerke – wir haben auf Eduards Traum 1891 und den Schmetterling 1895 aufmerksam gemacht – sind immerhin noch in der gut zugänglichen zweibändigen „Gesamt“-Ausgabe von Rolf Hochhuth 1960 vorhanden, nach seinem letzten Prosastück Meiers Hinnerk 1905 sucht man selbst dort vergebens.
Begründet oder auch nur begründbar ist das nicht, aber dafür gibt es ja uns. Es ist offenbar eins der Werke, die Busch nicht selbst illustriert hat, was uns den Spielraum verschafft, modernes Bildmaterial dazu in Beziehung zu stellen. Es stammt deshalb nicht aus dem Wilhelm-Busch-Museum in Buschs Geburtsort Wiedensahl, sondern aus seinem Sterbeort Mechtshausen mit dem Wilhelm-Busch-Haus, weil anzunehmen ist, dass er bei der Niederschrift die Landschaft mit Blick auf den Heber vor Augen hatte: nicht mehr ganz in der Heimat seiner Kindheit bis in die mittleren Jahre, noch nicht ganz im Harz. Großstädter war er trotz Lebensstationen in Düsseldorf, Frankfurt und München nie: Mechtshausen, das Busch sich wissend und gerne als Alterssitz ausgesucht hat, zählte auf dem Stand von 2018 satte 371 Einwohner und anno 1898 bestimmt nicht viel mehr; die Landschaft müsste ihm also entsprochen haben.
Man braucht etwa eine Viertelstunde zum Vorlesen, wie es nicht zuletzt Andreas Muthesius auf Spotify – als Rausschmeißer aus dem Hörbuch Wilhelm Busch: Poesie & Prosa 2012, und das in sehr angemessenem Tonfall – vormacht. Die o. g. „Gesamt“-Ausgabe, an der mir nach all den Jahrzehnten erst 2022 dieser eine Fehlbestand aufgefallen ist, gehört trotzdem in jeden Haushalt.
——— Wilhelm Busch:
Meiers Hinnerk
Manuskript datiert als „Mechthausen December 1905“,
Niedersächsisches Kalenderbuch Der Heidjer, 1907,
in: Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bde. I–IV, Band 4, Hamburg 1959, Seite 332 bis 336:
Grad ausgestreckt in der Ebene und Hof an Hof lag das alte friedliche Dorf, die Häuser mit Stroh gedeckt. Und jedes Haus hatte rückwärts sein Gärtchen und hinter jedem Gärtchen sein Ackerfeld, und durch jedes Feld ging ein Grasweg, ein breiter, nach der heckenumgrenzten Wiese, und hinter sämtlichen Wiesen stand der hohe schattige Wald.
Es war ein heiterer Tag zu Anfang des Herbstes, wenn durch die Luft schon die silbernen Mettken schweben. Aus allen Gehöften, wie nachmittags gewöhnlich, kamen die kleinen Hirten und Hirtinnen mit ihren Kühen.
Auch Meiers Hinnerk hatte zwei, eine schwarze und eine braune, am Strick, um sie, zunächst den Grasweg beweidend, allmählich der Wiese entgegenzuführen. Zwölf Jahre war er alt, flachshaarig und wohlgenährt. Längst war ihm die verblaßte leinene Hose zu eng und zu kurz geworden. Hinten drauf, einander gegenüber, gleich einer blauen Brille, saßen sogar schon, zu seinem Verdruß, zwei zirkelrunde dunklere Flicken; ein Werk der nehrigen Mutter, die immer behaupten wollte, in alten Hosen sähen Jungens am strammsten und gesundesten aus.
Gelehrsamkeit war Hinnerk sein Fall nicht. Dennoch, während die beschränkten Tiere am Boden ihr Futter suchten, zog er sofort seinen Katechismus aus der zugeknöpften Jacke hervor. Mit helltönender Stimme, in steter Wiederholung, prägte er die Aufgabe für den folgenden Schultag in den widerspenstigen Schädel. Seine Kollegen im Felde, weithin vernehmlich, übten dieselbe Lektion. Sie wußten warum. Küster Bokelmann, der Meister der Schule, besaß einen kniffigen Rohrstock, der die schlummernden Seelenkräfte, selbst im voraus, vorzüglich zu ermuntern verstand.
Nachdem das dringende Geschäft der Bildung des Geistes somit glücklich erledigt war, widmete sich unser Hinnerk einer mehr freien gemütvollen Tätigkeit.
Auf dem Rücken der schwarzen Muhkuh, an geeigneter Stelle, begann er Haare zu zupfen und bildete so auf der entblößten Haut ein großes lateinisches L. Hierbei, sinnig vertieft, sang er leise den Namen Lina vor sich hin, indem er auf dem i besonders lange quinquillierend verweilte.
Mittlerweile hatte er die Wiese erreicht, schloß das Tor, nahm den Kühen den Strick ab und ließ sie grasen nach Belieben.
Wo ein Kuhjunge hütet, muß natürlich ein Feuer sein. An sich schon dem Auge ergötzlich, bei kühlem Wetter auch willkommen der Wärme wegen, ist es geradezu unentbehrlich für das Braten der Kartoffeln.
Demnach vor allen Dingen sammelte Hinnerk feine Spricker und brach dünne Knüppel aus der Hecke. Da es zur Zeit noch keine Reibhölzchen gab, mußte er erst emsig pinken, bis an den Zunder der richtige Funken sprang. Einen Topp Hede hatte er mitgebracht. In ihn ward der glimmende Schwamm gehüllt, durch Weifen und Pusten die Flamme entfacht, zunächst dünnes, dann dickes Holz regelrecht drüber geschichtet, und hochauf loderte bald ein erfreulicher Scheiterhaufen.
Beiseit, schon früher aus Zweigen und Plaggen erbaut, stand Hinnerks zwar enge, doch trauliche Hütte. Aus dieser entnahm er das von ihm selber geflochtene Weidenkörbchen, begab sich ins Feld hinaus und kehrte zurück mit zwei Dutzend der dicksten Kartoffeln und fünf jungen Mäusen, die er beizu im Neste erwischt und getötet hatte. „Dat sind fief fette Happen vär use Kättkens terhus“, dachte er schmunzelnd.
Noch waren zum Einlegen der rötlichen Knollen nicht Kohlen genug reif. Infolgedessen kriegte Hinnerk sein Messer heraus, ein wertvolles Werkzeug, für drei Mariengroschen hat’s ihm der gute Vater gekauft auf dem Markt in der Stadt. Das kleine Öhr am Heft, um’s mit einer Schnur an der Hosentasche zu befestigen, war übrigens eine Sicherheitsvorrichtung, die Hinnerk verschmähte. Er flötete, prüfte am Daumen die Schneide, fällte eine stattliche Doldenpflanze und verfertigte aus ihren hohlen Stengeln ein niedliches Schmökepfeifchen; denn sich täglich ein wenig im Rauchen zu üben, hielt er für nötig, und was den Tabak betrifft, so schien ihm recht trockenes Haselnußlaub für den Anfang nicht übel.
Sein gestopftes Pfeifchen zu entzünden, näherte sich Hinnerk der Feuerstätte.
„Hutt bäh!“ rief eine Mädchenstimme, und Nachbars Gretliesche, ein munteres hübsches rothaariges Kind von elf Jahren, kroch durch ein Loch in der Hecke.
„Wat wutt du denn hier?“ fragte Hinnerk sehr kühl.
„Helpen!“ erwiderte sie kurz und keck. Ohne weiteres legte sie die Kartoffeln ins Feuer, hielt dem Hinnerk einen glühenden Span auf die Pfeife, setzte sich aufs Rasenbänkchen in der Hütte und lud ihn ein, zu ihren Füßen sich niederzulassen, wozu er sich nach einigem Zögern auch wirklich entschloß.
Liebkosend nahm sie ihn beim Kopf und unterzog denselben alsbald einer genauen Besichtigung.
„Eck finne jo nix!“ rief sie enttäuscht.
„Dat löw eck woll“, meinte er, „hat gistern use Grotmeuhme all’e knicket.“
Aber Gretliesche, ganz leise leise, krabbelte weiter im Haar. Ein wonniges Rieseln lief ihm den Rücken hinunter. Die Pfeife entsank seiner Hand, die Augen schlossen sich halb. In solch einem dämmerigen Zustand sagt der Mensch manches, was er sonst wohl verschwiegen hätte.
„Segg eis, Hinnerk“, fragte sie behutsam, „haste denn ok all ’ne Brut?“
„Swarte Haare hat se und glinstertswarte Ogen un“ – er stockte.
„Oh, nu weet eck et all!“ rief Gretliesche, „Kösters Lina is et, de is jo tein Jahre öller ans du.“
„Dat deit nix“, sagte er, „und wenn se ok dusend Jahr öller is.“
„Ja“, meinte Gretliesche dagegen, „wenn man Verwalter Klütke mit sinen langen Snurrbart nich wöre.
„Den Kerl sla eck dot!“ rief er heftig.
„Und denn komet se her un hänget di upp!“ entgegnete sie.
„Erst hebben!“ lachte er. „De längeste Mettwost hal eck un lope weg und vestäke mi baben in der Schüne int Hei.“
„Oh, wat’n Nare!“ Mit diesen Worten gab ihm die Gretliesche einen verächtlichen Schubbs und sprang aus der Hütte.
„Kiek na den Kartuffeln!“ rief Hinnerk ihr nach.
„Do et sülbenst!“ Und weg war sie durch die Hecke.
Er versuchte auszuspucken. Es ging aber nicht recht.
„Van den Smöken werd’n ok so dröge in’n Halse“, murmelte er in sich hinein.
Eben graste die rote Kuh mit dem strotzenden Euter vorüber. Er strich ihr sanft über den Rücken.
„Woha!“ Das gute Tier stand still. Dicht hinter ihr setzte er sich in die Hurke, zog eine Zitze zu sich her und melkte einige Spritzer in den weit geöffneten Mund, daß es strullte.
Im selben Augenblick – so war es vorher bestimmt im Laufe der Dinge – hob die Kuh ihren Schwanz, indem sie ihn, des größeren Nachdruckes wegen, zugleich schraubenförmig verkrümmte; nicht ohne warmen Erfolg.
„Hahaha, dat is di jüst recht!“ lachte und rief wer von seitwärts herüber. Oben in einer hainbuchenen Hucht saß die Gretliesche und sah zu mit Vergnügen.
„‚Ole Ape!“ war alles, was Hinnerk drauf sagte.
Vermittels eines Grasbüschels, ohne sich sehr zu erregen, brachte er die Sache bald wieder, sozusagen, ins reine.
Und nun ging’s an die Kartoffeln. Sie schmeckten ihm trefflich; auch mußte er sich schneuzen mitunter, auf natürliche Art; daher wurde er um Mund und Nase schön schwarz übermusselt.
Jetzt aber fiel ihm was Wichtiges ein. Aus dem Murk, dem heimlichen Versteck unter der Rasenbank, entnahm er ein absonderlich merkwürdiges Schießeding; einen ausgehöhlten Ast, mit Draht umflochten, seitlich mit Zündloch versehen. Eine Tute voll Pulver, das er beim Krämer gegen Eier sich eingetauscht – er wußte die verborgensten Hühnernester – kam gleichfalls zum Vorschein. Kräftig wurde geladen, und mächtig war der Knall.
Das schüchterne Reh, das kurz vorher aus dem Wald in die Wiese getreten, entfloh in Eile. Angelockt durch den Schuß dagegen wurden drei andere Hütejungens: Kord, Krischan und Dierk.
Zum zweiten Male ward das Geschütz geladen, zum zweiten Male ballerte weithin das Echo im Walde entlang.
Hiernach setzten sich die vier behaglich ans Feuer, alle schwarz um die Mäuler.
Krischan besaß einen richtigen Tonpfeifenstummel, gefüllt mit echtem Bauernkanaster, den er direkt, doch unter der Hand, von seinem Alten bezog. Jeder, der Reihe nach, tat einen tüchtigen Zug daraus.
Kord danach gab einen saftigen weinsauren Apfel zum besten. Jeder, der Reihe nach, tat einen tüchtigen Biß hinein.
Dierk aber führte bei sich einen knorrigen Eichenstock, dessen Griff ein menschliches Antlitz vorstellte, von Dierk selber geschnitzt. Der Knittel, zur Besichtigung, ging gleichfalls reihrund. Besonders genau sah Krischan das Bildnis sich an.
„Dönnerslag“, rief er, „dat is jo de Köster. Ehrgistern hat he mi hauet, un vandage deit mi de Lenne noch weih!“
Und ehe Dierk es verhindern konnte, brach Krischan den künstlichen Stock vor dem Knie ab und übergab ihn den Flammen.
„Hurra!“ jubelten die Jungens, tanzten ums Feuer, häuften grüne Ellernzweige darauf und erzeugten so einen großen herrlichen Dampf, der als duftiger Schleier die Gegend umhüllte.
Die Sonne ging unter. Vom Dorfe her tönte die Abendglocke.
„Et is Tiet“, mahnte Hinnerk, „de Bäklocke lutt.“
Jeder eilte zu seinen Kühen, um sie am Strick nach Hause zu geleiten.
Angenehme Gerüche, die Vorboten des Abendessens, wehten ihnen entgegen und erregten die Gemüter zu Jauchzen und Gesang.
Küster Bokelmann, die lange Pfeife im Munde, führte an seiner Gartenpforte mit Verwalter Klütke ein gemütliches Dämmergespräch.
„Es gibt ander Wetter“, sprach er, „die Kuhjungens schreien heut so im Felde.“
„Ganz recht, Herr Kanter; vor der Sonne stand eine verdächtige Wolke“, stimmte Klütke ihm bei.
Indem kam Lina gesprungen.
„Papa“, rief sie schon von weitem, „der Pfannkuchen wartet. Ei sieh da, Herr Verwalter, wollen Sie nicht mitessen bei uns?“
„Wer könnte einer Einladung von solch reizender Seite widerstehen?“ erwiderte Klütke, verbindlich den Schnurrbart streichend.
„Dat di de Düwel wat backet!“ knurrte Hinnerk, der gerade vorüberzog, mit einem grimmigen Seitenblick.
Als er den elterlichen Hof erreichte, strich schon leise miauend die Katze an ihm hin. Dankbar nahm sie ihre fünf kleinen Mäuse in Empfang.
An der Tür stand die Großmutter, ihren Liebling erwartend.
„Minsche, wo swart sühst e ut!“ rief sie bei seinem Anblick erschrocken.
Eilig führte sie ihn in den Hintergrund des Hauses, wo das Küchengerät stand, rieb ihm Kopf und Gesicht mit dem feuchten, geschmeidig fettigen Schüsseltuch und trocknete ihn ab mit der Schürze.
In der Döntze baumelte bereits der brennende Trankrüsel an dem verstellbaren Haken. Auf der Tischplatte lag ein Haufen dampfender Kartoffeln; daneben, auf rundem Brett, stand das köstliche Pannenstippelse, bereitet aus geglühtem Rüböl und gebratenen Zwiebeln. Vater und Mutter tunkten schon ein. Hinnerk nahm dicht bei der Großmutter Platz. Sie pellte ihm sauber die schönsten Kartoffeln ab. Zwei verzehrte er, nicht eben geschwind. Dann klappte er entschieden sein Messer zu.
„Wo vele hast e denn all bipacket in der Wisch?“ fragte sorglich die Großmutter.
„En stücker twölwe, mehr nich“, erwiderte er gähnend.
Die Großmutter befühlte ihm den Leib.
„No“, meinte sie beruhigt, „denn konnste wol faste liggen düsse Nacht.“
Das tat er denn auch. –
Überhaupt, seine Herzenssorgen waren nicht so bedrückend, daß sie ihm jemals die nächtliche Ruhe störten; selbst dann nicht, als drei Monate nachher Verwalter Klütke, der ein kleines Gütchen gepachtet hatte, sich mit der schönen Lina vermählte.
Und so geht’s zu in dieser neckischen Welt: zehn Jahre später hat die Gretliesche ihren Hinnerk doch noch gekriegt.
