Archive for Februar 2013
Deine so oft entweihte Frühlingsfeier
Was haben wir gelacht. Glück hat eine Schulklasse, deren Deutschlehrer den Werther durchnimmt: In dem Alter, in dem die Lehrpläne sich endlich an Goethe herantrauen, ist im Privatleben des Durchschnittsschülers nichts so virulent wie Liebeskummer. Dazu ist gerade der Werther ein zeitloser Schmachtfetzen, den auch Leute verstehen und lieb haben können, die sonst gar keine Literatur verstehen und schon gar nicht lieb haben. Pubertierende Schüler zum Beispiel.
Allerdings war der Werther von seinem historischen Anfang — der Leipziger Michaelismesse 1774 — an eine Steilvorlage für Persiflagen (ich werde sicher noch berichten). Gerade das echte große Gefühl äußert sich gern in einem Pathos, das dem Spott des nicht Betroffenen Tür und Tor öffnet; das war nie anders und ist deshalb Teil der Zeitlosigkeit.
Besonders der schwerverliebte Werther, der sich seinen Roman lang zu keinen größeren Aktivitäten aufrafft als dem getreulichen Beachten gesellschaftlicher Konventionen bei gleichzeitiger Rebellion gegen dieselben in schwülstigen Briefen an seinen fernen Kumpel Wilhelm, sieht im Selbstmord die immer noch erträglichere Lösung: Er überlebt seinen Roman nicht; bezeichnenderweise hat er als einzige Figur nicht einmal einen Vornamen.
Man mag das der Figur oder dem ganzen Buch vorwerfen. Überlebt hat das Buch, und das bei strotzender Vitalität, am Ende ist sogar genau das sein Vorzug: Der Plot ist dürr, der Endzustand tritt praktisch schon bei abgeschlossener Exposition ein und wird nur noch so lang und breit wie theoretisch begründet. Die äußere Handlung besteht aus ein paar Genrebildern, die zuverlässig in weinerliche Ausbrüche münden, die Philosphie dahinter ist für Werther regelmäßig eine Ausrede dafür, nur ja nichts zu unternehmen — ob er sich darüber klar ist oder nicht.
Als der Werther zum ersten Mal ein europaweiter Bestseller wurde, war das noch Anlass zur Nachahmung. Nur einigen Zynikern war es Anlass zu weiterem Zynismus; Goethe hat solche Nixblicker sein langes verbleibendes Leben lang verachtet. Auch das ist bis heute so geblieben. Selbst wenn man aber Goethe so ernst nimmt, wie er den Werther tatsächlich gemeint hat, ist es womöglich gar nicht schlechteste Umgang mit dem eigenen Liebeskummer, sich über ihn lustig zu machen.
Man konnte den Werther immer lesen wie man wollte — auch wenn er zeitweise verboten war, weil er junge Menschen höchst konkret in den physischen Selbstmord trieb, kann er Lebenshilfe sein. Das muss ein — nicht sehr dickes — Buch erst mal fertig bekommen.
Die Stelle, die am offensichtlichsten zu Gelächter und Parodie reizt, ist die mit dem „Klopstock“. Und an derselben kann man nicht umhin zu respektieren, dass sie genau das bewirkt, worüber sich der allzu naheliegende Spott verbreitet — und damit Recht behält: Einer sagt „Klopstock“, und der gebildete Werther-Leser — und zwar der o.a. pubertierende Schüler einbezogen — sieht sofort das ganze Bild erstehen.
Worauf wollten wir hinaus? — Ach ja: Was haben wir gelacht.
——— Johann Wolfgang Goethe:
Die Leiden des jungen Werthers
nur echt mit dem Genitiv-s, Brief vom 16. Juni 1771 (Schluss), zeichengenau nach dem Paralleldruck der Frankfurter Ausgabe:
Fassung 1774:
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Fassung 1787:
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Ist es nicht herzzerreißend? Und falls nicht, ist es nicht schenkelklatschend? Der Durchtriebene ist: Wahrscheinlich ist es beides. Die nach Erscheinen sofort einsetzenden Parodien sind an leicht zugänglichen Stellen dokumentiert — die jüngste, die mir aufgefallen ist, stammt von Mirja Schmitt. Sie pubertiert nicht mehr, vielmehr studiert sie Germanistik — was manche für etwas recht Ähnliches halten.
Daher ist sie gebildet genug, außer dem Klopstockgewitter auch den küssenden Kanari aus dem Brief vom 12. September 1772 zu verwenden, was ihrer Bearbeitung die rechte Tiefe verleiht. Außerdem fügt sie dem Klopstock-Thema eine neue schlüpfrige, dabei so augenfällige Bedeutung ein. Mir fehlt das hymnisch hochrauschende „Und sah nach ihrem Auge wieder“, dafür ist ihr das schöne „abseitwärts“ aufgefallen, das man von mir aus gern viel selbstverständlicher benutzen dürfte.
