Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Archive for Januar 2017

Leider mit Vergeßlichkeit angefüllt ist dein Gehirne

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Weheklagen mag niemand, schon gar nicht, wenn der Klagende „Lamentationen“ dazu sagt. Außer sie sind so brillant wie die von Heine oder gar wirklich von Heine.

Die Gedichtnummern 19 bis 28 aus dem dritten Teil der Nachgelassenen Gedichte 1845–1856 namens Lamentationen richten sich nachweislich an Heines Frau Augustine Crescence, vulgo Mathilde. Das Paar hielt sich gegenseitig für nicht besonders helle: Sie verstand weder, was ihr Heinrich andauernd zu schreiben hatte, wofür ihm gar noch jemand Geld zahlen sollte, noch konnte oder wollte sie kochen und haushalten, dafür verbreitete sie: „Henri, c’est un très bon garcon, très bon enfant, mais quant à l’esprit, il n’en a pas beaucoup!“

Heines resignierte Anti-Liebesgedichte gehören zum Schönsten, was sich ihm entrungen hat. Vom höchsten bleibenden Gebrauchswert finde ich die Nummern 20, 21 und 24. Man sollte wählerisch sein, wem man sie zitiert.

Die Reihenfolge, die von einer Sammlung zur anderen umsortiert wird, weil sie vom todkranken Heine nicht mehr als Zyklus festgelegt wurde, richtet sich nach der Hanser-Gesamtausgabe von Klaus Briegleb. „Celimene“ bezieht sich auf die kokette Célimène aus Molière: Le Misanthrope. Das 1486 bis 1993 chronologisch geordnete Bildmaterial illustriert das mittelalterliche Märe Aristoteles und Phyllis. Ein zeitloses Thema.

——— Heinrich Heine:

Lamentationen

aus: Nachgelesene Gedichte 1845–1856, Auszüge Nr. 19 bis 28:

19

Aristoteles und PhyllisHab eine Jungfrau nie verführet
Mit Liebeswort, mit Schmeichelei;
Ich hab auch nie ein Weib berühret,
Wußt ich, daß sie vermählet sei.

Wahrhaftig, wenn es anders wäre,
Mein Name, er verdiente nicht
Zu strahlen in dem Buch der Ehre;
Man dürft mir spucken ins Gesicht.

20

Celimene

Glaube nicht, daß ich aus Dummheit
Dulde deine Teufeleien;
Glaub auch nicht, ich sei ein Herrgott,
Der gewohnt ist zu verzeihen.

Deine Nücken, deine Tücken
Hab ich freilich still ertragen.
Andre Leut an meinem Platze
Hätten längst dich tot geschlagen.

Schweres Kreuz! Gleichviel, ich schlepp es!
Wirst mich stets geduldig finden —
Wisse, Weib, daß ich dich liebe,
Um zu büßen meine Sünden.

Ja, du bist mein Fegefeuer,
Doch aus deinen schlimmen Armen
Wird geläutert mich erlösen
Gottes Gnade und Erbarmen.

21

Aristoteles und PhyllisEs geht am End, es ist kein Zweifel,
Der Liebe Glut, sie geht zum Teufel.
Sind wir einmal von ihr befreit,
Beginnt für uns die beßre Zeit,
Das Glück der kühlen Häuslichkeit.

Der Mensch genießet dann die Welt,
Die immer lacht fürs liebe Geld.
Er speist vergnügt sein Leibgericht,
Und in den Nächten wälzt er nicht
Schlaflos sein Haupt, er ruhet warm
In seiner treuen Gattin Arm.

22

Die Liebesgluten, die so lodernd flammten,
Wo gehn sie hin, wenn unser Herz verglommen?
Sie gehn dahin, woher sie einst gekommen,
Zur Hölle, wo sie braten, die Verdammten.

23

Aristoteles und PhyllisGeleert hab ich nach Herzenswunsch
Der Liebe Kelch, ganz ausgeleert;
Das ist ein Trank, der uns verzehrt
Wie flammenheißer Kognakpunsch.

Da lob ich mir die laue Wärme
Der Freundschaft; jedes Seelenweh
Stillt sie, erquickend die Gedärme
Wie eine fromme Tasse Tee.

24

Lebewohl

Hatte wie ein Pelikan
Dich mit eignem Blut getränket,
Und du hast mir jetzt zum Dank
Gall und Wermut eingeschenket.

Böse war es nicht gemeint,
Und so heiter blieb die Stirne;
Leider mit Vergeßlichkeit
Angefüllt ist dein Gehirne.

Nun leb wohl — du merkst es kaum,
Daß ich weinend von dir scheide.
Gott erhalte, Törin, dir
Flattersinn und Lebensfreude!

25

Aristoteles und PhyllisIch war, o Lamm, als Hirt bestellt,
Zu hüten dich auf dieser Welt;
Hab dich mit meinem Brot geätzt,
Mit Wasser aus dem Born geletzt.
Wenn kalt der Wintersturm gelärmt,
Hab ich dich an der Brust erwärmt.
Hier hielt ich fest dich angeschlossen,
Wenn Regengüsse sich ergossen
Und Wolf und Waldbach um die Wette
Geheult im dunkeln Felsenbette.
Du bangtest nicht, hast nicht gezittert.
Selbst wenn den höchsten Tann zersplittert
Der Wetterstrahl – in meinem Schoß
Du schliefest still und sorgenlos.

Mein Arm wird schwach, es schleicht herbei
Der blasse Tod! Die Schäferei,
Das Hirtenspiel, es hat ein Ende.
O Gott, ich leg in deine Hände
Zurück den Stab. — Behüte du
Mein armes Lamm, wenn ich zur Ruh
Bestattet bin — und dulde nicht,
Daß irgendwo ein Dorn sie sticht —
O schütz ihr Vlies vor Dornenhecken
Und auch vor Sümpfen, die beflecken;
Laß überall zu ihren Füßen
Das allerbeste Futter sprießen;
Und laß sie schlafen, sorgenlos,
Wie einst sie schlief in meinem Schoß.

26

Aristoteles und PhyllisIch seh im Stundenglase schon
Den kargen Sand zerrinnen.
Mein Weib, du engelsüße Person!
Mich reißt der Tod von hinnen.

Er reißt mich aus deinem Arm, mein Weib,
Da hilft kein Widerstehen,
Er reißt die Seele aus dem Leib —
Sie will vor Angst vergehen.

Er jagt sie aus dem alten Haus,
Wo sie so gerne bliebe.
Sie zittert und flattert — Wo soll ich hinaus?
Ihr ist wie dem Floh im Siebe.

Das kann ich nicht ändern, wie sehr ich mich sträub,
Wie sehr ich mich winde und wende;
Der Mann und das Weib, die Seel und der Leib,
Sie müssen sich trennen am Ende.

27

Aristoteles und PhyllisDen Strauß, den mir Mathilde band
Und lächelnd brachte, mit bittender Hand
Weis ich ihn ab — Nicht ohne Grauen
Kann ich die blühenden Blumen schauen.

Sie sagen mir, daß ich nicht mehr
Dem schönen Leben angehör,
Daß ich verfallen dem Totenreiche,
Ich arme unbegrabene Leiche.

Wenn ich die Blumen rieche, befällt
Mich heftiges Weinen — Von dieser Welt
Voll Schönheit und Sonne, voll Lust und Lieben,
Sind mir die Tränen nur geblieben.

Wie glücklich war ich, wenn ich sah
Den Tanz der Ratten der Opera —
Jetzt hör ich schon das fatale Geschlürfe
Der Kirchhofratten und Grab-Maulwürfe.

O Blumendüfte, ihr ruft empor
Ein ganzes Ballett, ein ganzes Chor
Von parfümierten Erinnerungen —
Das kommt auf einmal herangesprungen,

Mit Kastagnetten und Zimbelklang,
In flittrigen Röckchen, die nicht zu lang;
Doch all ihr Tändeln und Kichern und Lachen,
Es kann mich nur noch verdrießlicher machen!

Fort mit den Blumen! Ich kann nicht ertragen
Die Düfte, die von alten Tagen
Mir boshaft erzählt viel holde Schwänke —
Ich weine, wenn ich ihrer gedenke. —

28

Aristoteles und PhyllisEs kommt der Tod — jetzt will ich sagen,
Was zu verschweigen ewiglich
Mein Stolz gebot: für dich, für dich,
Es hat mein Herz für dich geschlagen!

