Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Zu Lolitas Verteidigung

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Update zu Cats in the Cradle and the Silver Spoon, Little Boy Blue and the Aufmerksamkeitsspanne:

Reihen mit unterschätzten Büchern gibt es genug, genau genommen sind wir selber eine. Also eröffnen wir eine Binnenreihe mit missverstandenen Büchern. Am Anfang jeder solchen Reihe kann nur die Lolita von Vladimir Nabokov stehen. Am Ende eigentlich auch.

In Tumblr, das die jungen Leute jetzt statt eines ordentlichen Weblogs benutzen, kann man andere Leute etwas fragen und bestehende Einträge kommentieren. Das kann man in WordPress auch, der Unterschied ist nur: In Tumblr wird es getan. So geschah es am 30. August 2014 beim Glimmering Darling:

Was genau soll denn an dieser Lolita so anbetungswürdig sein? Dolores Haze ist doch niemand, den man aufrichtig bewundern kann …

Lolita's Lipstick

Die Antwort einer lolitabegeisterten, ihrem eigenen Lolita-Alter knapp entwachsenen Engländerin (16) räumt dieses größte der Missverständnisse über die Figur Lolita aus. Das schaffen die wenigsten Literaturwissenschaftler, die sich zu sehr mit Lolitafiguren beschäftigen. Darüber soll sie im Schuljahr 2013/2014 ein Schulreferat gehalten haben, bedient sich also aktueller Forschung und vor allem authentischer Meinungen rezenter junger Menschen. Ich versuche ihre Antwort deshalb möglichst lebensnah zu übersetzen:

Uh, doch, ist sie wohl. Da haben wir ihn wieder, den Fluch von „Ich hab keine Ahnung, was ein unzuverlässiger Erzähler ist!“ und „Jeremy Irons als Humbert Humbert ist so traumhaft und Lolita so ein undankbares Luder!“

Dolores Haze ist zweifellos jemand, den man aufrichtig bewundern muss. Sie wurde von ihrer Mutter mit der Botschaft, dass ihr verstorbener Bruder am Leben sein sollte und nicht sie, seelisch misshandelt (auch körperlich? Ich weiß nicht mehr), bekommt zu kleine Kleider, um sie zu demütigen, und ist dabei ein glückliches, fröhliches kleines Mädchen geblieben. Und das war noch vor der Zeit mit diesem Fickfrosch Humbert Humbert.

Charlotte ist nicht einmal wütend, weil Humbert Dolores liebt. Sie ist wütend, weil er nicht sie selbst liebt! Es ist ihr scheißwurschtegal. So viel Liebe wird ihr zuteil, und sie ist immer noch ein wunderbares, temperamentvolles Kind.

Weiter im Text: Obwohl Humbert sie vergewaltigt und missbraucht, bleibt sie ein liebenswertes, intelligentes kleines Mädchen. Sie ist nicht mehr ganz so glücklich und wäre allzugern entkommen, aber der Schlüssel liegt in dem Satz: „Sie konnte nirgendwo anders hin.“ [„She had absolutely nowhere else to go“, hier ohne die gängige Übersetzung von Dieter Zimmer] Sie wäre ja weg von Humberts Schwanz, aber sie kann es nicht. Kein Geld, keine Familie, zwölfjährig irgendwo in Miami (oder so).

Und als sie schließlich ihren Misshandler verlässt und mit Quilty dasteht, der auch nicht viel besser ist, dreht sie ihr Leben um 180 Grad und gründet mit einem ehrbaren, gutherzigen Mann eine Familie. Sie lebt bescheiden und ist ein kluges Mädchen. Die Figur Dolores hat so viel Scheiße mitgemacht und dann ihr Leben herumgerissen. Sie will Humbert nur wiedersehen, damit sie sich ein besseres Leben für ihre Familie leisten kann.

So wie ich das sehe, heißt die Aussage „Dolores ist doch niemand, den man bewundern kann“ nichts anderes als „Ein Vergewaltigungs- und Missbrauchsopfer ist doch niemand, den man bewundern kann, weil es vergewaltigt und missbraucht wurde“. Und das ist scheiße. Dolores Haze hat nichts Falsches getan.

Ich wiederhole: Dolores Haze hat nichts Falsches getan.

Dolores! Haze! Hat! Nichts! Falsches! Getan!

Sie ist stark, intelligent, gescheit, witzig und charismatisch. Na bitte. Sie ist jemand, den man aufrichtig bewundern muss.

Chapeau! Ungestützt hätte ich einfach nur gesagt: Lolita ist in ihrer durchgehenden Unschuld der Sympathieträger des ganzen Buches, an dem der eigentliche Skandal nicht darin besteht, dass eine Elfjährige mit sexueller Erfahrung vorkommt, sondern dass der Ich-Erzähler Pädophilie, Kindesmissbrauch und Mord das Wort redet und einen mit seiner einnehmenden Eloquenz gar noch auf seine Seite bringt.

Und das ist wahrhaft teuflisch. Es ist der Trick, den nicht Satan, Luzifer oder Beelzebub, wohl aber Mephistopheles abziehen würde, der sich an die denkenden unter den verlorenen Seelen wendet.

Und dass die wirkliche Teufelei an dem Buch nur selten jemand merkt. Und dass sie in der Kriminalgeschichte, der Liebesgeschichte und dem Road-Movie, die bei Nabokov allesamt zu ihrem Recht kommen, virtuos ausgewalzt ist. Und dass die Verfilmung von 1997 um Klassen besser ist als die von 1962 vom weithin überchätzten Stanley Kubrick, weil 1962 als Filmskandal schon gereicht hat, wenn eine — für die Rolle zu „alte“ — Minderjährige (zur Drehzeit 14) barfuß im Nachthemd herumhupft. Und weil man Jeremy „Qualitätsmerkmal“ Irons eigentlich in jedem Film zuschauen kann, auch wenn die Minderjährige schon wieder für die Rolle zu „alt“ war (zur Drehzeit 16).

Das hätte ich gesagt, lauter verkopftes Zeug. Aber wo die Glimmering Darling recht hat, vielleicht weil sie aufgrund ihrer bloßen Beschaffenheit und Lebensumstände besser im Thema drinsteckt, hat sie recht. Encore une fois: Chapeau.

Dankenswerterweise veröffentlicht sie einiges Unterrichtsmaterial zu ihrem Referat: ihre selbst erstellten Powerpoint-Folien zur Einführung in den Lolita-Stoff — in der die Vorgeschichte mit Lola Montez fehlt, aber wir schielen hier in einen britischen Schulunterricht, keine europäische Kulturgeschichte.

Der Referentin lag nach eigenem Bekunden an Dolores Hazes Darstellung als Opfer, nicht als frühreifes „Nymphchen“. Ihren Versuch, das Thema lustig zu vermitteln, betrachtet sie selbst als gescheitert. Die schulische Bewertung überliefert sie nicht.

Glimmering Darling, Powerpoint-Folie zum Referat Lolita in Tumblr

Demnächst an dieser Stelle in unserer Reihe mit missverstandenen Büchern: Der kleine Prinz. Wenn mir nicht zu sehr graust.

Bilder: Dominique Swain mit Lolita’s Lipstick;
Diaries of a Nymphette mit Dominique Swain.

Written by Wolf

24. Oktober 2014 um 00:01

Veröffentlicht in Ehestand & Buhlschaft, Novecento

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