Fachfilm: Wilhelm-Busch-Haus Mechtshausen e. V., 2015:
Bilder: Mechtshausens Homepage, Ortsbilder … eines der schönsten Dörfer am Harzrand, ca. 2015;
Wilhelm-Busch-Haus aus harzlife.de, der Online-Reiseführer.
Soundtrack, damit am Geburtstag was aus dem Geburtsort und am Karfreitag was Österliches dabei ist:
Handglockenchor Wiedensahl in Gestalt von Thomas Eickhoff: Dona nobis pacem am 9. April 2020:
Dornenstück 0009: Die Kinder verdarben (Schauderhaft, höchst schauderhaft)
Update zu Nachtstück 0003: Polizistenschatten im Laternenschein,
Wenn andere bluten und
Morgenstern über Greifswald (und keiner schaut hin):
Ne prêtez pas vos livres : personne ne les rend jamais. Les seuls livres que j’ai dans ma bibliothèque sont des livres qu’on m’a prêtés.
Anatole France zugeschrieben.
Die Moral ist offenkundig: Du sollst keine Bücher verleihen. Ebenso offenkundig war es bei Hermann Harry Schmitz nicht die Familienbibel, das Buch wurde nur so benutzt. Außerdem konnte es erst durch seine Abwesenheit solches Unheil anrichten. Und wer trug die Schuld: das Buch oder Herr Mehlenzell?
——— Hermann Harry Schmitz:
Das verliehene Buch.
aus: Der Säugling und andere Tragikomödien, Abschnitt Was so in der Familie vor sich geht,
Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig 1911, Seite 80–84:
Es war ein prächtiges Buch mit Goldschnitt und Damasteinband, das in der guten Stube auf dem Tisch lag.
Es war ein sehr langweiliges Buch mit schlechten, sehr schlechten Illustrationen.
Es war der Stolz der ganzen Familie.
Nur der Vater durfte das Buch in die Hand nehmen. An Festtagen setzte sich der Vater sonntagsangezogen in die gute Stube und las der Mutter und den Kindern mit sonorer Stimme und falscher Betonung aus dem feinen Buch vor. Würdevoll und prätentiös wusch er sich vorher die Hände. Häufig unterbrach er das Vorlesen und erklärte die Abbildungen. Die Kinder machten verständige Gesichter und große, kluge Augen; sie kniffen sich heimlich gegenseitig in die Beine. –
Herr Mehlenzell war ein Bekannter des Vaters; er hatte einen Kolonialwarenladen und schrieb an.
Man brauchte viel im Haushalt, und das Gehalt des Vaters war klein.
Herr Mehlenzell bat eines Tages den Vater, er möchte ihm das prächtige Buch leihen. Der Vater erbleichte; er konnte nicht gut „nein“ sagen.
„Auf ein paar Tage. – Bestimmt, selbstverständlich haben Sie es nächsten Sonntag zurück,“ hatte Herr Mehlenzell gesagt.
Man sprach in der Familie nur über das Buch. Die Mutter meinte, man hätte es ihm nicht geben sollen. Der Vater war sehr ernst. „Bestimmt haben Sie es Sonntag zurück, hat Herr Mehlenzell gesagt,“ verteidigte sich der Vater. „Wir wollen sehen,“ brummte die Mutter.
Wo das Buch in der guten Stube gelegen hatte, war ein viereckiger Fleck auf der Tischdecke; der Plüsch war da nicht so verschossen.
Der Sonntag kam. Man war schon sehr früh aufgestanden. Es wurde Mittag; Herr Mehlenzell hatte das Buch nicht gebracht. Der Vater saß mit der Mutter in der guten Stube und war sehr ernst. Keinem hatte das Essen so recht geschmeckt. Um die Kinder kümmerte sich niemand. Man ließ sie im Garten über die Bleiche tollen und ungestört die unreifen Stachelbeeren essen. – Der Vater trank eine halbe Flasche Rum. Die Mutter hatte verweinte Augen. Die gute Stube wurde abgeschlossen.
Der Vater mußte Montag und Dienstag im Bett liegen. Die Mutter vernachlässigte den Haushalt. Die Kinder verwilderten.
Hundertundvierzig Mark bekam Herr Mehlenzell noch. Man durfte nicht wagen, ihn an das Buch zu erinnern.
Es war unheimlich im Hause, wie wenn jemand gestorben wäre. Den Vater sah man viel mit der Rumflasche hantieren. Die Familie ging zurück. –
Der dritte Sonntag kam und das Buch war noch immer nicht da.
Es konnte so nicht mehr weiter gehen.
Nach dem Mittagessen schrie der Vater nach seinem schwarzen Rock und den Manschetten, rasierte sich und ging zu Mehlenzells.
Frau Mehlenzell öffnete selbst.
Er fragte nach Herrn Mehlenzell.
Frau Mehlenzell war mürrisch und fragte, was es sei. Ihr Mann wolle nach dem Essen nicht gestört sein; was es sei.
Es sei sehr dringend, er müsse mit Herrn Mehlenzell sprechen, beharrte der Vater.
Frau Mehlenzell ging brummend in ein Zimmer und ließ den Vater auf dem Korridor stehen.
Frau Mehlenzell hatte die Tür nicht fest hinter sich zugemacht. Herr Mehlenzell schimpfte, man solle ihn ungeschoren lassen. Was denn der Hungerleider wolle? Dann wurde von innen wütend die Tür zugeschlagen.
Nach einer Weile kam Frau Mehlenzell zurück; ihr Mann hätte nicht viel Zeit, er möge sich kurz fassen. –
Herr Mehlenzell lag auf dem Sofa und rauchte eine Zigarre. Er stöhnte den Vater an und blieb ruhig liegen.
Er wolle ihm auf die Rechnung etwas abbezahlen, fing der Vater schüchtern an.
Herr Mehlenzell richtete sich auf und bat den Vater, doch Platz zu nehmen; er schob ihm auch das Zigarrenetui hin.
„Über wieviel darf ich quittieren, bitte?“
„Über zwanzig Mark.“
Herr Mehlenzell nahm das Zigarrenetui wieder an sich.
Im Nebenzimmer übte jemand sehr auf dem Klavier.
„… und dann, was ich sagen wollte,“ quetschte der Vater hervor, „ich möchte mal nach dem Buch fragen, ob es Ihnen gefallen hat und ob Sie es vielleicht aushaben?“
„Welches Buch?“
„Sie wissen doch – das Buch von mir, das schöne Buch, was ich Ihnen vor drei Wochen geliehen habe.“
„Ach so, ja. Jetzt fällt es mir ein. – Ja, wo habe ich das?“
Dem Vater standen dicke Angstperlen auf der Stirn.
„Warten Sie einmal, da muß ich meine Frau fragen. Haben Sie denn das Buch so nötig?“
Herr Mehlenzell verließ murmelnd das Zimmer.
Im Nebenzimmer spielte man zum siebenten Male „Mädchen, warum weinest Du„.
Der Vater ging an die halb geöffnete Tür und schaute hinein. Lenchen Mehlenzell saß am Klavier.
Man hatte auf einen Stuhl Bücher gelegt, damit Lenchen hoch genug saß.
Der Vater war einer Ohnmacht nahe; Lenchen saß auf dem prächtigen Buch!
Der Vater war sonst nicht roh. Er stürzte aus dem Hinterhalt auf das nichtsahnende Kind und warf es von seinem Sitz, ergriff das Buch und floh.
Zu Hause. – Das Buch wurde geprüft, es hatte gelitten. Man hatte auf dem Deckel etwas geschnitten, etwas Fettiges, scheinbar Wurst. Es mußte häufig gefallen sein, die Ecken waren verbogen und die Seiten saßen teilweise lose im Rücken.
Mit zitternder Hand blätterte der Vater in dem Buch.
Seite 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 40 – der Vater wurde stutzig … 41, 42, 43, 44, 13, 14, 15, 58, 59, 60, 61, 16 – der Vater wurde grün im Gesicht … 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 105, 106, 107, 108 – dem Vater fiel sein Glasauge aus dem Kopf … 109, 110 – jetzt wurden die Seiten kleiner, sehr seltsam … 111, 112. Seite 110 schloß „Wanderburschen, wandert zu in die weite Welt hinaus“, und es ging weiter aus Seite 111 „mit der weißen, aristokratischen Hand durch das gewellte Haar und ging erregt auf Leonie zu.“ In Vaters Buch kam keine Leonie vor. Der Vater bekam einen eiförmigen Kopf.
Der Vater erschlug die Mutter.
Aus dem Buch fiel eine Ansichtskarte an Frau Mehlenzell aus Saarbrücken und ein Zettel mit den denkwürdigen Worten: „2 Paar Socken, 3 Kragen, 1 Taschentuch, 1 Vorhemdchen, 1 Paar Manschetten.“
Der Vater sprang am Fenster hinaus und brach das Genick.
Die Kinder verdarben. –
Bilder: Svato Zapletal: Hermann Harry Schmitz: Das verliehene Buch • Die vorzügliche Kaffeemaschine,
Svato Verlag, Hamburg 2008;
Cover Hermann Harry Schmitz: Buch der Katastrophen, Diogenes 1978.
Soundtrack: Mädchen, warum weinest Du?, belegt ab 1843;
Einspielung von Dagmar Manzel, aus: MENSCHENsKIND, 2014:
Bonus Track: Bell Book & Candle: Rescue Me, aus: Read My Sign, 1997 f.:
Krullsekt (Fürchten Sie die Gesetze!)
Update zu Ich trinke ein Glas Burgunder!,
Damit du siehst, wie leicht sich’s leben läßt
Saufspiele für Bücher-Geeks
und Wein-Lese:
Ich tränke gern ein Glas, die Freyheit hoch zu ehren,
Wenn eure Weine nur ein Bißchen besser wären.Mephistopheles, Vers 2245 f.
Dem Vorsatz, nicht immer bloß aus dem ersten Theil, erstes Buch, erstes Capitel zu zitieren, ist schwer Folge zu leisten. Vor allem wenn man wie ich am liebsten mit dem Nachwort anfängt und dann natürlich schon auf den ersten 40 Seiten schwächelt. Und wenn man bei der Charakterisierung der Hauptfiguren über ihr marktwirtschaftliches Produkt seinen oberexquisiten Gummibärchensirup (Kong Strong Wild Power Urban Classic) durch die Nase prustet vor Lachen.
Das so vielversprechend beschriebene Etikett war nicht aufzutreiben — vermutlich weil es nie ausgeführt wurde. Wenn bei Gelegenheit jemand so viele künstlerische mit technischen Fertigkeiten verbinden wollte?
——— Thomas Mann:
Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull
Der Memoiren erster Teil. Erstes Buch, Erstes Kapitel,
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1954, Fischer-Gesamtausgabe Seite 267 f.:
Mein armer Vater war Inhaber der Firma ‚Engelbert Krull‘, welche die untergegangene Sektmarke ‚Lorley extra cuvée‘ erzeugte. Unten am Rhein, nicht weit von der Landungsbrücke, lagen ihre Kellereien, und nicht selten trieb ich mich als Knabe in den kühlen Gewölben umher, schlenderte gedankenvoll die steinernen Pfade entlang, welche in die Kreuz und Quere zwischen den hohen Gestellen hinführten, und betrachtete die Heere von Flaschen, die dort in halbgeneigter Lage übereinandergeschichtet ruhten. Da liegt ihr, dachte ich bei mir selbst (wenn ich auch meine Gedanken natürlich noch nicht in so treffende Worte zu fassen wußte), da liegt ihr in unterirdischem Dämmerlicht, und in euerem Innern klärt und bereitet sich still der prickelnde Goldsaft, der so manchen Herzschlag beleben, so manches Augenpaar zu höherem Glanze erwecken soll! Noch seht ihr kahl und unscheinbar aus, aber prachtvoll geschmückt werdet ihr eines Tages zur Oberwelt aufsteigen, um bei Festen, auf Hochzeiten, in Sonderkabinetten eure Pfropfen mit übermütigem Knall zur Decke zu schleudern und Rausch, Leichtsinn und Lust unter den Menschen zu verbreiten. Ähnlich sprach der Knabe; und so viel wenigstens war richtig, daß die Firma ‚Engelbert Krull‘ auf das Äußere ihrer Flaschen, jene letzte Ausstattung, die man fachmännisch die Coiffure nennt, ein ungemeines Gewicht legte. Die gepreßten Korken waren mit Silberdraht und vergoldetem Bindfaden befestigt und mit purpurrotem Lack übersiegelt, ja, ein feierliches Rundsiegel, wie man es an Bullen und alten Staatsdokumenten sieht, hing an einer Goldschnur noch besonders herab; die Hälse waren, reichlich mit glänzendem Stanniol umkleidet, und auf den Bäuchen prangte ein golden umschnörkeltes Etikett, das mein Pate Schimmelpreester für die Firma entworfen hatte und worauf außer mehreren Wappen und Sternen, dem Namenszuge meines Vaters und der Marke ‚Lorley extra cuvée‘ in Golddruck eine nur mit Spangen und Halsketten bekleidete Frauengestalt zu sehen war, welche, mit übergeschlagenem Beine auf der Spitze eines Felsens sitzend, erhobenen Armes einen Kamm durch ihr wallendes Haar führte. Übrigens scheint es, daß die Beschaffenheit des Weines dieser blendenden Aufmachung nicht vollkommen entsprach. „Krull“, mochte mein Pate Schimmelpreester wohl zu meinem Vater sagen, „Ihre Person in Ehren, aber Ihren Champagner sollte die Polizei verbieten. Vor acht Tagen habe ich mich verleiten lassen, eine halbe Flasche davon zu trinken, und noch heute hat meine Natur sich nicht von diesem Angriff erholt. Was für Krätzer verstechen Sie eigentlich zu diesem Gebräu? Ist es Petroleum oder Fusel, was Sie bei der Dosierung zusetzen? Kurzum, das ist Giftmischerei. Fürchten Sie die Gesetze!“ Hierauf wurde mein armer Vater verlegen, denn er war ein weicher Mensch, der scharfen Reden nicht standhielt. „Sie haben leicht spotten, Schimmelpreester“, versetzte er wohl, indem er nach seiner Gewohnheit mit den Fingerspitzen zart seinen Bauch streichelte, „aber ich muß billig herstellen, weil das Vorurteil gegen die heimischen Fabrikate es so will – kurz, ich gebe dem Publikum, woran es glaubt. Außerdem sitzt die Konkurrenz mir im Nacken, lieber Freund, so daß es kaum noch zum Aushalten ist.“ Soweit mein Vater.
Bilder: Château Migraine: Grand vin misérable, Domaine Scharlatan, Appellation souterraine pas controlée, avec Goldmedaille.
Soundtrack: Dschinghis Khan: Loreley, aus: Wir Sitzen Alle Im Selben Boot, 1981.
Teuflischerweise eine nicht ganz reizlose Melodie:
Grabberland (Sein Maul ist beiß, sein Griff ist bohr)
Update zu The rhythm of our rowing
You’ll learn to sprechen Deutsch mein kind, ash fast ash you tesire
und And to watch it dwindle gave him Kugelkopfschwindel:
Wenn man vom Enkel- bis ins Großvateralter nie von den zwei Alice–Büchern von Lewis Carroll losgekommen ist, fällt auf, mit wie vielen deutschen Sachen diese englischsten aller Bravourfeuerwerke verwoben sind.
Um nicht auf die zahllosen gelehrten, bei tieferer Betrachtung schon gar nicht mehr kindgerechten – wohl aber jugendfreien – Sprachkapriolen einzugehen, sei mit aller dringenden Wärme auf The Annotated Alice. Alice’s Adventures in Wonderland and Through the Looking-Glass von Martin Gardner verwiesen, die seit 1960 in ihren häufigen Auflagen immer nur besser, ausführlicher und penibler geworden ist. Speziell den Jabberwocky aus Through the Looking-Glass, and What Alice Found There hat Carroll seit einer einstrophigen Urfassung in einem der Dodgson’schen Familienmagazine Mischmasch mit sich herumgetragen, um ihn 1871 erweitert, illustriert und zurechtgeputzt an prominenter, kommerziell bedeutsamer Stelle zu verwenden.