Der Sarg ist fertig, sie versenken
Mich in die Gruft. Da hab ich Ruh.
Doch du, doch du, Maria, du
Wirst weinen oft und mein gedenken.

Du ringst sogar die schönen Hände –
O tröste dich — Das ist das Los,
Das Menschenlos: — was gut und groß
Und schön, das nimmt ein schlechtes Ende.

Soundtrack: Wolfgang Ambros: Denk ned noch (des geht vurbei) aus: Live … auf ana langen finstern Stross’n, 1979, nach Bob Dylan: Don’t Think Twice, It’s All Right, 1963.

Written by Wolf

27. Januar 2017 at 00:01

Hipsteros

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Update zu Dreidreiviertel Arbeitstage oder Die CDs wechseln muss man schon,
Was tat der Eitele, ein Emo zu scheinen? und
Wie werde ich Schriftsteller? (Von den Exkrementen hirnloser Köpfe):

Yo, Alder, ich hab schon Wieland gelesen, bevor es Mainstream wurde.

Am Mittwoch, dem 20. Januar 1813 starb Wieland gegen Mitternacht. Sein Leichnam wurde im Garten seines Anwesens in Oßmannstedt – eines alten Rittergutes an der Ilm, wo er von 1797 bis 1803 gelebt hatte – an der Seite seiner Frau bestattet.

Wieland-Museum mit Wieland-Archiv: Über Wieland.

Wieland-Gesamtausgabe 1853--1858, kann gegen Terminvereinbarung besichtigt werden, aber nicht von jedem, wo kommen wir denn da hin.

Vorher schrieb er Aristipp und einige seiner Zeitgenossen, der ab 1800 ans Licht trat und damit schon zu seinen Alterswerken zählt. Beschäftigt hat ihn der Philosoph und seine Geschichte schon länger: In der zweiten grundlegenden Umarbeitung seines jugendlicheren Werks Geschichte des Agathon — die Erstfassung is von 1766, als Wieland 33 war — schreibt er 1794 im Vorwort Ueber das Historische im Agathon:

Erik Schlicksbier, Bentje, Kiel 2014Diejenigen, welchen es vielleicht scheinen möchte, daß der Verfasser den Philosophen Aristipp zu sehr verschönert, dem Plato hingegen nicht hinlängliche Gerechtigkeit erwiesen habe, werden die Gründe, warum jener nicht häßlicher und dieser nicht vollkommner geschildert worden, dereinst in einer ausführlichen Geschichte der Sokratischen Schule (wenn wir anders Muße gewinnen werden, ein Werk von diesem Umfang auszuführen) entwickelt finden. Hier mag es genug seyn, wenn wir versichern, daß beides nicht ohne sattsame Ursachen geschehen ist. Aristipp, bei aller seiner Aehnlichkeit mit dem Sophisten Hippias, unterschied sich unstreitig durch eine bessere Sinnesart und einen ziemlichen Theil von Sokratischem Geiste. Ein Mann wie Aristipp wird der Welt immer mehr Gutes als Böses thun; und wiewohl seine Grundsätze, ohne das Laster eigentlich zu begünstigen, von einer Seite der Tugend nicht sehr beförderlich sind: so erfordert doch die Billigkeit zu gestehen, daß sie auf der andern, als ein sehr wirksames Gegengift gegen die Ausschweifungen der Einbildungskraft und des Herzens, gute Dienste thun, und dadurch jenen Nachtheil reichlich wieder vergüten können. Aber wir besorgen sehr, daß Plato, anstatt einige Genugthuung an den Verfasser des Agathons fordern zu können, bei genauester Untersuchung ungleich mehr zu verlieren, als zu gewinnen haben dürfte.

Kurz darauf gewann er in seinem Oßmannstedt dankenswerter Weise doch noch die Muße zu seinem Werk vom größten Umfang. Der Tonfall hat aus inhaltlichen Gründen schon anno 1800 antikisiert und lässt heute noch viel mehr an jeder Ecke das lächerlichste Pathos der Machart „O du, die du“ befürchten, ist aber moderner, als manch einer heutzutage sein will. Die vollständige Lesung vom dazu berufensten aller Vorleser Jan Philipp Reemtsma dauert lasche 29 Stunden und 47 Minuten auf 24 CDs und wird keine einzige davon langweilig.

——— Christoph Martin Wieland:

4. An Demokles von Cyrene.

aus: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen, G. J. Göschen’sche Verlagshandlung, Leipzig 1800–1802:

Es mag seyn, daß meine Maxime mich öfters eines lebhaftern Genusses beraubt: aber dafür gewährt sie mir auch den Vortheil, mich selten in meiner Erwartung getäuscht zu finden. Auch begegnet mir öfters, daß ich anstatt mit der Menge zu bewundern, mich (mit deiner Erlaubniß) nicht wenig verwundere, wie die Leute so gutmüthig seyn mögen, über Dinge in Entzückung zu gerathen, die, bei kaltem Blute aufs gelindeste beurtheilt, nur lächerlich sind, und bei strengerer Prüfung leicht in einem noch ungünstigern Licht erscheinen könnten.

Erik Schlicksbier, Bentje, Kiel 2014[…] Käme, dacht‘ ich, ein Perser oder Skythe, der noch nichts von diesem Institut gehört hätte, von ungefähr dazu, wenn im Angesicht einer unzählbaren Menge Volks, in einem Ehrfurcht gebietenden Kreise der edelsten und angesehensten Männer der Nation, nach einem dem Könige der Götter dargebrachten feierlichen Opfer, die Sieger öffentlich erklärt und gekrönt werden, und sähe das stolze Selbstbewußtseyn, womit sie, von ihren wonnetrunkenen Verwandten, Freunden und Mitbürgern umdrängt, und vom allgemeinen Jubel der Zuschauer bewillkommt, sich den Kampfrichtern nahen, um die Krone zu empfangen: müßt‘ er nicht glauben, diese Menschen könnten nichts Geringeres gethan haben, als ganz Griechenland durch einen Marathonischen oder Salaminischen Sieg vom Untergang gerettet, oder wenigstens jeder um seine eigene Vaterstadt sich durch irgend eine außerordentliche That unendlich verdient gemacht zu haben? Aber wie erstaunt und betroffen würde dann ein solcher dastehn, wenn er hörte daß es weiter nichts ist, als daß der eine dieser gekrönten Helden am besten laufen kann, ein anderer die schnellsten Rennpferde und den geschicktesten Kutscher hat, ein dritter der größte Meister im Faustkampf oder in der edeln Kunst seinen Gegner zu Boden zu ringen ist? Wahrlich dieser Perser oder Skythe, wiewohl die Griechen seiner Nation die Ehre erweisen sie nur für Halbmenschen anzusehen, würde sich schwerlich enthalten können, das widersinnische Schauspiel für die Wirkung irgend einer zürnenden Gottheit zu halten, und zu glauben, die ganze Nation müßte entweder von einem allgemeinen Wahnsinn befallen, oder, trotz ihrer übrigen Vorzüge, zu einer ewigen Kindheit der Vernunft verdammt seyn. Daß ein schnellfüßiger Jüngling, ein gewandter Wagenlenker, ein nerviger Kerl der den Kampfhandschuh am kräftigsten zu gebrauchen wußte, oder um den stärksten Gegner zu überwältigen, keiner andern Waffe als seiner eigenen eisernen Faust bedurfte, in den Zeiten, da der Thebanische Hercules diese feierlichen Spiele gestiftet haben soll, ein wichtiger Mann für seine kleine Vaterstadt war, ist natürlich, und aus dem rohen Zustand einer von ihrer ursprünglichen Wildheit noch langsam sich losarbeitenden Horde leicht zu erklären. Aber daß ein so gebildetes Volk, wie die Griechen dermalen sind, bei so gänzlich veränderter Lage der Sachen, noch immer ein so großes Aufheben von Geschicklichkeiten macht, die entweder ganz unbrauchbar, oder doch verhältnißmäßig von sehr geringem Nutzen geworden sind; daß der Mensch, der zu Olympia öffentlich dargethan hat, daß er den stiermäßigsten Nacken, die stärksten Brustknochen und die derbeste Faust seiner Zeit besitze, oder mit jedem Hasen in die Wette laufen könne, für die höchste Zierde seiner Vaterstadt gehalten, im Triumph eingehohlt, über alle seine Mitbürger hinaufgesetzt, und als ein Wohlthäter seines Volks öffentlich unterhalten, geehrt und nur nicht gar vergöttert wird, wiewohl die Stärke seiner Muskeln und Knochen, oder die Behendigkeit seiner Füße vielleicht das Einzige ist, was ihn von dem rohesten und verdienstlosesten seiner Mitbürger unterscheidet, – das ist doch wirklich so ungereimt, daß man es kaum seinen eigenen Augen zu glauben wagt.

