Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Vater, verlass mich nicht, wenn das Glöckchen läutet

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Update zum Blumenstück 001: Streckvers bei Nacht,
Der Widersacher. Ästhetischer Gaukler vs. unnahbarer Eispalast. Braucht die Welt
noch Dichterfürsten im Krähwinkel. Alles ist erlaubt und willkommen. Keine 30 Prozent der Quellen
,
Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten: denn Er ist nicht!
und Blumenstück 003: Holdselige Ranunkel:

Anlass & Anliegen, wieso man bei der ersten eingehenderen Beschäftigung mit dem Kometen von Jean Paul 1820 ff. am liebsten ausgerechnet mit dem Schluss, was man ja – Spoiler! Spoiler! – eigentlich nicht soll, anfangen möchte, liefert Armin Elhardt im Stuttgarter Mephisto-Projekt, wie ich es nicht besser sagen könnte (eher im Gegenteil). Und das Bildermaterial gleich mit dazu:

Ines Scheppach, Ledermensch, 2019

——— Armin Elhardt:

Der Ledermensch Kain in Jean Pauls Roman „Der Komet“.

Eine Skizze in Worten

aus: mephisto?mephisto! Ein Denkansatz, in: Das Mephisto-Projekt, Galerie Interarts,
Union freischaffender Künstler und Kunstfreunde e. V. Stuttgart:

Goethe musste zwischen 1798 und 1800 seinen Wohnort Weimar (sprich Rom) mit einem Chinesen (sprich Jean Paul) teilen. Nicht frei von Missgunst und Neid auf den Erfolg* des jungen Erzählgenies verfasste der Dichter aus dem Haus am Frauenplan ein zehnzeiliges Schmähgedicht:

Der Chinese in Rom

Einen Chinesen sah ich in Rom; die gesamten Gebäude
Alter und neuerer Zeit schienen ihm lästig und schwer.
„Ach!“ so seufzt‘ er, „die Armen! ich hoffe, sie sollen begreifen,
Wie erst Säulchen von Holz tragen des Daches Gezelt,
Daß an Latten und Pappen, Geschnitz und bunter Vergoldung
Sich des gebildeten Aug’s feinerer Sinn nur erfreut.“
Siehe, da glaubt ich, im Bilde so manchen Schwärmer zu schauen,
Der sein luftig Gespinst mit der soliden Natur
Ewigem Teppich vergleicht, den echten, reinen Gesunden
Krank nennt, daß ja nur er heiße, der Kranke, gesund.

Goethe hatte damals schon Faust und Mephisto im Kopf, aber keine Ahnung davon, dass auf der literarischen Bühne seine dramatische Mephistofigur einen epischen Mitspieler erhalten würde. Und zwar im letzten Roman des erzählerischen Überfliegers und Konkurrenten Jean Paul: „Der Komet oder Nikolaus Marggraf. Eine komische Geschichte“, die das Mephistophelische in der Zerrissenheit des Ledermenschen Kain komplex und ernsthaft aufzeigt.

Ulla Haug-Rößler, Kain im KaminDie Titelfigur Marggraf hält sich in einem närrischen, wahnähnlichen Zustand für den Sohn eines Fürsten und begibt sich unter Pseudonym nach Rom, einer Stadt in Kleindeutschland, deren Bewohner sich nicht Römer heißen, sondern Romer. Dort will Marggraf den fürstlichen Vater suchen. Aber! Der psychisch Malträtierte a la Don Quixote wird bedroht von einem anderen, sehr seltsamen Mann: dem Ledermenschen, so genannt, weil er sich vollständig in Leder kleidet. Auf der Stirn trägt er das Zeichen Kains, eine rote Schlange. Gerät er in Wut, stehen ihm die Haare zu Berge und sträuben sich zu Hörnern. Tagsüber taucht er meist im Nebel auf, spricht Gutes zu den Frauen („Nur ihr seid schön“) und verschwindet wieder im Nebel. Die Stadtmenschen nennen ihn den ewigen Juden. Nach Walter Harich handelt es sich um „einen Wahnsinnigen, der in dem Teufel den Herrn der Welt sieht und seine Macht verkündet. Niemand hat den Ledermann essen und trinken sehen. Nachts dringt er durch Dach und Schornstein in die Häuser ein und nährt sich aus fremden Küchen. Besonders hat er es auf Fürsten abgesehen. Heilig sind ihm nur die Frauen, denen er nichts tut und zu denen er mit liebreicher Stimme spricht.“**