So viel traue ich mich zu behaupten: Niemand parodiert etwas, das ihm wurscht ist. So lässt der Werther auch „das Schmitti“ nicht in Ruhe:
——— Mirja „Schmitti“ Schmitt:
Klopstock
Sie war einige Tage verreist, Alberten abzuholen. Aber heute trat er in ihre Stube und Lotte kam ihm entgegen. Voller Glückseligkeit bedeckte er ihre Hand, die ein wenig nach Lavendel roch, mit tausend Küssen. Doch dann traf er sich Aug‘ in Aug‘ mit einem gelben Ungetüm wieder. „Args“, schrie er, wie von tausend Dämonen gepeinigt. Etwas hatte ihn unsanft auf die Nas‘ gepickt. „Er mag sie, lieber Werther“, merkte Lotte an. „Ein neuer Freund“, führte sie aus, „meinen Kleinen zugedacht. Er tut gar zu lieb. Sehen Sie ihn! Wenn ich ihm Brot gebe, flattert er mit den Flügeln und pickt so artig. Er küsst mich auch, sehen Sie!“
Werther sah mit pochendem Herzen auf das Geschöpf, das ihn mit Grimm in seinem kleinen Herzchen ansah. Aber wie wurde ihm, als sich der Kanarienvogel so lieblich an die Lippen dieses Engels presste. Als er Lotten so sah, kam es über ihn.
Werther beschloss zu handeln. Ihn zog es mit aller Macht. Er griff sich das kleine Geschöpf und warf es voller Elan in die Luft. Sollte es doch flattern. Er presste seine dürstenden Lippen auf die von Lotte. „Werther“, seufzte Lotte. „Lotte“, seufzte Werther. Er trank von ihren Lippen und sie von den seinen. Atemlos riss er an ihrem Korsett. Sie löste sich von ihm und setzte sich auf das Klavier, an dem beide schon so oft gesessen hatten. „Kommen Sie, ich warte doch schon so lange“, gurrte Lotte und löste ihr Haar, das lang wie ein Fluss aus Gold herunterfiel und ihre nackten Schultern bedeckte. Als Werther der Bitte nachkam, sah er voller Schrecken und Begierde, wie sie ihre Schenkel öffnete. Keine Unterwäsche? Lotte, was tat sie ihm an. Doch er wehrte sich nicht, als sie ihn von seinen Beinkleidern befreite und ihn an sich zog.
Auf einmal donnerte es abseitwärts und Werther fand sich erwachend in seiner einsamen Kammer wieder, während der herrliche Regen auf das halb geöffnete Dachfenster prasselte und das Land und ihn benetzte. Der herrliche Geruch des Regens drang durch die Luke. „Nur ein Traum“, seufzte er gepeinigt. Mit tränenvollem Auge legte er sich die Hand an das Gemächte, hielt es wie ein krankes Kind und sagte: „Klopstock.“
So, jetzt bin ich aber neugierig. Von welcher Ode reden wir eigentlich die ganze Zeit? Soweit ich mich erinnere, kam das in meinem eigenen Deutschunterricht nicht vor. — Als Beleg dienen wie für so viele vernachlässigte Details die Anmerkungen von Waltraud Wiethölter in der Frankfurter Goethe-Ausgabe. Es ist:
——— Friedrich Gottlieb Klopstock:
Die Frühlingsfeier
1759:
Nicht in den Ozean der Welten alle
Will ich mich stürzen! schweben nicht,
Wo die ersten Erschafnen, die Jubelchöre der Söhne des Lichts,
Anbeten, tief anbeten! und in Entzückung vergehn!Nur um den Tropfen am Eimer,
Um die Erde nur, will ich schweben, und anbeten!
Halleluja! Halleluja! Der Tropfen am Eimer
Rann aus der Hand des Allmächtigen auch!Da der Hand des Allmächtigen
Die grösseren Erden entquollen!
Die Ströme des Lichts rauschten, und Siebengestirne wurden,
Da entrannest du, Tropfen, der Hand des Allmächtigen!Da ein Strom des Lichts rauscht‘, und unsre Sonne wurde!
Ein Wogensturz sich stürzte wie vom Felsen
Der Wolk‘ herab und den Orion gürtete,
Da entrannest du, Tropfen, der Hand des Allmächtigen!Wer sind die tausendmal tausend, wer die Myriaden alle,
Welche den Tropfen bewohnen, und bewohnten? und wer bin ich?