15. Volkssport-Olympiade in Koblenz an Rhein und Mosel vom 6. bis 10. Juni 2017

Bilder: Erik Schlicksbier: Bentje beim Sport, Kiel 2014;
15. Volkssport-Olympiade in Koblenz an Rhein und Mosel vom 6. bis 10. Juni 2017.
Das erste ist von mir und bei mir. Besichtigung gegen Terminvereinbarung, aber nicht für jeden, wo kommen wir denn da hin.
Soundtrack: Spillsbury: Die Wahrheit, aus: Raus!, 2003.
Das hat auch ein offzielles Guckvideo, das man weder embedden kann noch darf:

Written by Wolf

20. Januar 2017 at 00:01

Sie sollen und müssen gerettet sein!

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Update zu Der den Wasserkothurn zu beseelen weiß:

Die Geschichte der personifizierten Zivilcourage, die eine Minderjährige, zugleich die bis heute beliebteste Bewohnerin von Kleve, in Tod geführt hat, steht ausführlich im Portal Rheinische Geschichte. Daher kann ich mich kurz fassen:

Obwohl dadurch die Überschrift des Gedichts mangels jeglicher Entsprechung mit seinem Inhalt kollidiert (ein typischer Anfängerfehler, Herr Geheimrat), heißt Johanna Sebus bei Goethe Suschen, sehr wahrscheinlich das s vom ch getrennt als Diminutiv von Susanne gesprochen, „weil ihm Hannchen nicht gefallen und Johanna wegen der von Orleans zu pathetisch gewesen“, so jedenfalls Louise Seidler brieflich im Juni 1809.

Offenbar entstand das Gedicht, weil das Fräulein Sebus auf ihrem Weg zur Ortslegende durch ihren selbstlosen Mut Goethe stark beeindruckt hat. Persönlich heißt mich die Geschichte eher vor dem Gebrauch der Zivilcourage zurückschrecken, aber eben deshalb darf man genau das nicht.

Freiheit zum Handeln bedeutet Verantwortung, Verantwortung bedeutet Schuld. Wenn ich also — mich selbst eingeschlossen — bitten darf, der jungen Johanna Sebus stets nachzueifern (außer darin, Mitte Januar barfuß im Rhein umherzuwaten).

Johanna-Sebus-Denkmal Kleve

——— Günter Voldenberg (Kleve):

Johanna Sebus (1791–1809), Lebensretterin

in: Portal Rheinische Geschichte, 30. September 2010:

Johanna Sebus aus dem niederrheinischen Brienen (heute Stadt Kleve) rettete bei der großen Flutkatastrophe im Januar 1809 zunächst ihre Mutter und kam anschließend bei dem Versuch, weitere Menschen zu retten, ums Leben. Literarischen Nachruhm bescherte ihr Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) mit seiner Ballade „Johanna Sebus“, die wiederum auf Komponisten und Schriftsteller anregend wirkte.

Johanna Sebus, Arno Grimm, um 1900Johanna Sebus wurde am 28.12.1791 als sechstes Kind der Eheleute Jacob Sebus (1748-1795) und Helena van Bentum (1753–1812) in Brienen geboren. Bereits mit drei Jahren verlor sie ihren Vater. Johanna wuchs im Hause der Mutter in der Nähe des Deiches auf. Als die Mutter erkrankte, versorgte sie diese und bestritt den gemeinsamen Lebensunterhalt als Dienstmagd und Tagelöhnerin. Ihre Geschwister hatten das Haus bereits verlassen und waren in der näheren Umgebung in Anstellung gegangen.

Die Menschen in der Niederung lebten seit Jahrhunderten mit dem jährlich wiederkehrenden Hochwasser des Rheins. Bedrohlich wurde es immer wieder dann, wenn das Hochwasser Höchststände erreichte und zusätzlich Eisgang für eine Stauung des Wassers sorgte. Diese Situation trat zu Beginn des Jahres 1809 ein. Seit dem 10. Januar war das Hochwasser außergewöhnlich gestiegen. Tag und Nacht wurden die Dämme bewacht und inspiziert, Hilfsmaterial und Kähne herbeigeschafft. Man war sich der bedrohlichen Lage nur allzu bewusst — zu präsent waren die Erinnerungen an die großen Deichbrüche und Überschwemmungen der Jahre 1784 und 1789. Auch waren die Schäden aus der Überschwemmung des Jahres 1800 noch nicht vollständig behoben.

In der Frühe des 13.1.1809 wurden die Bewohner von Brienen, Wardhausen und Rindern aus dem Schlaf gerissen: Im Bereich der Schleuse war das Wasser durchgebrochen und ergoss sich bereits bis in die Innenstadt von Kleve. In kurzer Zeit folgten drei weitere Deichbrüche in Brienen. Johanna Sebus trug ihre kranke Mutter durch das steigende Wasser auf sicheren Boden, kehrte dann nochmals zu ihrer Nachbarin Johanna van Beek und deren Kinder zurück. Als man sie davon abbringen wollte, soll sie geantwortet haben, „Um Menschleben zu retten, lässt sich schon etwas wagen!“.Johanna, die Nachbarin und die Kinder konnten sich zunächst noch auf eine nahe gelegene Erhöhung retten, dann brach der Deich unmittelbar hinter der Kirche und eine Flutwelle ergoss sich über das gesamte Dorf. Johanna, die Nachbarin van Beek und die Kinder kamen in den Fluten um. Rettungsversuche blieben erfolglos, die Verunglückten tauchten nicht wieder auf — zu stark war die Strömung.

Johanna Sebus, Friedrich Bury, 1809Die Strömung hatte auch die Fundamente der kleinen Kirche von Brienen unterspült, die schließlich zusammenstürzte und in den Fluten versank. Einige Menschen, die in der auf einer leichten Erhöhung liegenden Kirche Schutz gesucht hatten, konnten gerettet werden. Bei dem fünften Durchbruch in unmittelbarer Nähe der Kirche strömte das Wasser jedoch in die gesamte Niederung und begrub alles unter sich. Insgesamt kamen bei dieser Flutkatastrophe 22 Menschen ums Leben.

Die Leiche von Johanna Sebus wurde erst drei Monate später, am 10.4.1809, in einem Graben zwischen Rindern und der nördlich davon liegenden Mühle gefunden; sie wurde auf dem Friedhof von Rindern beerdigt. Beim Bau einer neuen, größeren Kirche wurde das Grab 1872 in die Kirche integriert. Ein Gedenkstein im Chorraum erinnert an die Ereignisse von 1809. Außerdem wurde 1912 an der Außenseite des Südchores eine bronzene Gedenktafel angebracht.

Der seinerzeitige Unterpräfekt in Kleve, Baron Karl Ludwig von Keverberg (1768–1841), hörte von der Heldentat der Johanna Sebus und pries sie in einem Bericht an seine vorgesetzte Behörde. Er schloss mit der Bitte, dass „ein einfaches und bescheidenes Denkmal der Nachwelt von der hohen Tat der Johanna Sebus künden“ möge. Die Anregung fiel bei der Regierung in Paris auf fruchtbaren Boden, und der Generaldirektor des Musée Napoléon, Dominique Vivant-Denon (1747–1825), wurde mit dem Entwurf eines Denkmals für Johanna Sebus beauftragt. Die Grundsteinlegung erfolgte am 9.6.1811 durch den Nachfolger des Barons Keverberg als Unterpräfekt in Kleve, Edmond Nicolas Gruat. Das Denkmal trägt auf der Vorderseite eine Inschrift in französischer Sprache und ein Marmor-Medaillon, das eine auf dem Wasser treibende Rose, eingefasst von zwölf Sternen, zeigt. 1953 wurde auf der Rückseite des Denkmals die Übersetzung in deutscher Sprache angebracht.

