Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Frankonachten 5/5: Du bist schon lange gestorben

leave a comment »

Update zu Der Widersacher. Ästhetischer Gaukler vs. unnahbarer Eispalast: Braucht die Welt noch Dichterfürsten im Krähwinkel? Alles ist erlaubt und willkommen. Keine 30 Prozent der Quellen,
Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten: denn Er ist nicht!,
Vater, verlass mich nicht, wenn das Glöckchen läutet
und Frankonachten 2/5: Nämlich gar nicht einschlafen zu wollen:

Weihnachten ist ja immer auch was mit Heimat. Bei mir ist das Franken, eine kulturelle und historische Landschaft, die mich nie ganz in Ruhe lassen wird.

Der Apokalyptismus ist die Religion der Gottlosen, jener, die dem Gegenüber kein Heil mehr verkaufen wollen, sondern nur noch eine Botschaft verbreiten: Alles ist eitel! Alles geht den Bach runter! Alles ist sterblich — du vor allem bist es! Aber: Lass dir um Himmelswillen den Salat nicht verderben!

Das sagt Robert Gernhardt unter vorläufigem Ausschluss der Öffentlichkeit, um den 5. April 2002 im ersten seiner Brunnenhefte. Wie versöhnlich der Mann damit noch ist, zeigt sich im letzten Satz, der Berufs- schlimmer noch: Hobbyapokalyptisten eine lebensfreudige Nebenbotschaft unterstellt.

Schon wahr: Eine ständige Beschwörung von Apokalypsen um ihrer selbst willen ist einem gedachten Höheren Wesen, nennen wir es bis auf weiteres: der Schöpfung gegenüber so undankbar wie eine luxuriöse Todesverliebtheit. Depression ist eine behandlungwürdige Krankheit, kein Modeaccessoire, und zur Schau getragener ennui Anmaßung. Dass wir alle sterben werden, muss nicht bedeuten, dass wir uns die paar Jahre bis dahin auch noch künstlich versauen müssen. Vielmehr bedeutet es das glatte Gegenteil.

Eine endzeitbewusste Auffassung ereilt uns aus Franken — zum zweiten Mal innerhalb der heurigen Frankonachtsreihe von Jean Paul; siehe die erste Gelegenheit, Eigenzitat:

Der gebürtige Preuße Jean Paul wird seit der Bundesrepublik Deutschland als fränkisch angesehen, weil er aus Wunsiedel stammt, das im bayerischen Regierungsbezirk Oberfranken liegt. Bei Jean Pauls Geburt 1763 lagen Wunsiedel und seine folgenden Jugendstationen Joditz, Schwarzenbach an der Saale, Rehau und Hof im hohenzollerischen Fürstentum Kulmbach-Bayreuth oder Markgraftum Brandenburg-Bayreuth im Fränkischen Reichskreis. Damit wäre Jean Paul beinhart preußischer Herkunft, was sie in Wunsiedel, wo sie ja sonst nur die Luisenburg-Festspiele und das Grab von Rudolf Heß haben, nicht mehr so gerne hören. Um es ja nicht zu einfach zu machen, fiel das Fürsten- oder Markgraftum nach dem Frieden von Tilsit am Ende des dritten Napoleonischen Krieges ans erste französische Kaiserreich. Jean Paul war also zwischen 1807 und 1810 Franzose, danach zahlte das Königreich Bayern in Gestalt von König Maximilian I. Joseph aufgrund des Pariser Vertrags 15 Millionen Francs, damit Jean Paul für den Rest seines Lebens Franke innerhalb Bayerns sein konnte.

Von dem Manne wird allenthalben die Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sey geschätzt und immer dann angeführt, wenn es zu beweisen gilt, dass er auch anders als harmlos idyllisch konnte. Das hat er sonst nur noch am Schluss seines Spätwerks Der Komet gebracht.

Und damit wir’s nicht übersehen: dazwischen noch einmal. Abermals in Dr. Katzenbergers Badereise, dieser unterschätzten Satire oder gallig gebrochenen Halbidylle, findet sich ein ganz ähnlich dröhnendes Donnerblech, bei dem man auf seine gewohnte Selbstironie nur hoffen kann.

