Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Archive for März 2021

Was er wünscht, ist Licht, mehr Licht

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Update zu Neulich in München
und Es gibt eine Eitelkeit, die nicht schändet:

Goethes 189. Todestag am 22. März 2021.

Stets des Lebens dunkler Seite
Abgewendet wie Apoll;
Daß er Licht um sich verbreite,
War der Ruf, der ihm erscholl.
Und so stand er jung im Streite
Bis in’s Alter würdevoll,
Gegen Drachen-Nachtgeleite,
Das aus allen Ecken schwoll,
Das er bald mit Scherz beiseite
Schob, bald niederschlug mit Groll.
Als er abtrat nun vom Streite,
War das letzte Wort, das quoll
Aus der Brust erhobner Weite:
Mehr Licht!“ Nun, o Vorhang, roll
Auf, daß er hinüber schreite,
Wo mehr Licht ihm werden soll!

Friedrich Rückert: Goethes letztes Wort, 1832.

——— Kai Sina:

Frances E. W. Harper: „Mehr Licht!“

aus: Frankfurter Anthologie, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Januar 2021:

Ob die Forderung nach „Mehr Licht“ tatsächlich Goethes letzte Worte waren, ist philologisch mehr als umstritten – und wohl auch nicht so wichtig. Entscheidender sind die Folgen der vermeintlichen Sterbeworte, und in dieser Hinsicht zählt das Gedicht von Frances Ellen Watkins Harper zu den literarhistorisch aufschlussreichsten Dokumenten: einerseits, weil es das Gedicht einer afroamerikanischen Autorin des neunzehnten Jahrhunderts ist, deren Bezugnahme auf Goethe zunächst alles andere als naheliegend erscheint; und andererseits, weil die deutschsprachige Übertragung von Stephan Hermlin ein frühes Zeugnis der sozialistischen Literaturpolitik in Deutschland ist. […]

Helmut Fricke, Kam durchs Schlafzimmerfenster nicht genug Licht, FAZ, 27. Dezember 2017Anders als viele seiner Anhänger, die das „Licht“ im Sinne der aufklärerischen Symbolik mit Erkenntnis übersetzten und so noch den Sterbenden zum Wahrheitssucher stilisierten, weist Harper eine derart überspannte Deutung ausdrücklich zurück: Nicht um „größere Geistesgaben“ habe Goethe in seinen letzten Atemzügen gebeten, nicht um „Gedankentiefe“, sondern buchstäblich um „die gütige Sonne“ und „einen Strom aus liebem Erdenlicht“. […]

Szenenwechsel ins Nachkriegsdeutschland, in die sowjetische Besatzungszone. Im neugegründeten Verlag Volk und Welt erscheint 1948 der Band „Auch ich bin Amerika. Dichtungen amerikanischer Neger„. Zusammenstellung und Übertragung der ausschließlich von Afroamerikanern und Afroamerikanerinnen verfassten Gedichte stammen von Stephan Hermlin. Dessen lebenslanges Bestreben, dem deutschen Lesepublikum „eine Tür zu literarischer Weltläufigkeit zu öffnen“ (Heinrich Detering), bestimmt das Anthologieprojekt ebenso wie die politische Indienstnahme der Literatur, hier vor allem in Gestalt der Amerika-Kritik und des Antikapitalismus. Die Sammlung versteht sich als aufklärerischer Gegenimpuls zu „geschickt geschriebenen Schmökern à la ‚Vom Winde verweht‘ und verlogenen Hollywoodprodukten“, in denen die „Neger“, ungeachtet ihrer „denkbar ungünstigen Lage“ in der Gesellschaft, vornehmlich als „folgsam“ und „komisch“ dargestellt würden – so liest man im Vorwort.

