Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

So war’s dem Doctor Faust nicht halb zu Muth

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Update zu Weistu was so schweig,
Nur die Wurst hat zwei und
Doktor Faust thu dich bekehren:

Goethes erste Fassung des Lustspiels Die Mitschuldigen 1769 geht als Jugendsünde durch. Einerseits musste er es in einer zweiten und dritten Fassung bis zu einer gewissen Veröffentlichungsreife immer weiter entschärfen und erweitern, nachdem er es immer nur in Liebhaberaufführungen mit persönlich bekannten peers und unter weitgehendem Ausschluss einer zensurbereiten Öffentlichkeit ans Licht führen konnte; andererseits hat er es in einer zweiten und dritten Fassung bis zu einer gewissen Veröffentlichungsreife immer weiter bearbeitet. Die zweite Fassung geschah gleich einige Monate nach der ersten, ebenfalls 1769, die dritte Fassung 1783, deren Veröffentlichung 1787.

Bei Goethe muss ein Dramenstoff, den er mehrmals über mehrere Lebensalter hinweg bearbeitet, an den praktisch lebenslangen Umgang mit seinem Faust erinnern (zur Not auch mit seinem Bestseller von 1774 Die Leiden des jungen Werthers, der ihn gleichfalls 1787 noch einmal bereichern sollte, aber das war unter sehr viel mehr schöpferischen, angeregt durch persönliche Verlustschmerzen und ein für alle Mal als Abschluss gemeint).

D. Joannis Fausti, Augsburger Puppenkiste, 1948

„Der Schauplatz ist im Wirtshaus.“ Aus heutiger Sicht bleiben Die Mitschuldigen noch am ehesten wegen einer einzigen nebensächlichen Formulierung interessant, die Goethe offensichtlich mindestens zur Hälfte um des Reimes willen verwendete – aber das immerhin in allen drei Fassungen: Mit 17 Jahren, das heißt etwa 1766, wurde Goethe von dem populären Puppenspiel vom Dr. Faust erreicht – die meisten Fassungen nach dem Volksbuch, in Handschriften ab 1580, gedruckt 1587, der Version von Christopher Marlowe ab 1588 und zweifellos nach frei zusammengestoppeltem, weil lizenzfreiem Hörensagen. (Für die Institution des Copyrights auf literarische Leistungen sollte sich erst in späteren Jahren Goethe stark machen, beflügelt von seinen eigenen, anderen Erfolgen als seinem Nebenwerk der vor sich hinfloppenden Mitschuldigen, die er sich selbst, nicht irgendwelchen räuberischen Verlegern, zugute sehen mochte.)

Kurz: In ebenjenen Mitschuldigen ab 1769 erwähnte Goethe den Doctor Faust erstmals literarisch.

D. Joannis Fausti, Augsburger Puppenkiste, 1948

Goethes erste Begegnung mit dem Fauststoff als Marionettentheater für die reife Jugend (postmoderne Inszenierungen empfehlen sich gern ab 12 bis 16 Jahren) lässt sich allenfalls rekonstruieren, aus des Meisters erster Hand haben wir sie nicht. Im zehnten Buch von Dichtung und Wahrheit erinnert sich der 63- an den 20-Jährigen mit seinem Studienkollegen Herder zu Leipzig:

Am sorgfältigsten verbarg ich ihm das Interesse an gewissen Gegenständen, die sich bey mir eingewurzelt hatten und sich nach und nach zu poetischen Gestalten ausbilden wollten. Es war Götz von Berlichingen und Faust. Die Lebensbeschreibung des erstern hatte mich im Innersten ergriffen. Die Gestalt eines rohen, wohlmeynenden Selbsthelfers in wilder anarchischer Zeit erregte meinen tiefsten Antheil. Die bedeutende Puppenspielfabel des andern klang und summte gar vieltönig in mir wieder. Auch ich hatte mich in allem Wissen umhergetrieben und war früh genug auf die Eitelkeit desselben hingewiesen worden. Ich hatte es auch im Leben auf allerley Weise versucht, und war immer unbefriedigter und gequälter zurückgekommen. Nun trug ich diese Dinge, so wie manche andre, mit mir herum und ergetzte mich daran in einsamen Stunden, ohne jedoch etwas davon aufzuschreiben. Am meisten aber verbarg ich vor Herdern meine mystisch-cabbalistische Chemie und was sich darauf bezog, ob ich mich gleich noch sehr gern heimlich beschäftigte, sie consequenter auszubilden, als man sie mir überliefert hatte. Von poetischen Arbeiten glaube ich ihm die Mitschuldigen vorgelegt zu haben, doch erinnere ich mich nicht, daß mir irgend eine Zurechtweisung oder Aufmunterung von seiner Seite hierüber zu Theil geworden wäre. Aber bey diesem allen blieb er der er war; was von ihm ausging wirkte, wenn auch nicht erfreulich, doch bedeutend; ja seine Handschrift so gar übte auf mich eine magische Gewalt aus. Ich erinnere mich nicht, daß ich eins seiner Blätter, ja nur ein Couvert von seiner Hand, zerrissen oder verschleudert hätte; dennoch ist mir, bey den so mannigfaltigen Ort- und Zeitwechseln, kein Document jener wunderbaren, ahndungsvollen und glücklichen Tage übrig geblieben.

D. Joannis Fausti, Augsburger Puppenkiste, 1948

Die Mitschuldigen waren also schon in Goethes Leipziger Studienzeit ab 1765 dem etwas unterkühlten Freund Herder bekannt, folglich muss es inzwischen 1769 gewesen sein, als die eine oder andere Version des Puppenspiels in ihm gar vieltönig klingen und wiedersummen konnte.

——— Johann Wolfgang Goethe:

Die Mitschuldigen

Dritter Aufzug, Sechster Auftritt, cit. 3. Fassung 1783/1787,
Cotta’sche Augabe 1851, Siebenter Band, Seite 76:

Sechster Auftritt

          Söller mit Caricatur von Angst.
Was gab’s? Weh dir! vielleicht in wenig Augenblicken –
Gieb deinen Schädel Preis! Parire nur den Rücken!
Vielleicht ist’s ’raus! o weh! o wie mir Armen graus’t,
Es wird mir siedend heiß. So war’s dem Doctor Faust
Nicht halb zu Muth! Nicht halb war’s so Richard dem Dritten!
Höll‘ da! der Galgen da! der Hahnrei in der Mitten!
          (Er läuft wie unsinnig herum, endlich besinnt er sich.)
Ach, des gestohlnen Guts wird keiner jemals froh!
Geh‘, Memme, Bösewicht! warum erschrickst du so?
Vielleicht ist’s nicht so schlimm. Ich will es schon erfahren.
          (Er erblickt Alcesten und läuft fort.)
O weh! er ist’s! er ist’s! Er faßt mich bei den Haaren.

D. Joannis Fausti, Augsburger Puppenkiste, 1948

Ein Fortleben des Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit besteht in immerhin zwölf Hörspiel-Bearbeitungen zwischen 1925 und 1960, davon gleich zwei von Paul Hoffmann, und bisher vier Verfilmungen ab 1961, zuletzt 1988. Vor allem Laientheater entdecken das Stück gerne für sich, wohl wegen der überschaubaren Besetzung und Bühnenausstattung, mit der man in jedem verfügbaren Wirtshaus zurechtkommt. Die Klassik Stiftung Weimar (corporate spelling leider ohne Binde Strich) hat gerade 2020 an ihrem Liebhabertheater Schloss Kochberg die dritte Fassung unter historischer Aufführungspraxis inszeniert. Das Unterfangen hat sich in deren Spielzeit 2022 gerettet, der Trailer wirkt recht einladend:

Das BIldmaterial muss trotzdem noch mangels Illustrationen zu den Mitschuldigen aus einer ihrerseits historischen gewordenen Aufführung eines faustischen Puppentheaters schöpfen: D. Joannis Fausti an der Augsburger Puppenkiste, Premiere 16. September 1948. Es kommen der Kasperl, die sieben Todsünden und diverse Teufel vor.

D. Joannis Fausti, Augsburger Puppenkiste, 1948

Die Schuldbewussten: The Pogues: If I Should Fall From Grace With God,
aus: If I Should Fall From Grace With God, 1988:

Written by Wolf

2. September 2022 um 00:01

Veröffentlicht in Ehestand & Buhlschaft, Klassik

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