——— Jean Paul:

Die Vernichtung

Eine Vision

aus: Dr. Katzenbergers Badereise, Mohr und Zimmer, Heidelberg 1809,
nachgestelltes III. Werkchen für Zweites Bändchen:

Jede Liebe glaubt an eine doppelte Unsterblichkeit, an die eigne und an die fremde. Wenn sie fürchten kann, jemals aufzuhören, so hat sie schon aufgehört. Es ist für unser Herz einerlei, ob der Geliebte verschwindet oder nur seine Liebe. Der Zweifler an unserer Ewigkeit leihet, wenn ein schönes Herz vor ihm auf ewig auseinanderbricht, wenigstens der Vollkommenheit desselben, um es fortzulieben, in einem höchsten Wesen Unvergänglichkeit und findet den Liebling, der unter der dunkeln Erde zusammensinkt, in einem durchbrochnen Sternbilde am Himmel wieder.

Alexandra Bochkareva Photography 2021

Der Mensch – der sich immer zu selten und andere zu oft befragt – hegt nicht nur heimliche Neigungen, sondern auch heimliche Meinungen, deren Gegenteil er zu glauben wähnt, bis heftige Erschütterungen des Schicksals oder der Dichtkunst vor ihm den bedeckten Grund seines Innern gewaltsam entblößen. Daher wird es uns leicht, die Überschrift dieses Aufsatzes kalt zu lesen oder gar die Vernichtung anzunehmen und zu begehren; aber wir zittern, wenn unser Herz uns den grausamen Inhalt des Wahns aufdeckt, daß die Erde, in die wir alle unser gesunkenes Haupt zur Ruhe legen wollen, nichts sei als der breite Enthauptungblock der blassen gebückten Menschen, wenn sie aus dem – – Gefängnis kommen. Alsdann zündet (wie öfter) die Wärme des Herzens wieder Licht in der Nacht des Kopfes an, so wie Tiere, die das Leben durch einen elektrischen Funken verloren, der in den Kopf sprang, es durch einen zweiten wiederfinden, den man in die Brust leitete.39 –

Ottomar lag im äußersten Hause eines Dorfs, aus dem man die Aussicht auf ein noch unbegrabenes Schlachtfeld hatte, an einem giftigen Faulfieber ohne Hoffnung darnieder. In jeder Nacht trieb sein heißes erschüttertes Herz das aufgelösete Blut, wie einen Höllenfluß, voll zerrissener ungeheurer Bilder vor seinem Geiste vorbei, und der dunkle reißende Strom aus Blut spiegelte den durchwühlten Nachthimmel und zerstückte Gestalten und zerrinnende Blitze ab. Wenn der Morgen kühlend wiederkam, und wenn das Gift des Fiebertarantelstichs aus dem müden Herzen verflogen war: so tobte vor ihm das unbewegliche Gewitter des Kriegs mit unaufhörlichen Blitzen und Schlägen; und diese blutigen durchbohrten Bilder standen dann in seinen mitternächtlichen Phantasien vor ihm als Leichen auf.

In der Mitternacht, die ich jetzt beschreiben will, erreichte sein Fieber die kritische und steile Höhe zwischen dem Grabe und dem Leben. Seine Augen wurden Vergrößerspiegel in einem Spiegelzimmer, und seine Ohren Hör-Röhre in einem Sprachgewölbe – sein Krankenwärter streckte Riesenglieder vor ihm aus – die wimmelnden Gestalten des übermalten Bettvorhangs wurden dick und blutrot und schossen auf und fielen in einem Schlachtgetümmel einander an – eine siedende Wasserhose zog ihn in ihren schwülen Qualm hinauf und rückte ihn brausend und wetterleuchtend über Meere weiter – und unten aus dem tiefsten Innersten krochen kleine scharfe Gespenster, die ihn schon in dem Fieber der Kinderjahre verfolgt hatten, mit klebrigen kalten Krötenfüßen an der warmen Seele herauf und sagten: wir quälen dich allemal!