Auch das Haus von Johannas Mutter wurde im Auftrag der französischen Regierung auf Staatskosten wieder aufgebaut, was eine Gedenktafel in einem nahe gelegenen Restaurant dokumentiert. Das Haus wurde allerdings erst 1812 fertig gestellt, als die Mutter schon nicht mehr lebte; viele Jahre wurde es von Johannas Bruder Reiner bewohnt.

Neben seinem offiziellen Bericht an die vorgesetzte Behörde schrieb Keverberg an, Christiane von Vernejoul (geboren 1768), eine Bekannte von Goethe mit der Bitte, seinen Bericht dem Dichter weiterzuleiten. Frau von Vernejoul legte Goethe in einem Brief die „ausgezeichnete Handlung einer hiesigen Bäuerin, bei Gelegenheit der fürchterlichen Überschwemmung, welche vor einigen Wochen so viel Unglück in Holland, und unßerer Gegend angerichtet“ nahe. Sie fügte Keverbergs Bericht bei, der ihn noch mit weiteren Notizen zu der Heldentat der Johanna versehen hatte, und bat Goethe, „die rührende That in einer Ballade [zu] verewigen“. Goethe war von der Geschichte angetan und schrieb am 11. und 12.5.1809 die Ballade „Johanna Sebus“.

Einen ersten Entwurf schickte er an seinen Freund Carl Friedrich Zelter (1758–1832) mit der Bitte, die Ballade zu vertonen. Dieser begann zwar unverzüglich mit der Vertonung, stellte sie aber erst Anfang 1810 fertig. Johann Friedrich Reichardt (1754–1814), der ebenfalls zum Freundeskreis Goethes zählte, komponierte ein Werk für Singstimme und Pianoforte, das 1811 uraufgeführt wurde. Auch Franz Schubert (1797–1828) beschäftigte sich mit der Ballade, beendete eine begonnene Arbeit aber im April 1821 unvollendet. 1887 vertonte sie der Kölner Musikprofessor Hermann Kipper (1826–1910), und der Musiker und Maler Béla Lajos (geboren 1929) komponierte eine Oper für Johanna Sebus.

Zahlreiche weitere Künstler thematisierten die Heldentat der Johanna Sebus. So entstanden, wiederum basierend auf der Goetheschen Ballade, zahlreiche Zeichnungen und Bilder, ein Theaterstück und ein Roman. Anlässlich des 175. Todestages wurde im Jahr 1984 eine Johanna-Sebus-Medaille gestiftet, die an Personen oder Institutionen für „Hilfe in der Not“ verliehen wird. Ein Rosenzüchter aus Weinheim in der Pfalz gab 1894 einer Neuzüchtung den Namen „Johanna Sebus“; die Rose ging allerdings im Laufe der Zeit verloren. Zum 200. Todestag im Jahr 2009 wurde eine neue Rosenzüchtung nach Johanna Sebus benannt.

——— Die Gartenlaube, Heft 45, Seite 737, 1872:

Johanna Sebus, R. Risse, Gartenlaube 45, 1872Goethe selbst hat es der Nachwelt verkündet, daß es am 13. Januar 1809 war, wo eine siebenzehnjährige Jungfrau, die schöne Johanna Sebus aus dem Dorfe Brienen, ein Opfer ihres Heldenmuthes und ihrer Menschenliebe geworden. Als zu den Schrecken des Eisgangs im Rhein auch noch das Verderben durch den Dammbruch bei Cleverham hinzukam riss, rettete Johanna die Unglücklichen aus der Wassersnoth, bis sie selbst darin umkam. Das ist der Gegenstand unseres Bildes, vor dem man wieder recht schmerzlich an die Verirrung so vieler unserer Maler erinnert wird, die noch heute lieber in das Nebelgebiet der Heiligenlegende, als in das lebensvolle Buch unserer Volksgeschichte greifen, um sich die Stoffe für ihre Darstellungen zu suchen. Um so mehr freuen wir uns, daß unser Künstler mit gesundem deutschen Geist seine Wahl traf und mit seinem Bilde ein Werk lieferte von ebenso vollendeter technischer Durchführung, als geistiger Bedeutsamkeit. Auch wer das Auge nur auf die beiden Gesichter der Hauptgruppe wendet, die der Mutter und der Tochter, muß in jenem den vollen Ausdruck der Angst wie in diesem die Ruhe des Gottvertrauens und des Muthes bewundern. Wir wünschen diesem Werk recht viele ebenbürtige Nachfolger.

D. Red.

——— Goethe:

Johanna Sebus

Zum Andenken der siebzehnjährigen Schönen, Guten aus dem Dorfe Brienen, die am 13. Januar 1809 bei dem Eisgang des Rheins und dem großen Bruche des Dammes von Cleverham Hilfe reichend unterging.

Tagebuch 11./12. Mai 1809, Einzeldruck 1809, rezitiert zum 1. Jahrestag des Ereignisses:

Johanna Sebus, Frank Kirchbach, 1893     Der Damm zerreißt, das Feld erbraust,
     Die Fluthen spülen, die Fläche saust.

„Ich trage Dich, Mutter, durch die Fluth,
Noch reicht sie nicht hoch, ich wate gut.“
„Auch uns bedenke, bedrängt wir sind,
Die Hausgenossen, drei arme Kind!
Die schwache Frau! … Du gehst davon.“ –
Sie trägt die Mutter durch’s Wasser schon.
„Zum Bühle da rettet euch! harret derweil;
Gleich kehr‘ ich zurück, uns Allen ist Heil.
Zum Bühl ist’s noch trocken und wenige Schritt;
Doch nehmt auch mir meine Ziege mit!“

     Der Damm zerschmilzt, das Feld erbraust,
     Die Fluthen wühlen, die Fläche saust.

Sie setzt die Mutter auf sichres Land;
Schön Suschen gleich wieder zur Fluth gewandt.
„Wohin? Wohin? die Breite schwoll;
Des Wassers ist hüben und drüben voll.
Verwegen in’s Tiefe willst Du hinein!“
„Sie sollen und müssen gerettet sein!“

     Der Damm verschwindet, die Welle braust,
     Eine Meereswoge, sie schwankt und saust.

Schön Suschen schreitet gewohnten Steg,
Umströmt auch gleitet sie nicht vom Weg,
Erreicht den Bühl und die Nachbarin;
Doch der und den Kindern kein Gewinn!

     Der Damm verschwand, ein Meer erbraust’s,
     Den kleinen Hügel im Kreis umsaust’s.

Da gähnet und wirbelt der schäumende Schlund
Und ziehet die Frau mit den Kindern zu Grund;
Das Horn der Ziege faßt das ein‘,
So sollten sie Alle verloren sein!
Schön Suschen steht noch strack und gut:
Wer rettet das junge, das edelste Blut!
Schön Suschen steht noch, wie ein Stern;
Doch alle Werber sind alle fern.
Rings um sie her ist Wasserbahn,
Kein Schifflein schwimmet zu ihr heran.
Noch einmal blickt sie zum Himmel hinauf,
Da nehmen die schmeichelnden Fluthen sie auf.

     Kein Damm, kein Feld! Nur hier und dort
     Bezeichnet ein Baum, ein Thurm den Ort,

Bedeckt ist Alles mit Wasserschwall;
Doch Suschens Bild schwebt überall. –
Das Wasser sinkt, das Land erscheint,
Und überall wird schön Suschen beweint. –
Und dem sei, wer’s nicht singt und sagt,
Im Leben und Tod nicht nachgefragt!

Bilder: Klevischer Verein für Kultur und Geschichte e.V.: Johanna Sebus ist immer noch Kleves populärste Frau, zur Ausstellung zum 200. Todestag im Haus Koekkoek, 2009;
Arno Grimm: Johanna Sebus, Ausschnitt, um 1900, Privatbesitz Günter Voldenberg;
Friedrich Bury, 1809, via Matthias Grass: Tod in den Fluten, RP Online, 16. Juli 2009;
Nach seinem Oelgemälde auf Holz übergezeichnet von R. Risse in Düsseldorf,
in: Die Gartenlaube, Heft 45, Seite 737, 1872;
Frank Kirchbach: Johanna Sebus. Aus der Prachtausgabe von „Goethes Gedichten“,
Verlag von Adolf Titze in Leipzig, 1893.