Was aus dem Mischmasch als Setzling gedieh, interpretiert Alice 1871 textimmanent:
„Somehow it seems to fill my head with ideas——only I don’t exactly know what they are! However, somebody killed something: that’s clear, at any rate——“
Etwas zu töten wird ohnehin in viel zu weiten Teilen der Welt als typisch deutscher Vorgang angesehen; in diesem Fall zurecht, weil das Motiv des heldenhaften Drachentötens stark mit der erzdeutschen Siegfried-Sage konnotiert ist. Was wunder also, dass man sich in der Welt ab 1933 auf grundlegenden Nonsens und speziell den Jabberwocky zu besinnen anfing, als es zur kollektiven Seelenhygiene und politischen Aufarbeitung notwendig wurde, den deutschen Nationalsozialismus zu parodieren. Was nicht einmal die reichhaltigen Jabberwocky Variations bringen, war einst Gegenstand in der Lewis Carroll Group, als es statt Facebook-Gruppen noch quicklebendige Yahoo-Gruppen gab: Grabberwocky. Zu rekonstruieren war etwa zwei Jahrzehnte nach Löschung der Diskussionsgruppe:
According to Jabberland it was originally published as „Grabberwochy“. Set to music by Max Saunders and Max Kester and used as a prologue to Adolf in Blunderland by James Dyrenforth and Max Kester, produced by the BBC Oct 6, 1939 and Feb 12, 1940. Both scripts spelled Grabberwochy. Not included in the published play. The spelling was changed when Barsley used it in „Grabberwocky and Other Flights of Fancy“ pub. John Murray, 1939. The four versions are essentually the same with some punctuation differences, the title spelling and the last word of the first stanza: julestreich (probably for Jules Streicher—nazi editor of Der Sturmer) first BBC script had it as pilestreich, perhaps for British General Sir Frederick Alfred Pile, but this was crossed out and changed to judestreich. Then in the book form it was anglicized to jewstreich. One other thing: ‚my rhenish boy‘ (original) changed to ‚my schemish boy‘ in BBC version.
I did not do the research on this but I remember tons of email back and forth and this endnote had the most revisions in the book due to the many versions.
Hope any of this helps.
DaynaI’ve found it in my research about „Adolf in Blunderland“, about which I once asked some info (always welcome!)
Das ist eine ausführlichere und dankenswertere Forschung, als sie für die Parodie einer Parodie jemals zu erwarten wäre. – Volltext:
——— Michael Barsley:
Grabberwocky
from: Time and Tide July 1939:
‘Twas Danzig, and the Swastikoves
Did Heil and Hittle in the Reich
All Nazi were the Lindengroves
And the Neurat Jewstreich.Beware the Grabberwock, my Son
The Plans that spawn, the Plots that hatch,
Beware the JewJew Bird, and shun
The führious Bundesnatch.He took his Aryan Horde in Hand
Long Time the Gestapo He taught
Then rested He by the Baltic Sea
And stood awhile in Thought.And as a Polish Oath they swore
The Grabberwock, with Lies aflame
Came Goering down the Corridor
and Goebbled as it came.Ein, Zwei! Ein, Zwei! One in the Eye
For Polska Folk. Alas, alack!
He left them dread and as their Head
He came Meinkampfing back.And hast thou ta‘en thy Liebensraum?
Come to my Arms, my schemish Boy
Oh grabjous Day, Sieg Heil, be Gay
He strengthened through his Joy.‘Twas Danzig, and the Swastikoves
Did Heil and Hittle in the Reich
All Nazi were the Lindengroves
And the Neurat Jewstreich.
And hast thou slain the Jabberwock? Nicht ganz. Nicht nachweisen konnte ich eine Vertonung von Max Saunders, der ein „British academic and writer specialising in modern literature“ des späten Geburtsjahrgangs 1957 ist, und Max Kester nur dort, wo sich auch die Illustration findet: bei Alice in the Internet vom 29. Mai 2016. Nach den vier Versionen mit und ohne Anklänge an meinen ungeliebten Landsmann Julius Streicher (leider wohnhaft in der Pirckheimerstraße beim Stadtpark ums Eck), und ob der „Lebensraum“ dort wirklich als „Liebensraum“ erscheint, würde ich gerne mal Grabberwocky and Other Flights of Fancy selbst durchblättern. Und auch sonst.
Vorerst versammle ich ohne Anspruch oder Aussicht auf Vollständigkeit einige deutsche Übersetzungen von Jabberwocky. Das dient dem Vergleich, ich bin nämlich mit dem Thema noch lange nicht durch.
Die erste deutsche Übersetzung war schon ein Sprachenscherz auf mindestens drei Ebenen: von einem Engländer. der sich als Deutscher ausgab:
Der Jammerwochübs. Robert Scott als Hermann von Schwindel
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Die schönste Version finde ich bis auf weiteres die vom „Enzensbergerbruder„: „Verdaustig“ für „brillig“ eröffnet in seiner künstlerischen Freiheit recht überraschend, und der Satz „Sein Maul ist beiß, sein Griff ist bohr“ hat ja wohl das Zeug zum Volksgut. Vor allem, wenn man mal Katzenwelpen aufgezogen hat.
Der Zipferlakeübs. Christian Enzensberger, Insel 1963:
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Die DDR hat aus den meisten fremdsprachigen Klassikern ihre eigenen, ideologisch nach ihren Bedürfnissen aufbereitete Ausgaben gemacht, meistens ganz und gar unverächtliche und wissenschaftlich zuverlässigere als bei den westdeutschen Brüdern und Schwestern. 1967 durfte man da noch in aller Unschuld mit dem Schwert „schwuchteln“. Als Übersetzungsarbeit erfreulich genau zugeschmiedet:
Brabbelbackübs. Lieselotte & Martin Remané, Reclam Berlin 1967 (nicht 1976):
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Schön auch zu sehen, dass ein Kinderbuchverlag für seine Klassiker eine eigene Übersetzung angefertigt hat:
Der Schlabberworkübs. Barbara Teutsch, Cecilie Dressler Verlag, Hamburg 1989:
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Die meisten heutigen Leser, die sich für Alice in ihrer Eigenschaft als linguistische Spielerei, weniger als Kinderbuch interessieren, werden sich an die Reclam-Ausgabe wenden:
Legende vom Schebberroch
übs. Günther Flemming, Reclam 1999:
’s war britzlich, und der schlinke Totz
Zerschirrt‘ und drilberte ’s Geweech;
Ganz jimmrig war’s dem Borgoglotz,
Und die traute Schratte schreech.Hüt Dich, mein Sohn, vorm Schebberroch,
Des Maules Biß, der Klauen Krall!
Nah weder öm Sabbsabb-Vogel
noch Wutschnaufgem Geißelprall!‘Er nahm’s vorpale Schwert zur Hand:
Nach dem kattmanen Feind er spürt‘ –
Als unterm Tamtam-Baum er stand
Und Selbstgespräche führt‘,In zwidrer Stimmung, da kam bald
Der Schebberroch mit Flammenblick
Laut jiffelnd durch den tulgen Wald:
Senkt burbelnd das Genick!Eins, zwo! Eins, zwo! Und so! Und so!
Die Klinge führt er schnacke-schnick!
Schlug ab den Kopf, ergriff den Schopf,
Und galumphiert‘ zurück.Erschlugst den Schebberroch?
Dann ach: Strahlischer Knab‘ an meine Brust!
Fantabler Tag! Ich juch! Ich jauch!‘
Gluckst der in seiner Lust.’s war britzlich, und der schlinke Totz
Zerschirrt‘ und drilberte ös Geweech;
Ganz jimmrig war’s dem Borgoglotz,
Und die traute Schratte schreech.
Aus dieser Ausgabe folgen beispielhaft die Anm. d. Übs. Günther Flemming aus dem Anhang, um klarzumachen, dass ein Nonsens-Gedicht nicht aus weiterem beliebigen Nonsens zusammengestoppelt werden darf, und dass dafür sehr wohl künstlerische Kriterien bestehen:
Schebberroch: aus schebbern (mit stimmhaftem sch) =
sabbeln, tratschen, übel nachreden, und aus roch von riechen ‚Rache, ruchbar, Rauch, Rochen‘.
Britzlich: von britzeln, aus brutzeln und brenzlich, nach i hin abgefärbt.
Schlink: aus schlank und flink.
Zerschirren: von scharren, nach i hin abgefärbt.
Drilbern: von Drillbohrer, nach i hin abgefärbt.
Geweech: von Weg und aufgeweicht.
Jimmrig: von jämmerlich und wimmern, nach i hin abgefärbt.
Borgoglotz: von Burg und glotzen, nach o hin abgefärbt.
Trau: von traurig.
Schratte: von Ratte.
Schreech: von niederdeutsch schrieen (‚schreien‘).
Sabbsabb: von sabbeln.
Wutschnuffig: schnaubend vor Wut, nach u hin abgefärbt.
Vorpal: so auch im Original, möglicherweise ein Portmanteau-Wort aus
vorago und palabra.
Kattman: von Katze (niederdeutsch Katt) und der Insel Man.
Jiffeln: lautmalerische Annäherung an whiffling.
Schnack und schnick: lautmalerische Annäherung an das englische snicker-snack.
Strahlisch: Variante zu strahlend (wie beamish zu beaming).
Fantabel: aus fantastisch und fabelhaft.
Jachen: Parallelbildung zu juchen, von jach = jäh, auch jappen ‚vor Überraschung nach Luft schnappen‘.
Glicksen: aus gnickern und glucksen
Bilder: Michael Barsley: Grabberwocky and Other Flights of Fancy, illustrated by Osbert Lancaster, John Murray, 1939, third printing 1941;
Julia Margaret Cameron: Photographic study „Pomona“ (Alice Liddell as a young woman), 1872,
via Lewis Carroll and Alice Lidell, 14. Novemeber 2010.
Soundtrack: Marianne Faithfull: Jabberwoc, aus: Come My Way, 1965:
Bonus Track: Donovan: Jabberwocky, aus: HMS Donovan, 1971:
Einst, wenn dieser Lenz entschwand
Update zu Siehst du und
Die Lust des Mittelstands:
Thomas Mann ist für alles mögliche bekannt – nur nicht dafür – was auch mir nach Jahrzehnten eifriger Rezeption seit August 2021 neu war –, dass er gar nicht Goethe sein wollte, oder für seine Lyrik.
Kein Schaden, er hat seine bekannten Qualitäten, außerdem rettet ihn von seinen Anfängen an eine gewisse Selbstironie. Um diese Ansicht samt der Ironie zu untermauern, hat er praktischerweise eins seiner frühen Gedichte in der Erzählung Gefallen 1894 gleich selbst interpretiert und qualitativ eingeordnet.
——— Thomas Mann:
Gefallen
in: Die Gesellschaft, Jahrgang 10, Leipzig, Oktober 1894:
Einmal, an einem schönen, weichen Abend, als er einsam durch die Straßen wanderte, machte er wieder einmal ein Gedicht, das ihn sehr rührte. Es lautete etwa so:
Wenn rings der Abendschein verglomm,
Der Tag sich still verlor,
Dann falte deine Hände fromm
Und schau zu Gott empor.Ist’s nicht, als ruh‘ auf unserm Glück
Sein Auge wehmutsvoll,
Als sagte uns sein stiller Blick,
Daß es einst sterben soll?Daß einst, wenn dieser Lenz entschwand,
Ein öder Winter wird,
Daß an des Lebens harter Hand
Eins von dem andern irrt? —Nein, lehn dein Haupt, dein süßes Haupt
So angstvoll nicht an meins,
Noch lacht der Frühling unentlaubt
Voll lichten Sonnenscheins!Nein, weine nicht! Fern schläft das Leid, —
O komm, o komm an mein Herz!
Noch blickt mit jubelnder Dankbarkeit
Die Liebe himmelwärts!Aber dies Gedicht rühre ihn nicht etwa, weil er sich wirklich und ernsthaft die Eventualität eines Endes vor Augen gestellt hätte. Das wäre ja ein ganz wahnsinniger Gedanke gewesen. Recht von Herzen kamen ihm eigentlich nur die letzten Verse, wo die wehmütige Monotonie des Klangfalls in der freudigen Erregung des gegenwärtigen Glücks von raschen, freien Rhythmen durchbrochen ward. Das übrige war nur so eine musikalische Stimmung, von der er sich vage die Tränen in die Augen streicheln ließ.
Damit nicht genug, hat das namenlose Gedicht innerhalb der Handlung einen so festen Platz, dass es am Schluss sinnhaltig ins Schloss schnappen kann:
Dann saß er an seinem Tisch, still und schwach.
Draußen herrschte in lichter Majestät der liebliche Sommertag.
Und er starrte auf ihr Bild, wie sie noch immer dastand, wie früher, so süß und rein …
Über ihm unter rollenden Klavierpassagen klagte ein Cello so seltsam, und wie die tiefen, weichen Töne sich quellend und hebend um seine Seele legten, stiegen wie ein altes, stilles, längstvergessenes Leid ein paar lose, sanft-wehmütige Rhythmen in ihm auf …
… Daß einst, wenn dieser Lenz entschwand,
Ein öder Winter wird,
Daß an des Lebens harter Hand
Eins von dem andern irrt …Und das ist noch der versöhnlichste Schluß, den ich machen kann, daß der dumme Bengel da weinen konnte.
Bilder:
- Władysław T. Benda:
They say she is young, a golden girl, created as if from spring sunlight.
aus: Hearst’s, 1921, via Abecedarian: Restoring the Lost Sense, 22. September 2021;
- Svobodnyi Smekh, 1906, via Abecedarian: Restoring the Lost Sense, 18. November 2018.
Unter rollenden Klavierpassagen klagte ein Cello so seltsam:
Ludwig van Beethoven: Cellosonate Nr. 2 g-Moll op. 5,2, 1796,
Mstislav Rostropovich & Sviatoslav Richter am Edinburgh Festival, 30. August 1964:
Du bist dämlich, Mensch, bist du dämlich
Update zu Schwatzen nach der Welt Gebrauch,
Des eigenen Herzens süße Melodie,
Kotzmaterial (Ein Hoch auf deine Bildung du vollidiot)
uns Du aber bist beim Amtsgericht:
Darauf kann man kommen, wenn man zu viel dem „Aufgestanden ist er, welcher lange schlief“ hinterherforscht: gleiches Entstehungsjahr, gleiche Marokkokrise, gleiche Existenzangst. In einen Krieg konnte der jungische Georg Heym da noch nicht verwickelt werden, weil er schon 1912 beim Versuch, seinem Kumpel das Leben zu retten, 25-jährig beim Schlittschuhlaufen verstarb. Seine einbändige Werkausgabe hat 1340 Seiten, von denen 7 auf eine Aufarbeitung davon entfallen, dass er 1911 als Aktenwälzer beim Amtsgericht noch nicht zu seiner Lebensstellung gefunden hatte, gelinde gesagt (von mir) und brillant ausgedrückt (von ihm).
Der parodistische bis zynische Inhalt erschließt sich – ungewöhnlich beim symbolträchtig herumdunkelnden Georg Heym – leicht. Die Form ist ein Zyklus von Sonetten mit abschließenden Vierzeilern als Exitus, das Versmaß geht vom Blankvers aus, um ihn frei zu handhaben und gegebenfalls sogar zu verlassen. Eine erste tiefergehende Interpretation versucht erst Gerhard Rademacher in: Von Eichendorff bis Bienek. Schlesien als offene literarische „Provinz“. Studie zur Lyrik schlesischer Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts im transregionalen Kontext, Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 1993, im Kapitel X. Oderkahn, Eisenkahn, Fließband, Abschnitt Nur Arbeiter statt Menschen. Wie die Überschriften nur halbherzig zu verschleiern suchen, hebt Rademacher auf marxistisch motivierte Weise – venceremos, Genosse! – die dargestellten Missstände über das individuelle Einzelschicksal des lyrischen Ich hinaus.