Alexandra Bochkareva Photography 2021Plötzlich, als das verfinsterte Herz sich aus dem heißen Krater des Fiebers zurückrollend hinaufarbeitete, überzog die Stubendecke der gelbe Widerschein einer nahen Feuerbrunst. Sein trocknes heißes Auge starrte halb geschlossen die durchsichtigen Bilder seines Vorhangs an, die mit der fernen Lohe flatterten. Auf einmal dehnte eine Gestalt sich unter ihnen aus mit einem leichenweißen unbeweglichen Angesichte, mit weißen Lippen, mit weißen Augenbraunen und Haaren. Die Gestalt suchte den Kranken mit gekrümmten langen Fühlhörnern, die aus den leeren Augenhöhlen spielten. Sie wiegte sich näher, und die schwarzen Punkte der Fühlhörner schossen, wie Eisspitzen, wehend um sein Herz. Hier trieb es ihn mit kaltem Anhauchen rückwärts; und rückwärts durch die Mauern und Felsen und durch die Erde, und die Fühlhörner zuckten wie Dolche um seine Brust; aber wie er rückwärts sank – brach die Welt vor ihm ein – die Scherben zerschlagner Gebirge, der Schutt stäubender Hügel fiel danieder – und Wolken und Monde zerflossen wie fallender Hagel im Sinken – die Welten fuhren in Bogenschüssen über die leichenweiße Gestalt herab, und Sonnen, von ergriffenen Erden umhangen, sanken in einem langen schweren Fall danieder – und endlich stäubte noch lange ein Strom von Asche nach….

„Weiße Gestalt, wer bist du?“ fragte endlich der Mensch „Wenn ich mich nenne, so bist du nicht mehr“, sagte sie, ohne die Lippen zu regen, und kein Ernst, keine Freude, keine Liebe, kein Zorn war noch auf dem marmornen Gesichte gewesen, und die Ewigkeit ging vorüber und veränderte es nicht. Sie drängte ihn auf einen engen Steig, der aus den Erdschollen gemacht war, die unter das Kinn der Toten gelegt werden; der Weg durchschnitt ein blutiges Meer, aus welchem graue Haare und weiße Kinderfinger wie Blüten an Wasserpflanzen blickten, und er war mit brütenden Tauben und nassen Schmetterling-Flügeln und Nachtigalleneiern und Menschenherzen überdeckt. Die Gestalt zerquetschte alle durch Darüberschweben, und sie zog ihren langen grauen, auf dem weiten Blute schwimmenden Schleier nach, der aus der nassen Leinwand gemacht war, die über den Augen der Toten gelegen. – Die roten Wogen stiegen um den bangen Menschen auf, und der einkriechende Weg ging nur noch über kalte, glatte Erdschwämme und endlich bloß über eine lange kühle glatte Natter….

Er glitt herab, aber ein Wirbelwind wandte ihn herum, vor ihm breitete sich unabsehlich eine schwarze Eisscholle aus, auf der alle Völker lagen, die auf der Erde gestorben waren, starre eingefrorne Leichenheere – und tief unten im Abgrund läutete ein Erdbeben seit der Ewigkeit ein kleines geborstenes Glöckchen; es war die Totenglocke der Natur. – – „Ist das die zweite Welt?“ fragte der trostlose Mensch. Die Gestalt antwortete „Die zweite Welt ist im Grabe zwischen den Zähnen des Wurms.“ – Er blickte auf, um einen tröstenden Himmel zu suchen, aber über ihm stand ein fester schwarzer Rauch, das ausgebreitete Bahrtuch, das zwischen den Welten-Himmel und zwischen diese düstere frostige Lücke der Natur gezogen war; und der Schutthaufen der Vergangenheit dampfte aus der Tiefe auf und machte das Leichentuch schwärzer und breiter. – – Jetzo lief der Widerschein einer hinabfallenden entzündeten Welt mit einem roten Schatten über die finstere Decke, und eine ewige Windsbraut verwehte sinkende Klagstimmen herein:

„Wir haben gelitten, wir haben gehofft; aber wir werden gewürgt. – Ach Allmächtiger, schaffe nichts mehr!“

