Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Weihnachten Fibels

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Update zu Wölfchen Wulffs Weihnachten, Naseweise Weihnachten und Das Gezänk der Weisen:

Vögel auf der Stange, Münchner Bilderbogen 1878, Detail via Goethezeitportal

Die schönste von allen bekannten Tausenden Versionen Stille Nacht ist zweifellos eine englische – Silent Night –, nämlich die von die von Tom Waits. Sie ist nie auf einer Original-CD von ihm erschienen, insofern eine Rarität, nur auf SOS United, 1989 – eine Stiftung von Tom Waits für die SOS-Kinderdörfer. Der teilhabende Kinderchor bleibt unbekannt, weil ungenannt.
Im Video: Correggio: Anbetung der Hirten, 1530 (Detail); Tintoretto, 1545 oder 1578; Gerrit van Honthorst, 1622 oder 1646.

Wir warten aufs Christkind, wenn wir in sotane Stimmung geraten sind, und lesen uns dabei Geschichten vor – sofern wir Wert auf unsere gegenseitige Gesellschaft legen und der Fernseher sowie alle sonstigen Gegenstände des medialen Empfangs unerwünscht, wenn nicht untüchtig sind.

Typischerweise wählen wir dazu die Weihnachtsgeschichte aus dem zweiten Kapitel des Lukas-Evangeliums, „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging“, die wir zum 4. Advent vergleichend betrachtet haben, und können froh sein, wenn wir noch die Luther-Übersetzung vor der 1912er Überarbeitung zur Hand haben. Die Geschichte, anders als das Stille Nacht, krankt daran, dass sie ohne eine Patina aus schönen Kindheitserinnerungen nicht mehr genießbar wäre, weil sie weder einen Konflikt, unterscheidbare Plotpoints noch einen überhaupt eindeutig wahrnehmbaren Schluss enthält; undramaturgisch gesagt, plätschert sie dahin und hört irgendwann auf.

Damit will ich nichts gegen die Weihnachtsgeschichte aus dem zweiten Kapitel des Lukas-Evangeliums vorgebracht haben, weil a) der Wortlaut mit einer Patina aus schönen Kindheitserinnerungen bis heute etwa in der Weise genießbar ist wie ein altbekanntes Lied und b) mir nicht zusteht, an der Bibel herumzumosern.

Zum Vorlesen schlage ich heuer Jean Paul, aus seinem unterschätzten, auch bei den Experten vernachlässigten Leben Fibels, eins seiner dünneren Bücher, für das er dennoch von 1806 bis 1811 brauchte. Ein stillvergnügtes, bei allem Wortwitz und Allotria gänzlich unironisches Idyll ist es von vorn bis hinten, und zwei Kapitel sind darin, die miteinander eine Weihnachtsgeschichte bilden: die schöne Kindheitserinnerung des Knaben Gotthelf Fibel, der nachmals die Fibel erfinden sollte, mit seinen Eltern Siegwart und Engeltrut.

Als Ausschnitt entbehrt sie eines Konflikts, unterscheidbarer Plotpoints und eines eindeutig wahrnehmbaren Schlusses; undramaturgisch gesagt, plätschert sie dahin und hört irgendwann auf und fällt dadurch in keinem Punkt gegen das zweite Kapitel des Lukas-Evangeliums ab. Als Idyll ist es von einer ähnlichen Struppigkeit wie die Stille Nacht von Tom Waits, die wie dessen Gesamtwerk aus dem Boden eines steten Weltschmerzes die buntblütigsten, rankenreichsten Gewächse in himmelweite Höhen schickt, steckt voller gelahrter Anspielungen, die man sämtlich mit der Hanser-Ausgabe enträtseln kann, aber zum aufs Christkind wartenden Vorlesen gar nicht sämtlich enträtselt wissen will, und eignet sich auch für die zartesten und minderjährigsten Gemüter. Bei richtiger, ungeleierter und ungehaspelter Vortragsweise veranschlagen wir als Vorlesedauer 30 bis 45 Minuten.