Das Amtsgericht Berlin-Lichterfelde in der Ringstraße 9, Ecke Söhtstraße 7–7a, in dem Heym von den Verhältnissen festgehalten werktäglich einsaß, wurde 1902 bis 1906 als Gericht und Gefängnis der damals unabhängigen Villenkolonie Lichterfelde erbaut. Seit 1973 ist es eine Zweigstelle des Amtsgerichts Schöneberg und immer noch zuständig für Grundbuchangelegenheiten.
Heym äußert sich nicht nur für Kaisers Zeiten, in denen Defätismus und Lästerung von Obrigkeiten leicht als gravierende Straftaten ausgelegt werden konnten, gefährlich invektiv, dazu noch kunstvoll, also mit Plan und Vorsatz, sondern auch für eine Gesellschaft mit weitgehender Redefreiheit: Solange ich Zivilfeigling auf Lebensunterhalt unter Umständen angewiesen bin, unter denen ich nichts anderes als Arbeit zu vergeben habe, wollte ich im ausgehenden Kapitalismus dergleichen nicht als meine Verantwortlichkeit entdeckt wissen.
Der Schmerz ist also echt.
——— Georg Heym:
Das Grundbuchamt
EIn Blütenkranz deutscher Lülülürik
Herrn Dr. Hiller zur Erbauung an stillen Sonntagen
Amtsgericht Berlin-Lichterfelde, Mai 1911,
in: Dichtungen und Schriften, Gesamtausgabe, Band 1: Lyrik,
Verlag Heinrich Ellermann, Hamburg 1964, Seite 265 bis 275,
erreichbar in: Das Werk, Zweitausendeins 2005, Seite 864 bis 870:
I Introitus
Hinaus, ins Amt! Und wie ein Delinquent
Schleichst du schon leise in das Haus hinein
Verblödet, ganz verdummt, ein armes Schwein,
Das nach dem Trog im Grundbuchamte rennt.Ein großer Nagel stochert dir im Hirn.
Auf deiner Schulter reitet ein Dämon,
Ein alter Aktenbock, ein Höllensohn,
Der treibt den Nagel tief in deine Stirn.Bis daß dir dein Schädel wie ein Backofen scheint,
In den jemand fortwährend glühende Steine reinschmeißt,
Ohne aufzuhören. Dein ganzer Kopf brummt.Du bist damlich, Mensch, bist du dämlich. Du bist blind,
Du rennst einen alten Gerichtsvollzieher an,
Und schließlich fällst du in die Tür des Grundbuchamtes.
II Das Grundbuchamt
1
Des Grundbuchamtes winterliche Trauer,
Wenn in dem Märzwind wilde Vögel schrein,
Und durch die Fenster schaut der Tag herein.
Einäugig lehnt er an der Mauer.Und seine Hand, die durch die Scheiben bricht,
Die nicht zerbrechen, wandert durch den Saal,
Wo viele Schläfer ruhn mir Häuptern kahl,
Staub auf der Glatze, Staub auf dem Gesicht.O düstrer Aktenstaub im Amts-Gericht,
Des dicker Rauch die alte Decke schwärzt,
Und der erstickt das graue Morgenlicht.Polheim, der Richter, der einBündel herzt
Uralter Akten. Halob im Schlaf der Dicht-
Er. Kollege Stahl, er verzt.
~~~~~~~~~~/~~~
2
Der Alte kommt mit seinem Pracht-Popo,
Wie immer schmierig-freundlich. „Guten Morgen,
Können Sie nicht den Kollegen Heym borgen?
Er soll protokollieren. Übrigens, à propos,Er fabriziert Gedichte. Ja. Ein Buch
Kommt jetzt heraus. Ha, ha. Berühmte Leute
Haben wir in unserer Justiz heute.
Er schreibt auch Novellen. Ein zweiter Wildenbruch.“Er geht, wie immer schleimig-jovial,
Und winkt noch einmal freundlich mit der Hand:
„Adieu, Herr Polheim. Adieu, Herr Stahl.“Und Polheim stottert aus dem Sau-Gesichte:
„Zu ko … komisch. War mir nicht bekannt,
Herr Ko … Kolleje. Sie machen auch Jedichte?“
III Die Leichenkammer
1
Seht hier die Leichen all der Referendare,
Die Polheims Stumpfsinn langsam umgebracht.
Nun schlummern sie in schwarzer Gräber Nacht,
Wie Mumien dürr und trocken auf der Bahre,Auf hohen Grundbuchakten unter Tage
Mit großen Aktenballen überhäuft.
Des Todes Schweigen. Eine Ratte läuft
Raschelnd davon im Staub der Sarkophage.Ihr Kopf ward dürr, ihr Hals ein magrer Schrumpf,
Der einst an einem Wust Papier erstickt.
Nur ihre Brillen glänzen manchmal noch,Die einstmals Polheims stolzes Haupt erblickt.
Nun wahren sie sein Bild im Gräber-Loch,
‚Ward‘ es auch trübe schon und mählich stumpf.
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2
Doch nachts, wenn Uhu krächzt, und Mäuse pfeifen,
Und wenn der Mond durch ihre Knochen scheint,
Dann hebt sich auf das stille Volk vereint,
Durch Treppen und durch Gänge fortzuschweifen,Mit weißem Talglicht in zerfranster Hand,
Mit großen Federn hinterm morschen Ohre,
Wenn dumpf der Mitternächte dunkle Hore
Vom Turme langsam hallt ins stumme Land.Dann sitzen sie im Grundbuchamt in Scharen
Am langen Tisch. Sie schmieren Protokolle.
Und riesig häuft es sich von Formularen.Kataster, Reinertrag, mit Windesschnelle.
Abteilung III. Grundsteuermutterrolle,
Und fröhlich wächst Parzelle auf Parzelle.
IV Die Paragraphen
1
Mit tausend Ellen Leinewand umwunden,
Die alten Greise, mit den Haaren dünn
Und große Totenbänder um das Kinn,,
Den Kranz von Siegeln um die Stirn gebunden,Kriechen sie abends aus dem Aktenspind,
Riesige Mehlwürmer, eine schreckliche Horde
Ringel sie sich über alle Borde
Und schweben in dem goldnen Licht geschwind.Sieheben ihre Knochen leicht im Takt,
Und tanzen einen Cancan durch den Saal,
Daß ihre magre Wirbelsäule knackt.Dann sitzen sie am Tisch und halten Mahl.
Die Akten fressen sie, die Polheim kackt
An jedem Morgen hoch in das Regal.
~~~~~~~~~~/~~~
2
Doch manchmal, mittags, wenn die Flure stille,
Und eine Fliege an die Scheiben summt,
Der Kastellan mit seiner großen Brille
Aktenbeladen durch die Türe kommt,Und Waschfraun mit den großen Scheuerlapppen
Die Fliesen draußen schwemmen, hörst du kaum
Ein zartes Flüstern in dem leeren Raum
Durch fernes Echo von Pantoffelklappen.Dann sitzen sie in ihren staubigen Winkeln,
Ein feuchter Tropfen fällt dir ins Genick,
Wenn sie ihr Wässerchen herunterpinkeln,Wie Silber dünn, ein feiner Sonnenstrahl.
Du drehst dich um, und fängst noch einen Blick
Durch Spinneweben aus dem Leben schmal.
~~~~~~~~~~/~~~
3
Variation
In gelbe Spitzenschuhe, rot mit Bändern,
Versteckt den Knochenfuß, auf allen Treppen
Den königlichen Fall der weißen Schleppen
In tulpenüberstickten FestgewändernZiehen sie auf in knarrenden Brokaten,
Wie Könige voraus. An ihren Glanz
Hängt hinten sich ein ungeheurer Schwanz,
Ameisen gleich, der Chor der Bürokraten.Alle Amtsrichter mit ausgebeultem Arsch,
Dazwischen friedlich Hämorrhoiden hängen,
Flattern einher zu frohem Hochzeitsmarsch.Im Überswchwang der braunen Lockenhaare
Assessoren, leichtfüßig, auf allen Gängen,
Ganz hinten krumm die grauen Aktuare.
~~~~~~~~~~/~~~
4
Du nur mußt abseits sitzen in der Klause.
Du stahlest Akten, greulich und perfid.
Nun zittert blaß die Träne dir am Lid.
Unteilhaftig bist du dem vergnügten Hause.Du vergrubest im Schranke eine Expedition,
Du hofftest, sie würde vergessen werden.
Aber Gott sieht alles auf dieser Erden.
Und er sah die Akte vom Himmelsthron.Und er holte sie vor mit einer langen Stange.
Er brachte das Verbrechen an den Tag.
Unheil waltete. Schweigen lastete lange.Du standest schnell vor dem Areopag
Des finsteren Alten. Und er schalt dich lange,,
Daß dir sein Zorn in allen Gliedern lag.
~~~~~~~~~~/~~~
V Die Strafe
Ich werd euch beide noch am Galgen sehen,
Rudolphi, dich,k und Polheim, dich, du Schurke,
An eines Galgenarms bemooster Gurke,
Im wilden Sturm der Wetternacht zu wehen.Wenn grell der Blitz erscheint und Donner hallen,
Von schrecklich fahlem Lichte überschweißt,
An euren ausgedörrten Schwänen reißt
Ein Flatterdämon mit den Eisenkrallen.Dann schreit: „Hu, hu“ und brüllet: „Herr Kollege,
Man reißt den Schwanz mir aus. Genuch, genuch.“
Indes auf einem schwarzen WolkenstegeSatanas schwankt auf seinem Pferdefuß,
Von eures Schwanzes saurem Schweißgeruch
Ohnmächtigkeit fast, und garstig voll Verdruß.
~~~~~~~~~~/~~~
VI
Der liebe Gott in goldner Badehose,
Kühn im Zylinder, der schon grau gefleckt,
Er schwingt in feister Hand die Tugendrose,
Die zart er Polheim in das Knopfloch steckt.„Habt Dank, mein Polhreim, daß ihr treu wie immer,
Im Dienst des Staates euch herumgehetzt,
Daß Ihr der Hosen herbstlich fahlen Schimmer
Mit Fleiß und Anstand endlich durchgewetzt.“Polheim, er wedelt froh mit seinem Schwanze,
Und grüßt des Lieben Gottes Majestät.
Der sanft umstrahlt von himmlisch-süßem GlanzeDie Stiege langsam schon heruntergeht,
Er fährt davon, wie eine weiße Wanze,
Im Omnibus, der um die Ecke dreht.
~~~~~~~~~~/~~~
VII Exitus
Wie Wandrer wissen, die in ferne Meere
Vom Hafen führt ein schnelles Schiff hinaus,
So weine ich verstohlen eine Zähre
An deiner Türe noch, geliebtes Haus.Zum letzten Mal in diesem Erdenleben
In deinen Hallen ward ich heut gesehn.
Und meiner Seele schmerzliches Erbeben,
Mein Amtsgericht, ich muß es dir gestehn.Zum letzten Mal sah ich die Richter sitzen
Wie schwarze Hennen in dem Staub und Qualm
Und ihre kleinen Schädel blähn und schwitzen
Wie leere Seifenblassen auf dem Halm.Sie kratzten sich den Rauch mit dürrer Kralle
Der schwarz und zottig wie ein Maulwurf schien.
Ihr dicker Hals war von verdorbner Galle
Wie eine ‚farbige‘ Leiche gelb und grün.Aus ihrem Munde kam ein fahles Stinken
Das manchmal rülpsend aus dem Bauche gor.
Halbtot in einen Winkel hinzusinken,
Floh ich hinaus zum leeren Korridor.Da sah ich den Justizanwärter Kummer
der onanierend in dem Keller stand,
Und an dem Schwanze eine Solo-Nummer
Mühselig klopfte ab mit magrer Hand.
Bilder: Sebastian Panwitz:
- Historistisch, 15. April 2014;
- 10th Week of the stairs (5/7), 15. April 2014;
- Tod!, 29. April 2014: „Dieses Fenster im Erdgeschoß stammt aber sicher nicht aus der Erbauungszeit 1902-1906, sondern dürfte ein Produkt der Nachkriegszeit sein.“;
- Something special: Kreuzrippengewölbe, 1. Februar 2010;
- Na dann!, 16. Mai 2014: „Una ex hisce morieris – ‚In einer dieser Stunden wirst du sterben‘ – war schon früher in der lateinischen Form auf Grabsteinen und im Barock auch auf Uhren zu finden. Die deutsche Fassung ist vor allem aus dem Gedicht ‚Una ex hisce morieris‚ von Detlev von Liliencron bekannt. Obige Uhr findet sich allerdings nicht in Friedhofsnähe, sondern im Amtsgericht Berlin-Lichterfelde!“
Soundtrack: Cliff Martinez: Kafka Suite, aus: Kafka, 1991:
Und der Tag will sich erweiten, denn die Sonne stehet still
Update zu Meteorologischer Frühlingsbeginn,
Frühlingsreigen Buranum,
Des Maies Wonneschlingen,
Traume-trunkene feministische Ikonen, der lange Weg zum Eros und ein Stück weiter (oder vierzehn),
Lache, liebez frowelîn,
Rotstrumpf,
Da ist schwäb’scher Dichter Schule, und ihr Meister heißt – Natur!
und Blumenstück 004: Und wohl im armen Herzen auch:
Internetpremiere zum meteorologischen Frühlingsanfang: ein seltenes Frühlingsgedicht von Arnim. Die sieben Zeilen marschieren als eine Art erweiterter Limerick ABABCCX mit wiederholendem X, also der Waise als variiertem Refrain. Aus meiner bibliophilen Sicht ist das ein kostbarer Fund. Das kulturpessimistische Gemoser kommt deshalb, um nicht gleich die Frühlingsstimmung aus dem Dichterstubenfensterchen zu scheuchen, bevor sie aufgekommen ist, ausnahmsweise erst nach dem Primärtext.
——— Achim von Arnim:
Die schönen Ringelraupen
ca. 1806 oder 1814 bis 1831:
Winterwolken schmelzen nieder,
Aus den Augen, aus dem Sinn,
Lässig strecken alle Glieder
Sich auf grünen Rasen hin,
Zögernd sehn sich um die Zeiten,
Und der Tag will sich erweiten,
Denn die Sonne stehet still.Süße Frühlingslangeweile
Füllt mit Wollust, füllt mit Scherz;
Langsam, langsam, keine Eile,
Sey doch folgsam liebes Herz!
Langsam wird, was gut auf Erden,
Langsam ziehn die Lämmerheerden,
Und sie stehen alle still.Nehmt mich auf in eure Weiden
Schäflein bin auch ich wie ihr,
Euer Gras, das will ich meiden
Doch die Blumen schenket mir;
Seht die Blumen auf mich schauen,
Soll sie brechen schönen Frauen,
Und sie halten alle still.Frauen nehmt mir ab die Blüthen
Bin ein Baum, an Blüthen reich,
Wenn als Früchte sie geriethen,
Bräche mir wohl jeder Zweig;
Kommt ihr schlanken Ringelraupen,
Wollet ihr mich nicht entlauben?
Seht ich halte ja so still.
Das Gedicht bleibt bei der bestehenden Forschungslage vor allem für interessierte Laien zeitlich schwer einzuordnen, daher mein weit veranschlagter Rahmen vom entweder biographisch plausiblen zirka 1806 oder zwischen 1814, als Arnim nicht aus Gründen der Romantik, sondern der Sparsamkeit das weder ihm noch seiner Frau entsprechende Landleben aufnahm, wenngleich immer noch auf dem Familienschloss, bis zu seinem Tod 1831. Das passt immerhin thematisch; die vorhandenen Werkausgaben, von denen man sich erforschte und begründete Wahrheit erhoffen dürfte, sind schwer zugänglich.
Von Achim von Arnim wird von Verlagen immer nur die Prosa verbreitet, die dann meistens ein Briefwechsel ist, seine Lyrik existiert auf dem Buchmarkt, der dann auch noch der antiquarische ist, hauptsächlich in Mir ist zu licht zum Schlafen. Gedichte, Prosa, Stücke, Briefe. Dabei müssen Tausende von Seiten mit Gedichten existieren, darunter gern auch formlos über sich selbst hinauswuchernde Reimereien. Arnim hat seine eigenen Gedichte nie gesichtet, verbessert oder zu Sammlungen geordnet. Die letzte eingehende Ordnung seines Nachlasses bemängelte deren Umfang bei schwerer Lesbarkeit – und das war noch seitens Rahel Varnhagen († 1833).