Halleluja dem Schaffenden! mehr wie die Erden, die quollen!
Mehr, wie die Siebengestirne, die aus Strahlen zusammenströmten!
Aber du Frühlingswürmchen,
Das grünlichgolden neben mir spielt,
Du lebst; und bist vielleicht
Ach nicht unsterblich!Ich bin heraus gegangen anzubeten,
Und ich weine? Vergieb, vergieb
Auch diese Thräne dem Endlichen,
O du, der seyn wird!Du wirst die Zweifel alle mir enthüllen,
O du, der mich durch das dunkle Thal
Des Todes führen wird! Ich lerne dann,
Ob eine Seele das goldene Würmchen hatte.Bist du nur gebildeter Staub,
Sohn des Mays, so werde denn
Wieder verfliegender Staub,
Oder was sonst der Ewige will!Ergeuss von neuem du, mein Auge,
Freudenthränen!
Du, meine Harfe,
Preise den Herrn!Umwunden wieder, mit Palmen
Ist meine Harf‘ umwunden! ich singe dem Herrn!
Hier steh ich. Rund um mich
Ist Alles Allmacht! und Wunder Alles!Mit tiefer Ehrfurcht schau ich die Schöpfung an,
Denn Du!
Namenloser, Du!
Schufest sie!Lüfte, die um mich wehn, und sanfte Kühlung
Auf mein glühendes Angesicht hauchen,
Euch, wunderbare Lüfte,
Sandte der Herr! der Unendliche!Aber jetzt werden sie still, kaum athmen sie.
Die Morgensonne wird schwül!
Wolken strömen herauf!
Sichtbar ist, der komt, der Ewige!Nun schweben sie, rauschen sie, wirbeln die Winde
Wie beugt sich der Wald! wie hebt sich der Strom!
Sichtbar, wie du es Sterblichen seyn kanst,
Ja, das bist du, sichtbar, Unendlicher!Der Wald neigt sich, der Strom fliehet, und ich
Falle nicht auf mein Angesicht?
Herr! Herr! Gott! barmherzig und gnädig!
Du Naher! erbarme dich meiner!Zürnest du, Herr,
Weil Nacht dein Gewand ist?
Diese Nacht ist Segen der Erde
Vater, du zürnest nicht!Sie komt, Erfrischung auszuschütten,
Über den stärkenden Halm!
Über die herzerfreuende Traube!
Vater, du zürnest nicht!Alles ist still vor dir, du Naher!
Rings umher ist alles still!
Auch das Würmchen mit Golde bedeckt, merkt auf!
Ist es vielleicht nicht seelenlos? ist es unsterblich?Ach, vermöcht‘ ich dich, Herr, wie ich dürste, zu preisen!
Immer herlicher offenbarest du dich!
Immer dunkler wird die Nacht um dich,
Und voller von Segen!Seht ihr den Zeugen des Nahen den zückenden Strahl?
Hört ihr Jehova’s Donner?
Hört ihr ihn? hört ihr ihn,
Den erschütternden Donner des Herrn?Herr! Herr! Gott!
Barmherzig, und gnädig!
Angebetet, gepriesen
Sey dein herlicher Name!Und die Gewitterwinde? sie tragen den Donner!
Wie sie rauschen! wie sie mit lauter Woge den Wald durchströmen!
Und nun schweigen sie. Langsam wandelt
Die schwarze Wolke.Seht ihr den neuen Zeugen des Nahen, den fliegenden Strahl?
Höret ihr hoch in der Wolke den Donner des Herrn?
Er ruft: Jehova! Jehova!
Und der geschmetterte Wald dampft!Aber nicht unsre Hütte!
Unser Vater gebot
Seinem Verderber,
Vor unsrer Hütte vorüberzugehn!Ach, schon rauscht, schon rauscht
Himmel, und Erde vom gnädigen Regen!
Nun ist, wie dürstete sie! die Erd‘ erquickt,
Und der Himmel der Segensfüll‘ entlastet!Siehe, nun komt Jehova nicht mehr im Wetter,
In stillem, sanftem Säuseln
Komt Jehova,
Und unter ihm neigt sich der Bogen des Friedens!
Um Himmels willen. Kennt keiner mehr, versteht keiner mehr, parodiert nicht einmal einer mehr, wie sehr es darum bettelt. War aber gut, um dem Werther erst in den Freitod und dann in die Unsterblichkeit zu befördern. So hat alles einen tiefen Sinn, sogar Liebeskummer.
