Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Frohnleichnamsfahnen wehen

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Als das Traurigste auf der Welt, was passieren kann, und was deshalb vom Schriftsteller oft und eindringlich beschrieben werden soll, hat Edgar Allan Poe das Sterben eines sehr jungen, sehr schönen Mädchens eingestuft. So muss man bei Poe tatsächlich eine Geschichte suchen, in der einmal kein junges schönes Mädchen stirbt oder wenigstens als tot vorausgesetzt wird, und weil Poe, der nachweisliche Fan von Tieck und Hoffmann, viel bei der deutschen Literatur gelernt hat, lohnt sich die Frage, was den womöglich noch trauriger wäre als ein verstorbenes junges schönes Mädchen. Die Gothic Novel samt ihren Derivaten, die sich bald aus der Literatur befreiten — siehe unter anderem: Gothic Rock, künstliche Ruinen, Vampirfilm (alphabetisch) — beruft sich ihrerseits an allen Ecken und Enden auf Poe; suchen wir also zeitlich davor.

Daryl Darko Barnett, Maenad, Cemetery Girl, Santa Cruz 9. Mai 2008Trauriger als Mädchensterben? — Klar: selber sterben.

Bei Arno Schmidt stoßen wir auf Samuel Christian Pape (1774–1817) und den gleichnamigen Essay mit dem Untertitel: Vergessene Dichtung aus Moor und Heide. Der letzte des Hainbundes; niedergeschrieben November 1955, überarbeitet 1959, Erstausgabe in: Die Ritter vom Geist, Stahlberg Verlag, Karlsruhe 1965 — und darin auf dessen wahrhaft sturztrauriges Gedicht in lockerer Dialogform, in dem das tote Mädchen den Todeswunsch des Sprechers bedingt.

Auf so ein Thema kann man kommen, für heutige Begriffe wäre es schon wieder abgegriffen. Für 1821 war es nichts Schlimmeres als zeittypisch — auf der schwarzen Seite der Romantik, mit der entstehenden Tradition der Schauerliteratur als Hintergrund, anerkannten Vorläufern alles Gruftigen wie den Nachtgedanken von Edward Young und dem als Fälschung aufgeflogenen Ossian als Lieblingsbücher — aber eben nicht in Bezug auf, sondern parallel zu Poe.

Schmidt zitiert Pape in seinem Radioessay wie immer absichtsvoll geändert, um den Hörgewohnheiten eines Radiopublikums um 1960 zu dienen, per Regieanweisung lässt er die Redeanteile abwechselnd „dunkel, schwermütig“ (Strophen 1, 3, 5, 7, 8, und 9) und „hell und gleichgültig“ (Strophen 2, 4 und 6) lesen.

Im folgenden zitiere ich nicht nach Schmidt, sondern zeichengenau nach der frühesten erreichbaren Fassung von 1827. Schmidts sparsame — genau zwei verschiedene — Regieanweisungen funktionieren auch so. Das Strophenmuster erinnert an englische Limericks, behält also ein angenehmes Minimum an Selbstironie bei. Was man darin als inkonsequent bemängeln mag, kann man geradeso gut und gern als das Zeug zum Volkslied betrachten. Wie gothic avant la lettre geht’s denn noch?

——— Samuel Christian Pape:

Des Gefangenen Ahndung

1821, in: Braga: Vollständige Sammlung klassischer und volksthümlicher deutscher Gedichte
aus dem 18. und 19. Jahrhundert,
herausgegeben von Anton Dietrich. Mit einer Einleitung von Ludwig Tieck.
Zweites Bändchen. Dresden, in der Wagner’schen Buchhandlung 1827:

Daryl Darko Barnett, Wolfie, Cemetery Girl, 11. Juli 2010Auf Sanct Marien Kirchhof,
Da blick‘ ich still hinab;
Drey Männer stehn so traurig —
O Thürmer, wie so schaurig !
Ist wahrlich dort ein Grab !

„ich seh‘ drey Junggesellen
Mit Spaden in der Hand,
Sie pflanzen dort in Reihen
Am Kirchhof junge Maien
Wohl zur Kapellenwand.“

Auf Sanct Marien Kirchhof,
Da hör‘ ich Grabgesang;
Das hallt so dumpf und traurig —
O Thürmer, wie so schaurig !
Ist wahrlich Todtenklang !

„Ich hör‘ von ferne läuten
Durch Regen und durch Sturm;
Ich hör‘ die Jungfraun singen,
Die Feierglocken klingen
Wohl vom Kapellenthurm.“

Daryl Darko Barnett, Wintre, Cemetery Girl, 17. Oktober 2009Auf Sanct Marien Kirchhof,
Da weht ein schwarzes Tuch;
Die Menge wallt so traurig —
O Thürmer, wie so schaurig !
Ist wahrlich Leichenzug !

„Ich seh‘ den Pfaffen wallen,
Den Kirchensteig hervor;
Ich seh‘ die Menge gehen,
Frohnleichnamsfahnen wehen
Wohl am Kapellenthor !“

O nein, o nein ! sie senken
Den schwarzen Sarg hinab;
Die Sterbeglocken hallen,
Die Grabgesänge schallen —
Ist meines Liebchens Grab !

Wohl über wenig Tage,
Ein Tag ist bald vorbey,
Dann klagt nicht mehr der Ritter
am dunkeln Sclavengitter,
Dann bin ich los und frey !

Auf Sanct Marien Kirchhof,
Dan sehn‘ ich mich hinab;
Bald siehst du, Thürmer, traurig,
Von deiner Warte schaurig
Auch auf des Ritters Grab !

Peter Mioch, St. Marien, Oythen, Niedersachsen, 11. April 2011

Bilder: Daryl Darko Barnett: Cemetery Girls
Maenad, 9. Mai 2008;
Wintre, 17. Oktober 2009;
Wolfie, 11. Juli 2010;
Peter Mioch: Pfarrkirche St. Marien in Oythe, eine der letzten Findlingskirchen in Niedersachsen, 11. April 2011.

Written by Wolf

19. Juni 2014 um 00:01

Veröffentlicht in Romantik, Vier letzte Dinge: Tod

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