——— Jean Paul:

Leben Fibels

Johann Leonhard Schrag, Nürnberg 1812,
cit. Norbert Miller (Hg.): Jean Paul: Sämtliche Werke, Abteilung I, Sechster Band, Hanser 1963, 4., korrigierte Auflage 1987, Seite 384 ff.:

4. Leibchen-Muster

Weihnachten

Gotthelf sollte einmal die schönsten Weihnachten der Erde erleben. Es war so:

Twisted Soul. Reika Sebastian, In a Box, November 15th, 2014Engeltrut kam in gesegnete Umstände, Siegwart dadurch fast in verfluchte; sie war voll Gelüste und Verabscheuungen, und die 600 Krankheiten, die nach Hippokrates die Gebärmutter erzeugt, färbten mit ihren 600 Schatten sein Leben etwas grau. Zu allererst hatte sie einen noch größern Abscheu vor dem Manne als sonst vor Wein und Sauerkraut – weil beide häufig mit fremden Füßen gestampft werden. Dann war ihr jeder Vogel horribel, den er besaß, seine Turteltauben ihre Basilisken; das Dorf war ihr eine schmutzige Untersetzschale für Vogelhäuser und eine überall offne Pandorasbüchse – sogar Gott selber sank bei ihr zuletzt – bloß Gotthelf nicht. Sie weinte einmal drei Tage lange und war, da sie keine Ursache dazu wußte, nicht zu trösten, bis glücklicherweise ihr Helf, da er auf einer Gartenmauer ritt, sich durch einen Sturz einige Glieder verstauchte; dies gab ihr wieder Leben.

Freilich hätte sie eine schwangere Nabobin oder Fürstin sein sollen: welche ganz andere Wünsche hätte sie tun können als bloß solche, einen Lerchen-Hals zu braten, eine Henne zu kochen bloß zum Essen von Eiern ohne Eiweiß und Schale und sich wie Dorfbier durch Kreide zu entsäuern! Hätte sie nicht als Fürstin verlangen können, z. B. daß man ihr eine Zaunkönigs- und Elefanten-Mark-Suppe auftrage – oder daß sie die zarten Hirschkolben auf der Geburtsstelle selber, auf dem Hirschkopfe gereift, d. h. gebraten bekäme? – Hätte sie nicht ein Kanapee aus Barthaaren für ihre Kammerfrauen begehren können, ein Stadt-Tor als Rahmen für ihr Groß-Bild, Streuzucker statt der Streublumen für ihre Einzugs-Straße und noch stärkere Gaben, z. B. Windeln aus bloßen Palliums, Wickelbänder aus zerschnittenen Schäferkleidern, eine Toiletten-Schachtel aus Paris mit 6 Pferden zugerollt, für das Wickelkind einen Christbaum aus zerspaltenen Hoheitspfählen gezimmert und geästet und ein Christgeschenk aus Thron-Insignien? Könnte man solche Phantasien zu erschöpfen glauben: so ließen sich noch mehrere Foderungen einer gedachten Landes-Mutter gedenken, z. B. daß sie schlechte Dekorations- und Deckenmaler lieber selber auf einer Kochenille-Mühle zu Farbenkörnern und Farbentropfen vermählen möchte – daß sie vornehme Gefangene mit (Zucker-) Wasser und (Zucker-) Brot traktierte – daß sie ein Kollegium ins andere gösse, das der Kammer in das der Justiz etc. etc., etwa wie Wasser in Schmelz-Kupfer oder wie Öl in Wasser oder wie Wasser in brennendes Öl.

Bei mehreren Völkern legen sich daher die Väter ins Kindbette, um sich von den bisherigen Mutter- oder Vaterbeschwerungen der Schwangerschaft zu erholen. Der alte Vogler heilte sich seine Töpferkolik – eine passende Metapher, da er der Töpfer des Fötus war – bloß durch sein gewöhnliches Verreisen – ließ aber der Geplagten ihren Liebling als maître de plaisirs zurück.