Soundtrack: Grauzone: Eisbär, aus: Swiss Wave – The Album, 1980:

Written by Wolf

13. Januar 2017 at 00:01

Veröffentlicht in Klassik, Vier letzte Dinge: Himmel

5. und letzter Katzvent 2016: Mačka se vratila

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Update zum 4. Katzvent: Was ich gebar in Stunden der Begeisterung:

Jetzt, wo Weihnachten vorbei ist und die bekannten Verkaufs- und Tauschplattformen — und vergesst mir ja die Antiquariate nicht! — vor gebrauchten Büchern platzen müssten, ergeht die wärmste Empfehlung für Clemens Brentano.

Francesco Bacchiacca, Portrait of a young lady holding a cat, ca. 1525--1530Jetzt, wo Weihnachten vorbei ist, kann Brentanos namenloser kroatischer Edelmann aus Die mehreren Wehmüller und ungarischen Nationalgesichter die Katzengeschichte erzählen, die ihm in der Heiligen Nacht widerfahren ist.

Sie ist nicht sehr präsent. Weder in Anthologien für Weihnachts- noch für Katzengeschichten erscheint sie oft gesammelt, weil sie — ohne zu spoilern — für die Katze — hier: den Kater — nicht zum besten ausgeht und allgemein etwas ruppig und nicht ganz so besinnlich daherkommt, wie es die anzunehmende Zielgruppe für Weihnachts- und Katzenanthologien wünscht. Ich finde sie der Erzählerstimme nur angemessen und insgesamt raffiniert erfunden — und das vor allem in ihrer Funktion als Binnengeschichte für die mehreren Wehmüller: Sie vollführt nämlich später im Text — ohne zu spoilern — einen geradezu postmodernen Schlenker auf die Ebene der Rahmenerzählung zurück und kann daher gar nicht anders verlaufen. Viel raffinierter als Brentano in den Wehmüllern kann man kaum erzählen.

Und jetzt, wo Weihnachten vorbei ist, erscheint der feline Teil der mehreren Wehmüller quasi als Bonus-Katzvent Nummer 5, weil es glaubwürdiger ist, wenn der edle Kroate erst nach dem Advent vom Heiligabend berichtet. Sein Kater Mores passt als künstlerisch tätige Katze in die Reihe: Er versteht sich, wie erstaunlich viele Katzen der Kunstgeschichte, aufs Dudelsackblasen.

——— Clemens Brentano:

Das Pickenick des Katers Mores

Erzählung des kroatischen Edelmanns

in: Die mehreren Wehmüller und ungarischen Nationalgesichter, 1817:

Cat playing the bagpipes, Morgan Library, MS 282Mein Freihof liegt einsam, eine halbe Stunde von der türkischen Grenze, in einem sumpfichten Wald, wo alles im herrlichsten und fatalsten Überfluß ist, zum Beispiel die Nachtigallen, die einen immer vor Tag aus dem Schlafe wecken, und im letzten Sommer pfiffen die Bestien so unverschämt nah und in solcher Menge vor meinem Fenster, daß ich einmal im größten Zorne den Nachttopf nach ihnen warf. Aber ich kriegte bald einen Hausgenossen, der ihnen auf den Dienst paßte und mich von dem Ungeziefer befreite. Heut sind es drei Jahre, als ich morgens auf meinen Finkenherd ging, mit einem Pallasch, einer guten Doppelbüchse und einem Paar doppelten Pistolen versehen, denn ich hatte einen türkischen Wildpretdieb und Händler auf dem Korn, der mir seit einiger Zeit großen Wildschaden angetan und mir, da ich ihn gewarnt hatte, trotzig hatte sagen lassen, er störe sich nicht an mir und wolle unter meinen Augen in meinem Wald jagen. Als ich nach dem Finkenherd kam, fand ich alle meine ausgestellten Dohnen und Schlingen ausgeleert und merkte, daß der Spitzbube mußte da gewesen sein. Erbittert stellte ich meinen Fang wieder auf, da strich ein großer schwarzer Kater aus dem Gesträuch murrend zu mir her und machte sich so zutulich, daß ich seinen Pelz mit Wohlgefallen ansah und ihn liebkoste mit der Hoffnung, ihn an mich zu gewöhnen und mir etwa aus seinen Winterhaaren eine Mütze zu machen. Ich habe immer so eine lebendige Wintergarderobe im Sommer in meinem Revier, ich brauche darum kein Geld zum Kürschner zu tragen, es kommen mir auch keine Motten in mein Pelzwerk. Vier Paar tüchtige lederne Hosen laufen immer als lebendige Böcke auf meinem Hofe, und mitten unter ihnen ein herrlicher Dudelsack, der sich jetzt als lebendiger Bock schon so musikalisch zeigt, daß die zu einzelnen Hosenbeinen bestimmten Kandidaten, sobald er meckernd unter sie tritt, zu tanzen und gegeneinander zu stutzen anfangen, als fühlten sie jetzt schon ihre Bestimmung, einst mit meinen Beinen nach diesem Dudelsack ungarisch zu tanzen. So habe ich auch einen neuen Reisekoffer als Wildsau in meinem Forste herumlaufen, ein prächtiger Wolfspelz hat mir im letzten Winter in der Gestalt von sechs tüchtigen Wölfen schon auf den Leib gewollt; die Bestien hatten mit ein tüchtiges Loch in die Kammertüre genagt, da fuhr ich einem nach dem andern durch ein Loch über der Türe mit einem Pinsel voll Ölfarbe über den Rücken und erwarte sie nächstens wieder, um ihnen das Fell über die Ohren zu ziehen.

Book of Hours, Lyon, ca. 1505–1510, LyonAus solchen Gesichtspunkten sah ich auch den schwarzen Kater an und gab ihm, teils weil er schwarz wie ein Mohr war, teils weil er gar vortreffliche Mores oder Sitten hatte, den Namen Mores. Der Kater folgte mir nach Hause und wußte sich so vortrefflich durch Mäusefangen und Verträglichkeit mit meinen Hunden auszuzeichnen, daß ich den Gedanken, ihn aus seinem Pelz zu vertreiben, bald aufgegeben hatte. Mores war mein steter Begleiter, und nachts schlief er auf einem ledernen Stuhl neben meinem Bette. Merkwürdig war es mir besonders an dem Tiere, daß es, als ich ihm scherzhaft bei Tage einigemal Wein aus meinem Glase zu trinken anbot, sich gewaltig dagegen sträubte und ich es doch einst im Keller erwischte, wie es den Schwanz ins Spundloch hängte und dann mit dem größten Appetit ableckte. Auch zeichnete sich Mores vor allen Katzen durch seine Neigung, sich zu waschen, aus, da doch sonst sein Geschlecht eine Feindschaft gegen das Wasser hat. Alle diese Absonderlichkeiten hatten den Mores in meiner Nachbarschaft sehr berühmt gemacht, und ich ließ ihn ruhig bei mir aus und ein gehen, er jagte auf seine eigne Hand und kostete mich nichts als Kaffee, den er über die Maßen gern soff. So hatte ich meinen Gesellen bis gegen Weihnachten immer als Schlafkameraden gehabt, als ich ihn die zwei letzten Tage und Nächte vor dem Christtag ausbleiben sah. Ich war schon an den Gedanken gewöhnt, daß ihn irgendein Wildschütze, vielleicht gar mein türkischer Grenznachbar, möge weggeschossen oder gefangen haben, und sendete deswegen einen Knecht hinüber zu dem Wildhändler, um etwas von dem Mores auszukundschaften. Aber der Knecht kam mit der Nachricht zurück, daß der Wildhändler von meinem Kater nichts wisse, daß er eben von einer Reise von Stambul zurückgekommen sei und seiner Frau eine Menge schöner Katzen mitgebracht habe; übrigens sei es ihm lieb, daß er von meinem trefflichen Kater gehört, und wolle er auf alle Weise suchen, ihn in seine Gewalt zu bringen, da ihm ein tüchtiger Bassa für sein Serail fehle. Diese Nachricht erhielt ich mit Verdruß am Weihnachtsabend und sehnte mich um so mehr nach meinem Mores, weil ich ihn dem türkischen Schelm nicht gönnte. Ich legte mich an diesem Abend früh zu Bette, weil ich in der Mitternacht eine Stunde Weges nach der Kirche in die Metten gehen wollte. Mein Knecht weckte mich zur gehörigen Zeit; ich legte meine Waffen an und hängte meine Doppelbüchse, mit dem gröbsten Schrote geladen, um. So machte ich mich auf den Weg, in der kältesten Winternacht, die ich je erlebt; ich war eingehüllt wie ein Pelznickel, die brennende Tabakspfeife fror mir einigemal ein, der Pelz um meinen Hals starrte von meinem gefrornen Hauch wie ein Stachelschwein, der feste Schnee knarrte unter meinen Stiefeln, die Wölfe heulten rings um meinen Hof, und ich befahl meinen Knechten, Jagd auf sie zu machen.