Der Roman bricht ab mit einer großen Rede dieser Mephisto ähnlichen Figur. Der Ledermensch spricht von seiner Sehnsucht, in die Hölle zu kommen, denn dort sind seine Verwandten, die Tierseelen, zu Hause. Den Menschen gibt er zu bedenken: »Rechnet einmal eure Nächte in Einem Jahr zusammen und seht in der 365sten nach, was euch von den langen Traumaffären auf dem Kopfkissen, von den Schlachten, den Lustbarkeiten, den Menschengesellschaften und Gesprächen und den langen, bangen Geschichten zurückgeblieben? Kein Federchen und kein Lüftchen; – und nun rechnet noch euere 365 Tage dazu: so habt ihr eben so viel, und der Teufel lacht und herrscht in euern Nächten und in euern Tagen; aber ihr wisst es nicht. […] Es ist närrisch auf der Erde« sagt er, »soeben entschlaf‘ ich***«, worauf er in den Kamin des Zimmers steigt und diesen von innen hochklettert. Den Anwesenden erklingt seine Stimme nun völlig verändert: lieblich und herzlich, sanft und mild. Man möge ihm vergeben, dass er den Anblick der guten Menschen nicht ertrage. „In seiner Studierstube wäre er alles Böse durch Denken gewesen: Mordbrenner, Giftmischer, Gottleugner, vertretender Herrscher über alle Länder und alle Geister, innerer Schauspieler von Satansrollen. Für diese Sünden werde er jetzt bestraft.“ (Harich)

Die letzten Worte im Roman gehören dem Ledermenschen Kain: „Jetzo lieb‘ ich euch Sterbliche alle so herzlich und kindlich und hasse niemand auf der Welt. – Ich habe in meinem Herzen dich, unendlicher Gott der Liebe, wieder, der in alle tausend tiefen Wunden der Menschen wärmend niedersieht und endlich die Wunde nimmt oder den Verwundeten. O Gott der Liebe, lasse dich fortlieben von mir, wenn ich erwache. Die schreckliche Stunde steht schon nahe, trägt mir meine Furienmaske entgegen und deckt sie auf mein Gesicht! – Vater der Menschen, ich bin ja auch dein Sohn und will dir ewig gehorchen; Vater, verlaß mich nicht, wenn das Glöckchen läutet« …..

Eben schlug es drei Uhr, und man hörte nur noch sein Weinen, und jede Seele weinte innerlich mit. Plötzlich erklang das Kindtaufglöckchen, und der Unglückliche stürzte aufgewacht herab. Gesicht und Hände waren geschwärzt, die Haarbüschel sträubten sich zornig empor, auf der geschwollnen Stirnhaut ringelte sich die rote Schlange wie zum Sprunge, und er rief freudig: »Vater Beelzebub, ich bin wieder bei dir; warum hattest du mich verlassen?«

Alle traten weit von ihm hinweg, nicht aus Furcht, sondern vor Entsetzen.

Ende des Romans. Sein Verfasser der „Chinese in Rom“? Aber nein doch, verfasst hat es Johann Paul Friedrich Richter, genannt Jean Paul. Nach dem Tod seines Sohnes fehlte ihm die Kraft für das Komische. Das 473-seitige Werk blieb Fragment.

* Jean Pauls Roman Hesperus schlug heftiger ein als Goethes Werther und machte seinen Verfasser zum beliebtesten Schriftsteller seiner Zeit

** Walther Harich: Jean Paul. Eine Biographie, Leipzig 1925

*** Jean Paul, Sämtliche Werke, Abteilung I, Band 6, Der Komet oder Nikolaus Marggraf. Eine komische Geschichte, Zweitausendeins (Lizenzausgabe 1996), © 1963 Carl Hanser Verlag München

Der besagte, im Verlauf eines Schreiberlebens galiig gewordene Schluss – zugegeben abzüglich der Jean-Paul-typisch benachwortenden zwanzig Enklaven – im Zusammenhang:

——— Jean Paul:

Einundzwanzigstes Kapitel in einem Gange,

worin jeder immer mehr erstaunt und erschrickt

Der Gang

Vorfälle und Vorträge auf der Gasse – seltsame Verwanlungen vorwärts und rückwärts

aus: Der Komet oder Nikolaus Marggraf, Georg Reimer, Berlin 1822, Schluss:

[…] Unter allen Umständen konnten Hacencoppen und Gefolge nichts anders tun, als so kühn zu sein wie Libette und dem Feinde die Festung zu öffnen, bei solcher Besatzung. Kain ging ruhig und stumm auf die Gesellschaft zu und antwortete Libettens Scherzen mit nichts. Ebenso mild und ruhig ging er vor dem Reiter zu Fuß vorüber und die Treppe hinauf. Sobald er aber in des Grafen Zimmer gekommen war: so bewegten sich seine härnen Hörner, und am Kopfe zuckten Ohren und Nase. Er hatte mit der gewöhnlichen Verschlagenheit der Tollen seine Ausbrüche aufgehoben. »So hab‘ ich euch denn«, fing er an, »lebendig zwischen vier Wänden vor mir, und ihr müßt mir alle zuhören. Bin ich fertig, so könnt ihr gehen; wer eher geht, fährt ab. Mich tötet keiner, ich aber einen und den andern. Ihr wollt meine Reichskinder, die Affen, nachäffen, ihr Unteraffen; aber ihr versteht es schlecht – ihr seid vom Antichristus abgefallen und macht euch der Hölle unwürdig durch euere feige Frömmigkeit und euer Dummbleiben mitten unter tausendjährigen Erfahrungen. Meine Affen sind klüger und lassen sich nicht, wie ihr, von euch regieren, nicht einmal von ihresgleichen. Bildet euch nicht ein, weil ihr einigen von ihnen mit manchen Gliedern ähnlich seht, vollständige Affen zu sein; auch der Hund, der Löwe, das Schwein sehen wie manche Affen aus, sind aber gar keineDer Hundaffe, der Schwein- und der Löwenaffe, der Bärenpavian, die Meerkatze erinnern durch die Tierähnlichkeiten, die ihre Menschähnlichkeit durchziehen, an den physiologischen Satz, daß der Mensch Auszug und Gipfelblüte des Tierreichs sei. und der Waldmensch betrübt sich über seine Verwandtschaft mit euchDer Urangutang ist bekanntlich im Gegensatze der anderen Affen ernst und trübe.. – Helvetius‘ Menschenstolz auf zwei Hände beschämt der Affe mit vier Händen, und euere sogenannte hohe Gestalt bückt und bricht mitten unter ihrer Aufrichtung durch euern Horaz und Herder vor der Eden- und Riesenschlange, wenn sie aufrecht wandelt und über Türme schaut.

Günther Sommer, JP blau mit LedermenschSchälet einmal euere Haut ab und seht euch aufgedeckt und aufgemacht an: so hängen statt euerer Reize und Menschenmienen Gehirnkugeln und Herzklumpen und Magensäcke und Därme vor euch da und würmeln; darum breitet ihr noch Häute vom Tier auf euere Füße und Hände, und Haare vom Tier auf euere dünnen Haare, und prangt mit schwarzen Beinen und Köpfen und mit bunten Überziehleibern eurer kahlen abgerupften Unterziehleiber.

Und nun kommt gar euer ewiges erbärmliches Sterben dazu, daß ihr nicht einmal so lange lebt wie eine Kröte im Marmor, geschweige wie ich aus euerm Paradies. Seid ihr denn nicht sämtlich bloß Luftfarbenleute und nicht einmal hölzerne, mir luftige Marionetten, wie sie der Buchhändler Nicolai in Berlin vor kurzem so lange um sich tanzen und reden sah, bis er ein Hausschlachten dieser Menschheit um sich her vornahm und unter die Gestalten seine Steiß-Blutigel als Würgengel schickte, womit er die ganze Stube ausholzte und lichtete, bis bloß auf sich selber, welchen Menschen dieser Nicolai nicht den Tieren oder Würmern vorwarf, was erst sein Tod tun wird?« – –

Ganz gewiß spann der Ledermann die Vergleichung bloß wegen des Gleichnamens Nicolai und Nikolaus so lange fort. Aber in seinen reißenden Redestrom war mit keiner Gegenrede zu springen, und das Reißen war ganz unerwartet, da der gelassene Zuchthausprediger immer seine früheren Reden nur breit und lange und den Strom nur als Sumpf nach Hause gebracht.

»Rechnet einmal euere Nächte in einem Jahre zusammen und seht in der 365ten nach, was euch von den langen Traumaffären auf dem Kopfkissen, von den Schlachten, den Lustbarkeiten, den Menschengesellschaften und Gesprächen und den langen bangen Geschichten, zurückgeblieben! Kein Federchen, kein Lüftchen; – und nun rechnet noch euere 365 Tage dazu: so habt ihr ebensoviel und der Teufel lacht und herrscht in euern Nächten und in euern Tagen; aber ihr wißt es nicht.

Und doch wollt ihr euch lieber von den matten, dünnen, durchsichtigen Menschen regieren lassen als vom Teufel, der tausendmal mehr Verstand und Leben hat als ihr alle, und der bloß aus Mitleid euere Herrscher beherrscht. – Was seid ihr denn für Wesen und Leute? Euere Mutter gebiert euere Religion und macht euch entweder zu Juden oder zu Christen oder zu Türken oder zu Heiden; der Mutterkuchen ist die Propaganda, die Töpferscheibe eueres Glaubens. – Thronen sind auf Geburtstühle gebaut, und welchen ihr anzubeten habt als einen Herrscher, oder zu begnadigen als einen Untertan, entscheidet ein delphisches Mutterorakel. Ein Knabe von 5 Jahren und 7 Monaten, Louis XV., ernennt vor dem Parlament den Herzog von Orleans zum Regenten während seiner MinderjährigkeitDie Memoiren des Herzogs von Richelieu. B. 1., und der Herzog trägt dem Knaben alle Staatbeschlüsse zur höchsten Genehmigung vor; und sein unmündiger Vorfahrer, der Vierzehnte, befiehlt dem Parlament, ihn selber auf der Stelle für mündig anzusehen und ihm zu gehorchen. – Zwei Kronschufte, die Gebrüder Caracalla, wovon keiner nur zu einem römischen Sklaven taugte, aber jeder den Freien und Sklaven zweier Weltteile die Gebote gab, wollten in das damalige All sich teilen und der eine bloß über Europa, der andere bloß über Asia schalten und Aufsicht führen.Herodian. c. 4. So waret ihr von jeher, und die Zeit macht euch nur bleich aus Angst und schwarz aus Bosheit, und erst hintennach rot aus Scham. Und euere Generationen werden durch nichts reif als durch die Würmer-Kaprifikation unter der Erde, und ihr legt, da keine Zeit euch weiter bringt und treibt, euern Soldatenleichen Sporen an den Stiefeln an, die eben auf der Bahre liegen. – – Tötet euch nur öfter ….. gehorcht ihnen jedesmal, wenn sie euch in das Schlachtfeld beordern ….. tut etwas noch darüber, sterbt wenigstens, wenn ihr nicht umbringt ….. Was hindert mich jetzt im Reden? Ich spür‘ etwas, die Augenlider fallen mir nieder – ich mag auch nicht lange mehr sehen auf der dummen, trüben Erde, die Hölle ist heller.« –

Allerdings fühlte der Ledermann etwas, denn Worble hatte ihn bisher im Rücken mit allen seinen magnetischen Fingerhebeln aus dem Wachen in den Schlaf umzulegen gestrebt und dabei eine Masse von Wollen aufgeboten, womit er ein weibliches Krankenheer würde erlegt und eingeschläfert haben. Nur wurd‘ es ihm schwer, den Strom Kains mit seinem Gegenstrom aufzuhalten und rückwärts zu drängen; das Feuer gegen alle mit dem Feuer für einige zu bändigen.

Kain fuhr fort: »Ich bin gewiß schon sehr lange aus der Ewigkeit heraus und muß durch die dünnen Augenblicke der Zeitlichkeit schwimmen und sterben sehen – – Es ist närrisch auf der Erde – soeben entschlaf‘ ich.«

Worble hatte ihn gerade am Hinterkopfe mit zusammengelegten Fingern wie mit einem elektrischen Feuerbüschel berührt und blitzartig getroffen und ihn plötzlich in die höchste Magnetkrise emporgetrieben. Wie sonst als Nachtwandler, versuchte der Kranke das AufkletternBekannt und erwiesen ist die Fertigkeit mehrer Somnambülen, an den Wänden und überall wie Tiere durch kleine Hülfen sich in die Höhe heben. mit geschloßnen Augen und drang in den nahen Kamin und an äußern kleinen Anhaltpunkten leicht darin hinauf.

Aber alle wurden bestürzt über eine fremde, liebliche, herzliche Stimme, welche jetzo verborgen zu ihnen sprach: »Ihr teuern, lieben Menschen, vergebt es mir, daß ich geflohen bin, ich ertrage vor euern Augen meine Schuld und euere Güte nicht; ich seh‘ euch aber alle. O, Dank habe du vor allen, der du mir den schwarzen Äther blau und licht gemacht und mich aus meiner brennenden Wüste auf einige Minuten in das kühle Land des Abendrots geführt. O wie ist mein trübes, flutendes Herz jetzt still und hell und rein! Und ich liebe nun die ganze Welt, als wär‘ ich ein Kind. Ich will euch mit Freuden alles von mir sagen, lauter Wahrheit.

