Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Begräbnis des Glaubens (L’enterrement de la foi)

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Update zu Paris Faustiens,
Dieses unnötige, ja sinnlose Hin und Her
und Moritz Under Ground:

Die junge, noch nicht Neue Zürcher Zeitung berichtete am 14. Juni 1780, und zwar aus ihrem Standort Berlin:

Heute ist der Sterbetag des Herrn von Voltaire auf Sr. Majestät Befehl in der hiesigen Katholischen Kirche feyerlich begangen worden. Es wurde bey dieser Gelegenheit eine hohe Messe gehalten, und in der Mitte der Kirche war ein Castrum doloris errichtet, auch die Kirche mit vielen Waxlichtern erleuchtet. Die Kosten hierzu haben Se. Majestät gegeben. – Diese andächtige Feyerlichkeit wurde in Gegenwart einer ansehnlichen Versammlung, Personen von allen Ständen verrichtet, welche nach deren Beendigung reichliche Allmosen unter die Armen austheilten.

Die Katholischen Mitglieder der hiesigen Königl. Akademie der Wissenschaften haben diese Messe veranlasset, und der hiesige Herr Pfarrer hat um so weniger Bedenken getragen darein zu willigen, da sie ungezweifelte Beweise beygebracht, daß der Herr von Voltaire kurz vor seinem Ende ein Christ-Katholisches Glaubens-Bekenntniß abgelegt, ordentlich gebeichtet, seinem christlichen Nebenmenschen durch Allmosen und andere gute Werke ein Beyspiel gegeben, und nach seinem erfolgten Ableben in die Abtey Scellieres […] nach den Gebräuchen der katholischen Kirche beerdiget, mithin der französischen Geistlichkeit um so mehr zur Ungebühr und boshafter Weise zur Last gelegt worden, daß sie ihm die kirchliche Beerdigung versaget, da dieser ehrwürdige Stand es nicht würde haben wollen an sich kommen lassen, daß er die Grundsätze der Gerechtigkeit[…] aus den Augen gesetzet, wodurch er den Verdacht eines mit der christlichen Liebe und aller wahren Tugend streitenden Privathasses gegen sich erweckt haben würde.

Jedenfalls hinterbringt es so die Neue Nachfolgerin ihrer selbst in in: Voltaires Totenmesse, Neue Zürcher Zeitung, 2. August 2005. Und für einen Todestag am 30. Mai 1778 wäre ein Begräbnis anno 1780 doch auffallend spät.

Das Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon von 1837 erklärt uns den Verzug:

Im Théâtre français wurde seine Büste und er selbst gekrönt; allein der 84jährige Greis ward von allen diesen Festlichkeiten und der veränderten Lebensweise so angegriffen, daß er erkrankte, eines Tages schwermüthig ausrief: „er sei blos nach Paris gekommen, um Ehre und Grab zu finden“, und im Mai 1778 starb. Da er nicht wie ein katholischer Christ verschieden war, verweigerte der Erzbischof ihm in Paris ein ehrliches Begräbniß und seine Leiche ward deshalb im Stillen nach der Abtei Scellières (zwischen Troyes und Noyent) gebracht und bestattet. Im J. 1791 ließ aber die Nationalversammlung V.’s Asche nach Paris holen und feierlich im Pantheon (s.d.) beisetzen.

Ausführlicher hat man es seit 1992:

——— Hans Pleschinski:

Voltaire – Friedrich der Große.
Briefwechsel.
Herausgegeben, vorgestellt und übersetzt von Hans Pleschinski

aus: ebenda, Haffmans Verlag, Zürich 1992, Seite 555:

Voltaire, Brockhaus 1837, 1841Eine größere Makabrität als das Nachspiel zum Sterben Voltaires ließe sich kaum erfinden. Bei der Sektion und Einbalsamierung des Leichnams, um den sich die Nichte und Haupterbin Marie-Louise Denis nicht mehr kümmert, nimmt der Chirurg das Gehirn Voltaires an sich und überläßt dem Marquis de Villette, Voltaires letztem Gastgeber, das Herz des Toten, in einer Kapsel verwahrt. Der Erzbischof von Paris lehnt eine ordentliche Beisetzung des Verstorbenen kategorisch ab. Einbalsamiert und angekleidet, wie ein Schlafender, wird der Leichnam aus Paris herausgebracht, wird tagelang kreuz und quer durch Ostfrankreich gefahren, bis Voltaires Neffe bei Troyes endlich einen Geistlichen findet, der bereit ist, die sterblichen Überreste des Freigeists in der Abtei Scellières beizusetzen. Ein Grabmal darf jedoch nicht errichtet werden, und überdies wird der hilfreiche Abbé Mignot alsbald seines Amtes enthoben.

