Archive for September 2021
Der brennende Schmerz schwand und die Wunde ward heil
Update zu Das Beste sind die Kartoffeln:
Die „wohl bedeutendste Privatsammlung zu Jean Paul“ ist laut Eigenauskunft das Jean-Paul-Museum der Stadt Bayreuth, eröffnet 1980, erweitert 1994 und vollständig neu gestaltet anlässlich des 250. Geburtstags 2013. Mein Exemplar des Katalogs der dortigen ständigen Ausstellung stammt von 2000, lange vor der Wiedereröffnung — was nützlicher ist gar kein Exemplar, weil das Bayreuther Museum im Gegensatz zum kleineren in Joditz — laut Eigenauskunft „das ‚jeanpaulste‘ aller Museen für den Dichter“ — keine eigene Webpräsenz als eine Unterseite innerhalb bayreuth-tourismus.de hat. Dafür bringt Joditz das entschieden bessere Bildmaterial, das deshalb etwas unpassender Weise hier verwendet wird.
Anno 2000 führt besagter Katalog ohne Abbildung das Exponat eines Buches von Justus Friedrich Zehelein: Vermischte Gedichte, 1789. Seite 21 unten, über den Museumssaal 4: Die Reise nach Weimar. 1796. Die Titaniden.:
Der Justizamtmann aus Neustadt am Kulm hat seine Gedichte „in Commission“ erscheinen lassen. Das Gedicht „Bienenstich“ hieraus hat sich der oft in Bayreuth bei seinen Nichten und Jean Paul weilende Karl Ludwig von Knebel abgeschrieben und in Weimar Goethe gezeigt. Durch dessen Abschrift ist es schließlich moduliert in die Nachgelassenen Gedichte der „Sophien-Ausgabe“ geraten.
Kindlich enttäuscht war ich bei der Recherche allein darüber, dass ein Gedicht namens „Bienenstich“ tatsächlich von einem wörtlich verstandenen Insektenstich und nicht von Kuchen handelte. Wie zum Trost steht es in beiden Versionen im Versmaß des Distichons, was es umso erstaunlicher macht, dass es metrisch als Lied funktioniert.
——— Justus Friedrich Zehelein:
Der Bienenstich.
in: Vermischte Gedichte von Just. Friedrich Zehelein,
Baireuth, im Verlag der Zeitungsdrukerei und in Kommission bei J. A. Lübecks Erben, 1789, Seite 226:
Als ich, Sami! mit Dir Blumen jüngst brach in dem Garten
Da verwundete heiß, mir ein Bienchen die Hand,Und Du riethest mir weise, mit Erde zu kühlen die Wunde
Und der brennende Schmerz schwand und die Wunde ward heil.Sami! wird auch die Wunde, die in dem Herzen mir blutet,
Dann erst gekühlet und heil, wenn sie die Erde bedekt?
Die in dem Katalog erwähnten Modulationen seitens Knebel — oder, später in Weimar, Goethe — betreffen die Überschrift und die Umstellung von der Ich-Form auf die 3. Person:
——— Johann Wolfgang Goethe:
An Sami
Indisches Gedicht
in: Sophienausgabe, Erste Abtheilung, Band 5, Hermann Böhlau, Weimar 1893, Seite 49:
Als er, Sami, mit dir jüngst Blumen brach in dem Garten,
Stach ihn ein Bienchen, und heiß schmerzte die blutende Hand.
Weise rietest du ihm mit Erde zu kühlen die Wunde,
Und der brennende Schmerz schwand, und die Wunde ward heil.
Sami, wird auch die Wunde, die in dem Herzen ihm blutet,
Dann erst gekühlet und heil, wenn sie die Erde bedeckt?
An Vertonungen sind bekannt: eine von Johann Xaver Sterkel, eine von Carl Blum, 1818
und eine von Carl Loewe, aus: 3 Gedichte, opus 104 Nr. 2, 1844,
samt deren Einspielung mit Elisabeth Schwarzkopf, Klavier Michael Raucheisen, ca. 1941–1943:
Bilder: Jean-Paul Museum Joditz: Impressionen:
Eberhard Schmidt, Bilder wurden teilweise von Besuchern zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Bonus Track: David Olney & Anana Kaye: My Favorite Goodbye, aus: Whispers and Sighs, 2021:
Puschkins Faust 2 von 2: Sag mir, durch welche Zaubersprüche bekomme ich Macht über dich?