Das hat Gerhard Wolf – heute noch danke an den guten Mann! – in der Reihe Märkischer Dichtergarten herausgegeben, 1983 noch in der und für die DDR (Buchmarktsuche: Hardcover 1983; Taschenbuch 1984).
Selbst Gerhard Wolf konnte auf nicht mehr zurückgreifen als auf dier frühestmögliche Materialsicherung:
Arnims Lyrik ist bisher noch nicht entsprechend wissenschaftlich ediert, so daß wir uns vor allem, bei notwendig beschränkter Auswahl, an die Sammlungen gehalten haben, die als Band 22 von „Ludwig Achim von Arnims sämtlichen Werken“, bearbeitet von Varnhagen von Ense, und an den als Band 23 bezeichneten zweiten Teil, nach den Handschriften des Goethe-Schiller-Archivs Weimar, herausgegeben von Herbert R. Liedke uhnd Alfred Anger, erschienen; wir geben die Gedichte, soweit wir sie dort fanden, in der alten Schreibweise dieser Ausgaben.
– und selbst bei diesem zaghaften Wiederanfang musste er um der Vielfalt der Anthologie willen noch 60 Seiten auf Des Knaben Wunderhorn verwenden, an dessen kommentarloser Verbreitung weder 1983 noch 2022 ein Mangel herrscht. Der oben zitierte Nachweis stand in einem Nachwort von 1983 über den „23.“ Band von 1976 innerhalb einer 1856 (!) von Wilhelm Grimm (ja, dem Wilhelm Grimm, † 1859) abgeschlossenen 22-bändigen Werkausgabe, bisher ist meines Wissens nichts weiter passiert. O Freies Deutsches Hochstift, o Hanser!
Und sie halten alle still: Frédéric:
- L’ubac et l’adret II (la fin d’un jour d’hiver), 19. Februar 2021;
- La leçon de piano, 6. März 2021;
- La fée Clochette en RTT, 5. Mai 2021;
- La paysagiste (elle aimait bien Van Gogh et lire du Saint Exupéry), 19. Juni 2021.
Kommt ihr schlanken Ringelraupen: The Cure: The Caterpillar, aus: The Top, 1984,
im Londoner Syon Park House Estate:
150 Jahre sind alt genug
Update zu Invisible Girls
und Doktor Faustus goes Science Fiction
und aufgemöbelte Zweitverwertung:
Frank Zander konnte man schon immer albern finden, aber was den bis heute berüchtigten Bestand an Schlagersängern nach 1970 angeht, hatte man bei dem nie so das Gefühl, der wird doch von der CDU bezahlt.
Ein großer Moment in der trüben deutschen Musikgeschichte der Siebziger war … nein, nicht seine Phase als „Fred Sonnenschein“, da konnte Hugo Egon Balder als Hamster Fritz mitsingen, soviel er will — sondern sein Album Donnerwetter 1979. Da war nämlich Captain Starlight drauf.
Von dem Lied hat sich jemand einiges versprochen, es wurden nämlich Versionen auf Deutsch und Englisch, mit und ohne Intro erstellt, die nicht einmal in Zanders öffentlicher Diskographie erscheinen. Marketinghistorisch kann man bemängeln, dass Captain Starlight nach dem damaligen Weltraum-Hype schon zu spät kam – der erste Star Wars erschien 1976) –, aber Peter Schilling ist mit seinem „völlig losgelösten“ Major Tom auch erst 1983 nachgerückt, Stephan Remmler ohne Trio mit Feuerwerk gar 1984. Dass Zander einen überschätzten Kubrick-Film elf Jahre zu spät veralbern wollte, habe ich zweifellos schon als „Krieg der Sterne“-Verweigerer in der fünften Klasse gemerkt, weil schon immer auf der Hand lag, dass Kubrick ausschließlich überschätzte Filme gemacht hat.
Das halbminütige Intro von Captain Starlight vom grunddeutschen Frank Zander hatte dagegen das Zeug zum Mythos. Ein Kasperleschlager, der wie selbstverständlich mit einem ausführlichen, nirgends erklärten, ja auch nur erwähnten klassischen Streichersatz anfängt – und genau so wieder aufhört, wo gibt’s denn sowas? Ich muss einige Male ziemlich gebannt am Radio geklebt haben, in den Fernsehauftritten wurden die Streicher nämlich grundsätzlich unterschlagen.
Später, mit einigem musikalischen Grundwissen, konnte man von selber draufkommen, dass es ein Streichquartett war. Welches, ein bestehendes oder gar ein eigens von Herrn Zander komponiertes, wusste kein Mensch, und zu Zeiten des Internets war Frank Zander schon ein abgehalfterter Schlageropa, der sich einigermaßen würdevoll für ironisch-nostalgische Rückblicke hergab.
Bis zum 18. Juli 2010, als in einem nerdigen Gitarrenforum jemand wusste: Nun ja, das ist eine Moll-Version aus dem 1. Satz von Joseph Haydn: Quartett D-Dur für zwei Violinen, Viola und Violoncello, opus 64,5, Hoboken-Nummer III: 63, Werkverzeichnisnummer 860, dem vulgo Lerchenquartett von 1790. — Stimmt.
Dass Haydn mit Sicherheit keine Moll-Versionen von seinen eigenen, gar nicht mehr genau zählbaren Streichquartetten in Dur-Tonarten angefertigt hat, macht die Antwort nicht erschöpfender, rückt Frank Zander aber in ein geheimnisvolles Licht: Der hat das bestimmt auch nicht umgeschrieben, weil er gelernter Grafiker ist. Als Autoren von Captain Starlight werden Bob Burrows und Norbert Hammerschmidt aufgeführt. Letzterer firmiert als Schlagertexter, ersterer ist sehr dürftig belegt – und gerade deshalb als Komponist einer Haydn-Variation am wahrscheinlichsten. Und welche vier praktizierenden Saitenkünstler für die LP Donnerwetter diese musikologische Fingerübung eingespielt haben, sollte man Herrn Zander (Jahrgang 1942, berufsbedingt als trinkfester Raucher einzuschätzen) endlich mal selber fragen. Wer traut sich?
Ich wette nur auf soviel: Es ist h-Moll.
Für den Nachweis der musikalischen Verwandtschaft ist das Haydn’sche Lerchenquartett in YouTube ausreichend vertreten. Aus diesem Reichtum möchte ich eine eher kleine, nicht gerade auf dem Gipfel der professionellen Brillanz umhertänzelnde, dafür anrührend dilettantische Version verlinken: die von den Eleven der Levanger Kulturskole, weil deren Instrumente so schön authentisch verstimmt sind. Außerdem mag ich das hagere Tomboy-Nordmädchen an der ersten Geige.
Und weil die jungen nordischen Kulturschüler offenbar mit Allegro moderato, Adagio und Menuetto. Allegretto – Trio schon ausgelastet waren, Haydn aber seine Quartette noch viersätzig gestaltete, müssen die ausgelernten Kolleginnen vom Four Voices String Quartet Vivace zu Ende spielen:
Und nochmal alle vier Sätze als Playlist vom Attacca Quartet im Zusammenhang:
Bilder: Cover Frank Zander: LP Donnerwetter, Der Andere Song 1979, via Discogs;
Cover Doppel-Single Captain Starlight/Pilli Willi der Telefonanist, 1979, via YouTube.
Und ich begehre nicht Schuld daran zu seyn
Scheiße ich hab Angst.
Jeja Muge Klein, 24. Februar 2022.
——— Matthias Claudius:
Kriegslied
aus: Asmus omnia sua secum portans, Vierter Theil, Seite 143 f., 1783:
’s ist Krieg! ’s ist Krieg! O Gottes Engel wehre,
Und rede du darein!
’s ist leider Krieg – und ich begehre
Nicht Schuld daran zu seyn!Was solt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen
Und blutig, bleich und blas,
Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen,
Und vor mir weinten, was?Wenn wackre Männer, die sich Ehre suchten,
Verstümmelt und halb todt
Im Staub sich vor mir wälzten, und mir fluchten
In ihrer Todesnoth?Wenn tausend tausend Väter, Mütter, Bräute,
So glücklich vor dem Krieg,
Nun alle elend, alle arme Leute,
Wehklagten über mich?Wenn Hunger, böse Seuch‘ und ihre Nöthen
Freund, Freund und Feind ins Grab
Versammleten, und mir zu Ehren krähten
Von einer Leich‘ herab?Was hülf mir Kron‘ und Land und Gold und Ehre?
Die könnten mich nicht freun!
’s ist leider Krieg – und ich begehre
Nicht Schuld daran zu seyn!
Bild: Goya: Contra el bien general. Das ist spanisch und bedeutet: Gegen das Gemeinwohl.
Tafel 71 aus: Desastres de la guerra (Die Schrecken des Krieges), 1810–1815.
Soundtrack: Казачий Круг: Чёрный ворон, 1831 ff., Video: 15. Oktober 2015:
Filetstück 0005: Was erst verdrießlich schien, war schließlich gut für ihn
Update zu Ach Himmel, wie sich die Menschen täuschen können!,
Andere Leute, die auch Bretter tragen müssen,
Uns eine Drehorgel kaufen und unsere eigene Geschichte auf eine Leinwand malen lassen und ein Lied davon machen und es absingen auf allen Gassen des Vaterlandes! und
Filetstück 0004: Lieber ein bissel zu gut gegessen, als wie zu erbärmlich getrunken (Eduard schnarche nicht so!):
Was bin ich als Kind erschrocken, dass Wilhelm Busch nicht ausschließlich in Reimen reden konnte. Überzeugt war ich erst, als ich die Bilder dazu gesehen hab, die waren eindeutig der Strich aus Max und Moritz und wie sie alle heißen. Außerdem lügt der angeblich vollständige Doppelknuffel nicht, auch wenn er bis heute das Vorwort von Theodor Heuss mit sich herumschleppt. Frühe Auflagen können Sie heute für den Gegenwert von zwei Bier haben, bloß dass sie nicht so schnell abgestanden werden. Also: Klick!
Es war Zeit, dass der Text mit den richtigen Bildern in richtiger Qualität an den richtigen Stellen online steht.
——— Wilhelm Busch:
Der Schmetterling
Bassermann Verlag, München 1895:
Kinder, in ihrer Einfalt, fragen immer und immer: Warum? Der Verständige tut das nicht mehr; denn jedes Warum, das weiß er längst, ist nur der Zipfel eines Fadens, der in den dicken Knäuel der Unendlichkeit ausläuft, mit dem keiner recht fertig wird, er mag wickeln und haspeln, so viel er nur will.
Vor Jahren freilich, als ich eben den kleinen Ausflug machte, von dem weiter unten berichtet wird, da dacht ich auch noch oft darüber nach, warum grad mir, einem so netten und vorzüglichen Menschen, das alles passieren mußte. Jetzt sitz ich da in sanfter Gelassenheit und flöte still vor mich hin, indem ich kurzweg annehme: Was im Kongreß aller Dinge beschlossen ist, das wird ja wohl auch zweckgemäß und heilsam sein.
Mein Name ist Peter. Ich bin geboren anno dazumal, als man die Fräuleins Mamsellchen nannte und die Gänse noch Adelheid hießen, auf einem einsamen Bauerngehöft, gleich links von der Welt und dann rechts um die Ecke, nicht weit von der guten Stadt Geckelbeck, wo sie alles am besten wissen.
Daselbst in der Nähe liegt auch der unergründliche Grummelsee, in dem bekanntlich der Muddebutz, der langgeschwänzte, sein tückisches Wesen treibt. Frau Paddeke, die alte zuverlässige Botenfrau, hat ihn selbst mal gesehn, wie er den Kopf aus dem Wasser steckte; und scharf und listig hat er sie angeschaut, mit der überlegenen Ruhe und Kaltblütigkeit eines vieltausendjährigen Satans.
Meine Mutter starb früh. Der Vater und der brave Knecht Gottlieb bestellten fleißig die Felder. Mein hübsches Bäschen Katharine führte die häusliche Wirtschaft.
Da ich meinerseits, obwohl ich ein stämmiger Schlingel geworden, weder zum Pflügen noch zum Häckerlingschneiden die mindeste Neigung zeigte, schickte mich mein Vater in die Stadt zu Herrn Damisch, dem gelehrten Magister, der mich jedoch bereits nach ein paar Jahren, als nicht ganz zweckentsprechend, bestens dankend zurückgab.
Hierauf, nachdem ich so ein Jährchen verbummelt hatte, kam ich zu dem hochberühmten Schneidermeister Knippipp in die Lehre nebst Kost und Logis.
„Auch ein vornehmes Metier!“ meinte der Vater. „So ein Schneider kann sein Brot im Trocknen verdienen, wie der feinste Schulmeister, ob’s regnet oder schneit.“
Schon nach neun Monaten spülten mich die dünnen Wassersuppen der dicken Frau Meisterin wieder der Heimat zu.
Ich hatte mich feingemacht. Strohhut, himmelblauer Schniepel; stramme gelbe Nankinghose; rotbaumwollenes Sacktuch. Aber diesmal war der Vater wirklich sehr ärgerlich. Er griff zum Ochsenziemer; und er hätte sein böswilliges Vorhaben auch sicherlich ausgeführt, wenn ihn der brave Gottlieb und das gute Kathrinchen, er vorne, sie hinten, nicht entschieden gehemmt hätten.
Den Winter blieb ich zu Haus. Ohne grad viel aufs Essen zu geben, stand ich doch gern hinter dem hübschen Bäschen in der Küche herum. Mitunter nahm ich ihr eine Stecknadel weg und stach sie mir kaltblütig durchs Ohr. Auch tanzte ich zuweilen waghalsig auf dem gefährlichen Brunnenrande, und wenn das Kathrinchen zusah und es grauste ihr tüchtig, das war mir grad recht. Dann wieder konnt ich dastehn in tiefster Versimpelung, wie ein alter Reiher im Karpfenteich. Ein besonders hoher Genuß war mir’s aber, so des Abends auf der Bank hinter dem Ofen zu liegen und zuzusehn, wie das Kathrinchen Bohnen aushülste und der Gottlieb Körbe flocht. Bei dem Anblick dieser kleinen, krausen, krispeligen Tätigkeit überkam mich immer so ein leises, feines, behagliches Gruseln. Oben in den Haarspitzen fing’s an, kribbelte den Rücken hinunter und verbreitete sich über die ganze Haut, während meine Seele gar sanft aus den Augen hinauszog, um ganz bei der Sache zu sein, und mein Körper dalag, wie ein seliger Klotz. Eines Abends stieg ich auch mal heimlich in den Lindenbaum, weil ich gern mal sehen wollte, wie das Kathrinchen zu Bette ging. Sie betete grad ihren Rosenkranz. Als sie aber anfing sich auszuziehn und die Geschichte bedenklich wurde, macht ich Ahem! und Phütt! war die Lampe aus. Am andern Nachmittag wurde an einer grünen Gardine genäht.
Mein Stübchen lag oben im Giebel. In einem dicken Legendenbuche las ich bis spät in die Nacht hinein. Wenn dann der Wind sauste und der Schnee ans Fenster klisperte, fühlt ich mich so recht für mich als ein behaglicher Herr.
Die Hexen hatten ihren Strich da vorbei; sie zügelten zuweilen ihre Besen und lugten durch die Scheiben; meist alte Hutzelgesichter, als wären sie gedörrt worden am höllischen Feuer. Mal aber war’s eine junge hübsche. Sie hatte eine Schnur von Goldmünzen ins Haar geflochten. Sie blinzelte und lachte. Ihre weißen Zähne blitzten, wie ihr das Licht ins Gesicht schien, gegen den dunklen Hintergrund.
Als der Sommer kam, als die Welt eng wurde von Laub und Blüten, macht ich mir ein Netz und jagte nach Schmetterlingen. So herumzustreifen in leichtsinniger Freiheit, oder mich niederzulegen zu beliebiger Ruhe, das war mein Fach; und hupfen, wie der rührigste Heuschreck, das konnt ich auch.