In der Anthologie findet sich auch Harpers Gedicht, dessen liedhafter Charakter – erzeugt durch ein alternierendes Versmaß, das Wechselspiel von Reimen und Assonanzen sowie die refrainartige Wiederholung des Ausrufs „Light! more light“ – in der deutschen Übertragung stark zur Geltung kommt. Zugleich mischen sich andere, eher abendländisch geprägte Motive ins lyrische Gesamtbild ein: das „düstre Nebeltal“ der Romantik (im Original: „dimly lighted valley“), der lutherdeutsche „Heiland“ (bei Harper: „Gracious Saviour“). Sicher tragen auch solche Anpassungen dazu bei, dass man den amerikanischen Ursprungstext hinter der deutschsprachigen Nachdichtung eigentlich nicht mehr wahrnimmt.

Aber welche Absicht steht hinter der Entscheidung, Harpers Goethe-Verse überhaupt in die Sammlung mit aufzunehmen? In ihrem Werk hätte es andere Gedichte gegeben, die viel besser mit dem politischen Anliegen der Anthologie vereinbar gewesen wären (das kämpferische „Bury Me in a Free Land“ etwa). Im Vorwort stellt Hermlin fest, es seien zwar „kleinbürgerliche Verse“, die Harper über Goethe geschrieben habe. In ihnen komme aber dennoch „ein großes und ergreifendes Gefühl“ zum Ausdruck. Die am Kommunismus geschulte Bewusstseinsprüfung („kleinbürgerlich“) und das Beharren auf der Würde des Individuums (in seinem „großen und ergreifenden Gefühl“) gehen in der Gedichtauswahl also miteinander einher. Hermlins Entscheidung für Harpers Gedicht zeugt damit gleichermaßen von politischer Anpassung und literarischem Eigensinn.

Stephan Hermlins Auswahl und Übersetzung waren weder die ersten noch einzigen ihrer Art: Populäre deutsche Anthologien des 20. Jahrhunderts kennen unter anderem:

  • Amerika singe auch ich. Dichtungen amerikanischer Neger. Zweisprachig. Herausgegeben und übertragen von Hanna Meuter, Paul Therstappen. Wolfgang Jess, Dresden 1932. Mit Kurzbiographien. Reihe: Der neue Neger. Die Stimme des erwachenden Afro-Amerika. Band 1, 1932. 108 Seiten; Neuausgabe ebenda 1959, oder
  • Meine dunklen Hände. Moderne Negerlyrik im Original und Nachdichtung. Herausgegeben und übertragen von Eva Hesse und Paridam von dem Knesebeck. Nymphenburger, München 1953. 92 Seiten.

Es folgen Harpers Original und Hermlins gleichermaßen politisch angepasste und literarisch eigensinnige Übersetzung im Direktvergleich. Offenbar könnten wir alle in vermehrtem Ausmaß Licht in egal welchem Sinne vertragen.

——— Frances Ellen Watkins Harper:

Let the Light Enter

The Dying Words of Goethe

from: Poems, 1871, Seite 71 f.:

„Light! more light! the shadows deepen,
       And my life is ebbing low,
Throw the windows widely open:
       Light! more light! before I go.

„Softly let the balmy sunshine
        Play around my dying bed,
E’er the dimly lighted valley
       I with lonely feet must tread.

„Light! more light! for Death is weaving
        Shadows ‘round my waning sight,
And I fain would gaze upon him
       Through a stream of earthly light.“

Not for greater gifts of genius;
        Not for thoughts more grandly bright,
All the dying poet whispers
       Is a prayer for light, more light.

Heeds he not the gathered laurels,
        Fading slowly from his sight;
All the poet’s aspirations
       Centre in that prayer for light.

Gracious Saviour, when life’s day-dreams
        Melt and vanish from the sight,
May our dim and longing vision
       Then be blessed with light, more light.

(Goethes letzte Worte)

Übs. Stephan Hermlin, in: Auch ich bin Amerika. Dichtungen amerikanischer Neger.
Aus dem Englischen von Stephan Hermlin. Verlag Volk und Welt, Berlin 1948. 144 Seiten, vergriffen:

„Licht! mehr Licht! Die Schatten sinken,
       Wie ich’s Leben sinken seh.
Öffnet weit mir alle Fenster:
       Licht! mehr Licht! bevor ich geh.