Update zu Doktor Faust thu dich bekehren
und natürlich zu allen aus dem ersten Teil:
Zweimal hat der Vater der russischen Literatur — Puschkin — sich 1825 am urdeutschen Faust-Stoff versucht: einmal in Form einer ausgearbeiteten Szene, einmal in Form dreier kurzer dramatischer Fragmente. Beenden wir unsere zweiteilige Serie mit letzteren. Das Bildmaterial sei uns wenig faustisch, vielmehr Petersburgisch.
Es verlautet das Erreichbare: Vorläufiges zu Gerhard Dudeks eigener Studie Metamorphosen von Mephistopheles und Faust bei Puschkin 1991, seiner Akademie jahrs zuvor als Plenarvortrag unter gleicher Überschrift umrissen und in Aussicht gestellt — gefolgt von Puschkins Primärmaterial, vormals Fausts Höllenfahrt oder Höllenpoem, nach der DDR-Ausgabe von 1973:
——— Gerhard Dudek:
Metamorphosen von Mephistopheles und Faust bei Puschkin
Plenarvortrag an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, 12. Oktober 1990:
Die Beziehungen Puschkins zu Goethe sowie zu dessen „Faust“ sind seit H. Koenigs „Litterarischen Bildern aus Rußland“ (1837) und K. A. Varnhagen von Enses Puschkin-Aufsatz (1938) Gegenstand zahlreicher Untersuchungen von Literaturkritikern, Slawisten und Germanisten. Dennoch weist dieses Forschungsfeld immer noch Lücken auf. Dazu gehört eine das Gesamtschaffen Puschkins berücksichtigende Darstellung der Rezeption und schöpferischen Umsetzung der Faustsage durch den Autor des „Eugen Onegin“.
In unserer Studie gehen wir davon aus, daß Puschkin Kenntnis vom Volksbuch über Faust, von Fr. M. Klingers Roman „Fausts Leben, Taten und Höllenfahrt“ sowie Goethes „Faust“ (Erster Teil) erhalten hat, sei es aus mündlichen Berichten bzw. französischen Übersetzungen und deutschen Originalen. Unter dem Eindruck des Faust-Kapitels in Mme. de Staëls „De l’Allemagne“ gewann Goethes Mephistopheles für Puschkin besondere Bedeutung, da diese Gestalt seiner geistigen Haltung um 1820 entgegenkam und ihn auch später immer wieder zur Darstellung reizte. Dies belegen wir zunächst damit, daß Puschkin wahrscheinlich bereits 1821 Mephistopheles – allerdings noch in der Figur des Teufels der christlichen Dämonologie – reflektiert hat. Dafür spricht, daß der Dichter auf dem Blatt mit dem Plan für das Poem „Gabrieliade“ ein Porträt zeichnete, das von M. A. Zjawlowski als das Goethes angesehen wird. Das zeigt sich ferner an den Fragmenten des Poems „Der verliebte Teufel“ (1821) sowie den zu diesem Sujet entworfenen „Höllenzeichnungen“, zu denen Puschkin offenbar durch Szenen aus Klingers Faust-Roman angeregt worden ist.
Die Metamorphose des religiösen Teufels zu einer weltlichen Gestalt philosophischpolitischen Inhalts postulieren wir – Beobachtungen D. Gerhardts folgend – für einen Zyklus von sieben Gedichten und Versfragmenten, die vornehmlich Ende 1823 in Odessa entstanden sind. Mit der Figur des Dämon in dem gleichnamigen Gedicht vom Oktober/November 1823 schuf Puschkin eine eigenständige Variante zu Goethes Mephistopheles, die für die russische Literatur ebenso bedeutsam werden sollte wie Goethes Schöpfung für die deutsche. In Puschkins eigener Deutung seines „Dämon“ als „Geist der Verneinung“ sehen wir allerdings aus chronologischen Gründen einen nachträglich hergestellten Bezug zu Goethes Mephisto.