Eines Sonntagsmorgens, während die andern zur Messe waren, macht ich mich hübsch und ging aus der Hintertür, das Netz in der Hand, den Frack voller Pflaumen. Hell schien die Sonne. Vom Garten ins Feld, vom Feld in die Wiesen dämelt ich glücklich dahin. Schmetterlinge flogen in Menge. Von Zeit zu Zeit erhascht ich einen, besah ihn und ließ ihn fliegen, denn von der gewöhnlichen Sorte hatt ich längst alle Kasten voll.
Aber jetzt, in der Ferne, flog einer auf, den kannt ich noch nicht.
Ich los hinter ihm her über Hecken und Zäune, wohl zwei, drei Stunden lang in einer Tour, bis mir’s schließlich zu dumm wurde. Unwillig warf ich mich ins Gras. Oben in der Luft schwebte ein Habicht. Vertieft in seine sanften Bogenzüge, war ich bald eingedämmert. Als ich erwachte, wollte die Sonne schon untergehn, und da es die höchste Zeit war, nach Hause zu eilen, kletterte ich auf einen Baum am Rande des Waldes, um zu sehn, wo ich denn eigentlich wäre. Nichts als unbekannte Gegend in der Weite und Breite. Erst verdutzt, dann heiter und gleichgültig, ergab ich mich in mein Schicksal. Ich stieg herab, suchte einen gemütlichen Platz, setzte mich und fing an, Pflaumen zu essen. Plötzlich, mir stockte der Atem vor freudigem Schreck, kam er angeflattert, der reizende Schmetterling, geschmückt mit den schönsten Farben der Welt, und ließ sich frech auf der Spitze meines Fußes nieder. Leise hob ich das Netz; ich zielte bedachtsam. Witsch! dort flog er hin. Aber gut gezielt war’s doch, denn mit dem eisernen Netzbügel hatt ich richtig die kleine Zehe gestreift, genau da, wo sie am allerempfindsamsten war. Ich sprang auf, tanzte auf einem Bein und pfiff dazu.
„Ähä!“ lachte wer hinter mir. „Aufs Auge getroffen!“
Ein hübscher blasser Bursch, gekleidet wie ein Jägersmann, saß unter einer Buche.
„Ich bin der Peter!“ sag ich und setze mich zu ihm.
„Und ich der Nazi!“ sagt er.
Um seinen linken Arm ringelte sich eine silberglänzende Schlange, die auf dem Kopf ein goldenes Krönchen hatte, und auf seinen Knien hielt er ein Vogelnest mit kleinen blaugrünen Eiern darin.
„Ein verdächtiges Vieh!“ sagt ich mißtrauisch. „Es beißt wohl auch?“ „Mich nie. Gelt, Cindili!“ sprach er, indem er ihr ein Ei hinhielt.
Ich trug auf der bloßen Brust ein Medaillon, eine Goldmünze, das Geschenk eines Paten. Die Schlange machte sich lang danach.
„Sie wittert das Gold“, sagte der Jäger.
„Teufel, duck dich!“ rief ich und gab ihr mit dem Stiel meines Netzes einen kurzen Hieb über die Nase.
Zornig zischend fuhr sie zurück, wickelte sich los und schlüpfte raschelnd ins Gebüsch. Der Jäger, nachdem er mir vorher noch schnell einen Stoß auf den Magen versetzt hatte, daß ich die Beine aufkehrte, lief hinter ihr her.
Allmählich wurde es im Walde pechteertonnendunkel. Die Luft war mild. Ich lehnte mich an den Baumstamm und entschlief augenblicklich, ja, ich kann wohl sagen, noch eher.
Überhaupt, schlafen, das konnt ich ohne jede Mühwaltung; und fest schlief ich auch, fast so fest wie die Frau mit dem guten Gewissen, der die Ratten über Nacht die große Zeh abfraßen, ohne daß sie was mer ken tät.
Erst die Mittagssonne des nächsten Tages öffnete mir die Augen. Und wahrhaftig! da saß er schon wieder, drei Schritt weit weg, mein kunterbunter Schmetterling, auf einem violetten Distelkopfe, und fächelte und ließ seine ausgebreiteten Flügel verlockend in der Sonne schimmern. Mit kunstvoller List schlich ich näher. Vergebens. Genau eine Sekunde vorher, eh ich ihn erreichen konnte, flog er ab wie der Blitz, und dann noch einmal und noch einmal, und dann Fiwitz! mit einem eleganten Zickzackschwunge weg war er über eine haushohe Dornenhecke.
„Zu dumm!“ dacht ich laut, denn ich war sehr erhitzt. „So ein klein winziges Luder; will sich nicht kriegen lassen; ist extra zum Wohle des Menschen geschaffen und verwendet doch seine schönen Talente nur für die eigenen selbstsüchtigen Zwecke. Es ist empörend!“
Im Eifer der Verfolgung hatt ich den einen Stiefel im Sumpf stecken lassen, und zwar tief, so daß ich erst eine Zeitlang tasten und grabbeln mußte in der schwarzen Suppe, eh ich ihn wiederfand. Ich schüttete den Froschlaich heraus, wusch mich und ging nun, nachdem ich mich abgekühlt und besänftigt hatte, in gemäßigtem Bummelschritt einem fernen Hügel entgegen, über den sich als heller Streifen die Landstraße hinzog. Hier hofft ich ortskundige Leute zu treffen, die mir sagen konnten, wie ich nach Hause käme.
Auf einem Meilensteine saß ein älterer Mann, der eine ungewöhnlich breitschirmige Mütze trug. Zwischen seinen Knien hielt er einen grauhaarigen Hund.
„Guter Vater!“ sprach ich ihn an. „Ich möchte gern nach der Stadt Geckelbeck.“
„Genehmigt!“ gab er zur Antwort.
„Könnt Ihr mir vielleicht zeigen, wo der Weg dahin geht?“
„Ne! Ich bin rundherum blind.“
„Schon lange?“ fragt ich teilnahmsvoll.
„Fast neunundfünfzig Jahr; nächsten Donnerstag ist mein dreiundfünfzigster Geburtstag.“
„Was? Schon sechs Jahre vor Eurer Geburt?“
„Sogar sieben, richtig gerechnet. Ich wollte schon damals gern in die Welt hinein, tappte im Dunkeln nach der Tür, fiel mit dem Gesicht auf die Hörner des Stiefelknechts, und das Unglück war geschehn.“
„Dann laßt Euch raten, Alter!“ sagt ich. „Und schielt nicht zu viel nach hübschen Mädchen, denn das hat schon manchen Jüngling zu Fall gebracht.“
„Faß!“ schrie der Blinde und ließ den Hund los.
Ich aber nahm die Frackschöße unter den Arm, steckte mein Schmetterlingsnetz nach hinten zwischen den Beinen durch, wedelte damit und ging so in gebückter Stellung meines Weges weiter; eine Erscheinung, die dem Köter so neu und unheimlich vorkam, daß er mit eingeklemmtem Schweife sofort wieder umkehrte.
Vor mir her schritt ein Bauer, der weder rechts noch links schaute, und da er einen ernsten, nachdenklichen und vertrauenerweckenden Eindruck machte, beschloß ich, an ihn meine Frage zu richten.
„He!“ rief ich. Er gab nicht acht darauf. „He!“ rief ich lauter. Er ließ sich nicht stören in seinen Betrachtungen. Jetzt, als ich dicht hinter ihm war, klappt ich ihm mein Netz über den Kopf. Oh, wie erschrak er da. Ich hörte deutlich, wie ihm das Herz in die Kniekehle fiel.
„Könnt Ihr mir nicht sagen, guter Freund, wo Geckelbeck liegt?“ fragt ich und hob das Netz.
Er hatte sich umgedreht. Er kniff die Augen zu, riß den Mund auf, so daß seine dicke belegte Zunge zum Vorschein kam, steckte die Daumen in die Ohren, spreizte die Finger aus und schüttelte traurig mit dem Kopfe.
„Döskopp!“ rief ich in meiner ersten Enttäuschung, sah aber dabei ungemein freundlich aus.
Der Taubstumme, der dies wohl für einen verbindlichen Abschiedsgruß hielt, zog ergebenst seine Zipfelkappe, obgleich er eine bedeutende Glatze hatte.
Der Abend kam. Auf einem Acker rupft ich mir ein halb Dutzend Rüben aus, und da ein starker Tau den Boden benetzte, stieg ich in eine Tanne, band mich fest mit den Frackschößen und machte mich sodann über die saftigen Feldfrüchte her, daß es knurschte und knatschte. Von der letzten, bei der ich entschlummert war, hing mir die Hälfte nebst dem Krautbüschel noch lang aus dem Munde heraus, als ich am andern Nachmittag wieder erwachte. Schnell stieg ich herab, erfrischte mich in einer Quelle und kehrte auf die Landstraße zurück. Ich befand mich in der heitersten Laune; ich wußte es, eine innere Stimme sagte es mir: Dir wird heut noch besonders was Gutes passieren.
In diesen angenehmen Vorahnungen störten mich die Klagelaute eines Bettlers, der, den Hut in der Hand, auf mich zukam.
„Junger Herr!“ bat er. „Schenkt mir doch was. Ich habe sieben Frauen – ach ne! sieben Kinder und eine Frau, und meine Eltern sind tot, und meine Großeltern sind tot, und meine Onkels und Tanten sind tot, und ich hab niemanden in dieser weiten, harten, grausamen Welt, an den ich mich wenden könnte, als grad Euch, schöner Herr.“
Bei diesen Worten erwärmte sich meine angeborene Großartigkeit. Ich hatte siebzehn einzelne Kreuzer im Sack. Mit dem Gefühl einer behaglichen Erhabenheit warf ich zehn davon in den Filzhut des Bettlers.
Kaum war dies geschehn, so nahm er einen Kreuzer wieder heraus und legte ihn mir vor die Füße.
„Hier, mein Bester“, sprach er, „schenk ich Euch den zehnten Teil meines Vermögens. Seid dankbar und vergeßt den edlen Geber nicht, der sich bescheiden zurückzieht.“
Nach kurzer Erstarrung lief ich hinter dem Kerl her, um ihm einen Tritt auf die Wind- und Wetterseite zu geben. Aber er hatte die Tasche voller Steine. Er traf so geschickt damit, daß mir, trotzdem ich das Netz vorhielt, schon beim zweiten Wurf ein ganz gesunder Vorderzahn direkt durch den Hals in die Luftröhre flog, worauf ich wohl eine Stunde lang husten mußte, ehe ich ihn wieder herauskriegte.
Ich pflückte mir Felderbsen in mein Netz, ließ die grünen, angenehm kühlen Pillen durch die entzündete Gurgel rollen und füllte mir so zugleich den begehrlichen Leib mit jungem Gemüse. Dann zog ich mich in ein Gehölz zurück und legte mich, das Gesicht nach oben, schlichtweg zur Ruhe nieder.
Den folgenden Tag hätt ich sicher verschnarcht, wär mir nicht gegen Mittag ein Maikäfer in den weitgeöffneten Mund gefallen. In dem Augenblick, als er sich anschickte, in die Tiefe meines Wesens hinunterzukrabbeln, erwacht ich. Der Wind schüttelte die Wipfel.
Übrigens knurrte mein Magen wegen fader Beköstigung, und so macht ich mich denn auf und ruhte nicht eher, bis ich in ein Wirtshaus gelangte, wo ich mir eben für meine letzten Kreuzer etwas Derbes bestellen wollte, als ein wohlgemästeter Bauer, der sehr lustig aussah, in die Stube trat und sich zu mir an den Tisch setzte.
„Euch ist wohl!“ sag ich.
„Mit Recht!“ sagt er. „Hab den Schimmel verkauft auf dem Markt.“
„Brav’s Tier vermutlich.“
„Das grad nicht. Alle Woche mal, oder wenn’s ihm grad einfällt, haut er die Sterne vom Himmel herunter und den Kalk aus der Wand.“
„Da habt Ihr den Käufer jedenfalls gewarnt.“
„Was!“ entgegnete der Bauer und wurde ganz traurig und niedergeschlagen. „Gott erhalte jedem ehrlichen Christenmenschen seinen gesunden Verstand. Seh ich wirklich so dumm aus?“
„Hört mal!“ sag ich. „Dann seid Ihr ja einer der größten Halunken, die auf den Hinterbeinen gehn zwischen Himmel und Hölle.“
„So hör ich’s gern!“ rief der Bauer und sein Gesicht klärte sich auf.
„Gelt ja? Ich bin ein Teufelskerl. – He, Wirt! Gebt diesem netten Herrn ein belegtes Butterbrot und ein Glas Bier auf meine Rechnung.“ Während ich aß, fiel es mir auf, daß der Mann beständig durchs Fenster schielte. Plötzlich schien ihm was einzufallen. Er zahlte und sagte, er müßte notwendig mal eben hinaus, aber käme gleich wieder. Kaum war er fort, so hörte man ein hastiges Pferdegetrappel von der Landstraße her. Ich trat vor die Haustür.
Ein Schimmelreiter ohne Hut war angekommen und fragte ganz außer Pust:
„War kein Bauer hier mit einem dicken Bauch, einem dicken Stock und einer dicken Uhrkette?“
„Das stimmt!“ sag ich. „Er ging nur mal eben zur Hintertür hinaus.“
„So ein Hundsfott!“ schrie der Reiter. „So ein Mistfink! Lobt und preist mir der Kerl den Schimmel an, der den Teufel und seine Großmutter im Leib hat.“
„Ja!“ sag ich gelassen: „Dummheit muß Pein leiden.“
Krebsrot vor Zorn hob der Schimmelreiter die Peitsche. Ich schwenkte mein Schmetterlingsnetz.
Auf dieses Zeichen schien der Schimmel gewartet zu haben. Er vergrellte die Augen, spitzte die Ohren, ging verquer, ging rückwärts, er drückte ein Fenster ein unter starkem Geklirr, er wieherte hinten und vorn, und dann, mit einem riesigen Potzwundersatze, weg war er über die Planke.
Ich lief, um nachzusehn, vor den Hof. Der Schimmel war nur noch ein undeutlicher Punkt ganz in der Ferne; der Reiter hing deutlich im Pflaumenbaum ganz in der Nähe.
Die folgende Nacht verschlief ich unter einer Wiesenhecke. Eine Grasmücke, das graue Vöglein mit schwarzem Käppchen, weckte mich in der Früh durch seinen lieblichen Gesang. Ich blieb noch liegen und horchte. Durch Zweige und zierliche Doldenpflanzen sah ich in die sonnige Welt. Heuschrecken geigten an ihren Flügeln, indem sie die Hinterbeine als Bogen benutzten. Schwebefliegen blieben stehn in der Luft und starrten mich an aus ihren Glotzaugen. Endlich erhob ich mich und nahm in einem klaren Wassertümpfel mein Morgenbad. Natürlich, grad wie mir’s am wohlsten drin ist, kommt mein ersehnter Schmetterling dahergeflogen und flattert mir neckisch vor der Nase herum. Ich heraus, zieh mich an, eile ihm nach, von Wiese zu Wiese, den ganzen Tag, bis dicht vor ein Städtchen. Hier schwang er sich über die Stadtmauer, hoch in die Lüfte, nach dem Wetterhahn hin auf der Spitze des Kirchturms.
Der Abend dämmerte bereits. Auf dem Walle lief ein Mann hin und her, einsam und unruhig. Er hatte den Zeigefinger an die Stirn gelegt und sagte in einem fort das Abc her, bald vor-, bald rückwärts. Ehe ich ihm ausweichen konnte, stieß er mir mit dem Kopf vor die Brust. Nun riß er die Augen weit auf und schrie mich an:
„Ha! Wie heißt er?“
„Ich heiße Peter!“ sag ich.