Daß die gütige Sonne scheine,
       Auf mein Sterbebette strahl,
Ehe ich hinziehe
       Durch das düstre Nebeltal.

Licht! mehr Licht! der Tod verbreitet
       Schleier auf vergehende Sicht,
Lieber säh ich ihn durch einen
       Strom aus liebem Erdenlicht.“

Nicht um größere Geistesgaben,
       Um Gedankentiefe nicht
Fleht der Dichter sterbend leise,
       Was er wünscht, ist Licht, mehr Licht.

Nicht mehr achtet er des Lorbeers,
       Der langsam in Staub zerbricht;
All des Dichters Wünsche gipfeln
       In dem einen Wunsch nach Licht.

Heiland, wenn des Lebens Träume
       Aufgelöst, verweht wie Gischt.
Segne unsern sehnsüchtigen
       Letzten Blick mit Licht, mehr Licht.

Helmut Fricke, Johann Wolfgang von Goethe starb am 22. März 1832 in seinem Schlafzimmer, FAZ, 27. Dezember 2017

Bilder: Helmut Fricke: Kam durchs Schlafzimmerfenster nicht genug Licht?;
Johann Wolfgang von Goethe starb am 22. März 1832 in seinem Schlafzimmer,
für Hubert Spiegel: Mehr Licht war nicht, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. Dezember 2017.

Der neue Neger, die Stimme des erwachenden Afroamerika: James Brown with Reverend James Cleveland Choir: Let Us Go Back to the Old Landmark/Can You See the Light, aus: The Blues Brothers, 1980:

Written by Wolf

26. März 2021 at 00:01

Veröffentlicht in Klassik, Vier letzte Dinge: Tod

Zu seiner wahren Gestalt erheben

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Update zur Wanderwoche 03: 2 + 2 – 2 + 2 = 7 (Ist doch bloß ein Märchen):

——— Franz Kafka:

Der plötzliche Spaziergang

aus: Betrachtung, Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig, November 1912, ausgewiesen 1913:

Blick vom Prager Hradschin, Akademisches Lektorat via PinterestWenn man sich am Abend endgültig entschlossen zu haben scheint, zu Hause zu bleiben, den Hausrock angezogen hat, nach dem Nachtmahl beim beleuchtetem Tische sitzt und jene Arbeit oder jenes Spiel vorgenommen hat, nach dessen Beendigung man gewohnheitsgemäß schlafen geht, wenn draußen ein unfreundliches Wetter ist, welches das Zuhausebleiben selbstverständlich macht, wenn man jetzt auch schon so lange bei Tisch stillgehalten hat, daß das Weggehen allgemeines Erstaunen hervorrufen müßte, wenn nun auch schon das Treppenhaus dunkel und das Haustor gesperrt ist, und wenn man nun trotz alledem in einem plötzlichen Unbehagen aufsteht, den Rock wechselt, sofort straßenmäßig angezogen erscheint, weggehen zu müssen erklärt, es nach kurzem Abschied auch tut, je nach der Schnelligkeit, mit der man die Wohnungstür zuschlägt, mehr oder weniger Ärger zu hinterlassen glaubt, wenn man sich auf der Gasse wiederfindet, mit Gliedern, die diese schon unerwartete Freiheit, die man ihnen verschafft hat, mit besonderer Beweglichkeit beantworten, wenn man durch diesen einen Entschluß alle Entschlußfähigkeit in sich gesammelt fühlt, wenn man mit größerer als der gewöhnlichen Bedeutung erkennt, daß man ja mehr Kraft als Bedürfnis hat, die schnellste Veränderung leicht zu bewirken und zu ertragen, und wenn man so die langen Gassen hinläuft, — dann ist man für diesen Abend gänzlich aus seiner Familie ausgetreten, die ins Wesenlose abschwenkt, während man selbst, ganz fest, schwarz vor Umrissenheit, hinten die Schenkel schlagend, sich zu seiner wahren Gestalt erhebt.