Trapped. Reika Sebastian, In a Box, November 15th, 2014Welche Weihnachten wurden im Häuschen gefeiert! Kaum war er aus dem Dorfe hinaus: so fing die mütterliche oder Oppositions-Erziehung an. Zuerst durfte Helf alle Vögel selber füttern; daher er der Heidelerche so viele Mehlwürmer vorwarf, daß sie am dritten Festtage verreckte. Darauf durfte er ihre Küchen-Soubrette sein und half für das Fest-Gebäcke viele Mandeln schneiden, die er verschluckte. Wie froh-murmelnde Frühlings-Wasser floß den ganzen heiligen Abend heiteres Geschwätz des Sohnes und der Mutter durch Stube und Stubenkammer. Sie brachte ihm Scharrfuß und Handkuß der vornehmen Herrschaften in Dresden bei; und er scharrte und küßte unaufhörlich an der Mutter. Sie stand neben ihm ihre alten Kopfschmerzen aus, aber ohne sie zu bemerken.

Der Kleine war eine personifizierte triumphierende Kirche im kleinen, ein tanzender Sitz der Seligen, bloß weil er den ganzen Tag nicht das geringste zu fürchten hatte, nichts was ihn prügelte. Den wenigen mütterlichen Schlägen lief gewöhnlich eine lange Vorerinnerung und Kriegsbefestigung voraus und er ihnen unterdessen davon; hingegen der Vogler hatte die Gewohnheit, daß er als lange Windstille dastand und als Blau-Himmel; und daß daraus die Vaterfaust unversehens wie ein Wetterstrahl auf die Achselknochen fuhr.

An diesem heiligen Abende war Helf ein verklärter Junge, Engeltrut eine verklärte überirdische Schwangere! Welches Fortgenießen! Mittags wurde gar nicht gegessen vor Back-Lust. Schon um drei Uhr war – der Geschichte zufolge – alles Scheuern abgetan, und die Fest-Kuchen dampften ausgebacken durchs Haus. Helf konnte sich vor seinen eignen Leuchter hinsetzen und fünf neue willkürliche Alphabete erfinden, womit er vieles zur Probe aufsetzte, was niemand lesen konnte, auch er nicht ohne Einsehen ins Alphabet. Abends soupierte er selig, denn es schmeckte der Mutter; dieser aber schmeckte es, weil es ihm schmeckte. Eucharistische oder sakramentalische Streitigkeiten mit ihrem Manne fielen weg; denn sie brauchte weder das Mahl anzupreisen, wär‘ es versalzen und verkohlt gewesen, noch es herabzusetzen, wenn nichts daran gefehlt hätte.

Kinder lieben, wie Pariser, langes Aufbleiben; die Mutter erlaubte eines, und in diesen stillen Goldstunden schrieb er fast in allen seinen Alphabeten etwas Unbedeutendes – die Mutter genoß ihren sitzenden Vorschlummer aus, obwohl ein Gift des Nachtschlafs – aus der Pfarrei funkelte das goldne Feuerwerk des Christbaums herüber (der Bauerstand bescherte sich erst am Morgen) – jeder Stern schien licht und nah, und der hohe Himmel war an das Fenster herabgerückt – Gotthelf kratzte mit der Feder sehr leise, um die Mutter nicht zu wecken – endlich legte er, matt von gelehrten Arbeiten, selber den Kopf auf den Tisch. Dann erwachte und erweckte die Mutter – erinnerte an Christkindchen und Schlafengehen – und befahl ihm, in dieser heiligen Nacht mit ihr niederzuknien und Gott um alles zu bitten, besonders daß er einmal kein Vogler werde, sondern ein Rektor magnifikus wie ihr Großvater und sein Herr Pate. Er tats gern. Ebenso ersuchte Lavater Gott, ihm das Pensum zu korrigieren, und Lichtenberg desfalls, ihm seine gelehrten Fragen auf Zettelchen zu beantworten. Recht hat hierüber jeder Beter; vor dem Unendlichen ist eine Bitte um eine Welt und die um ein Stückchen Brot in nichts verschieden als in der Eitelkeit der Beter, und er zählt entweder Sonnen und Haare, oder beide nicht.