Horst Peter Schlotter, Studie Ledermensch 1In den Nächten ging ich bisher als Nachtwandler mit düstern zugeschloßnen Sinnen ergrimmt umher und irrte über die Dächer hin, aber ich stieg überall ein, um mich zu nähren und zu tränken; und überall tat ich es im Wandelschlaf, um mich zu erhalten. Aber sobald ich erwachte, wußt‘ ich von meinem Stehlen und Nähren nichts mehr, ich sah mich fort für den unzerstörlichen Kain an und fiel wieder ab, von Menschen und von Gott. Denn ich soll gestraft werden für meine tausend Sünden, lauter Sünden in der Einsamkeit; auf meiner Studierstube war ich alles Böse durch Denken – Mordbrenner – Giftmischer – Gottleugner – ertretender Herrscher über alle Länder und alle Geister – Ehebrecher – innerer Schauspieler von Satansrollen und am meisten von Wahnwitzigen, in welche ich mich hineindachte, oft mit Gefühlen, nicht herauszukönnen. – So werd‘ ich denn gestraft und fortgestraft durch Gedanken für Gedanken, und ich muß noch viel leiden. – Ach, ihr Glücklichen um mich her, ihr könnt den Unendlichen lieben, aber ich muß ihn lästern, wenn ich erwache; und um drei Uhr, mit dem ersten Anschlage des Kindtaufglöckchens, werd‘ ich wieder wach und teuflisch; dann hütet euch vor dem Unglücklichen; denn meine Hölle wird heißer stechen und brennen, wenn sie hinter dieser kühlen Himmelwolke wieder hervortritt, die Schlange auf meiner Stirn wird giftiger glühen, und kann ich nach dem Waffenstillstand der bösen Natur morden, so tu‘ ichs; – besonders scheue du mich, sanfter Marggraf, wenn dein Heiligenschein dein Haupt umgibt. Ich habe einmal um Mitternacht, auf einem Dache stehend, dich mit einem gesehen und innig gehaßt; aber sobald ich erwache, wird er durch deine bewegte Seele wieder um dich schimmern und mich entrüsten.

Jetzo lieb‘ ich euch Sterbliche alle so herzlich und kindlich und hasse niemand auf der Welt. – Ich habe in meinem Herzen dich, unendlicher Gott der Liebe, wieder, der in alle tausend tiefen Wunden der Menschen wärmend niedersieht und endlich die Wunde nimmt oder den Verwundeten. O Gott der Liebe, lasse dich fortlieben von mir, wenn ich erwache. Die schreckliche Stunde steht schon nahe, trägt mir meine Furienmaske entgegen und deckt sie auf mein Gesicht! – Vater der Menschen, ich bin ja auch dein Sohn und will dir ewig gehorchen; Vater, verlaß mich nicht, wenn das Glöckchen läutet« …..

Eben schlug es drei Uhr, und man hörte nur noch sein Weinen, und jede Seele weinte innerlich mit. Plötzlich erklang das Kindtaufglöckchen, und der Unglückliche stürzte aufgewacht herab. Gesicht und Hände waren geschwärzt, die Haarbüschel sträubten sich zornig empor, auf der geschwollnen Stirnhaut ringelte sich die rote Schlange wie zum Sprunge, und er rief freudig: »Vater Beelzebub, ich bin wieder bei dir; warum hattest du mich verlassen?«

Alle traten weit von ihm hinweg, nicht aus Furcht, sondern vor Entsetzen.

Bilder:

  1. Ines Scheppach: Ledermensch, 2019;
  2. Ulla Haug-Rößler: Kain im Kamin;
  3. Günther Sommer: JP blau mit Ledermensch;
  4. Horst Peter Schlotter: Studie Ledermensch 1,

via Armin Elhardt: Der Ledermensch Kain in Jean Pauls Roman „Der Komet“. Eine Skizze in Worten,
aus: mephisto?mephisto! Ein Denkansatz, in: Das Mephisto-Projekt, Galerie Interarts,
Union freischaffender Künstler und Kunstfreunde e. V. Stuttgart.

Lederstrumpf: Mandolin Orange: Boots of Spanish Leather, live bei Audiotree, 15. April 2014:

Written by Wolf

16. Juli 2021 um 00:01

Veröffentlicht in Klassik, Vier letzte Dinge: Hölle

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