Verstärkt wird alles noch, wenn man zu dieser späten Abendzeit einen Freund aufsucht, um nachzusehen, wie es ihm geht.

Zur Zeit von Niederschrift und Ersterscheinen von Der plötzliche Spaziergang war Kafka 29 und wohnte im Kreise seiner Ursprungsfamilie Juni 1907 bis November 1913 im neunten und obersten Stockwerk im Prager Haus Zum Schiff, Pařížská 36, damals Niklasstraße 36:

Prague 1913

Das Mietshaus „Zum Schiff“ war damals eines jener modernen Mietshäuser in Prag, die im Zuge der Sanierung des ehemaligen Ghettos hochgezogen wurden. Es gab einen Lift im Haus und die Wohnungen hatten auch ein Bad. Im Juni 1907 zog die Familie in das Haus und wohnte dort bis zum November 1913. Leider ist das Gebäude im Jahre 1945 zerstört worden. An seiner Stelle steht heute das Hotel Praha-Intercontinental.

Wer sich einen Eindruck verschaffen will, wie der Blick aus Kafkas Zimmer gewesen sein mag, kann der Empfehlung des Verlegers und Kafka-Biographen Klaus Wagenbach folgen, in das Restaurant im obersten Stockwerks des Hotels gehen und sich dort einen Fensterplatz suchen. Wem das zu umständlich ist, mag sich mit einer Tagebuchaufzeichnung Kafkas vom 29.09.1911 begnügen:

„Der Anblick von Stiegen ergreift mich heute so. Schon früh und mehrere Male seitdem freute ich mich an dem von meinem Fenster aus sichtbaren dreieckigen Ausschnitt des steinernen Geländers jener Treppe die rechts von Cechbrücke zum Quaiplateau hinunter führt. Sehr geneigt, als gebe sie nur eine rasche Andeutung. Und jetzt sehe ich drüben über dem Fluss eine Leitertreppe auf der Böschung die zum Wasser führt. Sie war seit jeher dort, ist aber nur im Herbst und Winter durch Wegnahme, der sonst vor ihr liegenden Schwimmschule enthüllt und liegt dort im dunklen Gras unter den braunen Bäumen im Spiel der Perspektive.“

[…] Kafka litt sehr unter der ungünstigen Aufteilung der Wohnung. Zwar besaß er ein eigenes Zimmer, das für damalige Verhältnisse eher ungewöhnlich war, dennoch hatte er kaum Rückzugsmöglichkeiten, da es das Durchgangszimmer zwischen Wohn- und Schlafzimmer der Eltern war. In der Erzählung „Grosser Lärm„, das er 1911 in sein Tagebuch schrieb und kaum ein Jahr später in einer Prager Literaturzeitschrift abdrucken ließ, beschrieb er — kaum verhüllt — den typischen Alltag in der Wohnung.

„Verstärkt wird alles noch,“ indem sich der Mann in einem Durchgangszimmer zwischen dem elterlichen Wohn- und Schlafzimmer in einem neunten Stockwerk mit Blick auf den Anlegeplatz für sein Ruderboot außerdem noch Das Urteil (in der Nacht vom 22. auf den 23. September 1912), Die Verwandlung (1912) und Der Verschollene (1911 bis 1914), wie der Textbruch ausgerechnet hat, abringen musste.

Wenn er also wie in seiner halb nur sich hin träumenden Prosaskizze spätabends „in einem plötzlichen Unbehagen“ „straßenmäßig angezogen“ „gänzlich aus seiner Familie ausgetreten“ wäre, so hätte er erst einmal entweder einen vermutlich gründerzeitgemäß rumpelnden Aufzug benutzen oder sich satte neun Stockwerke treppab bis auf Flussuferniveau hinabbegeben müssen. Da sieht die instagrammable Winteridylle am Hradschin natürlich um Klassen stimmungsvoller aus, aber es ist ja nicht gesagt, wo der auszusuchende Freund gewohnt hätte. Irgendwie geht’s.