Bilder: Cover The Sorrows of Young Werther by Modern Library Classics
via Lexicon Devil: Juvenescence, 5. Februar 2012;
Münchner Volkstheater ab 26. Januar 2013;
Giselchen strickt: Werthers Echte, 28. Januar 2013;
Wilhelm Amberg: Vorlesung aus Goethes Werther, 1870.
Mille tre
Beim Nachlesen in Büchern, die mehr als zweihundert Jahre alt sind, macht immer die Anakreontik den meisten Spaß: Schulhof-, Kneipen- und Altherrenwitze, da ist für alle Generationen was dabei, und alles mit kulturhistorischem Anspruch.
Mich frappiert unter der ganzen Fülle der Leporellos auf YouTube etwas, dass Leporello kaum je Leporellos benutzt. In der größten, schönsten, vielschichtigsten und seit 1787 erfolgreich durchgenudeltsten aller Opern Il dissoluto punito ossia Il Don Giovanni musste man einem interessierten Publikum noch nicht erklären, wer dieser Anakreon überhaupt ist, die konnten wahrscheinlich sogar das richtige Gedicht hersagen.
——— Anakreon:
XXXII. Auf seine Mädgens
ca. 550 vor Christus,
nach: Johann Nikolaus Götz (Hg.): Die Gedichte Anakreons und der Sappho Oden, Carlsruhe 1760:
Kannstu in allen Wäldern
Der Bäume Blätter zehlen;
Kannstu die Zahl der Körner
Des Sandes am Meere finden;
Dann bistu auch im Stande,
Und du allein, die Menge
der Mädgens, die mich lieben,
Gehörig auszurechen.
Zum ersten setze zwanzig,
Die aus Athen gebürtig;
Hernach noch funfzehn andre.
Dann setze ganze Schaaren
Von Liebsten aus Korinthus,
Das in Achaja lieget;
Denn da sind schöne Mädgens.
Dann zehle mir die Mädgens
Aus Ionien und Lesbos,
Aus Karien und Rhodus,
Zum wenigsten zwey tausend.
Was! sprichstu, so viel Mädgens!
Die Mädgens aus Kanobus,
Aus Syrien, und Kreta,
Wo Amor in den Städten
Geheime Feste feyert,
Verschwieg ich noch mit Fleiße.
Wie wilstu meine Liebsten
Aus Indien und Baktra
Und die um Kadix zehlen?
Registerarie Madamina, il catalogo è questo:
Ildebrando D’Arcangelo unter Riccardo Muti, Theater an der Wien 1999;
Bild: Benjamin Benchan aus Neuchâtel bemüht Beata Rydén aus Göteborg:
A song to illuminate humanity, 14. Januar 2012.
Filius patri antevertens obiit
——— Hannah Phrixuscoyotenmutter, Facebook 3. Februar 2013:
Wenn ich mir das Schicksal von Goethes eigenem Sohn ansehe, beginne ich zu glauben, dass Goethe Senior das genau so gemeint hat…
Bilder: Inkognito; Bertel Thorvaldsen, 2006.
Barfußläufte
(Shakespeare im Freibad)
Update zu Totensonntag:
Ob man dazu Mariä Lichtmess, Darstellung des Herrn, Purificatio Mariae, Imbolg, Hypapante oder Groundhog Day sagt, läuft aufs gleiche hinaus: Der letzte Tag der liturgischen Weihnachtszeit ist der erste offizielle Frühlingsbote. Mit so einfachen Mitteln wie einem Blick aus dem Fenster kann ab sofort Christ und Heid‘ feststellen, dass die Tage sichtbar länger als die Nächte geworden sind. Nun muss sich alles, alles wenden.
Zum Beispiel die zwei Mädchen, die zehn Schritt vor mir den Gehsteig nutzen. Zusammen sind sie ungefähr so alt wie ich alleine, dafür zwanzigmal schöner. Sie halten Händchen und begehen den Frühling. Unter ihren leichten Übergangsparkas weisen kniekurze Hängekleidchen unübersehbar auf ihr Schuhwerk:
Beide Mädchen tragen Flip-Flops. Anfang Februar.
Flip. Flop. Flip. Flop. Flip. Flop. Flip. Flop, macht es, jeweils zweistimmig, einen Achtelschlag versetzt. Es ist ein Ritual, die machen das bestimmt jedes Jahr, vielleicht für Mariä Lichtmess, Imbolg, Samhain oder Groundhog Day. Vorne zeigt die Fußgängerampel Rot: Flip. Flop. Flip. Flop. Flip.