Alexandra Bochkareva Photography 2021

Ottomar fragte: „Wer vernichtet sie denn?“ – „Ich!“ sagte die Gestalt und trieb ihn unter die eingefrornen Leichenheere, unter die Larvenwelt der vernichteten Menschen. Wenn die Gestalt vor einer entseelten Maske vorüberging, so spritzte aus dem zugefallenen Auge ein blutiger Tropfen, wie ein Leichnam blutet, wenn ihm der Mörder nahetritt. Er wurde unaufhaltsam durch das stumme Trauergefolge der Vergangenheit hindurchgeführt, durch die morsche Wesenkette, durch das Schlachtfeld der Geister. Da er so vor allen eingeäscherten Geschwistern seines Herzens vorbeiging, in deren Angesicht noch die zerrissenen Hoffnungen einer Vergeltung standen – und vor den armen Kindern mit glatten Rosenwangen und mit dem erstarrten ersten Lächeln und vor tausend Müttern mit den eingesargten Säuglingen auf dem Arm – und da er sah die stummen Weisen aller Völker, mit der erloschenen Seele und mit dem erloschenen Licht der Wahrheit, die unter dem über sie geworfenen Leichentuche verstummt, wie Singvögel, wenn wir ihr Gehäuse mit einer Hülle verfinstern – und da er sah die versteinerten Leidtragenden des Lebens, die unzähligen, welche gelitten, bis sie starben, und die andern, die ein kurzes Entsetzen zerriß – und da er sah die Angesichte derer, die vor Freude gestorben waren, und denen noch die tödliche Freudenträne hart im Auge hing – und da er sah alle Frommen der Erde stehen mit den eingedrückten Herzen, worin kein Himmel und kein Gott und Gewissen mehr wohnte – und da er sah wieder eine Welt herunterfallen, und ihre Klagstimmen vorüberweheten „O! wie vergeblich, wie so nichtig ist der Jammer und der Kampf und die Wahrheit und die Tugend des Lebens gewesen!“ – und da endlich sein Vater mit der eisernen Kugel erschien, welche die Leichen des Weltmeers einsenkt, und da er aus dem weißen Augenlide eine Blutzähre drückte: so rief sein zu kaltem Grimm gerinnendes Herz: „Gestalt aus der Hölle, zertritt mich nur bald; das Vernichten ist ewig, es leben nur Sterbende und du. – Leb‘ ich noch, Gestalt?“ – –

Die Gestalt trieb ihn sanft an den Rand des immer weiter gefrierenden Eisfeldes. In der Tiefe sah er den Schutt von Gehäusen zerdrückter Tierseelen, und in den Höhen hingen zahllos die Eisstrecken mit den Vernichteten aus höheren Welten, und die Leiber der toten Engel waren oft aufrechte Sonnenstrahlen, oft ein langer Ton oder ein unbeweglicher Duft. – Bloß über der Kluft nahe dem Totenreiche der Erde stand allein auf einer Eisscholle ein verschleiertes Wesen – und als die weiße Gestalt vorüberzog, hob sich selber der Schleier auf – es war der tote Christus, ohne Auferstehung, mit seinen Kreuzes-Wunden, und sie flossen alle wieder, wegen der Nähe der weißen Gestalt! –

Alexandra Bochkareva Photography 2021Ottomar stürzte auf die brechenden Knie und blickte auf zum schwarzen Gewölke und betete: „O guter Gott, bringe mich wieder auf meine gute Erde, damit ich wieder vom Leben träume!“ und unter dem Beten flohen die roten blutigen Schatten gestürzter Erden über das weite Leichentuch aus festem Rauch. Jetzt streckte die weiße Gestalt ihre Fühlhörner verlängert wie Arme gen Himmel und sagte: „Ich ziehe die Erde herab, und dann nenne ich mich dir.“

Indem die Fühlhörner mit ihren schwarzen Enden immer höher stiegen und zielten, wurde ein kleiner Spalt des Gewölkes licht; dieser riß endlich auseinander, und unsere taumelnde Erde sank fliehend hindurch, gleichsam zum ziehenden greifenden Rachen einer Klapperschlange herab. Und indem die umnebelte Kugel näher fiel, regnete es Blut und Tränen auf ihr in ihr rotes Meer, weil Schlachten und Martern auf ihr waren.