Hotel InterContinental Praha

Bilder: Blick vom Hradschin, via Akademisches Lektorat, 14. Januar 2021;
Prague 1913, via My Old Days Saigon: Khí hậu ẩm ướt trong thế giới tiểu thuyết Nguyễn Đình Toàn;
Hotel InterContinental, Pařížská 30, via Kafka & Prag: Haus „Zum Schiff“.

Großer Lärm: Matěj Ptaszek und Lubos Bena na Karlově mostě, wo Kafka auf dem Heimweg sowieso vorbeigekommen wäre — wenn er nicht die bei My Old Days Saigon abgebildete Čechův most genommen hätte, die unmittelbar an seiner ungeliebten Pařížská liegt —: Music of the Mississippi River, Sommer 2008:

Written by Wolf

19. März 2021 at 00:01

Veröffentlicht in Land & See, Novecento

In einem anderen hochgewölbten, engen gotischen Zimmer

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Update zu The Metrum is the Message,
Doktor Faust thu dich bekehren
und Mit dem Faust im Ranzen:

Habe nun, ach! – :

Kilian Brustfleck (tritt auf)
Hab ich endlich mit allem Fleiß
Manchem moralisch politischem Schweiß
Meinen Mündel Hanswurst erzogen
Und ihn ziemlich zurechtgebogen.
Zwar seine tölpisch schlüfliche Art
So wenig als seinen kohlschwarzen Bart
Seine Lust in den Weg zu scheißen
Hab nicht können aus der Wurzel reißen.
Was ich nun nicht all kunnt bemeistern
Das wüßt ich weise zu überkleistern
Hab ihn gelehrt nach Pflichtgrundsätzen
Ein paar Stunden hintereinander schwätzen
Indes er sich am Arsche reibt
Und Wurstel immer Wurstel bleibt.

Goethe: Hanswursts Hochzeit oder der Lauf der Welt – Ein mikrokosmisches Drama, 1775.

Von sich selber klauen heißt nicht Plagiat, sondern Stil. Von Gottsched klauen ist — nun ja, so ähnlich. Bei diesem Vergleich kann einem auffallen, dass die oben zitierte Hanswursts Hochzeit stellte Goethe übrigens im gleichen Jahr fertig wie die Frühe Fassung von Faust — deren Bezeichnung als Urfaust aus überlieferungsgeschichtlichen Gründen überholt ist.

Rembrandt, Faust, StudierzimmerUnd es soll uns niemand erzählen, Goethe habe nun, ach! das Gratulationsgdicht an einen „zum Magister-Ampt“ Promovierten von Gottsched nicht gekannt, das im Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen 1730 steht. Darin konnte Goethe „von allen Dichtungsarten eine historische Kenntnis, sowie vom Rhythmus und den verschiedenen Bewegungen desselben; das poetische Genie ward vorausgesetzt!“ — so in: Dichtung und Wahrheit, Siebentes Buch — erlangen, unter anderem über den Knittelvers.

„Knittel“ — vom frühneuhochdeutschen knittel, was „Reim“ heißt, gern verunglimpft als „Knüttel“, was „Knüppel“ heißt — kannte und benutzte Goethe aus seiner Leipziger Studentenzeit 1763 bis 1768. Erst ab 1773 konnte er die strengere Form mit acht oder neun Silben von Hans Sachs her kennen, der bekannte Eingangsmonolog von Faust, der schon in der Frühen Fassung vorkommt — weswegen er gar nicht so zwingend zu Goethes frühesten Faust-Entwürfen zählt.

Gottscheds Poetiken waren für die angebrochene Zeit der Aufklärung die ersten allgemein verbindlichen, die nach dem überholt barocken Buch von der Deutschen Poeterey von Martin Opitz 1624 folgten, bei poetisch Beflissenen ab der Mitte des 18. Jahrhunderts dürfen sie darum als bekannt vorausgesetzt werden. Wie Gottsched den Knittelvers am praktischen Exempel vor- und ausführt, nimmt den Faust-Monolog in Teilen recht deutlich vorweg, ist — sobald einer die wendige Füllungsfreiheit des Knittelverses nicht als unbegabtes Herumgeholze, sondern als naturwüchsig begreifen mag — gar kein so „schlecht Carmen“ und hat sogar ein paar charmante anzügliche Stellen.