„Nein, Er, Er, mit dem ich vor zehn Jahren im Monat Mai drei Wochen lang herumgewandert bin an der polnischen Grenze.“
„Gewiß ein Herzensfreund.“
„Nein, gar nicht.“
„Oder er ist Euch was schuldig.“
„Keinen Heller.“
„Na!“ sag ich. „Dann nennt ihn Hans und laßt ihn laufen, wohin er will.“
„Mensch!“ rief er. „Ich bin Ausrufer in dieser Stadt. Lesen kann ich nicht; meine Frau sagt’s mir vor, bis ich’s auswendig kann; läßt’s Gedächtnis nach, ist der Dienst verloren. Neulich, beim Kaffee, ich stecke die Pfeife an, da, so beiläufig, denk ich: Der, der, wie heißt er nur gleich? Und da hat’s mich gehabt. Und ich sah ihn doch so deutlich vor mir, als wär’s heut oder übermorgen. Er war links und kratzte sich auch so; er zwinkerte immer mit dem linken Auge, und sein linkes Bein war krumm, und im linken Ohrläppchen trug er einen Ring von Messing, und Schneider war er auch. Oh, der Name, der Name!“
Die Beschreibung paßte genau auf meinen früheren Meister.
„Hieß er nicht Knippipp?“ sag ich so hin.
Ein heller Freudenblitz zuckte über sein blasses Angesicht. Mit den Worten: „Knippipp, ich habe dich wieder!“ fiel er mir um den Hals und weinte einen Strom von Freudentränen hinten in meinen Kragen, daß es mir ganz heiß den Rücken hinabrieselte.
In der Fülle der Dankbarkeit ersuchte er mich, ihn nach Hause zu begleiten und bei ihm zu übernachten; und oh! wie freuten sich seine Frau und seine Kinder, als sie sahen, daß sie wieder einen vergnügten und brauchbaren Vater hatten.
Zu Abend gab es Zichorienkaffee mit den üblichen Zutaten. Die Kinder tranken sehr viel, und ich meinte, es sei wohl nicht ratsam, wenn sie kurz vor dem Schlafengehn so viel Dünnes kriegten; aber die Eltern waren der Ansicht, man müsse dem Drange der Natur freien Lauf lassen.
Als wir fertig waren, baten die drei Kleinsten: „Nicht wahr, Papa? Wir schlafen bei dem fremden Onkel!“
So geschah es denn auch. Die Nacht, die ich unter diesem gastlichen Dache zubrachte, war eine der unruhigsten, wärmsten und feuchtesten Sommernächte, die ich jemals erlebt habe.
Bei Anbruch des Tages tranken wir wieder gemeinsam Kaffee und aßen Brot mit Zwetschenmus dazu. Die Kinder waren sehr zutunlich; besonders der Zweitjüngste spielte gar traulich zwischen meinen Frackschößen herum.
Daß meine einfachen Gastgeber, von denen ich einen zärtlichen Abschied nahm, über die Lage von Geckelbeck auch nicht die mindeste Auskunft zu geben vermochten, hatt ich mir gleich gedacht. So beschloß ich denn, eh ich wieder ins Weite zog, mich in der Stadt etwas näher zu erkundigen.
Ohne Erfolg befragt ich einen Lehrjungen, der die Läden aufmachte; einen Betrunkenen, der nach Hause ging; einen Großvater, der die Hand aus dem Fenster hielt, um zuzufühlen, ob’s regnete. Zu guter Letzt wollt ich noch mal eben an eine vertrauenerweckende Haustür klopfen. Im selben Moment wurde sie aufgestoßen, und ein Dienstmädchen goß den Spüleimer aus. Hätt ich nicht flink die Beine ausgespreizt und einen ellenhohen Hupfer getan, so wär mir der vermischte Inhalt direkt auf den Magen geplatscht. Auf meine Anfrage wischte sich das gesunde Mädchen freilich mit seinem roten Arm ein paarmal nachdenklich unter der Nase her; indes von Geckelbeck wußte sie nichts, und einen, sagte sie, der es wüßte, oder einen wüßte, der es wüßte, wüßte sie auch nicht.
Ich schlenderte zum Tor hinaus. Von der Morgensonne beschienen, mitten auf der Chaussee, war eine Gesellschaft von Sperlingen mit der Obsternte beschäftigt. Es waren jene bemerkenswerten Früchte, genannt Roßäpfel, welche Winter und Sommer reifen. Dieser Anblick erinnerte mich lebhaft an meine ländliche Heimat.
Jetzt, dacht ich, sitzen sie wohl da um den Tisch herum und verzehren ihr Morgensüppchen und denken: Wo mag der Peter sein? Und der Vater wischt sich schweigend den Mund ab mit dem Rockschlappen, und der Gottlieb geht hin und mistet den Pferdestall, und mein gutes Kathrinchen füttert die Hühner, und das schwarze mit der Holle frißt ihr das Brot aus der Hand, aber das gelbe ohne Schwanz will nicht mitfressen, sondern steht traurig und aufgeblustert abseits, auf einem Bein, denn es hat noch immer den Pips.
Einige dicke heimwehmütige Tränen, ich muß es gestehn, rannen mir langsam über die Backen herunter. Ich zog das Taschentuch und rieb mir gründlich mein Angesicht. Es wurde mir so sonderbar schwarz vor den Augen, und jetzt merkt ich, was los war. Das kleine liebevolle Söhnchen meines vergeßlichen Gastfreundes hatte dem fremden Onkel, eh er Abschied nahm, noch heimlich in sein rotes baumwollenes Sacktuch einen tüchtigen Klecks Zwetschenmus eingewickelt und mit auf die Reise gegeben. Ich sah mich nach Wasser um. Ei sieh! Am Stamm eines Kastanienbaumes saß mein neckischer Schmetterling.
„Sitz du nur da!“ murmelte ich verächtlich aus dem linken Mundwinkel. „Ich will dich nicht, und ich möchte dich nicht, und wenn du die Prinzessin Triliria selber wärst und brächtest bare fünfhundert Gulden mit in die Aussteuer und keine Schwiegermutter.“
Aber schon war ich in Schleichpositur und gleich drauf in vollem Galopp. Inmitten eines kleinen Teiches endlich ließ sich das bunte Flattertier auf einem Schilfbüschel nieder und klappte seelenruhig die Flügel zusammen.
Mindestens zwei Stunden lang saß ich am Ufer und wartete. Vergebens macht ich öfters Kischkisch! Und Steine zum Werfen waren nicht da. Endlich zog ich mich aus, nahm das Netz quer in den Mund und schwamm vorsichtig näher.
Unterdes machte ich eine Entdeckung, die mich veranlaßte, in Eile wieder umzukehren. Es war ein Blutegelteich. Bereits waren meine Beine und sonstigen Körperteile gespickt mit begierigen Säuglingen, und wohl mir, daß eine Grube voll Streusand in der Nähe lag, worin ich mich wälzen konnte. Als die Viecher den Sand zwischen die Zähne kriegten, was ja niemand gern hat, ließen sie sofort locker und purzelten rücküber in den Staub, welcher sie dermaßen austrocknete, daß sie bald zehnmal dünner waren als vorher und tot obendrein.
Währenddem saß mein Schmetterling auf seinem Schilfstengel, als wollt er daselbst in aller Ruhe den Rest seiner Tage verleben mit voller Pension.
Schnell zog ich mich an und eilte in den Wald, um mir einen dürren handlichen Ast zu holen. Einer lag da, der war ganz morsch; ein zweiter lag da, der war mir zu zackicht; ein dritter saß noch am Baume fest. Ich hätte übrigens gar nicht so stark dran zu reißen brauchen, denn schon beim ersten Ruck gab er nach, so daß ich mit unerwarteter Geschwindigkeit auf den zweiten zackichten zu sitzen kam, der glücklicherweise ebenso morsch war wie der erste.
In der Hand den erwählten Knittel, lief ich nun unverzüglich an den Teich zurück, um durch einen wohlgezielten Wurf den hinterlistig geruhsamen Schmetterling aus seiner Sicherheit aufzuscheuchen. Sein Platz stand leer. Ich legte mich hin, wo ich stand, und schlief sofort ein, trotz meines Ärgers und des vernehmlichen Gebells meines unbefriedigten Magens.
Ausnahmsweise recht früh, schon im Laufe des Vormittags, erwacht ich. Nachdem ich mir das Zwetschenmus, das inzwischen zu einer harten Kruste erstarrt war, mit Sand aus dem Gesichte gerieben, denn ich zog doch eine Reinigung auf trockenem Wege einer solchen mit dem Wasser des verdächtigen Teiches vor, begab ich mich auf die Suche nach einem Rübenacker, wo ich zu frühstücken gedachte. Ich fand einen Landmann dasitzend, der eben sein Sacktuch aufknüpfte und für den Morgenimbiß ein erhebliches Stück Speck entwickelte. Sofort sammelte sich in meiner Mundhöhle die zur Verdauung so nützliche Feuchtigkeit. Ich bot ihm drei Kreuzer, wenn er mir was abgäbe. Er tat’s umsonst, fügte noch eine knusprige Brotrinde hinzu und wünschte mir gute Verrichtung.
Munter dreinhauend spaziert ich weiter. Den letzten Rest der Mahlzeit, nämlich die treffliche, zähe, salzige Schwarte, schob ich hinter die Backenzähne, so daß ich die Freude hatte, noch eine Zeitlang dran lutschen zu können.
Dicht vor einem Dörflein begegneten mir zwei unbeschäftigte Enten, die lediglich zum Zeichen ihres Vorhandenseins durchdringend trompeteten. Da ich nunmehr die Schwarte bis aufs äußerste ausgebeutet hatte, nach menschlichen Begriffen, warf ich sie hin. Die geistesgegenwärtigste der zwei Schnattertaschen erwischte sie und eilte damit, vermutlich weil sie nichts abgeben wollte, durch das Loch einer Hecke. Die zweite, die wohl auch keinem andern was gönnte, wackelte emsig hinterher. Ich, natürlich, als Naturbeobachter, legte mich auf den Bauch und steckte den wißbegierigen Kopf durch die nämliche Öffnung. Mir gegenüber, an einer gemütlichen Pfütze, sah ich zwei Häuschen stehn, und jedes Häuschen hatte ein Fenster, und hinter jedem Fenster lauerte ein Bub, ein roter und ein schwarzhaariger, und vor jedem Häuschen erhob sich ein beträchtlicher Düngerhaufen, und auf jedem Düngerhaufen stand ein Gockel, ein dicker und ein dünner, inmitten seiner Hühner, die eben ihre Scharrtätigkeit unterbrachen, um gespannt zuzusehn, was die zwei Enten da machten.
Vergebens bemühte sich die erste, durch Druck und Schluck die Schwarte hinter die Binde zu kriegen; sie war grad so um ein Achtelzöllchen zu breit. Hiernach durfte die zweite, die mit neidischer Ungeduld dies Ergebnis erwartet hatte, ans schwierige Werk gehn. Schlau, wie sie war, tauchte sie das widerspenstige Ding zuerst in die Pfütze, um’s glitschig zu machen, und dann streckte sie den Schnabel kerzengrad in die Höhe und ruckte und zuckte; aber es ging halt nicht; und dann kehrten die beiden Enten kurz um und rüttelten verächtlich mit den Schwänzen, als sei ihnen an der ganzen Sach überhaupt nie was gelegen gewesen.
Kaum hatten dies die Hühner erspäht, so rannten sie herbei und versuchten gleichfalls ihr Glück, eins nach dem andern, wohl ihrer zwanzig; indes alle Hiebe und Stöße scheiterten an der zähen Hartnäckigkeit dieser Schwarte. Zuletzt kam ein munteres Schweinchen dahergetrabt und verzehrte sie mit spielender Geläufigkeit; und so blieb sie doch in der Verwandtschaft.
Während dieser Zeit hatten sich die beiderseitigen Gockel unverwandt angeschaut mit teuflischen Blicken; ohne Zweifel, weil sie sich schon lange nicht gut waren von wegen der Damen. Plötzlich krähte der Dicke im Cochinchinabaß:
„Kockerokoh!“
Dieser verhaßte Laut gab dem Dünnen einen furchtbaren Riß. Mit unwiderstehlichem Vorstoß griff er den Dicken so heftig an, daß sich dieser aufs Laufen verlegte um die Pfütze herum. Der Dünne kam nach. Gewiß zehn Minuten lang liefen sie Karussell; bis der Dicke, dem vor Mattigkeit schon längst der Schnabel weit offen stand, unversehens unter Aufwand seiner letzten Kräfte seitab auf das Dach flog, wo er ein mächtiges Kockerokoh! erschallen ließ, damit nur ja keiner glauben sollte, er hätte den kürzeren gezogen.
Sofort schwang sich der Dünne auf den Gipfel des feindlichen Düngerhaufens; jedenfalls mit der Absicht, von dieser Höhe herab durch ein durchdringendes Kickerikih! im Tenor der Welt seinen Sieg zu verkünden.
Ehe er noch damit anfangen konnte, sah er sich veranlaßt, laut krächzend in die Höhe zu fliegen.
Der rothaarige Knabe, heimlich heranschleichend mit der Peitsche, versetzte ihm einen empfindlichen Klaps um die mageren Beine. Aber schon, aus dem Nachbarhaus, war der Schwarzkopf mit einer Haselgerte als Rächer des seinerseitigen Gockels herbeigekommen und erteilte dem Rothaarigen, grad da, wo die Hose am strammsten saß, einen einschneidenden Hieb. Hell pfiffen und klatschten die Waffen. Man wurde intimer; man griff zu Haar und Ohren; man wälzte sich in die Pfütze; aus dem Kampf zu Lande wurde ein Seegefecht. Für mich ein spannendes Schauspiel. Ich war so begeistert, daß ich ermunternd ausrief: „Fest, fest! Nur nicht auslassen!“
Im selben Augenblick ruhte der Streit. Mein Kopf wurde bemerkt; eilig zog ich ihn zurück. Aber sogleich waren die Schlingel hinter mir her. Sie warfen mich mit Erdklößen; ich drehte mich um und ermahnte sie, artig zu sein, sie schimpften mich Stadtfrack! Ich verwies sie ernstlich zur Ruhe, und nun schrien sie Haarbeutel! Haarbeutel! als ob ich betrunken wäre. Schleunige Flucht schien mir ratsam zu sein. Bald war ich weit voraus. Im Gehölz fand ich einen Baum, der von oben her hohl war. Umgehend saß ich drin, wie der Tobak im Pfeifenkopf, nicht zu fest und nicht zu locker.
Zwar die bösen Knaben folgten mir und kicherten und flüsterten sogar noch eine Zeitlang um den Baum herum; aber ich war ihnen zu schlau gewesen, denn ohne mich weiter zu belästigen zogen sie ab. Mein Platz schien mir so recht geeignet zum Übernachten, und eben war ich im Begriff, recht behaglich zu entschlummern, als ich unten was krabbeln fühlte.
„Zapperment!“ dacht ich gleich. „Das sind Ameisen.“
Schleunigst sucht ich mich emporzuarbeiten, um mir eine anderweitige Schlafstelle zu suchen; aber der Frack unterhalb mußte sich festgehakt haben und ließ mich nicht hochkommen, und ausziehn konnt ich ihn auch nicht, denn der Spielraum für die Ellenbogen war zu gering.
Indem, so hört ich Stimmen. Wie ich durch einen Spalt bemerken konnte, waren es zwei Kerle, die einen Esel am Strick hatten. Sie banden ihn an einen Ast dicht vor meiner Nase.
„Haha!“ lachte der eine. „Den hätten wir ihm mal listig wegstibitzt.“
„Wird keine Sünd sein!“ meinte der andere. „Der alte Schlumann hat Geld wie Heu.“
Dann öffneten sie ihren Quersack, setzten sich und fingen an, fröhlich zu Nacht zu essen.
Unterdes hatten die Ameisen ihre Heerscharen vollzählig entwickelt. Sie krabbelten nicht bloß, sie zwickten nicht bloß, nein, sie ätzten mich auch mit ihrer höllischen Säure, und zwar an den empfindlichsten Stellen. Alle sonstigen Besorgnisse beiseite setzend, brüllt ich um Hilfe.
Die Spitzbuben, aufs äußerste erschreckt durch die gräßlichen Laute, um so mehr, als sie kein gutes Gewissen hatten, flohen eilig, ohne den Esel erst loszubinden, in das tiefste Dickicht des Waldes hinein. Ich schrie unaufhörlich, und der Esel fing auch an.