Die graue enge Erde schwankte durchsichtig mit ihren regen jungen Völkern nahe über den starren toten Völkern – ihre Achse war ein langer Sarg aus Magnetstein mit der Überschrift: Die Vergangenheit; und im Erdkern schwebte ein rundes Feuer, das den Schlüssel des langen Sarges schmolz – die Lilien- und Blütenbeete der Erde waren Schimmel – ihre Fluren waren die grüne Haut auf einer festen Moderlache – ihre Wälder waren Moose und ihr spitzer Alpengurt ein Stachelrad, ihre Uhren schlugen in einem fort aus, und die Stunden wurden eilig Jahrhunderte, und kein Leben dehnte die Zeit aus – man sah die Menschen auf der Erde wachsen und dann rot und lang werden und dick und grau sich bücken und hinlegen. Aber die Menschen auf der Erde waren sehr zufrieden. – Auf ihr sprang wohl der Todesblitz regellos unter den sorglosen Völkern umher, bald auf das heiße Mutterherz, bald auf die glatte runde Kinderstirn, bald auf die kalte Glatze oder auf die warme Rosenwange. Aber die Menschen hatten ihren sanften Trost; die sterbenden Geliebten, die begrabenden und die weinenden Augen hingen leicht an den brechenden, Freund an Freund, Eltern an Kindern, und sie sagten „So zieht nur hin, wir kommen ja wieder zusammen hinter dem Tode! und scheiden nicht mehr.“

„Ich will dir zeigen,“ sagte die Gestalt, „wie ich sie vernichte.“ Ein Sarg wurde durchsichtig – im weichen Gehirn des darin zusammenfallenden Menschen blickte noch das lichte Ich, vom Moder überbauet, von einem kalten finstern Schlaf umwickelt und vom zersprungenen Herzen abgeschnitten. Ottomar rief: „Lügende Gestalt, das Ich glimmt noch – wer zertritt den Funken?“ – Sie antwortete „Das Entsetzen! – Sieh hin!“ Eine Dorfkirche hatte sich gespaltet: ein bleierner Sarg sprang auf, und Ottomar sah seinen Körper darin abbröckeln und das Gehirn bersten; aber kein lichter Punkt war im offenen Haupte. Nun machte die Gestalt ihn starr und sagte „Ich habe dich aus dem Gehirn herausgezogen – du bist schon lange gestorben“ – und umgriff ihn schnell und schneidend mit den kalten metallenen Fühlhörnern und lispelte: „Entsetze dich und stirb, ich bin Gott“…

Alexandra Bochkareva Photography 2021

Da stürzte eine Sonne herein, die den weiten Himmel einnahm, zerschmelzte die Eiswüste und das Larvenreich und flog ihren unendlichen Bogen brausend weiter und ließ eine Flut von Licht zurück, und der durchschnittne Äther klang mit unermeßlichen Saiten lange nach. Ottomar schwamm im Äther, rings mit einem undurchsichtigen Schneegestöber aus Lichtkügelchen übergossen; zuweilen schnitt der Blitz einer fliegenden Sonne durch die weiße Nacht hinab, und eine sanfte Glut wehte dann vorüber. Der dichte weite Lichtnebel wallete auf den Tönen des Äthers, und seine Wogen bewegten den Schwebenden. Endlich sank der weite Nebel in Lichtflocken nieder – und Ottomar sah die ewige Schöpfung rings um sich liegen, über ihm und unter ihm zogen Sonnen, und jede führte ihre blumigen Erdenfrühlinge an sanften Strahlen durch den Himmel.