Ich schließe auf: Beide haben sich die Zehennägel frisch lackiert, abwechselnd zweifarbig, mädchenrosa und ein frisches Frühlingsblau, die linke große Zehe rosa, die rechte blau, danach absteigend. Dahinter ziehen sich vier Paar dunkelgrüne Flip-Flop-Riemchen wie Rallyestreifen über die vier winterblassen Jungmädchenfüße. Wenn sie nebeneinanderstehen, ergibt das eine Farbenreihe, die auf dem Pflastergrau, von dem die Schneematschreste endlich weichen sollen, tatsächlich nach sprießenden Blümchen auf einer Frühlingswiese aussieht. Sie zeigen ihre aufgemöbelten Zehen stolz der Welt vor. Es hat etwas Siegessicheres.
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Meine erste Freundin, fällt mir davon ein, hatte winzige, rundliche Füßchen. Damit bohrte sie beim Spielen im Sandkasten herum, bis sie wie paniert aussahen.
Drei Jahrzehnte später tat ich auf dem Grundschulklassentreffen so, als ob ich sie nicht erkannte. Nach Mitternacht fand sie heraus, wer ich war, und konnte mir fast ausreden, dass meine Eltern mit mir nur aus der Stadt gezogen waren, weil sie mich dauernd mit dem Bagger verdroschen hatte. Sie raubte mir einen Kuss. Er schmeckte nach dem Tod, der in der Bittermandel lauert. Ich hatte noch ihre panierten Kinderfüßchen vor Augen, auf denen sie Plastikwerkzeug für den Bau ihrer monumentalen Sandburgen um sich herum sortierte. Diese Nacht trug sie mörderspitze Peeptoes. Manche verstehen es nie. Sie bestellte noch Bittermandellikör.
Meine zweite Freundin musste von ihren Eltern beständig ermahnt werden, hier nicht dauernd barfuß rumzurennen, weil sie sich’s sonst auf der Blase holt. Allein in den fünf Minuten, die ich im Korridor auf sie wartete, ließ sie zweimal ihr genervtes „Nänänänänä“ vernehmen, mit dem sie alle Anweisungen ihrer Eltern zu kontern pflegte.
Zwei Sommer später traf ich sie mit zwei Punks, einem Schäferhund und mehreren Flaschen Bier vor der Lorenzkirche lümmelnd und schloss, dass sie Barfußgehen immer noch als Ausdruck der Rebellion begriff. Damals gab es gegenüber der Lorenzkirche noch den großen Schuhladen.
Die Haare, Kleider und Zehenschildchen meiner dritten Freundin waren nicht einfach schwarz. Die Haare, Kleider und Zehenschildchen meiner dritten Freundin waren vor Menschenaltern in einen Zustand des Lichts eingetreten, der sich beim Hinschauen wie ein Loch in der Nacht anfühlte und beim Drandenken im Hinterkopf dröhnte. Dafür ersparte der Schneewittchenschimmer ihrer Haut nachts das Leselicht.
Von ihr erfuhr ich, dass meine zweite Freundin gar nicht so unordentlich gewesen war, weil schwarzer Nagellack praktisch sofort nach dem Trocknen anfängt abzublättern, und dass dieser Effekt häufig sogar erwünscht ist. So viel verstand ich zur Not. Das runenartige Gekrakel, das sie sich mit einem eigens für diesen Zweck angeschafften Skalpell aus dem Ärztebedarf in beide Unterarme, Schenkel, Waden und Fußrücken ritzte, überforderte mich.
Meine vierte Freundin zog sich immer weiße Socken mit dünnen roten Ringeln in die Sandalen. Im Freibad kam sie immer im Bikini, aber noch in Socken und Sandalen aus der Umkleidekabine, um unseren Platz auf der Wiese zu suchen. Wegen der Fußpilzgefahr, wie sie vorgab.
Auf der ausgebreiteten Decke streifte sie ihre Socken mit verschämten Blicken, doch einer besonderen Feierlichkeit ab, schlang ohne Versäumnis, doch mit geübtem Schwung ihre entblößten Fersen als Sitzgelegenheit unter ihren spitzigen Hintern und kramte nach einem Buch, aus dem sie mir kniend vorlas. Einmal war es der ganze Shakespeare in einem Band.
Gegen ihren peinlich berührten Widerstand fand ich heraus, dass ihre zweiten Zehen genauso lang waren wie ihre großen Zehen. Ich fand, das sah irgendwie erwachsen aus, sie fand es hässlich — eine abscheuliche Entstellung ihres jugendlichen Körpers, gegen die sie mit aller Kosmetik und plastischen Chirurgie ein Leben lang machtlos bleiben musste. Sie war noch nicht in ihre Füße hineingewachsen.
