Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Die leichtfüßige passive Aggression der Revolution

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Update zu Charakter ist nur Eigensinn. Es lebe die Zigeunerin!
und Ich lese jedes Wort von Dir. Die Andern liefern nur Geschmier. (Also sprach der kleine Mops):

Paul Scheerbart, VignetteDergleichen wächst ja heute viel zu selten: Verspielte Phantasten, die den Ehrgeiz ihrer schreibfreien Zeiten unter anderem in Glasarchitektur und das Perpetuum mobile setzen. In diesen heil’gen Hallen haben wir Paul Scheerbart schon mit seiner vollständigen Katerpoesie 1909 und der ähnlich gearteten Mopsiade 1920 erlebt, aus welchen uns erhellt: Man liest ein Gedicht, eine Geschichte, ja eine ganze Sammlung von beidem gerne zu Ende, wenn sie sich übermütig genug gebärdet. In Kunst egal welcher Ausrichtung sollte es immer was zu lachen geben, sonst ist sie auf staatstragende Miesnickel und zu ihrer Rezeption verdonnerte Zöglinge als Publikum angewiesen.

Natürlich kann ich da von nichts anderem als meiner eigenen Erfahrung ausgehen, aber wenn die Geschichte leichtfüßig daherkommt, begleitet man sie gern bis zu Ende. Wenn sie es dabei schafft, eine Botschaft zu transportieren, nimmt man sie dankbar mit.

Als Beispiel dient uns Paul Scheerbarts Satire Eine Gerichtssitzung im Jahre 1901. 1897 niedergeschrieben, war die nach 1901 vorausverlagerte Handlung tatsächlich Science-Fiction in einer vagen Zukunft des folgenden Jahrhunderts. Das Thema ist im 21. Jahhundert bitter aktuell geblieben, ja eigentlich erst geworden. Und passive Aggression halte ich ohnehin schon viel zu lange für ein probates rhetorisches Mittel, da können Sie jederzeit meine Frau fragen.

Warum dergleichen so selten wächst? Wenn wir Scheerbarts zeitweisen Wegbegegleiter Erich Mühsam befragen, finden wir im Kapitel Scheerbartiana seiner Unpolitischen Erinnerungen 1931: „Während des Krieges ist Paul Scheerbart gestorben; er hat sein Leben lang zuwenig gegessen und zuviel getrunken.“

O ja, das würde einiges erklären.

——— Paul Scheerbart:

Eine Gerichtssitzung im Jahre 1901

Zukunftsnovellette

aus: Ich liebe dich! Ein Eisenbahn-Roman mit 66 Intermezzos, Schuster & Loeffler, Berlin 1897,
in: Das Lachen ist verboten … Grotesken, Erzählungen, Gedichte und Schnurren,
See-Igel-Verlag Fritz Nuernberger, Berlin-Wilmersdorf 1929:

Adolfine, die Tochter des reichen Fabrikanten Beisel, spielt gelassen auf der Mundharmonika. Das junge Mädchen hat bereits zwei Stunden hindurch Musik gemacht und ist noch immer nicht müde.

Plötzlich erschallt ein Hilferuf auf der Straße.

Paul Scheerbart, VignetteDie Adolfine läßt das Blasen auf der Mundharmonika ein bißchen sein, wendet zur Seite das zierliche Köpfchen und sagt dabei ganz verwundert:

„Ei! Ei! sollt’ ich diese Stimme nicht schon mal gehört haben?“ Schnell eilt die gute Kleine ans Fenster, öffnet’s und — erblickt — erblickt — Friedrich Schumm, einen ehemaligen Buchhalter ihres Herrn Vaters.

Die Fine sinnt — denkt schließlich nach — und erinnert sich allmählich, daß sie Friedrich einst — liebte — liebte!

Das hatte ihn, den Geliebten, so verwirrt gemacht, daß er als Buchhalter sehr bald nicht mehr zu gebrauchen war.

Friedrich ward deshalb vor einigen Monaten entlassen, denn Vater Beisel kannte in Geschäftsangelegenheiten keinen Spaß.

Und jetzt — gerechter Himmel! — jetzt wird der Friedrich am hellen lichten Tage auf offener Straße „verhaftet“.

Das gnädige Fräulein sieht, wie der Schutzmann den geliebten Friedrich an den Ohren herumreißt, ihm die Handschellen anlegt und ihn wütend weiterstuckst.

Das gnädige Fräulein wendet sich unangenehm berührt — fast beleidigt — ab.

Finchen Beisel spielt wieder auf der Mundharmonika, um bloß nicht die häßlichen Straßenszenen zu sehen.

Die Rohheiten sind im vornehmen Beiselschen Hause verpönt.

„Pfui!“ ruft Beisels Töchterlein, „wie ekelhaft sah das aus!“

Die Sonne brennt heiß auf das Straßenpflaster.

Schutzmann und Friedrich verschwinden.

Das vornehme Beiselsche Haus durchhallen die lieblichen Töne der Mundhamonika.

Einige Tage nach diesem peinlichen Auftritt befindet sich Friedrich Schumm auf der Anklagebank.

Die Richter machen ein sehr ärgerliches Gesicht. Der Staatsanwalt schmeißt bereits zum fünften Mal wutschnaubend seinen Federhalter auf den grünen Tisch, denn der Fabrikant Beisel sagt als Zeuge ganz eigentümliche Sachen über den Angeklagten Schumm aus.