——— Johann Christoph Gottsched:

Auf Hn. M. Stuͤbners Magister-Promotion.
Als Juncker Stuͤbnern wohlgemuth
Frau Pallas ziern und schmuͤcken thut,
Mit Lorber-Zweigen huͤbsch und fein,
Sang dieß ein treuer Bruder sein.
in fremdem Nahmen.

Des II Theils VII Capitel: Von Sinn- und Schertzgedichten
aus: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen; Darinnen erstlich die allgemeinen Regeln der Poesie, hernach alle besondere Gattungen der Gedichte, abgehandelt und mit Exempeln erläutert werden: Uberall aber gezeiget wird Daß das innere Wesen der Poesie in einer Nachahmung der Natur bestehe, Bernhard Christoph Breitkopf, Leipzig 1730, Seite 503 bis 507:

Georg Friedrich Kersting, Faust, StudierzimmerFRewndlicher liber Bruder mein
Dem die neun Musen alle gmein
Apollo und Pallas insgesampt
Erhebn thun zum Magister-Ampt
Zum Lehrer gmachet han allhie
Der Waisheit oder Philosofi
Weil sie von wegen deiner Gabn
Der Eer dich werthgeschetzet habn
Seitdem du wol, daß gibt dir Praiß
Studirt mit unverdroßnem Flaiß
Als wellichs heit zu Tage nun
Schier wenige mit Eyffer tuhn
Hier wuͤnscht dir zu deim newen Standt
Auf Unversteten wolbekandt
Dein alter guter Bruder vil Gluͤck
Vnnd erhebt das himmlisch Gschick
Daß dich jzunder traun aufs best
Zum Meistr der Weißhait kroͤnen lest.
So wirst du ein Philosofus
Bist gleich sonst ein Theologus
Wilst dermahleinst in Zuͤchtn vnnd Ehrn
Ein Gmein den Weg der Sehlgkeit leren
Tust auch die weltlich Weisen-Zunfft
Nicht spoͤttlich verachten mit Unvernunfft
Sagst nit sie mach nur Kaͤtzerey
Atheisten vnnd Deysterey
Vnnd glaubst vilmehr on allen Scheu
Daß sie der rechte Vorhoff sey
On den man heitigs Tages nie
Kan eingan zur Teology
Lachst all verkehrte Stuͤmper aus
Die sich ins liebe Gotes Hauß
Tringen mit unsaͤchlicher Gwalt
Suchen da nur ihrn Auffenthalt
Jhr Weip und Kind wolln sie erneern
Nit abr die Ruchlosen bekern
Wolln da andre Gots Weißhait leren
Moͤchtn selbst erst Menschen Weißhait hoͤren
Gleich wie auch andre Stuͤmper sunst
Strebn nur nach Advocaten-Kunst
Durchblaͤttern den Justinian
Lernen den Acten-Schlaͤndrian
Vnnd verstehn nit die geringste Spur
Vom ewgen Gsaͤtz in der Natur
Wollen große Juristen seyn
Bleibn alzeit am Verstand sehr klain
Jmgleichen in der Medicin
Siht man fast vile sich bemuͤhn
Nichts nit mit groͤßerm Eiffer treiben
Als die Kunst ein Recept z’verschreiben
Verstehn nit die Anatomy
Patology Phisiology
Semiotic Pharmacevtic
Higiene vnnd Botanic
Machen doch ein gewaltig Gschrey
Als obs Galenus selber sey
Koͤn’n nichts als schwitzen purgiren
Zur Aderlaßn vnnd Leut vexiren
Von solichen Stimpern allzumal
Welcher da ist ein große Zahl
Hastu Herr Bruder z’jeder Frist
Abscheu bezeigt on argelist
Jch b’sinn mich deiner Jugend zart
Wie fain die angewendet ward
Jn Bayreuth der weidlichen Stadt
Die uns zusamm’n erzogen hat
Da waren im Gimnasio
Wir beyd vnnd andre vilmals fro
Wenn wir beisammen spat vnnd fruh
Lateinisch Griechsch noch mehr dazu
Was man noch sonst guts lernen kan
Begirig mochten hoͤren an
Die Saat hast da schon ausgestrewt
Die izt so schoͤn nach Wunsch gedeyt
Hast da schon mit Verstand gehoͤrt
Was Leibnitz vnnd was Wolff uns glert
Zwen deutsche Philosofen b’kant
Jn Franckreich Welsch- vnnd Engeland
Mit wellichen sich kein ander Mann
Jn der Weltweißhait gleichen kan
Dieweil sie nemlich fix vnnd schoͤn