Danach bekam ich eine Brille und achtete in der Folge sehr viel besser auf Mädchen. Allerdings bekam ich nur noch Freundinnen, die ebenfalls Brille trugen. Das hat den Vorteil, dass zwei Brillen stark beim Küssen stören. Wenn man über vier Brillengläser voller Nasentapser nicht lachen kann, hält die Beziehung keine fünf Minuten. So kam ich immer mit jungen Damen zusammen, denen das Lachen locker in Mundwinkeln und Wangen saß. Und das, lassen Sie sich gesagt sein, ist ein Aspekt, der einem Kerl, der sehenden Auges der Philosophischen Fakultät zustrebt, das Leben noch sehr erleichtern wird.
Meine fünfte Freundin machte sich genau daraus geradezu einen Sport. Ich bockte sie auf einen Sandsteinsockel unterhalb der Nürnberger Burg und ließ sie stundenlang meine Brille blindküssen. Leider endete ihr Körpergefühl unterhalb des Kruzifixums an ihrer Halskette. Bis heute glaube ich fest, dass sie die Worte „barfuß“ und „Zehen“ nicht aussprechen konnte; ein verbreiteter Sprachfehler. Es hielt nicht lange.
Meine sechste Freundin war eine reine Brieffreundschaft. Sie besaß ein Buch über das Zehenlesen und schickte mir deshalb immerzu filmeweise Portraitaufnahmen von ihren Füßen in allen Perspektiven und Lebenslagen, die charaktervollsten auf 13×18, drei gar nicht mal so schlecht ausgeleuchtete auf 30×45.
Zehenleserei, lernte ich von ihr, ist so seriös und so hanebüchen wie Handlesen oder Astrologie auch, funktioniert mit einem Minimum an Menschenkenntnis einwandfrei anhand von Bildern und ist unschlagbar, wenn man mal auf einer Hochzeitsfeier mit lauter Fremden von horoskopgläubigen, aber wenigstens barfüßigen Frauen umringt sein will (das war ein Tipp, Jungs!).
Als wir zum ersten Mal telefonierten, um uns auf halbem Reiseweg in einem verschwiegenen Provinzgasthof zu verabreden, war sie über meinen fränkischen Zungenschlag mindestens so entsetzt wie ich über ihren sächsischen. Noch am Telefon suchten wir um die Wette nach einem Vorwand, voreinander zu fliehen, und nahmen einen verhuschten Abschied.
Ich fand es sinnig, den Stapel mit ihren knubbelzehigen Selbstportraits in einem Schuhkarton zu horten. Er wurde voll und wog ungefähr fünf einbändige Shakespeares. Vor meinem nächsten Umzug setzte ich ihn in der Stadtbücherei aus. Zweifellos benutzt ihn heute halb Nürnberg als Lesezeichen.
Ab meiner siebten Freundin war nicht länger zu verhindern, dass es ernsthaft ans Sexuelle ging. Außer über einen karottenroten Wuschelschopf verfügte sie über große, fröhliche Flitschflatschfüße mit den ausdrucksvollsten Zehen der Welt. Damit konnte sie so vergnügte und so verdrossene Mienen schneiden wie mit den Augenbrauen. Ausdauernd und taktfest konnte sie damit zur Musik schnipsen und Bücher umblättern; Dünndruckpapier! Auf meine Frage, ob sie damit auch Flieger falten und Zigaretten drehen konnte, musste sie ungelogen erst nachdenken.
Nie kapiert hab ich, woher sie stammte. Sie legte offenkundig auch keinen Wert darauf, es muss aber westlich der Sonne und östlich vom Mond gewesen sein, irgendwo nördlich von Oslo jedenfalls, aus dem Skandinavischen, in der Gegend von Thule. Sie stellte es als eine Art Elfenreich dar. Deshalb hatte sie sich etliche deutsche Lieblingswörter zugelegt, verwendete etwa die Wörter „barfuß“ und „meine Zehen“ auffallend gerne, wobei sie mit den Lippen den Verlauf der Vokale besonders sorgfältig formte. Meist hob sie dazu andeutungsweise einen Fuß, um an der realen Entsprechung vorzuweisen, wovon sie sprach.
„Ich kann dir doch nicht gleichzeitig in die Augen und auf die Füße schauen“, bedauerte ich.
„Language, Süßi!“
„Auf deine Zeeeeehen.“
„Na bitte, du kannst es ja. Auf mich musst du besser aufpassen, ich bin für die ganze Welt baaaaarfuuuuuß.“ Mit betont offenem a, auf das sie ein entgegengesetzt abgedunkeltes u folgen ließ. Dann kumpelte sie mich auf die Schulter und lachte sich kaputt.
