Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Jedoch die schlimmste Lüge war: Auf Wiedersehn

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Einst, wenn dieser Lenz entschwand:

Bis jetzt fällt hoffentlich nicht allzu penetrant auf, dass ich meinen Laden schon mal fit mache für 2025, wenn Thomas Mann seit 70 Jahren tot sein und sein Copyright in die Public Domain übergehen wird. Ich hätte dem Manne selbstverständlich ein noch längeres als sein 80-jähriges Leben gewünscht, aber dann hagelt’s Ausschnitte aus seinem Doktor Faustus. Vorausgesetzt, dass ich dann noch will.

Nun war Thomas Mann, sollte ich’s noch nie in meiner verachtenswürdigen Häme erwähnt haben, kein großer Lyriker vor dem Herrn – was angesichts seiner sonstigen Verdienste ganz in Ordnung geht. Mit 14 Jahren sah man ihn jedenfalls noch Briefe mit „Thomas Mann. Lyrisch-dramatischer Dichter“ unterschreiben, und im Mai 1893, gerade noch 17-jährig, gab er in seiner zuständigen, dazu Deutschlands erster Schülerzeitung Der Frühlingssturm am Katharineum zu Lübeck – als Mitherausgeber noch unter seinem Jugendpseudonym Paul Thomas – das Gedicht Zweimaliger Abschied ans Licht, im Oktober desselben Jahres brachte er, 18 geworden und mit Aussicht auf sein Pendant zur Mittleren Reife in Obersekunda, immerhin den Mut auf, dasselbe Gedicht noch einmal in der Literaturzeitschrift Die Gesellschaft zu verwenden. Diese Zweitverwertung geschah schon unter seinem bürgerlichen Namen. Ob daher das Gedicht Zweimaliger Abschied von 1893 oder erst die Erzählung Gefallen von 1894 als sein literarisches Debüt gelten darf, kann man gerne noch weiter diskutieren. Eins von den zweien halt.

Ich zitiere als Internetpremeiere nach der zweiten Veröffentlichung korrigiert, weil sie erstens überhaupt erhalten und zweitens digitalisiert zugänglich ist.

——— Thomas Mann:

Zweimaliger Abschied

in: Schülerzeitung Frühlingssturm, Mai 1893,
und Literaturzeitschrift Die Gesellschaft, Oktober 1893, Seite 1247 f.:

Thomas Mann, Zweimaliger Abschied, Die Gesellschaft, Oktober 1893, Seite 1247 und 1248, VolltextDer letzte Abend war’s. Wir wanderten
am Strand des Meers, das still und schwarz und schweigend
im Unbegrenzten sich verlor. Kein Stern erglänzte
vom trüben, unbestimmten Grau des Himmels,
kein Stern der Hoffnung auf ein Wiedersehn . . .
Nur durch den feuchten Nebel sickerte
vom fernen Leuchtturm müdes rotes Licht, –
Das Abendglühen eines kurzen Tags,
an dem das Glück uns in den Armen hielt . . .
Und niemals wieder, niemals wieder . . .?
Wir wanderten und schwiegen mit dem Meer.
Dein liebes Blondhaupt lag an meiner Schulter,
und Deines feuchten Haares leiser Duft
umschmeichelte bestrickend meine Nerven . . .
Die Zeit verrann in seligem Vergessen,
und endlich kam er unerbittlich doch,
der Augenblick des letzten Lebewohls . . .
Wir standen still und sahn uns an – so an
zum letzten, letzten Mal . . . Kein Laut ringsum.
Ein tiefes, dunkles Schweigen um uns her.
Und Deine kalte Hand fand sich mit meiner,
und Thränen tiefen Leids umschleierten
das Meeresblaugrün Deiner Augen . . .
Und nur ein Wort ging durch die tiefe Stille,
sprachst Du es aus? War ich’s? Ich weiß nicht.
Es irrte durch die feuchte Sommernacht,
ganz leise, traum- und leidverlor’nen Klangs . . .
„Nie – niemals wieder . . .“

*               *
*

Und dann der Morgen. –
               Unaufhörlich ging
ein feiner Regen nieder. In dem kleinen Bahnhof
stand schnaubend längst der Zug. – Ein Lärmen, Hasten,
ein feuchtes, schmutziggraues Durcheinander
von Koffern – Menschen – Dampf –
Ich sah auf ein Bouquet – ich trug es selbst –
Und Deine Eltern sah ich – sah auch Dich –
Dann ein paar Worte – welche schöne Blumen! –
Sehr schlechtes Reisewetter – in der That –
Dann hielt ich Deine Fingerspitzen eben –
Adieu, adieu – und leben Sie recht wohl –
Auf Wiedersehn. – Jawohl, auf Wiedersehn! –
Ein letztes Winken noch; dann war es aus . . .
Wir logen beide. –
Jedoch die schlimmste Lüge war: „Auf Wiedersehn.“
Wir wußten’s beide, was das Meer gehört
an jenem feuchten, dunklen Sommerabend . . .
„Nie, – niemals wieder“ . . . .

Lübeck.               Thomas Mann.

Fast noch kompetenter als Arthur Eloessers derzeit gültige Thomas-Mann-Biographie von 2013 kommentiert Lutz Hesse:

[…] Prosalyrik war 1893 nahezu Avantgarde, die schwülstige Atmosphäre des Textes, seine Romantik ist auf dem Höhepunkt seiner Zeit. Die Geschichte, die Mann hier poetisch verdichtet erzählt, erfasst der Leser sofort. Im Tod in Venedig kommt uns das „Blondhaupt“ in Gestalt des Tadzio entgegen, ergänzt mit slawischen Wangenknochen. Im Zauberberg schildert Mann das sublime erotische Verhältnis von Hans Castorp zu seinem Mitschüler Pribislav Hippe. Auch Hippe wird blondlockig und slawisch abgebildet.

Thomas Manns Verse vom ZWEIMALIGEN ABSCHIED geben also Auskunft über erotische Vorlieben, unabhängig vom Geschlecht, die ihn in früher Jugend prägten und ein Leben lang begleiten sollten. Sicher lassen sich noch mehr Figuren Manns in seinem Werk finden, wo er versteckt oder direkt auf das Gedicht zurückkommt. […]

Das Schöne am neuen Zeitalter der Interpretationen ist ja auch, dass man als Literaturwissenschaftler oder interessierter Laie nicht mehr mit dem ständigen Beweis beschäftigt sein muss, dass Thomas Mann auch ja nicht schwul war. Man muss seine homophile Vorliebe für Knaben, die vielleicht eine unausgelebte Pädophilie war, nicht werten, darf sie heute aber voraussetzen.

Bild: Scan Thomas Mann: Zweimaliger Abschied, aus:
Die Gesellschaft, Oktober 1893, Seite 1247 bis 1248

Soundtrack: Ultra Orange & Emmanuelle: Don’t Kiss me Goodbye, aus: Ultra Orange & Emmanuelle, 2007:

Written by Wolf

28. Oktober 2022 um 00:01

Veröffentlicht in Land & See, Symbolismus

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