LeValeur, Spielkatze mit Dudelsack, 2013So war ich bei sternheller Nacht auf das freie Feld hinaus gekommen und sah schon in der Ferne eine Eiche, die auf einer kleinen Insel mitten in einem zugefrornen Teiche stand und etwa die Hälfte des Weges bezeichnete, den ich zum Kirchdorf hatte. Da hörte ich eine wunderbare Musik und glaubte anfangs, es sei etwa ein Zug Bauern, der mit einem Dudelsack sich den Weg zur Kirche verkürzte, und so schritt ich derber zu, um mich an diese Leute anzuschließen. Aber je näher ich kam, je toller war die kuriose Musik, sie löste sich in ein Gewimmer auf, und, schon dem Baume nah, hörte ich, daß die Musik von demselben herunter schallte. Ich nahm mein Gewehr in die Hand, spannte den Hahn und schlich über den festen Teich auf die Eiche los; was sah ich, was hörte ich? Das Haar stand mir zu Berge; der ganze Baum saß voll schrecklich heulender Katzen, und in der Krone thronte mein Herr Mores mit krummem Buckel und blies ganz erbärmlich auf einem Dudelsack, wozu die Katzen unter gewaltigem Geschrei um ihn her durch die Zweige tanzten. Ich war anfangs vor Entsetzen wie versteinert, bald aber zwickte mich der Klang des Dudelsacks so sonderbar in den Beinen, daß ich selbst anfing zu tanzen und beinahe in eine von Fischern gehauene Eisöffnung fiel; da tönte aber die Mettenglocke durch die helle Nacht, ich kam zu Sinnen und schoß die volle Schrotladung meiner Doppelbüchse in den vermaledeiten Tanzchor hinein, und in demselben Augenblick fegte die ganze Tanzgesellschaft wie ein Hagelwetter von der Eiche herunter und wie ein Bienenschwarm über mich weg, so daß ich auf dem Eise ausglitt und platt niederstürzte. Als ich mich aufraffte, war das Feld leer, und ich wunderte mich, daß ich auch keine einzige von den Katzen getroffen unter dem Baume fand. Der ganze Handel hatte mich so erschreckt und so wunderlich gemacht, daß ich es aufgab, nach der Kirche zu gehen; ich eilte nach meinem Hofe zurück und schoß meine Pistolen mehrere Male ab, um meine Knechte herbeizurufen. Sie nahten mir bald auf dieses verabredete Zeichen; ich erzählte ihnen mein Abenteuer, und der eine, ein alter, erfahrener Kerl, sagte: „Sei’n Ihr Gnaden nur ruhig, wir werden die Katzen bald finden, die Ihr Gnaden geschossen haben.“ Ich machte mir allerlei Gedanken und legte mich zu Hause, nachdem ich auf den Schreck einen warmen Wein getrunken hatte, zu Bett.

Medieval Beasts and Bestiary TilesAls ich gegen Morgen ein Geräusch vernahm, erwachte ich aus dem unruhigen Schlaf, und sieh da: mein vermaledeiter Mores lag – mit versengtem Pelz – wie gewöhnlich neben mir auf dem Lederstuhl. Es lief mir ein grimmiger Zorn durch alle Glieder; „Passaveanelkiteremtete!“ schrie ich, „vermaledeite Zauberkanaille! bist du wieder da?“ und griff nach einer neuen Mistgabel, die neben meinem Bette stand; aber die Bestie stürzte mir an die Kehle und würgte mich; ich schrie Zetermordio. Meine Knechte eilten herbei mit gezogenen Säbeln und fegten nicht schlecht über meinen Mores her, der an allen Wänden hinauf fuhr, endlich das Fenster zerstieß und dem Walde zustürzte, wo es vergebens war, das Untier zu verfolgen; doch waren wir gewiß, daß Herr Mores seinen Teil Säbelhiebe weghabe, um nie wieder auf dem Dudelsack zu blasen. Ich war schändlich zerkratzt, und der Hals und das Gesicht schwoll mir gräßlich an. Ich ließ nach einer slavonischen Viehmagd rufen, die bei mir diente, um mir einen Umschlag von ihr kochen zu lassen, aber sie war nirgends zu finden, und ich mußte nach dem Kirchdorf fahren, wo ein Feldscheer wohnte. Als wir an die Eiche kamen, wo das nächtliche Konzert gewesen war, sahen wir einen Menschen darauf sitzen, der uns erbärmlich um Hülfe anflehte. Ich erkannte bald Mladka, die slavonische Magd; sie hing halb erfroren mit den Röcken in den Baumästen verwickelt, und das Blut rann von ihr nieder in den Schnee; auch sahen wir blutige Spuren von da her, wo mich die Katzen über den Haufen geworfen, nach dem Walde zu. Ich wußte nun, wie es mit der Slavonierin beschaffen war, ließ sie schwebend, daß sie die Erde nicht berührte, auf den Wurstwagen tragen und festbinden und fuhr eilend mit der Hexe nach dem Dorfe. Als ich bei dem Chirurg ankam, wurde gleich der Vizegespan und der Pfarrer des Orts gerufen, alles zu Protokoll genommen, und die Magd Mladka ward ins Gefängnis geworfen; sie ist zu ihrem Glück an dem Schuß, den sie im Leibe hatte, gestorben, sonst wäre sie gewiß auf den Scheiterhaufen gekommen. Sie war ein wunderschönes Weibsbild, und ihr Skelett ist nach Pest ins Naturalienkabinett als ein Muster schönen Wachstums gekommen; sie hat sich auch herzlich bekehrt und ist unter vielen Tränen gestorben. Auf ihre Aussagen sollten verschiedene andere Weibspersonen in der Gegend gefangengenommen werden, aber man fand zwei tot in ihren Betten, die anderen waren entflohen.

Robin Milner, A Cat Came FiddlingAls ich wiederhergestellt war, mußte ich mit einer Kreiskommission über die türkische Grenze reisen; wir meldeten uns bei der Obrigkeit mit unserer Anzeige gegen den Wildhändler, aber da kamen wir schier in eine noch schlimmere Suppe; es wurde uns erklärt, daß der Wildhändler nebst seiner Frau und mehreren türkischen, serbischen und slavonischen Mägden und Sklavinnen von Schrotschüssen und Säbelhieben verwundet zu Hause angekommen, und daß der Wildhändler gestorben sei mit der Angabe: er sei, von einer Hochzeit kommend, auf der Grenze von mir überfallen und so zugerichtet worden. Während dies angezeigt wurde, versammelte sich eine Menge Volks, und die Frau des Wildhändlers mit mehreren Weibern und Mägden, verbunden und bepflastert, erhoben ein mörderliches Geschrei gegen uns. Der Richter sagte: er könne uns nicht schützen, wir möchten sehen, daß wir fortkämen; da eilten wir nach dem Hof, sprangen zu Pferde, nahmen den Kreiskommissär in die Mitte, ich setzte mich an die Spitze der sechs Szekler-Husaren, die uns begleitet hatten, und so sprengten wir, Säbel und Pistole in der Hand, früh genug zum Orte hinaus, um nicht mehr zu erleiden als einige Steinwürfe und blinde Schüsse, eine Menge türkischer Flüche mit eingerechnet. Die Türken verfolgten uns bis über die Grenze, wurden aber von den Szeklern, die sich im Walde setzten, so zugerichtet, daß wenigstens ein paar von ihnen dem Wildhändler in Mahomeds Paradies Nachricht von dem Erfolg werden gegeben haben. Als ich nach Haus kam, war das erste, daß ich meinen Dudelsack visitierte, den ich auch mit drei Schroten durchlöchert hinter meinem Bette liegen fand. Mores hatte also auf meinem eigenen Dudelsack geblasen und war von ihm gegen meinen Schuß gedeckt worden. Ich hatte mit der unseligen Geschichte noch viele Schererei, ich wurde weitläufig zu Protokoll vernommen, es kam eine Kommission nach der andern auf meinen Hof und ließ sich tüchtig aufwarten; die Türken klagten wegen Grenzverletzung, und ich mußte es mir am Ende noch mehrere Stücke Wild und ein ziemliches Geld kosten lassen, daß die Gerichtsplackerei endlich einschlief, nachdem ich und meine Knechte vereidigt worden waren. Trotzdem wurde ich mehrmals vom Kreisphysikus untersucht, ob ich auch völlig bei Verstand sei, und dieser kam nicht eher zur völligen Gewißheit darüber, bis ich ihm ein Paar doppelte Pistolen und seiner Frau eine Verbrämung von schwarzem Fuchspelz und mehrere tüchtige Wildbraten zugeschickt hatte. So wurde die Sache endlich stille; um aber in etwas auf meine Kosten zu kommen, legte ich eine Schenke unter der Eiche auf der Insel in dem Teiche an, wo seither die Bauern und Grenznachbarn aus der Gegend sich sonntags im Sommer viel einstellen und den ledernen Stuhl, worauf Mores geschlafen, und an den ich ein Stück seines Schweifs, das ihm die Knechte in der Nacht abgehauen, genagelt habe, besehen; den Dudelsack habe ich flicken lassen, und mein Knecht, der den Wirt dort macht, pflegt oben in der Eiche, wo Mores gesessen, darauf den Gästen, die um den Baum tanzen, vorzuspielen. Ich habe schon ein schönes Geld da eingenommen, und wenn mich die Herrschaften einmal dort besuchen wollen, so sollen sie gewiß gut bedient werden.

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Jan van Bijlert, Young Woman Playing with a Cat, 1630--1635Diese Erzählung, welche der Kroat mit dem ganzen Ausdruck der Wahrheit vorgebracht hatte, wirkte auf die verschiedenste Weise in der Gesellschaft. Der Vizegespan, der Tiroler und die Wirtin hatten keinen Zweifel, und der Savoyarde zeigte seine Freude, daß man noch kein Beispiel gehabt habe: ein Murmeltier sei eine Hexe gewesen. Lindpeindler äußerte: es möge an der Geschichte wahr sein, was da wolle, so habe sie doch eine höhere poetische Wahrheit; sie sei in jedem Falle wahr, insofern sie den Charakter der Einsamkeit, Wildnis und der türkischen Barbarei ausdrücke; sie sei durchaus für den Ort, auf welchem sie spiele, scharf bezeichnend und mythisch und darum dort wahrer als irgendeine Lafontainesche Familiengeschichte. Aber es verstand keiner der Anwesenden, was Lindpeindler sagen wollte, und Devillier leugnete ihm grade ins Gesicht, daß Lafontaine irgendeine seiner Fabeln jemals für eine wahre Familiengeschichte ausgegeben habe; Lindpeindler schwieg und wurde verkannt.

Girl with a Cat, 1545, Jan Cornelisz VermeyenNun aber wendete sich der Franzose zu der Kammerjungfer, welche sich mit stillem Schauer in einen Winkel gedrückt hatte, sprechend: „Und Sie, schöne Nanny, sind ja so stille, als fühlten Sie sich bei der Geschichte getroffen.“ – „Wieso getroffen?“ fragte Nanny. „Nun, ich meine,“ erwiderte Devillier lächelnd, „von einem Schrote des kroatischen Herrn. Sollte das artigste Kammerkätzchen der Gegend nicht zu dem Teedansant eingeladen gewesen sein? – Das wäre ein Fehler des Herrn Mores gegen die Galanterie, wegen welchem er die Rache seines Herrn allein schon verdient hätte.“ Alle lachten, Nanny aber gab dem Franzosen eine ziemliche Ohrfeige und erwiderte: „Sie sind der Mann dazu, einen in den Ruf zu bringen, daß man geschossen sei, denn Sie haben selbst einen Schuß!“ und dabei zeigte sie ihm von neuem die fünf Finger; worauf Devillier sagte: „Erhebt das nicht den Verdacht, sind das nicht Katzenmanieren? Sie waren gewiß dabei! Frau Tschermack, die Wirtin, wird es uns sagen können, denn die hat gewiß nicht gefehlt; ich glaube, daß sie die Blessur in der Hüfte eher bei solcher Gelegenheit als bei den Wurmserschen Husaren erhalten.“ Alles lachte von neuem, und der Zigeuner sagte: „Ich will sie fragen.“

Ex Libris Marthe Hassler, August 2012Der Kroate fand sich über die Ungläubigkeit Devilliers gekränkt und fing an, seine Geschichte nochmals zu beteuern, indem er seine pferdehaarne steife Halsbinde ablöste, um die Narben von den Klauen des Mores zu zeigen. Nanny drückte die Augen zu, und indessen brachte der Zigeuner die Nachricht: Frau Tschermack meine, Mores müsse es selbst am besten wissen. Er setzte mit diesen Worten die große schwarze Katze der Wirtin, welche er vor der Türe gefangen hatte, der Kammerjungfer in den Schoß, welche mit einem heftigen Schrei des Entsetzens auffuhr. – „Eingestanden!“ rief Devillier; aber der Spaß war dumm, denn Nanny kam einer Ohnmacht nah, die Katze sprang auf den Tisch, warf das Licht um und fuhr dem armen Wehmüller über seine nassen Farben; der Vizegespan riß das Fenster auf und entließ die Katze, aber alles war rebellisch geworden; die Büffelkühe im Hintergrund der Stube an den Ketten, und jeder drängte nach der Türe. Wehmüller und Lindpeindler sprangen auf den Tisch und stießen mit dem Tiroler zusammen, der es auch in demselben Augenblick tat und mit seinen nägelbeschlagenen Schuhen mehr Knopflöcher in das Porträt des Vizegespans trat, als Knöpfe darauf waren. Devillier trug Nanny hinaus; der Kroate schrie immer: „Da haben wir es, das kömmt vom Unglauben!“ Frau Tschermack aber, welche mit einem vollen Weinkrug in die Verstörung trat, fluchte stark und beruhigte die Kühe; der Zigeuner griff wie ein zweiter Orpheus nach seiner Violine, und als Monsieur Devillier mit Nanny, die er am Brunnen erfrischt hatte, wieder hereintrat, kniete der kecke Bursche vor ihr nieder und sang und spielte eine so rührende Weise auf seinem Instrument, daß niemand widerstehen konnte und bald alles stille ward. Es war dies ein altes zigeunerisches Schlachtlied, wobei der Zigeuner endlich in Tränen zerfloß, und Nanny konnte ihm nicht widerstehen, sie weinte auch und reichte ihm die Hand; Lindpeindler aber sprang auf den Sänger zu und umarmte ihn mit den Worten: „O, das ist groß, das ist ursprünglich! Bester Michaly, wollen Sie mir Ihr Lied wohl in die Feder diktieren?“ – „Nimmermehr!“ sagte der Zigeuner, „so was diktiert sich nicht, ich wüßte es auch jetzt nicht mehr, und wenn Sie mir den Hals abschnitten; wenn ich einmal wieder eine schöne Jungfer betrübt habe, wird es mir auch wieder einfallen.“

Tina Sosna, Her voice was a tiny bird flying in the cold winter sky, analogue photography, January 18th, 2016Da lachte die ganze Gesellschaft, und Michaly begann so tolle Melodieen aus seiner Geige herauszulocken, daß die Fröhlichkeit bald wieder hergestellt wurde und Devillier den Kroaten fragte, ob Mores nicht diesen Tanz aufgespielt hätte; Herr Lindpeindler notierte sich wenigstens den Inhalt des extemporierten Liedes; es war die Wehklage über den Tod von tausend Zigeunern. Im Jahr 1537 wurde in den Zapolischen Unruhen das Kastell Nagy-Jda in der Abanywarer Gespanschaft mit Belagerung von kaiserlichen Truppen bedroht. Franz von Perecey, der das Kastell verteidigte, stutzte, aus Truppenmangel, tausend Zigeuner in der Eile zu Soldaten und legte sie unter reichen Versprechungen von Geld und Freiheiten auf Kindeskinder, wenn sie sich wacker hielten, gegen den ersten Anlauf in die äußeren Schanzen. Auf diese vertrauend hielten sich diese Helden auch ganz vortrefflich, sie empfingen die Belagerer mit einem heftigen Feuer, so daß sie umwendeten. Aber nun krochen die Helden übermütig aus ihren Löchern und schrien den Fliehenden nach: „Geht zum Henker, ihr Lumpen, hätten wir noch Pulver und Blei, so wollten wir euch anders zwiebeln.“ Da sahen sich die Abziehenden um, und als sie statt regulierter Truppen einen frechen Zigeunerschwarm auf den Wällen merkten, ergriff sie der Zorn, sie drangen in die Schanze und säbelten die armen Helden bis auf den letzten Mann nieder. Diese Niederlage, eine der traurigsten Erinnerungen der Zigeuner in jener Gegend, hatte Michaly in der Klage einer Mutter um ihren Sohn und einer Braut um ihren gefallenen Geliebten besungen.