In der Kneipe nahm sie gern die Bank unter den Fenstern in Anspruch, wo sie ihre Beine zikadenartig um sich herum verteilte. Das war Teil ihrer Körpersprache. Die Bedienungen unseres Vertrauens wussten davon und duldeten es nachsichtig, die besten unter ihnen sogar ein bisschen neidisch.
Eines Abends versuchte sie dort, weil sie eben günstig saß, nacheinander mit beiden Füßen, den Satz A girl without freckles is like a night without stars in ihre A4-Chinakladde zu schreiben. Daran scheiterte sie nur, weil ihre Füllfeder nach einigem ruppigen Gehüpfe auf dem Wege hierher kleckste. Seitdem erzählte sie überall herum, sie sei linkshändig, aber rechtsfüßig.
Allein deswegen missriet ihr die beidfüßige Tätigkeit des Zigarettendrehens. Weil sie sich das nicht bieten ließ, fing sie unter dem Tisch an, sich umständlich aus den allzu engen, ihren Beinradius einschränkenden Jeans zu winden. Überraschend wirkte sie in burschikosen Boxershorts und einem Träger-Top, das ihr rothaartypisches Augengrün wiederholte, viel selbstverständlicher angezogen als zuvor. So gelang ihr immerhin mit entspannter Grandezza, mit den Zehen die fertige Zigarette zu rauchen.
Den Satz mit den girls ohne freckles schrieb sie dann in englisch-humanistischer Kalligraphie mit der Hand. Mit der linken, den rechten Fuß mit der Zigarette versonnen an die Tischkante gestützt.
„Mein Liebchen?“
„Mein Wolf.“
„Kannst du denn auch mit den an deiner Unterseite so sinnreich und gelenkig angebrachten Rosenzehen aus deinem Bierglas trinken?“
„Nicht doch, mein großer kluger Wolf. Wir wollen der guten Gottesgabe nicht vergeuden und über Tische, Bänke und Chinakladden vergießen, sondern nächste Woche, so Gott will, wieder zur Stelle willkommen sein und bei der flinken Margit des neuen Bieres bestellen, um eines frischen Rausches zu genießen.“
„Genießen statt vergießen.“
„Wie du das immer so schön sagen kannst!“
„Und doch, mein Liebchen, beliebst du zu schummeln.“
„Nun, wobei denn nur, mein Wolf?“
„Zikaden sind weder mehrhändig noch multitasking.“
„Mein großer, kluger, belesener, eloquenter, aufmerksamer und gutaussehender Wolf!“
„Scherze nicht, mein Liebchen. Rothaarig sind sie schon gleich gar nicht.“
„Aber baaaaarfuuuuuß …“, behielt sie Recht. Stillvergnügt kalligraphierte sie vor sich hin, indem sie zuzeiten an der Zigarette zwischen ihren Zehen zog. Mit dem rechten kleinen Finger abzuaschen hatte sie schnell raus. Die ganze Kneipe einschließlich der Bedienung schaute ihr fast überhaupt nicht zu und verliebte sich heillos in sie.
Erst als ich meine Beobachtung, dass sie alle Zehen spreizen konnte außer den Nummern zwei und drei links, eher beiläufig, ganz sicher aber absichtslos äußerte, sah ich etwas in ihr einrasten. Umgehend befahl sie mir auszutrinken und schob mich am Hintern bis zu sich nach Hause ins Schlafzimmer. Hinter uns hörte ich in unserem Gleichschritt den ganzen Weg bis auf den Schlafzimmerteppich ihre großzügig offenen Birkenstocklatschen mit viel Platz für zwei Fünfersätze Zehen erwartungsvoll an ihre Sohlen flatschen. Die Jeanshose trug ich ihr um den Hals geknotet vorneweg.
Sie war mir zwei Lebensjahre voraus, darum geriet meine Entjungferung zur gründlichsten Entjungferung in der Geschichte der Entjungferungen.
Nach einer aufreibenden 18-Stunden-Übung, die sämtliche bekannten Indoor-Disziplinen sowie einige bis dahin unbekannte einschloss, klingelte es. Vor der Wohnungstür stand ein junger, zerknittert dreinschauender Mann aufgebaut, der sich zurechtgelegt hatte:
„Ey, Alder. Das geht nicht. Echt nicht.“
Da hörte ich hinter mir die Freundin lustig zwitschern: „Hi, Herr Nachbar!“, worauf der etwas wie „Also leiser bitte“ nuschelte und eilig im Treppenhaus verschwand.