Den Schwerpunkt unserer Untersuchung bilden Puschkins „Szene aus dem Faust“ sowie die fragmentarischen „Skizzen zu einem ,Faust‘“, die 1825/26 in Michailowskoje verfaßt worden sind. Das Versfragment „Sag mir, durch welche Zaubersprüche“ wird von uns als selbständiger Entwurf und als Vorstufe zur „Szene aus dem Faust“ betrachtet. Mit der Analyse dieser „Szene“ erhellen wir die Wandlungen von Mephistopheles, der tragenden Gestalt des Werkes, vom Philosophen der Langeweile über den Psychologen und Moralisten zum Tatmenschen, der Fausts Befehl vollstreckt. In Puschkins Faust sehen wir dagegen mehr eine Folie für Mephistos Metamorphosen, von der sich die Phänomene der existentiellen Langeweile und eines für die russische Literatur charakteristischen ethischen Maximalismus deutlicher abheben. Das Schlußbild der „Szene“ wird von uns als Ansatz zu einem historischen Verständnis der Faustgestalt durch Puschkin gedeutet. Puschkins „Szene aus dem Faust“ als Ganzes genommen wird insofern als eigenständige Variante des Faust-Stoffes gewertet, als Faust darin anders als sonst motiviert erscheint – nicht durch Wissensdurst und Lebenshunger, sondern durch ständiges Unbefriedigtsein mit allen Verlockungen und Genüssen des Lebens, das in der menschlichen ratio seine tiefste Wurzel besitzt.
In einem Exkurs erörtern wir die Frage, ob Goethe von Puschkins „Szene aus dem Faust“ gewußt hat und ob ein Zusammenhang zwischen dem Schluß dieser „Szene“ und dem V. Akt von Goethes „Faust II“ besteht. Die „Skizzen zu einem ,Faust‘“ werden von uns als extravertierter, im Ansatz gesellschaftsbezogener Gegenentwurf zur introvertierten „Szene aus dem Faust“ interpretiert. Ihre möglichen Bezüge zu Goethes „Walpurgisnacht“, Dantes „Hölle“ und zum Volksbuch über Faust werden kritisch beleuchtet. Nach 1826, so zeigen wir, reflektierte Puschkin Goethes Tragödie in seinen literaturkritischen Äußerungen vor allem als literaturhistorische, maßstabsetzende Erscheinung. Faust und Mephistopheles erhielten in seinem dichterischen Schaffen nur noch Zeichenfunktion, sei es unter psychologischem („Pique Dame“) oder sozialhistorischem Aspekt („Szenen aus der Ritterzeit“).
Puschkins Darstellungen von Mephistopheles und Faust werden als eigenständiger Beitrag zur philosophisch-existentiellen bzw. volkstümlich-gesellschaftskritischen Linie in der europäischen Faust-Literatur gewertet. Mit ihnen eröffnete er die Reihe der russischen Fausts bei W. Odojewski, Turgenjew, Dostojewski, Gorki, Lunatscharski, Lewada u.a. sowie andererseits die Hypostasierungen des „philosophischen Teufels“ – sei es als Dämon oder Mephistopheles – bei Lermontow, Dostojewski, F. Sologub, Bulgakow u.a.
——— Alexander Sergejewitsch Puschkin:
Skizzen zu einem „Faust“
1825, übs. Lieselotte Remané 1968:
1
„Sag mir, durch welche Zaubersprüche
Bekomme ich Macht über dich?“
„’s ist gleich! Ich laß dich nicht im Stiche!
Prompt wie vom Himmel falle ich.
Dein Wunsch genügt, ich kann ihn ahnen,
Pfeif, läute, alles ist mir recht,
Klatsch in die Hände wie Osmanan,
Schon steht vor dir dein treuer Knecht.
Ich dien euch nur — was soll ich machen!
Muß stets — es ist ein hartes Joch —
Wie eine Amme euch bewachen,
Belauschen selbst durchs Schlüsselloch.“2
„Hier ist der Kozytos und dort der Acheron,
Und da der Flammefluß, der Phlegeton.