Worthless Tears. Reika Sebastian, In a Box, November 15th, 2014Nach dem Gebete ließ sie ihn in ihres Mannes Bette steigen, bloß um es am Morgen wieder zu betten; eine Freude, um die sie der alte selber bettende Siegwart täglich brachte, der ungern Weibern mehr verdankte als seine Geburt und Kinder. „Wie wird unser Vater jetzt liegen, Helfchen?“ (sagte sie) „Und schließ ihn mit in dein Abendgebet ein“; worauf sie den Sohn einsegnete und seine Hände selber für die ganze Nacht faltete, gegen jedes Gespenst. – Engeltrut wünschte nie Siegwarts Gegenwart sehnlicher als in seiner Abwesenheit; so wenig tut der Liebe die Ferne auch in der Ehe Abbruch, und so sehr muß der Mann wie ein Brennspiegel erst in die Brennpunkts-Ferne von dem Gegenstande, den er schmelzen will, geschoben sein.

Am Morgen verschwand Helfen das übrige Christgeschenk vor zwei Stücken desselben, vor einem weiß-roten Büchelchen von Marzipan und einem lackierten Näh-Buch der Mutter; aus diesen an sich leeren Büchern – was sind aber die meisten Bücher anders als höhere Bücherfutterale – schöpfte er mehr geistige Nahrung als ich aus so vielen vollen.

Landweiber versäumen an ersten Feiertagen lieber die Kirche als die Küche; gleichwohl blieb er nicht bei seiner Mutter daheim, sondern verrichtete seinen vormittägigen Gottesdienst. Sie maß dies sehr seinem Geschmack an längern Predigten zu; der Studiosus Pelz aber fügt bei, er habe sich in der Kirche immer so gesetzt, daß, wenn der sogenannte Heiligenmeister mit dem Klingelbeutel-Stabe (dem waagrechten Opferstock, der Heller-Wünschelrute, dem Queue mit Billard-Beutel) ankam, er dem Manne, weil der Stab nicht so lang war als die ganze Kirchenbank, solchen abnehmen und damit bei sich und andern das einsäckeln konnte, was gegeben wurde. Diese kirchliche Untereinnehmers-Stelle, so wie die Predigt-Disposition und die Predigt-Teile, welche er der Mutter unter dem Essen überlieferte, rissen ihn in die Kirche hinein.

Aber auch nachmittags, ob man ihn gleich da nur gratis erbaute, kam er gern mit dem schwarzen Müffchen an den Händen neben seiner Mutter wieder und schauete beim Eintritte sehr familiär im ganzen Tempel herum, um zu zeigen, daß er früher dagewesen. Wenn er schon sonst aus dem umgekehrt gehaltenen Gesangbuche stark ins große Singen hineinsang: wieviel mehr jetzt, da er das Buch richtig hielt und notdürftig las! Noch auffallender war die Schnelligkeit, womit er, sobald nur oben am Chore auf die schwarze Tafel die weiße Seiten-Zahl des Sing-Lieds aufgesteckt war, der Mutter das Gesangbuch aufschlagen konnte mit dem verlangten Liede.

Wenn er dann nach Hause kam, und die goldne Stunde der Dörfer anfing, die nach der Abendkirche, so hatt‘ er die schönste im Dorfe, den Pfarrer selber nicht ausgenommen. Die Herings-Papiere sind dazu da, sie uns zu malen.

*       *       *

5. Herings-Papiere

Die Studien

Helf las. Vor den Augen des Voglers hätte er keinen Viertels-Abend über Büchern von Makulatur sitzen dürfen; jetzt konnt‘ er alles lesen, was er poetisches, juristisches, chemisches Gedrucktes aus dem Gewürzladen, seiner Lese-Bibliothek, vorbekam, und konnte unter dem Lesen an andere Sachen denken und in die köstlichsten Nebenträume fallen und zu jeder Seite Kuchen oder Äpfel abbeißen, gleichsam die sauber gestochnen Vignetten und Kupfer und Notenblätter seiner Makulatur. Nicht für jeden Gelehrten ist unbeachtet ihres kleinern Laden-Preises Makulatur eine Lektüre; aus Mangel an Titelblättern, und weil sie, wie das Epos, bald mitten, bald hinten anfängt, kann der Mann nichts daraus zitieren und saugt sich elend voll Kenntnisse, ohne instand zu sein, nur einen Tropfen wieder aus sich zu drücken mit beigefügtem Zitat; und doch bekommt er nur einen Namen durch Namen.

Missed Sounds. Reika Sebastian, In a Box, November 15th, 2014Hingegen floß die Makulatur so schön auf Fibels Leben ein wie eine zweite allgemeine deutsche Bibliothek und vertrat deren Stelle. Jene bildete ihn – da er vom Würzhändler Düten aus allen Fächern bekam – zu jenem Vielwisser, als welchen er sich im Abc-Buch überall durch Tierkunde, Erziehungs- und Sittenlehre, Poesie und Prose zeigt. Ebenso mögen aus Nicolais Bibliothek die jetzigen Viel- und Zuviel-Wisser hervorgegangen sein, bloß weil sie die Rezensionen aus allen und fremden Fächern nicht umsonst gekauft, sondern auch gelesen haben wollen.

Seit diesen Weihnachten aber kam Gotthelf ins Lesen hinein und war von niemandem mehr zu halten. Es gibt glückliche Menschen – z. B. ihn selber –, welchen ein Buch mehr ein Mensch ist als ein Mensch ein Buch, und welche in der Wahrheit den Irrtum des Franzosen Mr. Martin nachtun, der in seinem Verzeichnis der Bibliothek des Mr. de Bose das Wort gedruckt als einen Schriftsteller unter dem Titel Mr. Gedruckt an- und fortführt. Ich kenne wenige Literatoren, für welche nicht gedachter Herr Gedruckt der Kreisoberste und Kreisdirektor aller Erden- und Himmelskreise wäre und der einzige Mann, mit dem zu reden ist, und der neue Adam der Welt – und das Heckmännchen aller Männer und Zeiten und das absolute Ich; ich kenne, sag‘ ich, wenige.

Was der angehende Gelehrte Fibel vom obigen Verfasser Gedruckt auftreiben konnte, damit verstärkte er seine Büchersammlung unter dem Dache, mit einem Korrekturbogen – mit alten Kalendern – mit einem seltenen Fingerkalender – mit einem Stück Bücherverzeichnis – mit einem halben Bogen eines Registers – mit allem. Die ersten Lettern, womit die Pfarrers-Tochter als Namen-Setzerin auf Wäsche druckte, nahm er als wahre Inkunabeln erstaunend in die Hand; und er sah lange einem durchs Dorf gehenden Drucker durstend nach, der in einer – Kattunmanufaktur arbeitete. Die Anekdote ist bekannt, daß er schon jünger, da er sich eine gelehrte Feder wünschte, weil er so oft gelesen, daß aus einer gelehrten Feder so manches Buch geflossen, in einigem Mißverständnis aus dem Schwanze eines Stars, den Siegwart für einen gelehrten und gelernten Vogel erklärt hatte, mehrere Federn ausgezogen! Darauf habe – fährt die Anekdote fort – der Vogler, als er den Wildschaden am Steiße des Stars vorgefunden, dem Sohne zum simpeln Auszug der gelehrten Niete noch eine Prämie bewilligt, die er, wie bekannt, still mit der Hand austeilte an das Gliedmaß, das er eben traf. Die Mutter legte Sauerkraut auf die Beule.

Light a Box. Reika Sebastian, In a Box, November 15th, 2014Am meisten zog ihn ein alter Markgrafen-Hof- und Staatskalender an, und er las ihn vierzigmal, wie andere den Kant viermal und Bardili fünfmal. Das regierende Haus war zwar abgerissen; aber es waren noch immer hohe Chargen, Inspektionen und Deputationen genug darin, um ihn außer sich zu setzen; am meisten erstaunte und genoß er, daß sein Dorf und der Pfarrer mit hineingedruckt waren, samt den gemeinsten umliegenden Nestern mit Namen. Und Himmel, wie bewunderte er dabei das herrlich ineinandergefügte Uhrwerk des Staats, wo für das Kleinste und Größte zusammengreifende Dienerschaft bestellt dastand, die Bonnetische tierische Stufenleiter im geistigen Sinn. Er fühlte dunkel, daß es nichts Gerechteres, Weiseres, besser Verwaltetes gebe als einen Staat. Auch Verfasser dieses erinnert sich noch mit Sehnsucht aus seinen Knabenjahren dieses süßen Gefühls.

Es ist dies eine der unerkannten Kindheitsfreuden, daß man in dem Adreßkalender – diesem geistigen Hypothekenbuch der Staatsverwaltung – die festlich und ehrwürdig einherziehende Jubelkette des Staats, die Sattel- und Geschirr-Kammer von Bärten, Perücken, Uniformen und Degen für das ansieht, was sie so schön scheint. Was geht denn dieser Jugendfreude ab, an Gehalt, außer Dauer? – Und erquickt ihre Erinnerung nicht so oft den kalten Staatsbeamten, der später den Staat für eine Schützen-Gilde zum Abschuß eines Gewinst-Adlers oder eines Rebhühner-Volks ansieht, oder für ein Nest von Prozessions-Raupen auf der Staats-Eiche? – Ja wer unbefangen genug bleibt, entdeckt sogar reifer in Staatsgliedern noch manche Bewegungen, welche gleichsam seine alte Ansicht vorspiegeln; und er vergleicht es mit jenem Tabaks-Liebhaber1, welcher, vom Schlagflusse getroffen, sich jede Viertelstunde regelmäßig bewegte, als nehm‘ er Tabak, und sich darauf ordentlich die Nase abrieb wie jeder.

1 Reils Fieberlehre B. IV.

Bilder: Weihnachten. Münchener Bilderbogen. Nro. 697. Herausgegeben und verlegt von Braun & Schneider in München. Rechts unten Monogramm von Andreas Müller – „stilisierte Mehlkotze [Kreis mit kreuzweise am Rand gesetzten Zapfen], in deren Binnenfläche ein A steht“ (Hans Ries: Illustration und Illustratoren des Kinder- und Jugendbuchs im deutschsprachigen Raum 1871–1914. Osnabrück: H. Th. Wenner 1992, Artikel „Müller, Andreas“, Seite 732) – mit Jahreszahl 1878. Links unten: Ed. Schempp sc[ulpsit]. Holzstich, schablonenkoloriert (Detail).

Der „Münchener Bilderbogen“ Nr. 697, 30. Buch 1877/78, wurde für den Holzstich ausweislich des Monogramms von Andreas Müller (1831–1901, genannt „Komponier-Müller“) gezeichnet, der insgesamt 22 Nummern von 1848 bis 1879 gestaltete. Als Stecher signiert Ed. Schempp. Vgl. Ulrike Eichler: Münchener Bilderbogen (Oberbayerisches Archiv. Bd. 99. München, Verlag des Historischen Vereins von Oberbayern 1974), Seite 107;
Reika Sebastian: In a Box, 15. November 2014:

  • Twisted Soul;
  • Trapped;
  • Worthless Tears;
  • Missed Sounds;
  • Light a Box.

Written by Wolf

24. Dezember 2015 um 00:01

Veröffentlicht in Romantik, Weisheit & Sophisterei

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