Als ich mich umdrehte, trug das Liebchen nichts als ein Handtuch um die Brüste geschlungen, das noch über der Taille endete. Sie feixte breit über ihre postkoital kirschroten Wangen und schnitt jubelnde Grimassen mit den Zehen:
„Das war leicht!“ und zerrte mich mit zwei Fingern im Hosengummi zurück ins Bett, weitertrainieren.
Von ihr bleibt mir die Erinnerung, wie sie mir nach dem Schlussmachen gegenüberstand und aufpasste, dass ihr die Grünaugen nicht überliefen. Sie knöpfte mir die Jacke zu, ruckelte mir die Mütze zurecht und musste nicht, wie die meisten Frauen, auf Zehenspitzen ein Stück an mir hochkrabbeln, sondern konnte mich aus ebenbürtiger Körperhöhe ein letztes Mal auf den Mund schmatzen. Sie trug, wie ich wusste, selbst gestrickte Wollsocken in Schnürschuhen mit Profil.
Meine achte Freundin riss sich einmal auf einer Bergtour unangekündigt die Wanderschuhe von den Füßen, stopfte die Socken hinein, rannte barfuß vor mir her die Kuhweide hinab und ließ sich an den unten plätschernden Gebirgsbach fallen, um sich die müde gequetschten Zehen zu kühlen. Hinterher hatten sie die Farbe frischer Rosenblätter.
Barbeinig in reißendem Gebirgswasser umherwatend erzählte ich zu ihr hinauf, dass ein Mädchen auch in Wanderstiefeln barfuß sein kann, nämlich als nicht akut körperlicher, sondern als grundsätzlich geistiger Zustand, in ähnlicher Weise, wie eine Frau über 18 ein Mädchen sein kann, und dass beides nichts Verwerfliches, vielmehr etwas Erstrebenswertes ist, und sie verstand es. Und vor allem verstand sie es als Kompliment. Zu Hause getattete sie mir, ihr die Zehennägel in einem Mitternachtsblau zu lackieren, wie nur große, freigeistige Mädchen es tragen dürfen.
Wir schaufelten uns zwei weitere Urlaubswochen frei, um einander täglich dreimal beizuschlafen. Den Körperkontakt, den sie mit Lippen, Händen, Brüsten, Scham und Zehenballen auf mir herstellte, verwendete sie als leistungsfähigen Weg der Kommunikation, auf dem ich lernte, wie wesentlich der weibliche Höhepunkt durch ein untergeschobenes Kopfkissen und kreisende Hüftbewegung an Frequenz und Lautstärke zunimmt.
Ihre Augenfarbe wechselte mit ihrer Tageslaune zwischen Grau und Blau und bildete damit zuverlässig die Farbe des Himmels über der Großstadt ab. Die Strümpfe, die ich ihr schenkte, konnte sie nicht tragen, weil ihre Zehen daraus betrübt wie gefangene Bachforellen hervorguckten — worauf man angesichts der lingeriefachlichen Bezeichnung Fishnets hätte kommen können. „Das mein ich mit barfuß in Wanderstiefeln“, erklärte ich; schon atemlos beschied sie mir ihr Verständnis durch eine Einheit Beckenbodengymnastik.
Im Gegensatz zu mir besaß sie eine Bohrmaschine, die sie zärtlich Ladybosch nannte. Sie konnte besser zeichnen als ich. Sie lehnte Brillen ab. Sie konnte sich nie entscheiden, ob im Wort „barfuß“ das r als eigener Laut mitgesprochen oder nur als Länge im a erscheinen soll, jedoch reichte ihr phonetisches Problembewusstsein aus, um es mir gegenüber zu thematisieren. Ich heiratete sie.
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Flip. Flop. Flip. Flop, machen die zwei Mädchen wieder, mit bunt in die Welt blinzelnden Zehen, Hand in Hand, versonnen, stolz und siegessicher: Die Ampel hat auf Grün geschaltet. Logisch, ist ja jetzt Frühling.
„Schaun’S es Eahna oo, de zwoa junga Ganserl“, plaudert mich von der Seite eine Frau im rentnerbeigen Anorak an, mit rechtschaffenem Kopfschütteln, kriegt aber den richtig missbilligenden Münchner Grantelton nicht hin: „De holn si’s doch auf der Blosn, de zwoa.“
Schade, dass ich schon abbiegen muss, weil ich ein Meeting mit meiner achten Freundin am Küchentisch hab, sonst wäre ich möglicherweise schlagfertiger als: „Ja mei, gell, Lichtmess halt.“
Soundtrack: Ray Collins‘ Hot-Club: Barefoot, aus: Teenage Dance Party/Tohuwabohu, 2006 [sic!],
bekannt über Til Schweiger, 2005.