Dreizehn Jahre lang ruht der Leichnam in der Champagne. 1791 wird er in der Abtei aufgestöbert und zum Heiligtum der Revolution erklärt. Am 11. Juli 1791, genau dreizehn Jahre nach Voltaires Tod, muß der schon halbwegs inhaftierte Ludwig XVI. aus den Tuilerien mitansehen, wie die leiblichen Überreste des Philosophen und Ex-Historiographen Ludwigs XV. in einem Prunkkatafalk nach Paris überführt und als Symbol des Umsturzes und der Freiheit ins Panthéon gebracht werden. Dort bleibt Voltaire – neben den Resten seines Antipoden Jean-Jacques Rousseau – bis 1814. Wiederum im Mai stürmen katholische Ultraroyalisten das Mausoleum der Revolution und Republik, brechen die Sarkophage auf und vernichten die Philosophengebeine vor der Stadt in ungelöschtem Kalk.

Voltaires riesige Bibliothek wird von seinen Erben gleich nach seinem Tod verkauft und trifft schon 1778 in Petersburg bei Katharine der Großen ein; Voltaires präpariertes Herz, eingeschlossen in einer goldenen Kapsel, wird im 19. Jahrhundert Eigentum der Bibliothèque Nationale in Paris.

Und das einem Mitglied der Académie française, dem eine Totenmesse zusteht. Offenbar kann sich die NZZ a. a. O. in Detailfragen des Voltaireschen Vermächtnisses recht sicher sein:

Zwar wünschte sich der Philosoph tatsächlich ein ordentliches christliches Begräbnis, aber er machte dem Klerus die geforderten Zugeständnisse nicht: Er legt auf dem Totenbett die Lebensbeichte ab, verweigert aber sowohl den vollen Widerruf seines Werks als auch die Kommunion.

Von Voltaires posthumer Odyssee, die in den absolutiven Stunt mit dem ahnungslosen Prior der Abtei Scellières mündete, über die quasireligiöse Überführung ins Panthéon kurz nach Ausbruch der Französischen Revolution und auf Betreiben des Enzyklopädisten d’Alembert bis hin zur Grabschändung durch die Allzukatholischen schien mein alter Religionslehrer (katholisch) nichts zu wissen. Der stellte es noch so dar, dass Voltaire allein in seinem Sterbekämmerlein jämmerlich vor sich hin verreckte, warum auch immer jemand dergleichen zugelassen haben sollte, und bis zu seiner Auffindung mit blutigen Fingernägeln „Ich bereue“ in die Wand neben seinem Bett geschürft hatte. Und dann wusste der Herr Lehrer nicht mal, um die Anschlagszahl pro Fingernagel einzuschätzen, was „bereuen“ auf französisch heißt.

Man kann immer nur das glauben, was einem aktuell hinterbracht wird. Mir selber sagt die Version Pleschinksi 1992 am meisten zu – was gut damit zusammenhängen kann, dass ich das wirklich wunderschöne Buch mal auf einem Nymphenburger Bücherramsch gefunden hab. Tipp für Neuanschaffungen: Das leichter erreichbare Taschenbuch bei dtv 2004 soll eine „völlig revidierte Neuausgabe“ sein.

Bild: Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4, Leipzig 1841.

Soundtrack: Aurelio Voltaire: Death Death (Devil, Devil, Devil, Devil, Evil, Evil, Evil, Evil Song),
aus: To the Bottom of the Sea, 2008:

Written by Wolf

2. Dezember 2022 um 00:01

Veröffentlicht in Aufklärung, Vier letzte Dinge: Tod

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