Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Einst, wenn dieser Lenz entschwand

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Update zu Siehst du und
Die Lust des Mittelstands:

Thomas Mann ist für alles mögliche bekannt – nur nicht dafür – was auch mir nach Jahrzehnten eifriger Rezeption seit August 2021 neu war –, dass er gar nicht Goethe sein wollte, oder für seine Lyrik.

Kein Schaden, er hat seine bekannten Qualitäten, außerdem rettet ihn von seinen Anfängen an eine gewisse Selbstironie. Um diese Ansicht samt der Ironie zu untermauern, hat er praktischerweise eins seiner frühen Gedichte in der Erzählung Gefallen 1894 gleich selbst interpretiert und qualitativ eingeordnet.

——— Thomas Mann:

Gefallen

in: Die Gesellschaft, Jahrgang 10, Leipzig, Oktober 1894:

Władysław T. Benda, They say she is young, a golden girl, created as if from spring sunlight, Hearst's, 1921, via AbecedarianEinmal, an einem schönen, weichen Abend, als er einsam durch die Straßen wanderte, machte er wieder einmal ein Gedicht, das ihn sehr rührte. Es lautete etwa so:

Wenn rings der Abendschein verglomm,
Der Tag sich still verlor,
Dann falte deine Hände fromm
Und schau zu Gott empor.

Ist’s nicht, als ruh‘ auf unserm Glück
Sein Auge wehmutsvoll,
Als sagte uns sein stiller Blick,
Daß es einst sterben soll?

Daß einst, wenn dieser Lenz entschwand,
Ein öder Winter wird,
Daß an des Lebens harter Hand
Eins von dem andern irrt? —

Nein, lehn dein Haupt, dein süßes Haupt
So angstvoll nicht an meins,
Noch lacht der Frühling unentlaubt
Voll lichten Sonnenscheins!

Nein, weine nicht! Fern schläft das Leid, —
O komm, o komm an mein Herz!
Noch blickt mit jubelnder Dankbarkeit
Die Liebe himmelwärts!

Aber dies Gedicht rühre ihn nicht etwa, weil er sich wirklich und ernsthaft die Eventualität eines Endes vor Augen gestellt hätte. Das wäre ja ein ganz wahnsinniger Gedanke gewesen. Recht von Herzen kamen ihm eigentlich nur die letzten Verse, wo die wehmütige Monotonie des Klangfalls in der freudigen Erregung des gegenwärtigen Glücks von raschen, freien Rhythmen durchbrochen ward. Das übrige war nur so eine musikalische Stimmung, von der er sich vage die Tränen in die Augen streicheln ließ.

Damit nicht genug, hat das namenlose Gedicht innerhalb der Handlung einen so festen Platz, dass es am Schluss sinnhaltig ins Schloss schnappen kann:

Dann saß er an seinem Tisch, still und schwach.

Draußen herrschte in lichter Majestät der liebliche Sommertag.

Und er starrte auf ihr Bild, wie sie noch immer dastand, wie früher, so süß und rein …

Über ihm unter rollenden Klavierpassagen klagte ein Cello so seltsam, und wie die tiefen, weichen Töne sich quellend und hebend um seine Seele legten, stiegen wie ein altes, stilles, längstvergessenes Leid ein paar lose, sanft-wehmütige Rhythmen in ihm auf …

… Daß einst, wenn dieser Lenz entschwand,
Ein öder Winter wird,
Daß an des Lebens harter Hand
Eins von dem andern irrt …

Und das ist noch der versöhnlichste Schluß, den ich machen kann, daß der dumme Bengel da weinen konnte.

Svobodnyi Smekh, 1906, via Abecedarian

Bilder:

  1. Władysław T. Benda:

    They say she is young, a golden girl, created as if from spring sunlight.

    aus: Hearst’s, 1921, via Abecedarian: Restoring the Lost Sense, 22. September 2021;

  2. Svobodnyi Smekh, 1906, via Abecedarian: Restoring the Lost Sense, 18. November 2018.

Unter rollenden Klavierpassagen klagte ein Cello so seltsam:
Ludwig van Beethoven: Cellosonate Nr. 2 g-Moll op. 5,2, 1796,
Mstislav Rostropovich & Sviatoslav Richter am Edinburgh Festival, 30. August 1964:

Written by Wolf

18. März 2022 um 00:01

Veröffentlicht in Land & See, Symbolismus

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