Alexandra Bochkareva Photography 2021Der zusammengesunkene Sonnenduft wallete schon weit im Äther als eine blitzende Schneewolke hinab, aber den Sterblichen hielt noch im Himmelblau ein langer Lautenton auf seinen Wellen empor: da hallete es plötzlich durch den ganzen grenzenlosen Äther hindurch, als liefe die allmächtige Hand über das Saitenspiel der Schöpfung hinüber. In allen Welten war ein Nachklang wie Jauchzen; unsichtbare Frühlinge flogen mit strömenden Düften vorüber; selige Welten gingen ungesehen mit dem Lispeln einer übervollen Wonne nahe vorbei; neue Flammen flatterten in die Sonnen; das Meer des Lebens schwankte, als höbe sich sein unermeßlicher Boden; ein warmer Sturm wühlte Sonnenstrahlen und Regenbogen und Freudenklänge und Wolken aus Rosenkelchen untereinander. – Auf einmal wurd‘ es in der Unermeßlichkeit still, als stürbe die Natur an einem Entzücken – ein weiter Glanz, als wenn der Unendliche durch die Schöpfung ginge, lief über die Sonnen, über die Abgründe, über den bleichen Regenbogen der Milchstraße und über die Unermeßlichkeit – und die ganze Natur bewegte sich in einem sanften Wallen, wie sich ein Menschenherz bewegt und hebt, wenn es verzeihen will – -Da tat sich vor dem Sterblichen sein Innerstes wie ein hoher Tempel auf, und im Tempel war ein Himmel, und im Himmel eine Menschengestalt, die ihn anblickte mit einem Sonnenauge voll unermeßlicher Liebe. Sie erschien ihm und sagte: „Ich bin die ewige Liebe, du kannst nicht vergehen“; und sie stärkte das zitternde Kind, das vor Wonne sterben wollte. Der Sterbliche sah durch heiße Freudentränen dunkel die unnennbare Gestalt – ein nahes warmes Wehen schmelzte sein Herz, daß es zerfloß in lauter Liebe, in grenzenlose Liebe – die Schöpfung drang erblassend, aber nah an seine Brust- und sein Wesen und alle Wesen wurden eine einzige Liebe – und durch die Liebetränen schimmerte die Natur als eine blühende Aue herein, und die Meere lagen darauf wie dunkelgrüner Regen, und die Sonnen wie feuriger Tau – vor dem Sonnenfeuer des Allmächtigen stand die Geisterwelt als Regenbogen, und die Seelen brachen, von einem Jahrtausend ins andere tropfend, sein Licht in alle Farben, und der Regenbogen wankte nie und wechselte nur die Tropfen, nicht die Farben. –

Der Alliebende schaute an seine volle Schöpfung und sagte: „Ich lieb‘ euch alle von Ewigkeit – ich liebe den Wurm im Meer und das Kind auf der Erde und den Engel auf der Sonne. – Warum hast du gezagt? Hab‘ ich dir nicht das erste Leben schon gereicht und die Liebe und die Freude und die Wahrheit? Bin ich nicht in deinem Herzen?“ – – Da zogen die Welten mit ihren Totenglocken vorüber, aber wie mit einem Kirchengeläute von Harmonikaglocken zu einem höheren Tempel, und alle Klüfte waren mit Kräften und jeder Tod mit Schlaf gefüllt.

Alexandra Bochkareva Photography 2021

Nun dachte der Überglückliche, sein dunkles Erdenleben sei auch geschlossen; aber tief unten stieg die in Gewölk gekleidete Erde herauf und zog den Menschen aus Erde wieder in ihre Wolken hinein. Der Alliebende hüllte sich wieder in das All. Aber ein Schimmer lag noch auf einem langen Eisgebirge weit hinter den Sonnen. Die hohen Eisberge flossen am Schimmer strahlend auseinander, gebückte Blumen flatterten angeweht über die zerschmolzene Mauer auf, ein unabsehliches Land lag aufgedeckt im Mondlicht weit ins Meer der Ewigkeit hinein, und er sah nichts darin als unzählige Augen, die herüberblickten und seligweinend glänzten, wie ein Frühling voll warmen Regens unter der Sonne funkelt, und er fühlte am Sehnen und am Ziehen seines Herzens, daß es alle seine, daß es alle unsere Menschen waren, die gestorben sind.