In diesem Augenblick kam ein Mann mit einer Laterne. Er streichelte den Esel und beleuchtete ihn von allen Seiten, und dann beleuchtete er auch mich in meiner Bedrängnis.
„Komm hervor aus dem Rohr!“ sprach er ernst.
„Der Frack, der Frack!“ schrie ich. „Der leidt’s halt nicht.“
„Da werden wir mal nachsehn!“ sprach er gelassen. „Ja, dies ist erklärlich; denn hier aus dem Astloch steht er heraus, zu einem Knoten verknüpft, und ein Stäbchen steckt als Riegel dahinter.“
„Das haben die verdammten Bengels getan!“ rief ich entrüstet.
Es war die höchste Zeit, daß ich loskam. Wie ein Pfropfen aus der Flasche flog ich zum Loch heraus, und der alte Schlumann, denn der mußte es sein, brach einen Zweig ab und klopfte mich aus, wie ein Sofakissen, wo die Motten drinsitzen.
Er trug Rohrstiefel, einen Staubmantel von Glanztaffet und einen breitkrempigen Hut. Es war ein ansehnlicher Herr von fünfzig bis sechzig Jahren mit graumeliertem Bart und Augen voll ruhiger Schlauheit. Wohlwollend grüßend, bestieg er seinen Esel, ermunterte ihn mit den Worten: „Hü, Bileam!“ und ritt langsam in der Richtung des Dorfes fort.
Die Diebe hatten unter anderm ein kaltes Hühnchen zurückgelassen. Ich ging damit abseits, verzehrte es, wühlte mich in trockenes Laub, legte mich aufs Gesicht, damit mir nicht wieder was in den Mund fiel, und schlief unverzüglich ein.
Es mochte halbwegs Mittag sein, als ich durch ein empfindliches Schmerzgefühl an beiden Seiten des Kopfes geweckt wurde. Zwei Schweine waren eben dabei, mir die Ohren, die sie vermutlich für Pfifferlinge hielten, vom Kopfe zu fressen, hatten aber erst ganz wenig heruntergeknabbert. Im Kreise um mich her wühlte die übrige Herde.
Der Hirt, ein kleiner alter Mann mit einem dreieckigen Hut, strickte an einem blauen Strumpfe; und bei diesem treuherzigen Naturmenschen beschloß ich mich noch mal ernstlich zu erkundigen, ob er nicht wüßte, wo die Stadt Geckelbeck läge.
Das, sagte er, könnte er mir ganz genau sagen, denn vor dreißig Jahren hätte er dort mal siebzehn Ferkel gekauft, und sie wären auch alle gut eingeschlagen bis auf eins, das hätten die andern immer vom Troge gebissen, und da hätt es vor lauter Hunger am Montag vor Martini einen zinnernen Löffel gefressen und am Dienstag eine Kneipzange und am Mittwoch dem Sepp sein Taschenpistol, den Lauf zuerst, und wie es an dem Zündhütchen geknuspert hätte, wär der Schuß losgegangen, mitten durch die inneren Teile und noch weit hinten hinaus.
„Seht!“ fuhr er fort. „Dort zwischen den Bäumen hindurch, grad wo ich mit diesem Strickstock hinzeige, da liegt Dösingen, und zwei Stunden hinter Dösingen kommt Juxum, und dann kommt sechs Wochen lang nichts, und dann kommt der hohe Dumms, wo’s oben immer so neblig ist, und von da sieht man erst recht nichts, und – –“
„Danke, lieber Mann!“ unterbrach ich ihn. „Und, bitte, haltet Euch bedeckt!“
Hierbei trieb ich ihm mit der flachen Hand seinen dreieckigen Hut über Nase und Ohren, und als er schimpfen wollte, konnte er es nicht, weil ihm die Nase über das Maul gerutscht war.
Als ich den Wald verließ, lag die angenehmste Landschaft vor mir ausgebreitet; Wiesen, von Hecken umgeben; ein See; ein Dorf im Dunst der Ferne. Die Nacht war schwül gewesen; der Tag wurde es noch mehr. Die Schwalben flogen tief; und eine graue Wolke, wie ein Sack voll Bohnen, stand lauernd am Horizont. Die Sonne verfinsterte sich; ein Schatten machte sich über der Gegend breit; die Wolke, nunmehr mit einer langen gelblichen Schleppe geziert, war drohend heraufgestiegen. In ihrem Innern grollte es bereits; ein Wind erhob sich, und dann kam rauschend und prasselnd die ganze Bescherung.
In der Wiese, wo ich mich befand, war Heu gemacht; an der Hecke bemerkt ich eine kleine Hütte von Zweigen; ich schlüpfte spornstreichs hinein.
So geht’s, wenn man nicht erst zusieht! Ich fiel direkt in zwei offene Weiberarme und wurde auch umgehend so heftig gedrückt und abgeküßt, daß ich, der so was nicht gewohnt war, in die peinlichste Angst geriet.
„Hö! Hö!“ schrie ich aus Leibeskräften. „Satan, laß los!“
Gleichzeitig schlug ein blendender Blitz in den nächstliegenden Heuhaufen, und ein Donnergepolter folgte nach, als wäre das Weltall von der Treppe gefallen.
Meine zärtliche Unbekannte ließ mich los und sprang vor die Hütte. „Ätsch! Fehlgeschossen! Hier saß ich!“ rief sie spottend in die Wolken hinauf, und dann tanzte sie lachend um den brennenden Heuschober.
Die blitzenden Zähne; das schwarze Haar, durchflochten mit goldenen Münzen; unter dem grauen, flatternden Röcklein die zierlichen Füße; dies alles, kann ich wohl sagen, schien mir äußerst bemerkenswert.
Mit dem letzten Krach war das Wetter vorübergezogen. Vergnüglich und unbefangen, als sei zwischen uns beiden nichts vorgefallen, setzte sich das Mädel wieder zu mir in die Hütte. Sie machte die Schürze auf. Es waren gedörrte Birnen drin, meine Lieblingsfrüchte, und als ich sie essen sah, wollt ich auch zulangen. Aber jedesmal kniff sie die Knie zusammen, zischte mich an und gab mir neckisch einen Knips vor die Nase. Schließlich erwischt ich doch eine beim Stiel. Sofort krümmte sich diese Birne und biß mich in den Finger, daß das Blut herausspritzte. Ich hatte eine Maus beim Schwanze. „Au!“ rief ich und schlenkerte sie weit weg. „Wart, Hex, jetzt krieg ich dich!“
Aber schon war die hübsche Zauberin aufgesprungen und hatte mir sämtliche Birnen vor die Füße geschüttet. Dies Mäusegekrabbel! Die meisten liefen weg; nur eine war mir unter der Hose hinaufgeklettert, das Rückgrat entlang, bis an die Krawatte, wo sie nicht weiter konnte, und nagte hier wie verrückt, um herauszukommen, und bevor ich mich noch ausziehen konnte, hatte sie auch schon, wie sich später zeigte, ein zirkelrundes Loch durch Hemd, Weste und Frack gefressen.
Als ich mich von dieser Aufregung wieder einigermaßen gesammelt hatte, sah ich mich um nach dem Blitzmädel, der Hexe; denn ich hatte Mut gefaßt und wollte ihr mal recht ins Gewissen reden von wegen der Zauberei, und darnach, so nahm ich mir vor, wollte ich ihr zur Strafe für ihre Schändlichkeit einige herzhafte Küsse geben. Ich suchte und suchte, in der Hütte, in der Hecke. Nichts Lebendiges war zu bemerken, außer ein Laubfrosch, ein Zaunigel, viele Maikäfer und der Schwanz einer silbergrauen Schlange, die grad in einem Mausloch verschwand.
Weiterhin schlich der Jägernazi herum, als ob er was verloren hätte. Er sah recht verstört aus und ging an mir vorbei, ohne mich zu beachten.
Auch ich war etwas trübselig geworden; denn nicht nur spukte mir das Mädel im Schädel, sondern als ich Frack, Hemd und Weste ablegte, um den Mäuseschaden zu besichtigen, fehlte mir auch mein goldenes Medaillon, das ich bisher immer so sorgsam bewahrt hatte.
Nach dem Gewitter hatte sich die Luft empfindlich abgekühlt, so daß mir abends die Zähne im Munde klapperten. Daher schien es mir ratsam, mich nach einem Quartier umzusehn, wo ich unter Dach und Fach übernachten konnte. Ich versteckte mein Netz, näherte mich einem einsamen Bauernhofe und besah die Gelegenheit. Aus einer offenen Luke im Giebel hing Stroh heraus; eine Leiter stand davor. Zu Nacht, als alles still geworden, stieg ich hinauf. Es war ein einfacher Bretterboden. Ich machte mich so leicht wie möglich. Kracks! da brach ich schon durch.
Ich fiel weich, auf ein Bett, wie ich merkte! Aha! dacht ich. Das trifft sich gut! Dies ist sicher die Fremdenkammer! und wollte mir’s bequem machen. Aber neben mir rührte sich was.
„Kunrad!“ rief eine Weiberstimme. „Kunrad, der Sack ist durch die Decke gefallen.“
„Dummheit! Du träumst! Dreh dich um!“ gab eine schläfrige Männerstimme zur Antwort.
„Kunrad!“ kreischte die Frau. „Der Sack hat Haar auf dem Kopf!!“
„Ich komm schon!“ klangs munter aus dem anderen Bett herüber. Es schien mir nicht ratsam, noch länger zu verweilen. Ich trat klirrend in ein Gefäß voll Flüssigkeit; ich tappte mit den Händen in fünf, sechs offene Mäuler. Die Kinder heulten, die Frau schrie: Ein Dieb! Ein Dieb! und der Bauer fluchte und schwur, daß er ihn schon kriegen und durch und durch stechen wollte, wenn er nur gleich einen Säbel hätte. Zum Glück fand ich eine Tür, die in den Nebenraum führte. Hier kriegt ich den Kopf einer Kuh zwischen die Arme, und als ich das haarige Gesicht und die zwei harten Hörner fühlte, erschrak ich und dachte schon, es sei der kräftige Knecht mit der Heugabel. Das bekannte Hamuh! gab mir die Besonnenheit zurück. Ich sprang aus der Klappe und schlich mich hinter dem Schweinestall herum durch den Gemüsegarten ins Feld. Alles was Stimme hatte, war wach geworden: Hund, Hühner, Schweine, Kühe, Ziegen und Gänse; aber am längsten hört ich noch die leidenschaftlichen Äußerungen der Familie, die aus weitgeöffneten Mäulern und Fenstern hinter mir herschimpfte.
Ohne erst mein Netz zu holen, lief ich und lief die halbe Nacht hindurch, bis ich einen Teich erreichte, in dessen Nähe ein Mühlrad rauschte.
Schön gelb und rund, gleich dem Eierkuchen in der Pfanne, ehe er völlig gereift ist, schwebte der Mond im Himmelsraum. Ich war ungemein wach und warm geworden. So setzt ich mich denn auf das Wehr und hörte zu, was sich die Frösche erzählten, die ihre gesellige Unterhaltung, worin sie durch meine Ankunft gestört waren, alsbald wieder anknüpften.
„Frau Mecke! Frau Mecke!“ fing die eine Fröschin zur andern an.
„Was ba-backt Ihr denn morgen?“ „Krapfen! Krapfen! Frau Knack!“ entgegnete die Frau Mecke.
„Akkurat mein Geschmack!“ quackte die Frau Knack.
Und kaum, daß sie diese Ansicht geäußert hatte, so stimmten sämtliche Frösche ihr bei und erklärten laut und einstimmig, die Frau Knack-ack-ack-ack hätte den wahren Geschmack-ack-ack-ack, und da blieben sie bei und hörten nicht auf, bis ich gegen Morgen einen dicken Stein holte und mitten ins Wasser plumpste.
Inzwischen hatt ich allerlei in Erwägung gezogen. Durch die vorwiegend pflanzliche Nahrung war meine Natur doch sehr merklich ermattet. Auch bedurfte meine Wäsche, die nur aus 1/12 Dutzend Hemden und 1/12 Dutzend Paar Strümpfen bestand, recht dringend der Ergänzung. Daher beschloß ich, mir in der Mühle einen Dienst zu suchen.
Auf meine Anfrage, ob’s nichts zu flicken und zu stopfen gäbe, gab der Müller die freudige Antwort:
„Nur herein, mein Sohn; es ist ein gesegnetes Mäusejahr; kein Sack ohne Löcher!“
Drei Wochen lang hantiert ich emsig mit Nadel und Zwirn; aber die sitzende Lebensweise gab mir auch die beste Gelegenheit, in aller Stille an die reizende Hexe zu denken und allerlei Pläne zu schmieden, wie ich sie wieder erwischen könnte. Unwiderstehlich erwachte die Wanderlust; die Beine fingen an zu zappeln, wie fleißige Weberbeine, und eines schönen Morgens stand ich reisefertig da, mit einem neuen Netz in der Hand, und sprach:
„Meister! Ewig können wir nicht beieinander sein. Gehabt Euch wohl!“
Nachdem ich meinen Lohn erhalten, spaziert ich mit munteren Schritten den Bach entlang. Ich war ordentlich plus und prall geworden. Und pfeifen tat ich, und zwar schöner als je, denn grad durch das ärgerliche Loch, was mir der Strolch in die Zähne geworfen, bracht ich nun die kunstvollsten Töne hervor.
Die Landschaft, in die ich zuerst gelangte, sah sehr einförmig aus. Die Kartoffeln standen gut; indes ungewöhnlich viele Schnecken gab es daselbst, die, wie mir schien, noch viel langsamer krochen als anderswo. Bald erreicht ich ein idyllisches Dörflein. Alle Häuser hingen gemütlich schief auf der Seite; desgleichen die Wetterhähne auf den Dächern. Auf den Türschwellen im warmen Sonnenschein hockten die Mütter und besahen so beiläufig den Kindern die Köpfe, während die Mannsbilder draußen auf der Bank saßen und versuchten, in dieselbe Stelle zu spucken, was, wenn es gelingt, ja den Ehrgeiz befriedigt. Nur einer machte sich etwas Bewegung auf der Gasse. Er ließ seinen Stock fallen. Mühsam und seufzend hob er ihn auf; aber dann ging er auch gleich ins Wirtshaus zu seiner Erholung.
Ein Dickwamps sah schläfrig zum Fenster heraus.
„Ihr da, mit dem Dings da!“ sprach er mich an. „Ihr könntet mir zu etwas behilflich sein.“
Ich trat ins Haus. In langgedehnter, zähflüssiger Rede tat er mir kund, um was es sich handelte: Er hätte eine Kanarienvogelhecke oben unter dem Dach, die möchte er gern, von wegen des lästigen Treppensteigens, nach unten verlegen, aber das Viehzeug, um es einzufangen, sei gar zu flüchtig für ihn, und da wär ich mit meinem Netz grad recht gekommen.
Ich stieg voran die Treppe hinauf. Er ließ sich nachschleppen, indem er meine Frackschöße erfaßte, und es wundert mich nur, daß dieselben bei der Gelegenheit nicht ausgerupft und entwurzelt sind. Trotzdem, als wir die Dachkammer erreichten, mußte ich ihm erst lange den Rücken klopfen, bis er wieder zu Atem kam; so dick war der Kerl.
Mit Leichtigkeit, vermittels meines Netzes, erhascht ich sämtliche Vögel, es mochten ihrer zwanzig bis dreißig sein, und steckte sie in einen Beutel, den ich auf einen Stuhl niederlegte. Nur ein altes schlaues Weibchen konnt ich noch immer nicht kriegen.
Der Dicke, der starr und träge zugesehn, wie ich so herumfuchtelte, mochte davon wohl etwas schwindlig und müde geworden sein. Mit dem Seufzer Achja! ließ er sich in voller Sitzbreite, auf den Stuhl niedersinken, wo der Beutel drauf lag. Keinen Ton gaben sie von sich, die armen Vöglein.
Er merkte auch nichts, sondern saß friedlich da mit halbgeschlossenen Augen, und als ich ihm ängstlich mitteilte, daß fast se