Der reiche Beisel schließt seine Rede, in der er den Friedrich Schumm ganz gehörig schlecht gemacht, ihm sein albernes verliebtes Wesen vorgehalten, ihm seinen Größenwahn gehörig aufgemutzt, ihm wegen seiner frechen Gesinnungslosigkeit tüchtig den Kopf gewaschen hatte — mit den folgenden furchtbaren Worten:

„Und verrechnet hat er sich jeden Tag zwei Mal. Gewissenloser Friedrich, kannst Du das leugnen?“

Friedrich weint und schüttelt wehmütig den Kopf.

Der Staatsanwalt erhebt sich und spricht mit donnernder Stimme:

„Angeklagter, Sie sind wegen unmotivierter Mittellosigkeit verhaftet worden, Der Schutzmann Knillke hatte sich am fünfzehnten Juli Ihr Portemonnaie zeigen lassen, wie das seine Pflicht ist bei allen verdächtigen Individuen. Was fand der Schutzmann Knillke in Ihrem Portemonnaie?“

Angeklagter erwidert weinerlich:

„Eine Mark und fünf und fünzig Pfennige.“

Staatsanwalt: „Und davon wollten Sie noch weitere drei Monate leben? Bis in den Oktober hinein? Herr, was fiel Ihnen ein? Sie wissen doch, daß jeder Staatsbürger verpflichtet ist, jederzeit das für die nächsten drei Monate nötige Geld zum Lebensunterhalt bereit zu halten. Angeklagter, wissen Sie das?“

Angeklagter: „Jawohl!“

Staatsanwalt: „Nun also — wovon wollten Sie denn leben? Wovon? Sagen Sie’s nur! Wie dachten Sie sich die Bestreitung des Lebensunterhalts? Werden Sie nun bald antworten? Was?“

Angeklagter: „Ach, Herr Staatsanwalt, ich hoffte ganz bestimmt, ich würde eine neue Stellung bekommen. Ich bin doch Buchhalter.“

Staatsanwalt: „Ob Sie Buchhalter oder Schornsteinfeger sind — das ist vor Gericht ganz egal. Sie sind verpflichtet, Geld zu besitzen, Sie scheinen das Leben noch nicht zu kennen. Sie wissen doch, daß die Zahl der Vakanzen immer kleiner wird. Ich beantrage drei Monate Zuchthaus mit verschärftem Fasten — wegen unmotivierter Mittellosigkeit. Mein Lieber, wir werden Sie schon kleinkriegen. Ich versteh’ es einfach nicht, wie ein ziemlich gebildeter Mensch sich ohne das nötige Kleingeld auf die Straße wagen kann — eine ganz unglaubliche Frechheit!“

Der Staatsanwalt schließt sein Plädoyer und setzt sich auf seinen Stuhl.

Der Gerichtshof verurteilt den Angeklagten dem Antrage des Staatsanwaltes gemäß.

Der Angeklagte bricht laut weinend auf der Anklagebank zusammen, er ruft dabei schluchzend:

„O Gott, was wird meine arme Mutter dazu sagen? Ihr Sohn Friedrich — ein Verbrecher!“

Lautes Heulen durchhallt den Saal.

Der Herr Präsident bemerkt aber sehr streng:

„Angeklagter Schumm! Was weinen und heulen Sie denn? Machen Sie sich doch nicht zum Narren, Sie lächerlicher Mensch! Seien Sie doch froh, daß wir Ihnen für volle drei Monate die Gelegenheit, Diebstähle zu begehen, genommen haben. Sie wissen doch, daß Diebstahl mit täglichem Durchprügeln bestraft wird!“

Angeklagter: „Ja, hoher Herr Gerichtshof, ich dank’ auch schön für die drei Monate, nehmen Sie mir mein Weinen nicht weiter übel. Ich wollte auch nur zeigen, daß ich noch kein,verstockter’ Verbrecher bin! Aber, hoher Herr Gerichtshof, werd’ ich, wenn ich rauskomm’, auch gleich wieder bestraft werden?“

Staatsanwalt: „Sie sind ein naseweiser dummer Junge! Wegen unmotivierten Fragens beantrage ich einen Monat Prügel!“

Angeklagter sieht sich erstaunt um — setzt sich — und sagt langsam, so als wenn plötzlich ein neuer Geist in ihn gefahren wäre:

„Meine Herren, ich glaube, Sie sind sämtlich — wirklich — ganz und gar verrückt geworden.“

Nach diesen Worten des Angeklagten Friedrich Schumm bricht zum Glück für ihn auf der Straße wieder eine Revolution aus.

Der Präsident und alle Richter laufen rasch nach Hause — der Staatsanwalt und die übrigen Beamten desgleichen.

Schumm bleibt auf seiner Anklagebank verdutzt, ganz ruhig sitzen.

Er ist im nu ganz allein im Gerichtssaal — tatsächlich allein — ein Vergessener!

Er weiß gar nicht, wie er sich benehmen soll.

Inzwischen entwickelt sich die Revolution ganz programmgemäß und zielbewußt.

Schumm versteckt sich später unter seiner Anklagebank, da die Kugeln der Revolutionäre den oberen Teil des Gerichtssaales nur so durchsausen.

Adolfine Beisel denkt währenddem recht freundlich an ihren geliebten Friedrich, verzeiht ihm im Stillen und bläst dazu wieder auf der Mundharmonika.

Die August-Revolution kommt der jungen Dame diesmal genau so langweilig vor, wie die letzte April-Revolution.

Bilder: a. a. O., 1897.

Bläst gelassen auf der Mundharmonika: Big Mama Thornton: Rooster Blues, Ball & Chain, Hound Dog,
about 3 months before she died und nachhaltiges Fernseherlebnis in der ZDF-Matinée, 1984:

Written by Wolf

29. April 2022 um 00:01

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