Die Mathematic tief verstehn
Wellichs man auch dem Cartesius
Und Stagiriten nachruͤmen muß
Daher denn folgen tuht der Satz
Dem jdermann muß geben Platz
Daß Philosofen insgemein
Die nicht auch Geometern sein
Gegn sie nur muͤßen schencken ein
Als du nun gar nach Leipzigck kamst
Sah man daß du noch baß zunahmst
Weil du den Anfang, dort gemacht
Hier zur Vollkommenhait gebracht
Die tieffe Lehr der Welt-Weißhait
Mit noch vil groͤßrer Schicklichkeit
Wie man sie loͤbelichst docirt
Nach Wolffs Manir scharpff ausstudirt
Hast nicht nur halbicht zugehoͤrt
Wie man dieselb vortraͤgt vnnd lehrt
Bist selbst daheimb noch weiter gangen
Hast zu lesen vil angefangen
Nit wie die Faulentzer getan
Die daran ihn’n begnuͤgen lan
Daß sie den cursum mit gemacht
Die dictata ins rein gebracht
Jn den Cuffer sie gschloßen ein
Als soltn sie da gefangen seyn
Moͤchten auch hernach zu ihrem Hohn
Jn seim schoͤnen Collegio
Daß er haͤtt abgeschrieben fro
Als ers zum drittenmahl gehoͤrt
Wies ein beruͤhmter Mann geleert
Zur Stund wolt man sein Buch gern sehn
Darauf es denn fuͤrwahr geschehn
Als ers wollt aus dem Cuffer holen
Daß ihm sein Weishait war gestohlen
Kein Dib hett ihm den Putz gemacht
Hett er sie ins Gehirn gebracht
Vor so verkehrter Weiß vnnd Art
Hat dich Minerva stets bewahrt
Herr Bruder dich mit Vorbedacht
Zum wurdigen Magister gmacht
Nit nur dem Nahmen nach zum Schein
Die sonst wohl nit ein Wildpret seyn
Doch darf ichs traun nur keck verschweigen
Du thust es uns bald selber zaigen
Wenn du auf dem Catheder frisch
Wirst stehn so steiff als im Harnisch
Dem offt die schaͤrffsten Opponenten
Mit hundert spitz’gen Argumenten
Wenn sie gleich all auf dich loßrennten
Mit nichten doch durchboren koͤnten
Da wird man sehn was du verstehst
Wie gruͤndlich du im Schliessen gehst
Vnnd vor des Wiedersachers stuͤrmen
Die arme Wahrheit kanst beschirmen
Den Zaͤnckern bald das Maul kanst stopffen
Daß ihn’n das Herz im Leib thut klopffen
Vnnd sollichs wird kein Wunder seyn
Du sprichst behend vnnd schoͤn Latein
Vnnd ergerst nit den Prißzian
Wie mancher vor der Zeit gethan
Wirst auch nicht furchtsam stecken bleiben
Die Dißputation zu schreiben
Wie andre die zwar Weißhaits voll
Wenn mans von ihnen fordern soll
Nit wissen weder aus noch ein
Obs Maͤdgen oder Buͤbgen seyn
Fragen viel nach allem dißputiren
Wenn sie nur ein groß M kan ziren
Carl Gustav Carus, Faust, StudierzimmerNun werther Bruder nimm vorlieb
Daß ich dir ein schlecht Carmen schrieb
Seyend noch von der alten Werlet
Die ihr Gesaͤnglein nicht beperlet
Rubint verguld’t versilbert schoͤn
Thu dich nit nach der Kunst erhoͤh’n
Hab auch kein Zoten angebracht
Von Fickgen der so lieben Magt
Die der Magister insgemein
Jhr Buhlschafft vnnd Gespons muß seyn
Wellichs wenn mancher es nicht wuͤst
Er ganz vnnd gar verstummen muͤst
Vnnd braͤcht auf den Magister-Schmauß
Nicht einen kalen Reim heraus
Sag dir auch nichts von deinem Krantz
Auch nichts von dem Magister-Tantz
Vielminder vom zu Bette gehn
Darbey offt garstig Fratzen stehn
Daß werden andre je und nun
An meiner statt schier weidlich tuhn
Vor mein Person hielt ichs vor baß
Zu wuͤuschen Gluͤck ohn unterlaß
Auf redlich Deutsch vnnd alt Manier
Daß dir Herr Bruder fuͤr und fuͤr
Aus deiner schoͤnen M’gister Zier
Viel Seegen Heil vnnd Trost erwachß
Vnnd mach den Schluß wie sonst Hans Sachß.

