Goethe in Bewegung (Arno Schmidt auf dem Gepäckständer)
Update zu Trotzki, Fauser und die Goetheforschung,
Wuchtig, in gedrängter Vierzeil‘ singe ich vom Cinnamone
und Wo mit Mais die Felder prangen:
Faust. In’s Freye. […]
Du kannst! So wolle nur! die Thür steht offen.Vers 4538 + 4543, Kerker.
»Wenn Sie heute schrieben : hier an dieser Stelle: den ‹Werther›; die Epigramme und Elegien; Prometheus auf Italienischer Reise : Sie stünden längst vor Gericht! Als Defaitist; als Erotiker; wegen Gotteslästerung; Beleidigung politischer Persönlichkeiten !«
Arno Schmidt zu Goethe, 1957,
in: Goethe und einer seiner Bewunderer, Texte und Zeichen. 3. Jg. 1957, Seite 232–264,
Bargfelder Ausgabe I/2, Seite 208.
Die Schweiz hat alles, was ihr großer Kanton Deutschland auch hat, nur meistens in Kleiner, Besser und Selbergemacht. Statt Rolf Dieter Brinkmann hat sie zum Beispiel den elsässisch gebürtigen, deutschen Wahlschweizer Jürgen Theobaldy, und statt Hans Magnus Enzensberger hat sie den Vollschweizer Beat Brechbühl.
Theobaldy hat ein Gedicht über Goethe unter beflügelndem Einfluss nicht näher bezeichneter Substanzen, Brechbühl hat eins über Goethe und Arno Schmidt auf einmal; beides hat meines Wissens weder Brinkmann noch Enzensberger noch die deutsche Produktion überhaupt. Einzig rätselhaft bleiben die befahrenen Strecken – offenbar keine der drei Goetheschen Schweizer Reisen – und wieso Brechbühl von einem Fahrrad statt von einem Velo spricht.
——— Jürgen Theobaldy:
Abenteuer mit Dichtung
1973, in: Blaue Flecken, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1974:
Als ich Goethe ermunterte einzusteigen
war er sofort dabei
Während wir fuhren
wollte er alles ganz genau wissen
ich ließ ihn mal Gas geben
und er brüllte: „Ins Freie!“
und trommelte auf das Armaturenbrett
Ich drehte das Radio voll auf
er langte vorn herum
brach den Scheibenwischer ab
und dann rasten wir durch das Dorf
über den Steg und in den Acker
wo wir uns lachend und schreiend
aus der Karre wälzten
~~~\~~~~~~~/~~~
——— Beat Brechbühl:
Tschau Goethe
aus: Traumhämmer. Gedichte aus zehn Jahren, Benziger Verlag Zürich/Köln 1977:
Er stand an einer merkwürdig
gelben Wegkreuzung und
flirtete intensiv mit dem Milch-
mädchen aus Frankfurt.Ich fuhr mit dem Fahrrad vorbei,
klingelte, auf dem Gepäckträger
saß Arno Schmidt
und rief Tschau Goethe
dieser ging
schleunig nach Hause,
zog sich aus bis aufs geblümelte Nachthemd
und schrieb weiter an seiner Welt-
literatur.
Bilder:
- Christian Burmeister: Ein Fahrrad für Johann Wolfgang von Goethe,
- Cover Jürgen Theobaldy: Blaue Flecken, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1974. Man beachte, dass der abgebildete Gegenstand im Sande anno 1974 noch kein Mobiltelephon sein konnte. Aber was sonst?;
- Cover Beat Brechbühl: Traumhämmer. Gedichte aus zehn Jahren, Benziger Verlag Zürich/Köln 1977;
- Gerlinde Hofmann: Goethe’s Garden House, 5. November 2007:
Goethe hatt‘ ein Gartenhaus,
die Stars, die gingen ein und aus.
Einmal erklärt er Lessing:
„Mein Fahrrad ist aus Messing.“
Dann stellte er es links vors Tor
und war so klug als wie zuvor.
Cover via moveo ergo sum, 3. November 2020;
Soundtrack: Pink Floyd: Bike, aus: The Piper at the Gates of Dawn, 1967:
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