Alexandra Bochkareva Photography 2021Der Sterbliche blickte, schneller auf die Erde zufallend, mit erhobenen betenden Händen nach der Stelle im Himmelblau empor, wo der Unendliche seinem Herzen erschienen war – und ein stiller Glanz hing unverrückt an der hohen Stelle. Und als er noch schwerer den erleuchteten weichenden Dunst unserer Kugel betrat und zerteilte: stand noch immer der Glanz im Äther fest, nur tiefer an der umrollenden Erde….

Und da er unsern kalten Boden berührte, erwachte er; aber der feste Glanz stand im blauen Osten noch und war die – Sonne.

Der Kranke stand unten im Garten, der erste herbe giftige Traum hatte ihn hinabgedrängt – die Morgenluft wehte – das Feuer war gelöscht – sein Fieber war geheilt und sein Herz in Seelenruhe.

Und wie die Qual des Fiebers den höllischen, und der Sieg der Natur den himmlischen Traum geboren; und wie wieder der folternde Traum den Scheidepunkt, und der labende die Genesung beschleunigt hatte: so werden auch unsere geistigen Träume unsere Seelenfieber nicht bloß entzünden, sondern auch kühlen und heilen, und die Gespenster unseres Herzens werden verschwinden, wenn wir von seinen Gebrechen genesen.

Alexandra Bochkareva Photography 2021

Bilder kommen wie in meiner liebsten Entdeckung 2021, was den Primärtext wie die Photographin angeht, von Alexandra Bochkareva aus Taschkent, Usbekistan, die in Sankt Petersburg wirkt, von dort aus ja wohl die Fotos des Jahrhunderts inszeniert und mit ihrem Blick wie nebenbei auch unseren schärft. Auf den subarktischen Wald Nordrusslands mit dessen zwei- und mehrbeiniger Fauna zum Beispiel.

Das Bildmatrerial bringt Beispiele aus ihren Projekten, die sie 2021 seit unserer ersten Empfehlung mit Wilhelm Raabe verwirklicht hat. Außer sie hat schon vorher so tolle gemacht, dass man sie nicht auslassen konnte.

Umweltrettung, Nachhaltigkeit, ästhetische Schulung. Wenn die Apokalypse so aussieht, weiß ich, mit wem ich sie erleben will.

Alexandra Bochkareva Photography:

  1. Deep River Song, 24. August 2021;
  2. Olga Moskvina & Helga, rescued baby Fox, 7. Dezember 2020;
  3. Girl With a Fox Tattoo, 28. August 2021;
  4. Northern Forest Tales;
  5. Foxy Tales, 14. August 2021;
  6. Totems, 25. Februar 2021;
  7. Meet Me in the Woods;
  8. Redheads‘ Stories, 21. März 2021;
  9. Rowan Queendom, 27. September 2021
  10. und eins von behind the Scenes.

In diesem Sinne steh Gott uns bei im neuen Jahr.

Soundtrack: Beethoven: der zweite Satz, Allegretto aus der Siebten,
für: Knowing – Die Zukunft endet jetzt, 2009:

Das Ende, und wenn’s nur das Jahresende ist, sollte versöhnlich sein:

——— The McCalmans:

New Year’s Eve Song

aus: Honest Poverty, 1993:

Alexandra Bochkareva Photography 20211. I have seen you tossing restless
     between midnight and day,
Paying back the debts of many years,
Staring out the window
     till the mist has burned away,
Waiting for the sun to dry your tears.
I’ve seen you young, I’ve seen you old,
I’ve seen you lost and found,
I’ve seen you sit and cry without a sound.

2. I have seen you in the lamplight
     with the hard lines in your face,
And the shadows of your fears upon the wall.
But crying is no weakness
     and to lose is no disgrace,
You see we’re not so different after all.
But can’t you tell, by the ringing bell,
Then old year’s moving on,
I’d like to say one thing before it’s done.

3. May whatever house you live in
     have flowers round the door,
And children in the bed to keep you warm,
May the people there accept you
     for what you really are,
And help you find some shelter in the storm.
And morning rain, to ease the pain,
That comes with being free,
May the new year bring you freedom peacefully.

Written by Wolf

31. Dezember 2021 um 00:01

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..