Dorota Sroka, Exercice de Style. Cabinet de curiosites, 18. Juni 2016

Katzenbilder:

  1. mit Frauen:
    1. Portrait of a young lady holding a cat, ca. 1525–1530;
    2. Junge Frau, mit einer Katze spielend, 1630–1635;
    3. Jan Cornelisz Vermeyen: Mädchen mit Katze, 1545;
    4. A. Collot: Ex libris Marthe Hassler, August 2012;
    5. Tina Sosna: Her voice was a tiny bird flying in the cold winter sky,
      analoge Photographie für Worte in Bildern, 18. Januar 2016
      mit Muse Anna Mai in handmade lingery von Franziska Zuber,
  2. und mit Dudelsäcken:
    1. Cat playing a bagpipe, Book of Hours, Paris ca. 1460.
      Morgan Library & Museum New York, MS M.282, fol. 133v;
    2. Book of Hours, Lyon, ca. 1505–1510, Lyon, Bibliothèque municipale, Ms 6881, fol. 63v;
    3. LeValeur: Spielkatze mit Dudelsack, 2013;
    4. Medieval Beasts and Bestiary Tiles;
    5. Robin Milner: A Cat Came Fiddling,
  3. und noch eins von Dorota Sroka in Exercice de Style. Cabinet de curiosites, 18. Juni 2016.

Soundtrack: Harry S. Miller: The Cat Came Back, 1893,
in der Version von Rowlf für The Muppets Show, Folge 523, 26. Oktober 1980:

Written by Wolf

6. Januar 2017 at 00:01

Veröffentlicht in Das Tier & wir, Romantik

Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne

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Update zu Willkomm und dervoo und
Keine Geschichte über Blut, Krieg und Verwandlungen:

Meine schönste Entdeckung 2016 war, woran ich nicht lange herumrelativieren will, Goethe’s Song von Colum Sands. Das ist schon von 1996, aber deswegen nicht weniger beeindruckend, im Gegenteil. Darauf gekommen bin ich auf der Suche nach einem „Soundtrack“ für den Beitrag über Daniel Kehlmann und durfte feststellen, dass offenbar die notorisch hochkulturkritischen F. W. Bernstein und Eckhard Henscheid Fans des Originals von 1795 ist — das haben sie nämlich 1982 für Unser Goethe (Kaufbefehl!) samt seinen Vorbildern und Parodien vorgestellt und fast heimlich als ironiefreien Rausschmeißer verwendet. Das heißt einiges, es scheint wirklich was dran zu sein.

Alexander Fehlung und Miriam Stein, Goethe, 2010, Wiese

Colum Sands bringt auf All My Winding Journeys eine zweisprachige und seiner Melodie angepasste Version, behält aber allen Respekt. Auf seinem eigenen, zu YouTube-Zeiten selbst gebauten Video erklärt er dazu:

An English translation and setting to music of Goethe’s „Naehe des Geliebten“ that I attempted around 1996. Scarlett O‘ from Berlin sings the original German words. I’ve added photos taken on travels through Ireland and Germany.

Alexander Fehling und Miriam Stein, Goethe, 2010, Kuss in der Ruine

Die Gitarrengriffe für die ungeraden Strophen sind D / G / A–A7 / D // D / G / A–A7 / D, für die geraden Strophen A / G / D / e / D // D / G / A–A7 / D; nach der 4. Strophe bietet sich ein Solo über viermal den Teil D / G / A–A7 / D an, die Schwierigkeit liegt also im verspielten Zupf der rechten Hand. Natürlich empfehle ich es als gemischtes Duett zu singen. Wer keine so saubere Frauenstimme wie Scarlett O‘ hat, darf über die Männerstimme auf der Mundharmonika improvisieren. Es spielt sich ausgesprochen leicht, nur Mut.

Ist ein engelschöneres Lied ausdenkbar? Heuer nicht mehr. Und: Ja, natürlich ist es Kitsch. Das gehört so.

——— Colum Sands & Scarlett O‘:

Goethe’s Song

aus: All My Winding Journeys, 1996:

I watch the sun rise on another journey
Away from you, away from you
And when the moon paints midnight streams before me
I’ll think of you, I’ll think of you.

Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer
Vom Meere strahlt, vom Meere strahlt;
Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer
In Quellen malt, in Quellen malt.

And I see you on every road I travel
On the laughing street, and down the lonely mile,
Through the darkest nights of all my winding journeys
I see your smile; I see your smile.

Ich sehe dich, wenn auf den fernen Wege,
Der Staub sich hebt, der Staub sich hebt;
In tiefe Nacht, wenn auf dem schmalen Stege
Der Wandrer bebt, der Wandrer bebt.

I hear your voice from the rustling leaves of morning
Til the winds of evening knock my window pane
And in the silence of the deepest forest
I hear your name, I hear your name.

Ich höre dich, wenn dort mit dumpfem Rauschen
Die Welle steigt, die Welle steigt.
Im stillen Haine geh ich oft zu lauschen,
Wenn alles schweigt, wenn alles schweigt.

You’re by my side, though distance stands between us
I know you’re near, I know you’re near
The sun goes down, but the stars will walk beside us
Til you are here, til you are here.

Ich bin bei dir, du seist auch noch so ferne,
Du bist mir nah, Du bist mir nah.
Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne.
O wärst du da, o wärst du da.

Miriam Stein, Goethe, 2010, Zuhören

Um Colum Sands‘ Element der Kulturenverständigung zu entsprechen, folgt der Direktvergleich zwischen Übersetzung und Original:

——— Goethe:

The Nearness of the Belovèd

1795, translation by David Paley:

I think of you when the gleam of sunlight
       Shines upon the sea;
I think of you when the shimmer of the moon
       Is painted on the fountains.

I see you when the dust is rising
       From the distant path;
When in the deep of night upon the narrow way
       The wanderer trembles.

I hear you when the muffled wave
       Is rising there.
In the quiet grove I often go to listen
       When all is silent.


I am with you. Be you yet so far away,
       You are near me.
The sun declines, soon the stars will shine on me.
       O! If only you were there!

——— Goethe:

Nähe des Geliebten

1795, in: Musen-Almanach, 1796:

Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer
       Vom Meere strahlt;
Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer
       In Quellen malt.

Ich sehe dich, wenn auf dem fernen Wege
       Der Staub sich hebt;
In tiefer Nacht, wenn auf dem schmalen Stege
       Der Wandrer bebt.

Ich höre dich, wenn dort mit dumpfem Rauschen
       Die Welle steigt.
Im stillen Haine geh‘ ich oft zu lauschen,
       Wenn alles schweigt.


Ich bin bei dir; du seist auch noch so ferne,
       Du bist mir nah!
Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne.
       O, wärst du da!

Miriam Stein, Goethe, 2010, Portrait mit Dekolleté

BIlder: Miriam Stein und Alexander Fehling in Philipp Stölzl: Goethe!, 2010.

Miriam Stein, Goethe, 2010, Regen

Written by Wolf

1. Januar 2017 at 00:01

Veröffentlicht in Ehestand & Buhlschaft, Klassik