Bilder: Rembrandt van Rijn: Faust, ca. 1652;
Georg Friedrich Kersting: Faust im Studierzimmer, 1829;
Carl Gustav Carus: Faust in sinem Studierzimmer, 1852.

Soundtrack: Frank Watkinson an Mazzy Star: Fade Into You, aus: So Tonight That I Might See, 1993
(im Vergleich zum Original):

Written by Wolf

12. März 2021 at 00:01

Veröffentlicht in Aufklärung, Weisheit & Sophisterei

Fruchtstück 0003: Du und dein Gedächtnis 50+

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Update zu Unter sotanen Umständen und
Nachtstück 0019: Noch weit beunruhigendere Betrachtungen:

——— Arno Schmidt:

Heiliger Antropoff : tat mir der Rücken weh! (»Mitternacht ist vorüber : das Kreuz beginnt sich zu neigen.« hatten Humboldts Gauchos immer gesagt : demnach wärs also bestimmt 12. – Tembladores fielen mir ein, mit allen Geschichten und Widerlegungen, und die ganze voyage équinoxiale prozessionierte heran, so daß ich entrüstet an was anderes dachte : ein gußeisernes Gedächtnis ist eine Strafe ! !)

Brand’s Haide, 1951.

Vorm Bücherregal. Ich griff eins heraus, dessen Farbe mir leidlich ins Gesicht fiel; dunkelgrüner Lederrücken mit hellgrünem Schildchen : ‹J. A. E. Schmidt, Handwörterbuch der Französischen Sprache. 1855›. Ich schlug aufs geratewohl auf, Seite 33 : ‹Auget = Leitrinne, in welcher die Zündwurst liegt› – ich kniff mich in den Oberschenkel, um mich meiner Existenz zu vergewissern : Zündwurst ? ? ! ! (und dieses ‹auget› würde ich nun nie mehr in meinem Leben vergessen; ein gußeisernes Gedächtnis ist eine Strafe !). –

Sommermeteor, in: Trommler beim Zaren, 1966.

Und bloß nicht den Namen dieses Nachbardorfes einprägen; jetzt noch nicht; mit 55 muß man das Gedächtnis für’s Notwendigste reservieren.

Kühe in Halbtrauer, 1961.

Amrie Dashkova, Librarian, Moscow, March 4th, 2020

Bild: Marie Dashkova: Librarian, Moskau, 4. März 2020.

I hope we remember all the words („What’s the the next chorus to this song now? This is the one now I don’t know.“): Ella Fitzgerald (46-jährig): Mack the Knife, aus: Ella in Berlin: Mack the Knife,
live in der Deutschlandhalle, Berlin, 13. Februar 1960:

Written by Wolf

5. März 2021 at 00:01