Mut, Doktor Faust, vorangeschritten,
Dort wird es lustig! Darf ich bitten!“
„Wo ist die Brücke?“ — „Auf meinen Schwanz!
Los geht’s zum Tanz!“Wer kommt denn da?“ — „In Reih und Glied
Soldaten im Paradeschritt.
Dies ist der Oberkorporal
Und der — der Unter-General.“
„Was brodelt dort?
Was braut man da?“
„Fischsuppe, Doktor.
Ha, ha, ha!
Schau, Könige dort!
Ja, kocht und schmort!“3
Ein Ball ist heut beim Satanas,
Wir sind zum Namenstag geladen.
Schau, die zwei Teufelchen … ein Spaß
Zu sehn, wie sie das Ferkel braten!
Wie artig hat der andre dort
Den Besen jetzt zur Hand genommen,
Fegt Knochen, Staub und Späne fort …“
„Müßten nicht bald die Gäste kommen?“So treibt man aus die Erdenkinder?
Kein Durcheinander, Lärmen, Schrein!
Welch imposante Säulenreihn!
Wo aber röstet man die Sünder?“
„Da müssen wir noch weiter gehn.
Von hier aus kann man das nicht sehn!“„Cœur ist jetzt Trumpf!“ — „Ich spiele aus!“
„Ich steche!“ — „Könnt ihr denn nicht warten!“
„Ich nehme!“ — „Na, dann bin ich raus!“
„He, Tod, du spielst mit falschen Karten,
Du mogelst ja!“ — „Schweig, du bist dumm!
Mich kriegst du nicht! Hör auf zu singen!
Geht dir’s ums Geld? Mir geht’s darum,
Die Ewigkeit nur zu verbringen!“„Wer kommt denn da?“ — „Gegrüßt, ihr Herrn!
Der neue Gast an meiner Seite
Ist Doktor Faust vom Erdenstern.“
„Ein Lebender?“ — „Ganz gleich, ob heute,
Ob er erst morgen unser ist.“
„Ob einer tot ist, ob am Leben,
Entscheide ich, wie ihr wohl wißt.
Doch will ich Einspruch nicht erheben.
Bei Freunden bin ich jederzeit
Zu Zugeständnissen bereit.“
„Ich spiel die Dame aus …“ — „Und ich
Stech mit dem As und sage: ‚Stich!'“
„Das ist ja Trumpf!“ — „Läßt du ihn mir?“
„Na, meinetwegen, gehen wir!“
Bilder: Наташа Бузина:
- Александр Сергеевич, Mai 2016;
- Вечерний вид на Петропавловскую крепость, November 2016;
- März 2017,
aus: Санкт-Петербург, ab 2016.
Soundtrack: Отава Ё: Яблочко, aus: Что за песни, 2013:
Puschkins Faust 1 von 2: Es gähnt das Grab, das man euch gräbt
Update zu Ein Nichts, ein Zwischenraum (Jedenfalls sie hattens nicht),
Indessen Pasternak und
Gefühl kann man zu Markt nicht bringen, doch Manuskripte jederzeit:
Zweimal hat der Vater der russischen Literatur — Puschkin — sich 1825 am urdeutschen Faust-Stoff versucht: einmal in Form einer ausgearbeiteten Szene, einmal in Form dreier kurzer dramatischer Fragmente. Fangen wir unsere zweiteilige Serie an mit ersterer. Das Bildmaterial sei uns wenig faustisch, vielmehr Petersburgisch.
Wir treffen Faust und Mephisto am Strand — schon recht vertraut mitsammen.
——— Александр Сергеевич Пушкин:
Сцена из Фауста1825,
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——— Alexander Sergejewitsch Puschkin:
Szene aus dem „Faust“1825, gedruckt 1828,
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Bilder: Наташа Бузина:
- Стихи, August 2019;
- Павловск, September 2016;
- Львиный мостик ночью, 2016,
aus: Санкт-Петербург, ab 2016.
Soundtrack: Julia Vorontsova: Pushkin, aus: From St. Petersburg With Love, 2014: